Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte - Astrolibrium

Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Wir schreiben den 27. Januar 2020. Weltweit wird an diesem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945 gedacht. 75 Jahre ist es nun schon her und trotzdem kann man immer noch nicht zur Tagesordnung übergehen und so tun, als wäre inzwischen alles gesagt zu den nationalsozialistischen Massenmorden. Aber nein. Dem ist nicht so. Während einerseits die KZ-Gedenkstätten einen deutlichen Zuwachs der Besucherzahlen verzeichnen, verschärft sich der Ton in unserem Land zusehends. Das ist keine Vermutung, ich kann dies für mich belegen. Meine Artikel zur Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus werden zunehmend aggressiv kommentiert und weitgehend anonyme EMails zeugen von einer offenen Form des Antisemitismus, die mir in den letzten Jahren nicht begegnet ist…

Umso wichtiger ist es, auch am 75. Jahrestag der Befreiung der „Todesmaschine Auschwitz“ einen Zeitzeugenbericht vorzustellen, der über jeden Verdacht erhaben ist, frei erfunden zu sein. Ich kann nicht an diesen Tag denken, ohne an Zeitzeugen der Vernichtung zu denken, die heute nicht mehr zu uns sprechen können. Besonders Eva Mozes Kor, eine der wenigen Überlebenden der Mengele-Experimente, bleibt mir wohl immer im Gedächtnis, weil ihre Botschaft der Vergebung ihren Tod überstrahlt. Wer ihr jemals persönlich begegnet ist, wäre niemals auf die Idee gekommen „der Holocaust sei frei erfunden“. Die Überlebenden haben uns ihre Lebensgeschichten hinterlassen. Nur wenige können uns noch selbst erzählen, wie alles begann und wo es endete. Wir sind diejenigen, die darauf achten müssen, dass die Leugner des Schreckens aus den Höhlen kriechen und alte Automatismen bedienen, nur um sich selbst als Übermensch wiederbeleben zu können.

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Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgtevon Jeremy Dronfield ist für den Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz von herausragender Relevanz. In vielfacher Hinsicht. Nicht nur, weil die wahre Geschichte den Lebens- und Leidensweg einer jüdischen Familie aus Wien erzählt. Nicht nur, weil diese Geschichte auf Fakten, Tagebüchern und Zeugenaussagen beruht. Nicht nur, weil sie also authentisch ist. Sie zeigt in besonderer Weise auf, was dieser Jahrestag der Befreiung für die Betroffenen damals bedeutete. Freiheit. Befreiung. Nichts klingt schöner. Und doch fühlte sich die Befreiung nicht so an, wie wir es uns vorstellen. Vor dem Anrücken der Alliierten lösten die Nazis ihre Lager zum Teil auf, erhöhten die Anzahl der Massenmorde und schickten die Überlebenden auf Todesmärsche in den Frost. Die Tage vor der Befreiung waren in jeder Hinsicht für die Inhaftierten unkalkulierbar. Und am Tag der Befreiung selbst war die Internierung nicht beendet. Und selbst, wenn man das Lager dann verlassen durfte, war man heimat- und besitzlos. Niemand wollte die Überlebenden zurück.

Ich habe viele Zeitzeugenberichte genau auf diesen Tag der Befreiung untersucht und darüber geschrieben. „27. Januar 1945 – Auschwitz ist frei. Aber was nun?“ Ein Artikel, der für die ergänzende Betrachtung der Authentizität des vorgestellten Buches relevant ist, weil alle Zeitzeugen hier dieselbe Sprache sprechen. Jedes Nazi-Opfer hat seine ganz eigene Geschichte. Viele scheinen wir zu kennen. Viele haben wir gelesen. Was jedoch das Buch „Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte“ gerade aus heutiger Sicht so außergewöhnlich lesenswert macht, ist die Tatsache, dass hier in einer unglaublichen Komplexität die Geschichte einer jüdischen Familie weitergegeben wird, die von Rettung, Überleben und Auslöschung erzählen kann. Eine Familie, die es nicht verhindern konnte, die volle Wucht der Nazi-Ideologie zu erleiden, die es aber im Vorfeld der Deportationen zumindest schaffte, zwei Kinder aus Österreich in Sicherheit zu bringen. Zwei Angehörige der Familie starben. Zwei überlebten den Holocaust. Eine sechsköpfige Familie, deren Familienfoto von Nazis für alle Zeit zerrissen wurde. Die losen Enden konnten nie wieder vereint werden.

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Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Dieses Familienfoto finden wir, wenn wir die Schutzbroschur aufklappen. 1938 in Wien entstanden, sehen wir dort die Familie Kleinmann. Vater Gustav, Mutter Tini, zwei Töchter, zwei Söhne. Ihnen folgen wir auf der Grundlage von Tagebuchaufzeichnungen des Familienoberhauptes und Interviews mit den Überlebenden der Familie. Der Autor Jeremy Dronfield hat sich tief in die Familiengeschichte hineinrecherchiert. Er hat die Gespräche persönlich geführt, Mosaiksteine zusammengefügt und Primärquellen durch die Hinzuziehung sekundärer Dokumente untermauert. So entstand eine anschauliche und lebendig erzählte Familiengeschichte, die stellvertretend für die vielen unerzählten Geschichten des Holocaust steht. Was Jeremy Dronfield hier so lebendig wie in einem Roman erzählt, ist nicht leicht zu lesen. Hier schlägt uns die ganze ungeschönte Wucht der Menschenverachtung des Nazi-Regimes entgegen. Man kann sich dem Buch nicht entziehen. So grausam die Details, so unfassbar das Grauen auch ist.

Allein die schleichenden Anfänge der Judenverfolgung in Österreich machen uns hellhörig für jede Form von Antisemitismus, die uns heute begegnet. Es braucht nicht besonders viel Fantasie, um den Bogen weiterzuspinnen, um zu erkennen, wohin eine Gesellschaft abdriftet, die den Sprachjargon der Nazizeit wieder salonfähig macht. Wer heute die alten Automatismen bedient und sich erneut auf die Suche nach Underdogs der Gesellschaft macht, kann später jedoch nicht mehr sagen „Wir haben davon nichts gewusst!“ Geschichte wiederholt sich nur zu augenfällig. Das Lesen dieses Buches ist wesentlich für das Verständnis der Schlinge, die sich immer enger um die Kleinmanns zog. Ihre Lebensgeschichte beweist erneut, dass der Judenhass in der Gesellschaft tief verankert war und nur auf dieser Grundlage ein Genozid in diesem großen Stil realisiert werden konnte.

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Wer sich auf dieses Buch einlässt, sollte gewappnet sein für eine Grenzerfahrung im Bereich der Literatur über den Holocaust. Man wird Wegbegleiter zweier Kinder, die in Sicherheit gebracht und gleichzeitig der Familie dauerhaft entfremdet werden. Im weiteren Verlauf der Geschichte erleben wir die Verzweiflung der Mutter und einer ihrer Töchter, denen es nicht gelingt zu fliehen. Bürokratische Grenzen der freien Länder im Angesicht der Judenverfolgung verhindern ihre Ausreise. Mit tödlichen Folgen, was uns an die heutigen Diskussionen zu sicheren Herkunftsländern erinnert. Gustav Kleinmann und sein Sohn Fritz werden deportiert und erleben die Vernichtungsmaschinerie einiger Konzentrationslager am eigenen Leib. Nur ihr Zusammenhalt und der pure Zufall retten ihnen das Leben. Doch Freiheit und die Befreiung aus Auschwitz haben nichts mit dem 27. Januar 1945 zu tun. Eine Geschichte, die vielfache Botschaften in sich trägt.

Ist eine solch tragische Familiengeschichte über den Holocaust und seine Folgen sakrosankt und darf nicht kritisiert werden? Sicherlich nicht. Sie ist unantastbar und wahr. Und doch sollte ein Historiker und Autor, der ein menschenverachtendes System beschreibt, das seine Gegner schon an Äußerlichkeiten festmacht und Untermenschen physiognomisch als „hässliche Juden“ vermessen lässt, bei Beschreibungen der Täter nicht in ein ähnliches Schema verfallen. Dronfield macht Täter an Äußerlichkeiten, wie Schweinegesicht, flachen Köpfen und charakterlosen Augen fest. Wenn man sich aber Fotos anschaut, die sie zeigen, ist es viel auffälliger, wie harmlos sie eigentlich wirken. Eine Beobachtung, die Hannah ArendtDie Banalität des Bösen“ nannte. Hier muss der Schriftsteller – gerade in einem solchen Buch – darauf achten, sich nicht angreifbar zu machen. Hier wird vieles zur Gratwanderung. Ebenso empfand ich einen Satz mehr als grenzwertig, wenn:

…er die Geschichten aus Birkenau hörte, besonders der schrecklichen Gerüchte der Geheimnisträger, die im Sonderkommando im Krematorium gedient hatten, heizten sie seine Fantasie auf grausame Weise an.

Ich denke, hier ist sprachlich mehr Vorsicht geboten. „Krematorien heizen Fantasie an“… schwer zu verdauen im Kontext.

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Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Ich bin kritisch bei diesen Büchern. Ich will verhindern, dass neue Rechte sie in den Bereich der Unsachlichkeit abschieben können. Ich will ihren Inhalt wirken sehen, weil die Zeitzeugen nicht mehr selbst erzählen können. Wir können diese Geschichten und damit auch die Menschen in Erinnerung halten. Wir können sie lesen, sie empfehlen, in den Mittelpunkt unseres Interesses stellen und sie auch verteidigen. Dieses Buch ist es wert, verteidigt zu werden. Meine Kritik richtet sich nicht gegen den Kern des Erzählten. Es geht mir nur um den sorgsamen Gebrauch von Worten, Attributen und Prädikaten.

Wien. Wer bei „Mein Name ist Judith“ von Martin Horváth noch davon ausgehen durfte, dass Fiktionales erzählt wurde, der sollte die Geschichte der Kleinmanns im direkten Zusammenhang sehen. Im Kern beginnen beide im Jahr 1938 in Wien. Beide Familien, die erfundene Familie Klein und die wahrhaftige Familie Kleinmann, leben in der Leopoldstadt. Hier schließen beide Bücher einen Kreis, den nur aufmerksame und sensibilisierte Leser erkennen. Was bei Judith allzu unwirklich erscheint, wird in diesem Buch umso realer. Wer Distanz benötigt, sollte Judith kennenlernen. Wer die Wahrheit verkraften kann, muss den Weg mit Gustav und Fritz gehen. Beiden Familien zu folgen ist mutig. Sehr sogar…

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Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Gegen das Vergessen bei Astrolibrium. Lebenslang verpflichtet. Dieser Artikel ist Eva Mozes Kor in liebevoller Erinnerung gewidmet. Shalom.

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Für Eva Mozes Kor

Ein Gedanke zu „Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

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