FALTER Bücherfrühling 2011

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FALTER

Bücher-Frühling 2011 Nr. 10a/11

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

78 Bücher auf 48 Seiten

Romane: Schauplatz New York City +++ Sigrid Löffler über Söhne auf der Vatersuche +++ Der neue Houellebecq Ein Schwerpunkt zur Moral: böse Philosophen und gute Tiere +++ Vegetarisch: gut und trotzdem schmackhaft Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2289/2011



IN HALT

Liebe Leserin, lieber Leser Vor Jahren gab es einmal eine vollkommen USA-freie Buchbeilage. Diesmal präsentieren wir das Kontrastprogramm: zehn Seiten mit Romanen, die in und rund um New York spielen; zwei Seiten über Dorothy Parker und Paula Fox runden den epischen Schwerpunkt ab. Der Fokus auf heimische Literatur ist ein Standard – wie mittlerweile auch der große Überblicksartikel von Sigrid Löffler, der sich diesmal der Literatur von Söhnen über ihre Väter widmet. Der Sachbuchteil steht ganz im Zeichen der Moral. Er stellt die Frage, wie man leben soll, was Moral von Ethik unterscheidet, und forscht nach dem Ursprung des Bösen – ergänzt durch böse Mütter, böse Märkte, böse Luftpiraten und böse Sauger. Auch beim Kochen hat sich dieses Mal das Gute vor den Genuss gedrängt. Wer bloß Spaß haben will, dem bleibt also nur der Griff zu den Schwarten der Kabarettisten ... K IR STIN BR EITENFELLNER , K L AUS NÜCHTERN

Illustrationen

Das Artwork dieser üppig illustrierten Beilage hat Simon Vith gestaltet. Vith, 1986 in Feldkirch geboren, ist Illustrator, bildender Künstler und Akkordeonist der Band Café Olga Sánchez. Er lebt und arbeitet in Wien Inhalt

Literatur New York und Umgebung Seite 4—15 Aus heimischem Anbau Seite 16—20 Söhne über ihre Väter Seite 24 Sachbuch Schwerpunkt Moral Seite 28—34 Meere Seite 37 Humor Seite 38 Moskau gestern und heute Seite 40—41

Index

Literatur Bayer, Xaver 18 Burnside, John 24 Cheever, John 10 Conrad, Bernadette 15 Doctorow, E.L. 11

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Editorial

Besprochene Autoren

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Fox, Paula 15 Geiger, Arno 24 Grill, Andrea 16 Harlan, Thomas 24 Höpfner, Niels 26 Houellebecq, Michel 21 Jacobs, Arthur 20 Karl, Michaela 14 Kluge, Alexander 23 Knausgård, Karl Ove 24 Kureishi, Hanif 24 Kurzeck, Peter 27 Lethem, Jonathan 7 Levi, Mario 22 Pamuk, Orhan 22 Parker, Dorothy 14 Price, Richard 4 Tóibín, Colm 8 Towles, Amor 6 Rees, Matt Beyon 9 Roth, Philip 12 Schrott, Raoul 20 Stavarič, Michael 19 Whitehead, Colson 13 Zschokke, Matthias 26

Sachbuch Appel, Sabine 33 Appiah, Kwame Anthony 28 Bischof, Harry 46 Bischof, Tanja 46 Blom, Philipp 34 Borrmann, Norbert 42 Buchinger, Manfred 46 Chua, Amy 34 Coupland, Douglas 43 Deutsch, Reinhard 42 Duerinck, Miki 46 Eibl, Christina 40 Erliner, Rainer 30 Ferrigno, Ursula 46 Greenberg, Paul 37 Grissemann, Christoph 38 Gutmann, Johannes 46 Kampits, Peter 31 Klell, Christine 42 Knolle, Julia 45 Leybart, Kristin 46 Oberbell, Klaus 46 Ottolenghi, Yotam 46 Pelzer-Reith, Birgit 37

Perry, Neil 46 Pfaller, Robert 30 Pohl, Ines 28 Radkau, Joachim 36 Regener, Sven 38 Reichholf, Josef 44 Reisinger, Johann 46 Rowe, Silvena 46 Schaper, Rüdiger 42 Schlaffer, Hannelore 43 Schlögel, Karl 41 Sievers, Gerd 46 Sjöberg, Fredrik 45 Sorg, Eugen 31 Steinbeck, John 41 Stermann, Dirk 38 Strunk, Heinz 38 Szpiro, George 39 Tan, Terry 46 Treuille, Eric 46 Vogl, Joseph 35 Vowinkel, Annette 35 Waal, Frans de 32 Weiss, Jessica 45

Impressum Falter, Zeitschrift für Kultur und Politik. 34. Jahrgang. 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Herausgeber: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. Medieninhaber: Falter Zeitschrift en Ges.m.b.H. Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Klaus Nüchtern Layout: Barbara Blaha, Reinhard Hackl, Raphael Moser Korrektur: Hildegard Atzinger, Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh, Maria Schiestl Druck: Goldmann Druck AG, 3430 Tulln, DVR-Nr. 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten.

A. Punkt, Fischerstiege 1–7, 1010 Wien Aichinger Bernhard, Weihburggasse 16, 1010 Wien Berger, Kohlmarkt 3, 1010 Wien Facultas im NIG, Universitätsstraße 7, 1010 Wien Freytag & Berndt, Kohlmarkt 9, 1010 Wien Frick, Kärntner Straße 30, 1010 Wien Frick International, Schulerstraße 1–3, 1010 Wien Herder, Wollzeile 33, 1010 Wien Kuppitsch, Schottengasse 4, 1010 Wien Leo & Co., Lichtensteg 1, 1010 Wien Lia Wolf, Bäckerstraße 2, 1010 Wien Löwelstraße, Löwelstraße 18, 1010 Wien Morawa & Styria, Wollzeile 9, 1010 Wien ÖBV, Schwarzenbergstraße 5, 1010 Wien Schottentor, Schottengasse 9, 1010 Wien tiempo, Johannesgasse 16, 1010 Wien Winter, Landesgerichtsstraße 20, 1010 Wien Lhotzkys Literaturbuffet, Taborstraße 28, 1020 Wien tiempo nuevo, Taborstraße 17a, 1020 Wien Ebbe und Flut, Radetzkystraße 11, 1030 Wien Laaber, Landstraßer Hauptstraße 33, 1030 Wien Thalia, Landstraßer Hauptstraße 2a/2b, 1030 Wien Jeller, Margaretenstraße 35, 1040 Wien Malota, Wiedner Hauptstraße 22, 1040 Wien Lehrmittelzentrum Technik, Wiedner Hauptstr. 6, 1040 Wien Thalia, Mariahilfer Straße 99, 1060 Wien Hintermayer, Neubaugasse 27, 1070 Wien Krammer, Kaiserstraße 13, 1070 Wien Posch, Lerchenfelder Straße 91, 1070 Wien Walther König, Museumsplatz 2, 1070 Wien Bernhard Riedl, Alser Straße 39, 1080 Wien Eckart, Josefstädter Straße 34, 1080 Wien Lerchenfeld, Lerchenfelder Straße 50, 1080 Wien Buch-Aktuell, Spitalgasse 31, 1090 Wien Facultas am Campus, Altes AKH, Alserstraße 4, 1090 Wien Leporello, Liechtensteinstraße 17, 1090 Wien Löwenherz, Berggasse 8, 1090 Wien Management Bookservice, Augasse 5–7, 1090 Wien Reisebuchladen, Kolingasse 6, 1090 Wien Yellow, Garnisongasse 7, 1090 Wien BVG-Bücherzentrum, Schönbrunner Straße 261, 1120 Wien Bestseller, Hietzinger Hauptstraße 22, 1130 Wien Buchkontor, Kriemhildplatz 1, 1150 Wien Morawa V.I.C., Hackinger Straße 52, 1140 Wien Book Point 17, Kalvarienberggasse 30, 1170 Wien Hartliebs Bücher, Währinger Straße 122, 1180 Wien Baumann, Gymnasiumstraße 58, 1190 Wien Fritsch Georg, Döblinger Hauptstraße 61, 1190 Wien Stöger, Obkirchergasse 43, 1190 Wien Thalia, Q19, Kreilplatz 1, 1190 Wien Hartleben, Othmargasse 25, 1200 Wien Bücher Am Spitz, Am Spitz 1, 1210 Wien Thalia, SCN, Ignaz-Köck-Straße 1, 1210 Wien LeseZeit, Stockholmer Breitenfurter Straße, 1230 Wien BVG-Bücherzentrum, SCS, Top 155, 2331 Vösendorf Morawa & Styria, SCS, Top 49A, 2331 Vösendorf Berthold, Hauptstraße 51, 2340 Mödling Dietz GmbH, Bahnstraße 1, 2351 Wiener Neudorf Valthe, Wiener Gasse 3, 2380 Perchtoldsdorf Hikade, Schulgasse 2a, 2700 Wiener Neustadt Mitterbauer, Wiener Straße 10, 3002 Purkersdorf Sydy’s, Wiener Straße 19, 3100 St. Pölten Thalia Kremsergasse 12, 3100 St. Pölten Schmidl, Obere Landstraße 5, 3500 Krems/Donau Alex, Hauptplatz 17, 4020 Linz Thalia, Landstraße 41, 4020 Linz Thalia, Schmidtgasse 27, 4600 Wels Thalia, Pfarrgasse 11, 4820 Bad Ischl Michael Neudorfer, Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck Thalia, Wohlmeyrgasse 4, 4910 Ried/Innkreis Motzko, Rainerstraße 24, 5017 Salzburg Höllrigl, Sigmund-Haff ner-Gasse 10, 5020 Salzburg Morawa & Styria – Europark, Europastraße 1, 5020 Salzburg Morawa & Styria SCA, Alpenstraße 107, 5020 Salzburg Rupertusbuchhandlung, Dreifaltigkeitsg. 12, 5020 Salzburg Facultas NAWI-Shop, Hellbrunner Straße 34, 5020 Salzburg Engelhard Brandstötter, Marktplatz 15, 5310 Mondsee Morawa & Styria, Anichstraße 5, 6020 Innsbruck Tyrolia, Maria-Theresien-Straße 15, 6020 Innsbruck Wagner!sche, Museumstraße 4, 6020 Innsbruck Jöchler, Malserstraße 16, 6500 Landeck Eulenspiegel, Marktstraße 42, 6845 Hohenems Ananas, Marktplatz 10, 6850 Dornbirn Brunner, Rathausstraße 2, 6900 Bregenz Brunner, Dr.-Schneider-Straße 22, 6973 Höchst Dradiwaberl Uni-Shop, Zinzendorfgasse 25, 8010 Graz Pock, Hauptplatz 1, 8010 Graz Leykam, Europaplatz 4, 8010 Graz Leykam, Stempfergasse 3, 8010 Graz Moser Ulrich, Herrengasse 23, 8010 Graz Leykam, Hauptplatz 2, 8330 Feldbach Heyn Johannes, Kramergasse 2, 9020, Klagenfurt


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LITER ATUR

Rocco und die beiden Brüder oder Dealer er Literatur wirklich loben will, greift gern zu Vergleichen mit jüngeren Medien, „Das literarische Road-Movie“ wird immer noch gerne genommen. In jüngster Zeit hat der Verweis auf Serien für TV-Connaisseure dem Film allerdings ein bisschen den Rang abgelaufen. „Dank ‚Mad Men‘ aktueller denn je“ bewirbt etwa der DuMont Verlag seine Neuübersetzung von John Cheevers „Bullet Park“ (siehe Seite 10). Und auch S.Fischer preist Richard Price’ Roman „Clockers“ als „Blaupause der Kulturserie ‚The Wire‘ an. Nur weil sie der PR dient, muss eine Behauptung aber noch nicht falsch sein: Das Räuber-und-Gendarm- respektive Dealerund-Cop-Spiel ist Handlungsmotor sowohl des Romans als auch der Fernsehserie (an der Richard Price darüber hinaus auch als Drehbuchautor mitwirkte). Und der Spitzenwitz mit der Baseballkappe kommt sowohl in „Clockers“ als auch in „The Wire“ vor: Wo man denn die Mützen bekomme, bei denen der Schirm nicht vorne, sondern seitlich überm Ohr angebracht sei, fragt Rocco einen Burschen. In „The Wire“ ist es der tumbe Officer „Herc“ Hauke, bei dem man sich nicht ganz sicher ist, ob er es auch als Witz gemeint hat.

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Als Price 1992 seinen fünften Roman heraus-

brachte, waren dem ausgiebige Recherchen sowohl im Polizei- als auch im Dealer-Milieu von Jersey City vorangegangen

– die Stadt, der das fiktive Dempsy nachempfunden wurde. „Hätte ich auf die Erlaubnis gewartet, mit New Yorker Polizisten abzuhängen, hätte ich in der Zeit den halben Roman geschrieben. Ich hätte mein Leben geben müssen, um auch nur einen Park-Sheriff begleiten zu dürfen“, meinte Price in einem Interview. Der Aufwand hat sich literarisch ebenso gelohnt wie ökonomisch: Der gebürtige New Yorker, der damals schon für die Drehbücher zu Scorseses „The Colour of Money“ oder den Thriller „Sea of Love“ (mit Al Pacino und Ellen Barkin) bekannt war, bot den Roman gleichzeitig acht Verlagen an. Für 500.000 Dollar machte Houghton Mifflin das Rennen, die Filmrechte gingen für 1,9 Millionen Dollar an Universal.

Mit „Clockers“ hat Richard Price das Gangster-Genre revolutioniert und TV-Serien wie „The Wire“ antizipiert

Mittlerweile wirkt Spike Lees cineastischer

Flirt mit der Rap-Ästhetik (und Harvey Keitel in der Rolle des Detective Rocco Klein) ein wenig angestaubt. „Im Roman geht es um Tiefe, um die Textur. Drehbücher sind bloß zweidimensional“, merkte Price vor einiger Zeit in einem Gespräch mit der New York Times an. Tatsächlich geht dem Film all das ab, was den 800 Seiten starken Roman ausmacht: diese ganz spezifische Mischung aus akribischer Ausführlichkeit und atmosphärischer Verdichtung, an lakonischem Witz und ausuferndem Gerede. „Clockers“, wie die meist blutjungen Burschen genannt werden, die für die Dealer Ampullen an die Endverbraucher ver-

Richard Price: Clockers. Roman. Deutsch von Peter Torberg. S.Fischer, 800 S., € 23,60

checken, um sich die angesagten Sneakers leisten zu können, beschreibt eine beinharte Wirklichkeit, will aber mit seiner „Härte“ nicht protzen. Die kokette trashige Toughness eines Quentin Tarantino ist ihm erfreulich fremd. In all der tristen Aussichtslosigkeit des Dealer-Milieus gibt es auch absolute Ausnahmefiguren wie Victor Dunham, einen jungen, treusorgenden Familienvater, der sich lieber mit mies bezahlten Jobs in BurgerBuden und Asia-Billigläden über Wasser hält, als sein Geld mit Drogen zu verdienen wie sein Bruder Rodney, genannt „Strike“, der – widerwillig und immer mit dem Vorsatz, „demnächst“ auszusteigen – für Rodney Little dealt und mittlerweile immerhin 22.000 Dollar auf der hohen Kante hat. Als Victor einen Mord gesteht, den Rodney eigentlich bei Strike in Auftrag gegeben hat, nimmt der in dem Fall ermittelnde Rocco ihm das nicht ab und macht es zu seiner „Mission“, die mutmaßliche Wahrheit ans Licht zu bringen. Rocco und die beiden Dunham-Brüder – das ist wie ein Billardspiel über mehrere Banden. So wie eine ganz schön lange Zeit vergeht, bevor sich Al Pacino und Robert De Niro in Michael Manns Film „Heat“ endlich gegenüberstehen, so dauert es bis Seite 532, bevor die beiden Protagonisten, aus deren wechselnder Perspektive der Roman erzählt wird, einander persönlich begegnen: „Bist du Ronnie Dunham? Ich


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machen auch nur ihre Arbeit bin Rocco Klein von der Mordkommission, hast du mal einen Augenblick Zeit für mich?“ Aber während „Heat“ das filmhistorische Faktum, dass seine beiden Stars bislang noch nie eine gemeinsame Szene hatten, als kalkuliertes Spannungsmoment nutzt, vollzieht sich die Erstbegegnung in „Clockers“ ganz beiläufig. Rocco und Rodney sind denn auch keine glamourösen Meisterdiebe oder Supercops, sondern nur zwei Normalos, die versuchen, ihren (Arbeits-)Alltag mit Anstand und mitunter erstaunlicher Ambition zu bewältigen.

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

Ein tiefsitzender Respekt vor der Arbeit zeich-

net „Clockers“ ebenso aus wie „The Wire“ (wo der geschasste Polizist Roland „Prez“ Pryzbylewski auf herzergreifende Weise in seine neue Rolle als Mathe-Lehrer hineinwächst). „Der Reverend zielte mit einem Finger auf Roccos Gesicht. ‚Exakt! He, Mann, an Ihnen ist ein Prediger verlorengegangen!‘ Rocco wurde rot. Dieser Bursche war gut.“ Vor Leuten, die „gut“ sind, die ihre Arbeit machen, anstatt einen Job runterzubiegen, haben die Menschen Respekt. Price, der in einem mehrheitlich katholischen und weißen Teil der Bronx aufgewachsen ist und Wurzeln in der jüdischen Arbeiterklasse hat, macht da keine Ausnahme: Er liebt solche Figuren, und seine Leser lieben ihn dafür, dass er selbst dieser gar nicht so kleinen Gruppe angehört.

Schwerpunkt New York (und Umgebung) Richard Price: Clockers Mord und Drogen westlich und östlich des Holland Tunnel Amor Towles: Eine Frage der Höflichkeit Ein historischer Roman aus dem Manhattan der 30er-Jahre Jonathan Lethem: Eine Frage der Höflichkeit A Tiger in New York City?! Nicht nur das – es schneit auch noch Colm Tóibín: Brooklyn Nomen est omen. Meistgenannte Straße: Fulton Street Matt Beynon Rees: Der Attentäter von Brooklyn Little Palestine liegt entlang der 5th Avenue John Cheever: Die Lichter von Bullet Park Eine fiktive Vorstadt von New York E.L. Doctorow: Homer & Langley Central Park, Upper East Side und Harlem Philip Roth: Nemesis No na Newark – mit einem Ausflug in die Pocono Mountains Colson Whitehead: Der letzte Sommer auf Long Island Titelklarheit ist Titelwahrheit, und auch Schwarze haben Strandhäuser

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Alle neun Romane des Schwerpunkts spielen in New York und/oder New Jersey

Man mag von den verbosen Ausführungen, mit denen Rocco seinem jeweiligen Gegenüber eine Information oder ein Zugeständnis aus dem Kreuz leiern will, mitunter etwas genervt sein, aber man darf davon ausgehen, dass ein 43-jähriger Polizist in einer 250.000-Einwohner-Stadt New Jerseys so reden und handeln könnte. All die unsinnigen und überflüssigen Details, Beobachtungen und Bemerkungen, mit denen mittelmäßige Schriftsteller ihre Bücher auf Romanlänge strecken wie ein Dealer das Koks mit Abführmittel – „Je weiter nach Süden, desto schwächer der Stoff, außer, wenn du zu weit nach Süden gehst, dann landest du nämlich in Miami“ –, kommen bei Price nicht vor. Ein ebenso unspektakuläres wie symptomatisches Beispiel dafür ist eine Szene, in der Rocco Erkundungen bei Victors Arbeitgeber Hector einholt. Price begnügt sich nicht damit, ein paar atmosphärische Details einzustreuen, sondern beschreibt akribisch, wie Hector die Beseitigung des Mülls anordnet, die Reinigung des Grills mittels Spachtel und Stahlwolle vorführt, den gefrorenen Schellfisch ins heiße Öl wirft, einen direkt neben den Frittierkörben stehenden Becher mit Chlorreiniger in den Ausguss schüttet. Keine Frage, der Bursche ist gut. Und fraglos würde Richard Price auch in einer Frittenbude einen Top Job erledigen. K L AUS NÜCHTERN


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Von der unauffälligen Pflege der Hände und Zähne In seinem ersten Roman, „Eine Frage der Höflichkeit“, zeichnet Amor Towles ein eher blasses Bild des New York der 30er-Jahre ew York City, 1966. Kate besucht eine N Ausstellung des Fotografen Walker Evans, der in zahlreichen berühmten Bildern die Zeit der Depression dokumentiert hat. Dort entdeckt sie zwei Aufnahmen eines Mannes, den sie vor langer Zeit gekannt hat. Sie erinnert sich an eben jenen Tinker Grey, den sie und ihre enge Freundin Eve in der Neujahrsnacht 1938 trafen. „Eve sah ihn als Erste. Sie drehte sich gerade um und machte eine Bemerkung, als sie ihn über meine Schulter hinweg erblickte. Sie trat mich gegen das Schienbein und deutete mit dem Kopf in seine Richtung. Ich rückte meinen Stuhl rum. (…) ‚Meiner‘, sagte Eve.“ Die beiden jungen, gutaussehenden, freilich nicht gerade begüterten Frauen bringen dem charmanten, doch dezenten Banker bei, wie man ohne zu bezahlen in ein Kino und günstig zu Mahlzeiten kommt. Im Gegenzug verschafft er ihnen Zutritt in die mondäne Welt der Clubs und Partys. So entwickelt sich eine enge und unbeschwerte Freundschaft, die durch einen Unfall jäh verändert wird. Tinkers Auto wird gerammt und Eve erleidet schwere Verletzungen. Tinker, obwohl schuldlos, fühlt sich verpflichtet, Eve zu betreuen, und nimmt sie in sein Appartement an der schicken Westseite des Central Parks auf. Dadurch verschiebt sich das Beziehungsdreieck. Erst viel später wird klar, dass

eigentlich Tinker und Kate ineinander verliebt sind. Da haben sich die Wege der drei aber längst getrennt.

25. Überflüssige Komplimente und manierierte Angewohnheiten sollte man gemeinhin vermeiden, doch wo sie angebracht sind, darf man nicht auf sie verzichten.

„Eine Frage der Höflichkeit“ ist der erste Ro-

man von Amor Towles, der im Hauptberuf in einem Finanzberatungsunternehmen arbeitet. Das Buch konzentriert sich mehr und mehr auf die Hauptfigur Kate – auf ihre berufliche Laufbahn, die sie von der einfachen Sekretärin in einem Anwaltsbüro ins Verlagswesen führt, vor allem aber auf ihren gesellschaftlichen Umgang, ihre Affären und neuen Freundschaften. Die anderen Charaktere bleiben unscharf. Das gilt insbesondere für Tinker, dessen Ehrenhaftigkeit und Prinzipienfestigkeit im weiteren Verlauf deutlich relativiert wird, um schließlich in selbstgewählter Isolation und sozialem Abstieg zu münden. So recht nachvollziehbar ist das nicht. Zusehends löst sich die Handlung in Sentimentalität auf. Am Ende ist Tinker arm, allein, aber glücklich. Im Anhang sind George Washingtons berühmte – und aus heutiger Sicht oft kuriose – 110 Regeln der Höflichkeit aufgelistet, die ursprünglich einer jesuitischen Quelle des 16. Jahrhunderts entstammen: 1. Was immer Sie in Gesellschaft tun, tun Sie es mit Respekt den anderen gegenüber. 15. Achten Sie auf gepflegte, kurz geschnittene Nägel, saubere Hände und Zähne, aber lassen Sie sich das Bemühen nicht anmerken.

Diese Vorschriften bilden, wie der Titel schon sagt, in gewisser Weise den geistigen Kern des Romans, stellen sie doch für Tinker angeblich eine Art Maxime seines Handelns, jedenfalls für seine zunächst steile Karriere dar. Doch auch dies erschließt sich dem Leser nicht. Noch schwerer wiegt, dass es Amor Towles nur sehr selten gelingt, die Atmosphäre New Yorks einzufangen. Orte und Räume werden meist nur sehr skizzenhaft beschrieben, ob es sich dabei nun um ein einfaches Lokal russischer Einwanderer, den grimmigen Meatpacking District oder den legendären 21 Club handelt, in dem Humphrey Bogart und Lauren Bacall ihr erstes Date gehabt haben sollen und der nach wie vor in der 52. Straße West existiert.

Amor Towles: Eine Frage der Höflichkeit. Roman. Deutsch von Susanne Höbel. Graf, 416 S., € 20,60

Hinzu kommt, dass die sozialen Verwerfungen der Depressionszeit weitgehend ausgeblendet werden. So entsteht ein seltsam blasser Hintergrund, vor dem die Protagonisten agieren. Das New York an der Zeitenwende 1938 – die Kriegsvorbereitungen werden wenig später die Industrie kräftig ankurbeln – wird wohl beschworen, nimmt aber nie Gestalt an. K ARL DUFFEK


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Männerfreundschaft in Manhattan In „Chronic City“ von Jonathan Lethem spielt zwischen Hudson und East River nicht nur das Wetter verrückt ie sind selten, aber es gibt sie: RomaS ne, bei denen schnell klar ist, dass zwischen diesen Buchdeckeln nichts schiefge-

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

hen kann. Auf der ersten Seite von „Chronic City“ wird ein Autorenfilmer namens Von Tropen Zollner erwähnt. Der ist zwar frei erfunden, aber leicht auf Michael Zöllner vom Tropen Verlag zurückzuführen – eine Geste des Autors gegenüber jenem Verleger und Übersetzer, der ihn im deutschsprachigen Raum bekanntgemacht hat. Jetzt wissen wir, dass Lethem, der derzeit als Nachfolger von David Foster Wallace am Pomona College Literatur unterrichtet, ein netter Kerl ist. Dass er schreiben kann, hat Lethem schon mit Büchern wie der Detektivgeschichte „Motherless Brooklyn“ oder dem Bildungsroman „Die Festung der Einsamkeit“ unter Beweis gestellt. Beide spielten in Brooklyn. In „Chronic City“ zieht es ihn erstmals nach Manhattan: Die Lower East Side dient als Schauplatz und wacht zugleich über die Geschicke der Figuren . „In Manhattan zu leben“, heißt es an einer Stelle, „bedeutet, ständig darüber zu staunen, wie viele Welten hier ineinander verschachtelt sind, mit welch chaotischer Komplexität sie sich verschränken, ähnlich den Fernsehkabeln und den Wasser-, Heizungs- und Abflussrohren, die gemeinsam dieselben Schächte bevölkern (…).“ Dieses Manhattan erinnert an jenes, das man aus Filmen, Büchern und Besuchen als

und dient lediglich als Tischdekoration bei Abendgesellschaften der Reichen. Aber lieber verliert er sich in Perkus’ abstrusen, aber auch faszinierenden Gedankenwelten; der schielende Lehrmeister und sein naiver Schüler können bald nicht mehr voneinander lassen.

das wirkliche Manhattan zu kennen meint. Einiges jedoch scheint durcheinandergeraten zu sein. So herrschen etwa ständig winterliche Verhältnisse, und wenn es im August mal nicht schneit, halten die New Yorker das für einen guten Sommertag. Zudem hält ein Tiger die Bewohner in Atem.

Er verfügt über die Kraft, ganze Wohnhäuser derart zu beschädigen, dass sie unbewohnbar werden. Vielleicht handelt es sich beim Tiger aber auch nur um ein Gerücht aus dem Büro des Bürgermeisters, und in Wahrheit kümmert sich eine Tunnelbohrmaschine nachts darum, die letzten Apartments, für die noch Mietpreisbindung gilt, auf brachiale Art zwangszuräumen. Einer solchen Aktion wird jedenfalls am Ende auch der Unterschlupf von Perkus Tooth zum Opfer fallen, einem der beiden traurigen Helden des Romans. Tooth war einst Rockkritiker beim Rolling Stone und hat in grauer Vorzeit mit extravaganten Straßenplakaten für Furore gesorgt. Als ihn Chase Insteadman kennenlernt, sitzt er nur mehr in seiner Wohnhöhle, umgeben von Büchern, CDs und DVDs sowie viel gutem Dope, und brabbelt krude Theorien über Marlon Brando vor sich hin. Insteadman seinerseits ist ebenfalls ein has-been, dessen Ruhm als Schauspieler einzig auf einer Nebenrolle in einer sehr blöden, aber auch sehr erfolgreichen und in Endlosschleife wiederholten 80erJahre-Serie basiert. Er arbeitet nicht mehr

Jonathan Lethem: Chronic City. Roman. Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner. Tropen, 491 S., € 25,70

Auf der Ebene der Charaktere ist „Chronic City“ die berührende Geschichte einer unwahrscheinlichen Männerfreundschaft. Hier schlägt das Herz dieses bis in kleinste Nebenrollen erstklassig besetzten Buches. Dass die Parallelgeschichte um Insteadmans im All gestrandete Astronauten-Geliebte blass bleibt, ist der einzige wirkliche Schwachpunkt des Romans, aber vernachlässigenswert, denn rundherum gibt es viel erstklassigen Stoff, der Hirn und Zwerchfell gleichermaßen stimuliert. Eines Tages fragt sich Perkus, ob sein Haschdealer seine Sorten (z.B. „Purple Tiger“) nach den aktuellen Ereignissen in der Stadt benennt. Oder lassen sich vielleicht umgekehrt die Redakteure der New York Times von seinem Zeug zu ihren Schlagzeilen inspirieren? „Hierbei frohlockte sein apokalyptisches Auge.“ Thomas Pynchon lässt grüßen. Dennoch ist Lethem der Roman nicht zur postmodernen Zitatorgie verkommen. Er hält sozusagen die goldene Mitte zwischen Pynchon und Franzen. Darin liegt seine Klasse. SEBASTIAN FASTHUBER


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Zwischen zwei Jobs liegt bloß der Atlantik In seinem Roman „Brooklyn“ erzählt Colm Tóibín ostentativ unaufgeregt die Geschichte einer jungen irischen Auswanderin ür Emigration gibt es unterschiedliF che und unterschiedlich dramatische Gründe, in der Regel aber hofft man, dass es einem „drüben“ besser ergehen möge – wobei das Spektrum zwischen nüchterner Pragmatik und paradiesischen Projektionen naturgemäß breit ist. Im Falle von Eilis Lacey, die ihre südirische Heimat in Richtung New York verlässt, ist es offenbar nicht viel dramatischer, den Kontinent zu wechseln als den Arbeitsplatz. Und im Grunde genommen ist es auch bloß ein Jobwechsel: Statt Corned Beef im Laden der mürrischen Miss Kelly verkauft sie eben Nylonstrümpfe im Geschäft von Mrs. Bartocci. Nun ist es fraglos ein Zugewinn an Glamour und Weltoffenheit, wenn Eilis Red-Fox-Strümpfe in den Farben Sepia und Coffee auch an schwarze Kundinnen verkaufen kann, aber dass es in Brooklyn ganz anders zuginge als zu Hause, verhindert schon die irische Community, in der sich Eilis bewegt – inklusive Weihnachtsfeier und Tanzabend.

Der Rezensent der New York Review of Books pries die „stille, kristallklare, gedul-

Die Hitze, die Kälte, das Heimweh setzen der jungen Auswanderin zu, gewiss, aber mit „Brooklyn“ hat Colm Tóibín, der wie seine Protagonistin aus der Grafschaft Wexford stammt, doch einen Roman geschrieben, dessen spektakulärste Eigenschaft sein Mangel an Dramatik ist; und zwar nicht, weil er ereignisarm wäre, sondern weil die schicksalhaften Wendungen erst in der Rückschau als solche auszumachen sind: Was einem als Biografie zuwächst, wird eines Tages das Leben gewesen sein, das man geführt hat. So wie ihre Emigration in die USA im Grunde

von anderen beschlossen wurde, so lässt sich Eilis von ihrem italienischstämmigen Freund auch in eine geheim gehaltene Heirat drängen. Tony ist ein überaus anständiger und sympathischer junger Mann, aber von denen hätte es, wie Eilis anlässlich ihrer tragisch motivierten Rückkehr in die alte Heimat feststellen kann, auch in Wexford welche gegeben.

Colm Tóibín: Brooklyn. Aus dem Englischen von Giovanno und Ditte Bandini. Hanser, 303 S., € 22,60

dige Prosa“ von „Brooklyn“. In ihr liegt gewiss die Dignität des Romans, der vor allem in der transkontinentalen Detailbeobachtung überzeugt. Es soll freilich nicht verschwiegen werden, dass auch der Leser einiges an Geduld aufbieten muss. „Sie setzte ihren Sonnenhut auf, und er installierte den Sonnenschirm, damit sie keinen Sonnenbrand bekamen, und er packte außerdem einen Imbiss aus, den seine Mutter vorbereitet hatte, einschließlich einer Thermosflasche eiskalte Limonade.“ Diese Schilderung eines Ausfluges nach Coney Island ist ein typisches Beispiel für den nicht eben gnadenlosen „Groove“ des Romans. Und dass das wohl ästhetisches Kalkül ist, beantwortet noch nicht hinreichend die Frage, warum Tóibín ausgerechnet diese Geschichte auf dermaßen bedächtige, um nicht zu sagen: betuliche Weise erzählen musste. K L AUS NÜCHTERN

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A Time to Laugh and a Time to Die In seinem jüngsten Thriller zeichnet Matt Beynon Rees ein detailgenaues und lebendiges Bild von „Little Palestine“ in Brooklyn

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

er Waliser Matt Beynon Rees war lange D Leiter des Jerusalemer Büros von Time. Als er merkte, dass es in Palästina mehr Geschichten zu erzählen gibt, als man in journalistische Texte packen kann, erschuf er seinen palästinensischen Ermittler Omar Jussuf, einen gebrechlichen Mittfünfziger und politischen Querkopf, der in einer UNSchule für Flüchtlinge in Bethlehem Geschichte unterrichtet. Seinen vierten Fall löst Omar in New York. In der Wohnung seines Sohnes, der in „Little Palestine“ in Brooklyn lebt, findet er eine kopflose Leiche. Die New Yorker Polizei in Gestalt eines Exil-Palästinensers verhaftet den Sohn auf der Stelle. Omar stößt auf Spuren, die ihn zu einem möglichen Attentat auf den palästinensischen Präsidenten während einer UN-Konferenz führen – wobei die Attentäter aus dem Freundeskreis seines Sohnes zu kommen scheinen. Aber nicht der Plot ist das Aufregende an diesem Thriller, sondern die Einsichten, die er ins Innenleben der Protagonisten

gewährt. Und die Witze. Als Omar Jussuf knapp einem Anschlag entgeht und eine Zeugin meint, er habe Glück, dass er noch am Leben sei, antwortet dessen Begleiter trocken: „Kein Zufall, Verehrteste. Mein Freund ist Palästinenser.“ Und während der kettenrauchende Polizeichef aus Bethlehem einmal anmerkt, lieber in die Hölle zu fahren, als in einem Nichtraucherparadies „wie Amerika“ weiterleben zu wollen, stellt ein palästinensischer Polizist aus New York fest: „Die kurzen und unkalkulierbaren Dienstzeiten des Nahen Ostens kann ich hier leider nicht einhalten.“ Durch den Mund seines Protagonisten liest

Rees den Palästinensern die Leviten: Würden sie mit einer Stimme sprechen und sich nicht von Fanatikern aufhetzen lassen, brauchten sie die Schuld an ihrem Unglück auch nicht immer bei anderen zu suchen. Andererseits beschwört der Autor die levantinische Lebensart inklusive aller Schrulligkeiten so liebevoll, dass ihm wohl

Matt Beynon Rees: Der Attentäter von Brooklyn. Aus dem Englischen von Klaus Modick. C.H. Beck, 336 S., € 19,50

auch hartgesottene Hamas-Anhänger nicht wirklich böse sein können. Eine besondere Stärke von Rees sind dessen lebendige Personenbeschreibungen. Mit wenigen Beobachtungen und Details schafft er plausible Charaktere. Da trägt der intrigante Gegenspieler von Omar Jussuf immer knisternde billige Plastikanzüge. Und die Fasson der Schuhe verrät ebenso viel über ihre Träger wie der Haarschnitt. „Little Palestine“, die Gegend rund um die Fifth Avenue in Brooklyn, erweckt Rees mit großem Gespür zum Leben. Es macht einen Unterschied, ob man aus Ägypten, dem Libanon oder dem Gazastreifen kommt. Wenn man hingegen aus dem gleichen Ort, und sei er noch so erbärmlich, stammt, geht man mit großem Vertrauensvorschuss aufeinander zu – allerdings nie, ohne endlose Höflichkeitsfloskeln abzusondern. Es sind diese genauen Beobachtungen, die den Roman zu einer höchst vergnüglichen Lektüre machen. THOMAS ASK AN VIER ICH


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Mit dem Schrotgewehr auf die Schnappschildkröte Mit seinem neu übersetzten „Bullet Park“ hat John Cheever einen ebenso irrsinnigen wie komischen Vorstadtroman verfasst interm weißen Lattenzaun lauert der H Abgrund. Nicht erst seit Filmen wie „Blue Velvet“ oder „American Beauty“ wissen wir, dass die Vorstadt ein Biotop des Wahnsinns ist, der Garten, in dem die Psychosen und Perversionen blühen. Eine Hermeneutik des Verdachts, die längst schon die glühendsten Apologeten der Kinderäugigkeit erfasst hat – man denke an André Hellers „Misstraue der Idylle“ –, lässt uns just dort, wo die frisch gewaschene Wäsche unschuldig im Wind flattert, den Schauplatz eines Blutbads vermuten. Das war auch für John Cheever (1912–1982) nicht wirklich neu, denn als „Bullet Park“ 1969 herauskam, war Richard Yates’ illusionslose Abrechnung mit Suburbia schon acht Jahre alt: In „Zeiten des Aufruhrs“ hatte Cheevers um 14 Jahre jüngerer Kollege den verhängnisvollen Zusammenhang von Hausfrauendasein, Ehebruch und legeren Trinksitten am Beispiel der Wheelers vorgeführt. Der schonungslos entlarvende Blick auf die Vorstadt ist bereits Bestandteil des Repertoires und wird von Cheever gleich zu Beginn an einen „hitzigen, rachsüchtigen Jugendlichen“ delegiert. In den Augen dieses unnachsichtigen Beobachters wird ein zum Trocknen aufgehängter rosa Toilettenplüschbezug selbstverständlich sofort zum „Ehrenzeichen und Wappen von Powder Hill (…), hinter dem (…) Legionen von partnertauschenden, judenhetze-

rischen, trunksüchtigen geistigen Bankrotteuren marschieren“. Diesen „Irrtum“ korrigiert der wieder in den auktorialen Modus zurück schaltende Erzähler sofort, indem er die Wickwires als Sozialarbeiter „im wahrsten Sinne des Wortes“ preist; als „Zelebranten, die ihren Charme und ihren Nimbus dazu benutzten, auf gesellschaftlicher Ebene alles in Gang zu halten“. Einen derart komischen und funkelnden Ro-

manbeginn wird man in diesem Bücherfrühling nicht sobald finden. Hier schwirrt einem im Wechsel zwischen Ironie und Idylle bald der Schädel, bis man die Frage, ob es sich hier um Satire oder Meta-Satire handle, nicht mehr zu beantworten vermag. Wer die Wäscheleine seines Erzählens bestens gelaunt mit einer so wüsten Mischung aus Kleinodbeschmuserei und boshaften Bemerkungen behängt, bei dem kann man nie sicher sein, ob gerade der Wolf im Schafspelz oder das Schaf im Wolfspelz daherkommt; fest steht lediglich: Ein hinterfotziger Hund ist so einer allemal! „Bullet Park“ war in den 70er-Jahren schon einmal auf Deutsch erschienen; in der souveränen Übersetzung von Thomas Gunkel heißt „Die Bürger von Bullet Park“ jetzt also „Die Lichter von Bullet Park.“ Die Titelheldin ist jedenfalls eine fiktive Kleinstadt vor den Toren New Yorks, in der ein seltsamer Mix an Offenherzigkeit und Heimlichtuerei herrscht.

John Cheever: Die Lichter von Bullet Park. Deutsch von Thomas Gunkel. DuMont, 256 S., E 20,60 Erscheint am 16. März

Man kennt das aus der Serie „Mad Men“, auf die die Werbekampagne fürs Buch auch Bezug nimmt: Die pittoreske Fadesse der Familienglücksfassade, hinter der die Depression haust und mit Alkohol (Cocktails am Nachmittag; Gin zur Morgenrasur!) oder heimlich im Park erworbenen Stimmungsaufhellern bekämpft wird. Das ist aber nie nur entlarvend, denn einige „Musterexemplare heterosexueller Monogamie“ haben ja tatsächlich verlässlich Freude am eigenen Fleisch – zum Entsetzen des Sohnes, der es mit anhören muss. Und es ist vor allem mit einem nie versagenden Sinn fürs Skurrile und Bizarre gewürzt: etwa wenn Paul Hammer, der IchErzähler des zweiten Teils, seine Mutter in Kitzbühel besucht, wo sich diese einer Psychoanalyse unterzieht – in Personalunion von Patientin und Analytiker; oder wenn Eliot Nailles eines Tages eine riesige Schnappschildkröte im Garten vorfindet und sie – auf Raten – mit der Schrotflinte erschießt. Apropos Gewalt! „‚Wir heißen Hammer‘, sagte der Mann zum Geistlichen. Nailles fand das nicht komisch, denn er ahnte, wie sehr es alle anderen im Ort erheitern würde.“ Wer bereits auf Seite 25 solchen namensmythologischen Druck aufbaut (Becketts „Endgame“ lässt grüßen!), hat noch was vor. Was genau, wird an dieser Stelle selbstverständlich nicht verraten. Come and read it yourself! K L AUS NÜCHTERN


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„Nenne es Gottes unentrinnbare Welt“ Anhand zweier verwahrlosender Brüder stellt E.L. Doctorow den Niedergang des amerikanischen Jahrhunderts dar edichte, heißt es, sind der Querschnitt, G Erzählungen ein Längsschnitt durch die Weltsubstanz. Im Werk von E.L. Docto-

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

row – ein Dutzend Romane, etliche Erzählund Essaybände – stellt „Homer & Langley“ den längsten Schnitt dar. Das Buch stellt ein Resümee von Doctorows amerikanischen Comédies humaines dar, der jedes Genre beherrscht: Beschreibungen historischer Schlachten ebenso wie Politthriller, den Schauerroman oder die philosophische Parabel. Das „unerhörte Ereignis“, das jeder Novelle zugrunde liegen soll, ist hier die reale Geschichte der aus dem wohlhabendem New Yorker Bürgertum stammenden Brüder Homer und Langley Collyer; als die beiden 1947 starben, wurden aus ihrem Haus in Manhattan 100 Tonnen Gerümpel entsorgt … Doctorow stellt die beiden Sonderlinge nicht als Messies dar, die auch therapiert hätten werden können, sondern als Protagonisten des Untergangs einer Gesellschaft, die, anstatt zum Lichte der Vernunft zu streben, gleichsam in Platons Höhle zurücktorkelt: „Ich bin Homer, der blinde Bruder.“ Der kaum 20-Jährige steht im Central Park und nimmt nur noch Schemen und Geräusche der vorbeizischenden Eisläufer wahr. Langley studiert an der Columbia University und heckt eine krause „Theorie der Ersetzbarkeit“ aus. Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg – die Eltern

sind gerade der weltweiten Grippeepidemie zum Opfer gefallen – beginnt er eine „Sammlung von Artefakten aus unserem amerikanischen Leben“ anzulegen. Das Leben der Privatiers nimmt rasch bizarre Formen an: Homer spielt klassenbewusst Klavier, schläft mit Julia, dem Dienstmädchen, das sich am Familienschmuck vergreift. Im Wohnzimmer steht mittlerweile ein ganzer Ford Modell T. Langley sammelt vor allem Zeitungen, um anhand der eigenhändig neu rubrizierten Ereignisse des Tages „das gesamte Leben Amerikas in einer Ausgabe festzuhalten“. Durch das Haus defiliert eine Reihe ominöser Besucher; zur Zeit der Prohibition etabliert sich im Keller ein Tanzlokal, das schließlich polizeilich aufgelöst wird. Der Rückzug wird immer radikaler, weil: „Was lässt sich schon philosophisch Bedeutsames darüber sagen, dass man ein Dach über dem Kopf hat? Drinnen ist draußen und draußen ist drinnen. Nenne es Gottes unentrinnbare Welt.“ Die große Geschichte macht auch vor Homer und Langley nicht Halt: Für den Fall eines Angriffs der Achsenmächte hängen Gasmasken im Wohnzimmer bereit, ihre japanische Haushaltshilfe wird interniert, den Tag des Sieges verfolgen sie von ihrem Hausdach aus. Als Fremdlinge in der Zeit der antikommunistischen Hysterie des Kalten Krieg und der Mondlandung werden Homer und Langley, mittlerweile langhaarig und vollkommen verwahrlost, von

den Hippies irrigerweise für ihresgleichen gehalten. Die Stadtverwaltung hat Gas, Strom und Wasserzufuhr abgestellt. Doctorow gelingt es nicht nur, seine abstrusen

E.L Doctorow: Homer & Langley. Deutsch von Getraude Krueger. Kiepenheuer und Witsch, 220 S., € 19,50

Protagonisten als Parodie auf Medien, Konsum- und Wegwerfgesellschaft zu entwerfen, er schildert die im Müll versinkenden Beckett-Figuren, die längst nur noch winzige Stellen ihres Hauses bewohnen, darüber hinaus auch mit realistischen Mitteln. Als sie sich etwa eine „Katzenpatrouille“ gegen die sich ausbreitende Mäuseplage anschaffen, führt das nicht zum gewünschten Ziel; stattdessen bepinkeln die Katzen den ganzen ersten Stock – bis zum Showdown: „bis sich die durchgeweichte Decke nach unten wölbte und einen Anblick bot wie das Hinterteil des Mondes, und schon kam der Kronleuchter herunter (…)“. Langley, dem unfreiwilligen Suizid nahe, vermag den Massenselbstmord einer Sekte in den 80er-Jahren nur noch als „Modeerscheinung“ zu rubrizieren; Homer beginnt im Auftrag einer Journalistin schließlich ein Tagebuch zu führen. E.L. Doctorows Beschreibung des Niedergangs des amerikanischen Jahrhunderts ist nicht nur ob seiner unterhaltsamen Leichtigkeit beängstigend, die Rede verschlägt es einem vor allem deswegen, weil inmitten aller Apokalypsen auch noch die einfachen Gegenfragen gestellt werden; etwa jene ganz am Schluss: „Wo ist mein Bruder?“ ER ICH K LEIN


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Gott versus Bucky Cantor und das Virus gegen alle In „Nemesis“ lässt Philip Roth die Kinderlähmung in Newark ausbrechen und über Schicksal, Schuld und Sühne nachdenken ewark liegt in etwa auf Höhe des UniN on Square, nur rund zwölf Kilometer weiter westlich, aber verglichen mit New York ist Newark natürlich ein Kaff: Keine 300.000 Einwohner zählt die größte Stadt von New Jersey heute. Allerdings finden sich unter den Söhnen und Töchtern der Stadt erstaunlich viele Zelebritäten aus dem Show-Biz: von Jerry Lewis, Eva Marie Saint oder Brian de Palma bis zu Sarah Vaughan, Wayne Shorter und Whitney Houston. Der Newarker aller Newarker aber ist der ewige Leider-nein-Nobelpreisträger Philip Roth, der seine Geburtsstadt immer wieder zum Schauplatz seiner Bücher gemacht hat, zuletzt in „Nemesis“, das im Vorjahr im Original und soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die topografischen Gegensätze prägen den

jüngsten der seit 2006 im Jahrestakt erscheinenden Romane Roths gleich mehrfach: Die hochinfektiöse Poliomyelitis (die vor der Entwicklung der Schluckimpfung in den frühen 60ern nicht nur zu bleibenden Schäden, sondern vielfach zum Tod führte) bricht zunächst „in einem armen italienischen Viertel auf der anderen Seite der Stadt“ aus, ehe sie auch im jüdischen Weequahic eingeschleppt wird. Das Bedrohungspotenzial der Seuche ist für die Menschen von Newark noch um einiges greifbarer als das des Kriegs im Pazifik oder in Europa; während dort die Brüder, Söhne und Freunde fallen, ver-

schiebt sich die Viren-Front. Im Vergleich zu „Äquatorial-Newark“, wo der erste Teil des Romans spielt, erscheint das Ferienlager „Indian Hill“ in den Pocono Mountains von Pennsylvania zunächst als idyllischer Rückzugsort – ein tödlicher Irrtum, wie man von Anfang an ahnt. Epidemien und andere Katastrophen sind ein dankbarer Stoff, um die Belastbarkeit des Gemeinwesens zu erörtern, wie es in der US-Literatur etwa Stewart O’Nan („Das Glück der anderen“, „Zirkusbrand“) systematisch zu tun pflegt. Roth hat die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen ganz auf seinen Protagonisten zugespitzt. Dieser Bucky Cantor hat das Zeug zum allAmerican hero: Elternlos bei seinen Großeltern aufgewachsen, wird er zu einem pflichtbewussten Staatsbürger erzogen, der genau weiß, was es bedeutet, seinen Mann zu stehen, und sich nach dem Angriff auf Pearl Harbor sofort freiwillig zur Armee meldet, aufgrund einer vom verantwortungslosen Vater ererbten Sehschwäche allerdings nicht genommen wird. Dafür ist Bucky als junger Lehrer ein leuchtendes Vorbild; verhält sich souverän, als eine Gruppe italienischer Jugendlicher am Sportplatz auftaucht, um „ein bisschen Kinderlähmung“ zu verbreiten; zögert, als ihm seine besorgte Freundin von dem Job im Feriencamp erzählt, mit dem Bucky auf einen Schlag den besten Deal seines jungen Lebens machen könnte: weg von der Krankheit, hin zu Marcia.

Es wäre nicht Philip Roth, hätte er diesen Stoff nicht zu einem schlanken Roman von existenzieller Wucht verarbeitet, es ist eine Reflexion über Schuld und Sühne, die ihre Raffinesse nicht zuletzt ihrer narrativen Konstruktion verdankt: Erzählt wird „Nemesis“ nämlich von dem auf Seite 88 erstmals erwähnten Arnie Mesnikoff, einem ehemaligen Schüler von Bucky Cantor, der diesem nach 27 Jahren wiederbegegnet.

Philip Roth: Nemesis. Deutsch von Dirk van Gunsteren. Hanser, 219 S., € 19,50

In „Wiedersehen“, dem kurzen Schlussteil des Romans, treffen die beiden von der Krankheit schwer gezeichneten Polio-Überlebenden noch einmal aufeinander. Aber während Mesnikoff gelernt hat, sein Schicksal zu akzeptieren, ist Cantor nicht nur körperlich ein „Krüppel“ geblieben, sondern auch seelisch versehrt: Zerfressen vom Gefühl der Schuld, seinerzeit die tödliche Krankheit ins Ferienlager eingeschleppt zu haben, hat er im Leben nie wirklich wieder Tritt gefasst, hadert mit Gott und dem Schicksal und betreibt so einen metaphysischen Aufwand, der vom adaptionsfähigeren Arnie nur als „dumme Hybris eines phantastischen, kindischen Gottesbegriffs“ abgetan werden kann. Uns Heutigen scheint Bucky Cantor mindestens so weit entfernt wie die Zeiten, da Kinderlähmung noch Entsetzen verbreitet hat. Unser Mitgefühl können wir ihm so wenig versagen wie einem antiken Helden, über den die Wut der Götter hereingebroK L AUS NÜCHTERN chen ist.


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Jede Geschichte und Gasse der Sag-Harbor-Galaxie In einem Coming-of-Age-Roman erzählt Colson Whitehead von der schwarzen Besiedlung der Ferienkolonien auf Long Island icht nur die reichen weißen Kids aus N New York City fahren auf Sommerfrische in die Hamptons: Sag Harbor, eine

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

Kleinstadt am Ostende der Insel, ist mit ihren Vierteln wie Eastville oder Azurest die schwarze Urlaubsresidenz von Long Island, wo auch die Familie Cooper seit Generationen ihren Sommer verbringt. In dem autobiografischen, nunmehr vierten Roman des New Yorkers Colson Whitehead schält sich sein 15-jähriges Alter Ego Benji im Sommer 1985 aus seiner engen Manhattaner Privatschuluniform: Das Strandhaus wartet darauf, entstaubt zu werden, und der schlaksige Teenie kann es kaum erwarten, mit seinen Ferienfreunden fernab von Regeln und Alltag abzuhängen. Immerhin gilt es, „neun Monate Rückstand in schwarzem Slang und diversen anderen Ausdrucksmitteln aufzuholen, die ich in meiner ‚vorwiegend weißen‘ Privatschule verpasst hatte“. Ein Slang, den die deutschsprachige Übersetzung trotz aller Bemühungen nur schwer transportieren kann und der zu einigen unauthentischen Passagen führt. Wegen der kulturellen Übertragung bleibt in der deutschen Version von Whiteheads Roman auch sonst manches auf der Strecke: So ging schon der Originaltitel – schlicht und einfach „Sag Harbor“; hier inhaltlich fragwürdig mit „Der letzte Sommer auf Long Island“ übersetzt – verloren, da dem hiesigen Leser der kleine Ort, der dem Amerika-

ner als Erholungsgebiet abseits des Hampton-Rummels bekannt ist, kein Begriff ist. Umso mehr erfährt der Leser im Buch über die „Sag-Harbor-Galaxie“, von der Benji nicht nur jede Gasse, sondern auch jede dazugehörige Geschichte kennt. Die Vergangenheit des einstigen Walfängerdorfs ist eng mit der afroamerikanischen Identität verknüpft. Wie bei den meisten „Sag-Harbor-Babies“ – die saloppe Bezeichnung für Sommerfrischler, die seit jeher den Ort besuchen – kamen auch schon Benjis Großeltern hierher. Überlieferungen von der Ortsgründung bis zur Niederlassung seiner Vorfahren gehören quasi zu den Familienlegenden: „Bestimmt entschied sich jene erste Generation für die Sag Harbor Bay, weil die Südseite für sie verboten war – die Weißen besaßen die Küste, South Hampton, Bridgehampton, East Hampton. (…) Jene erste Generation kam aus Harlem, dem Brooklyn der Brownstones, aus den in Jersey gelegenen Binneninseln der schwarzen Community. Sie waren Ärzte, Anwälte, städtische Angestellte, Lehrer, und das zu Dutzenden.“ Die Hautfarbe ist ständiger Subtext in Whitehead Roman und macht sich vor allem über einen Generationenkonflikt bemerkbar: Benjis Vater, der sich stark mit der Bürgerrechtsbewegung identifiziert und als Erster seiner Familie studieren durfte, versucht seinen Kindern ein afrozentristisches Bewusstsein einzuprügeln. Diese Identität der Alten hat jedoch nur noch we-

nig mit der Welt der Jugendlichen zu tun. Denn die Abgrenzung gegenüber den Weißen, egal ob es Strände, Wohngegenden, Kleidung, Musik oder Gewohnheiten betrifft, ist in Whiteheads Coming-of-AgeGeschichte für Benji und seine Freunde eher ein von außen aufgezwungenes Thema: „Schwarze Jungs mit Strandhäusern. Für Außenstehende ein Paradox, aber uns wäre es nie in den Sinn gekommen, dass daran etwas seltsam war.“

Colson Whitehead: Der letzte Sommer auf Long Island. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Carl Hanser Verlag, S. 336, € 22,60

Nach außen jedoch geben die Coopers „eine richtige Cosby-Familie“ ab: „Der Vater Arzt, die Mutter Anwältin. Drei Kinder, alle auf Privatschulen, mit sauberen Fingernägeln und guten Manieren.“ Und auch sonst läuft in diesem Roman alles am Rande der Belanglosigkeit ab, was dem Buch nicht unbedingt zugute kommt. Zwar scheint es die Absicht des Autors gewesen zu sein, den typisch ereignislosen Pubertätsalltag seines Protagonisten zwischen Sommerjobs, Badetagen, dem erwachenden Interesse am anderen Geschlecht, 80er-JahreStyle und gähnender Langeweile zu schildern, jedoch geschieht dies nur selten auf pointiert witzige und allzu oft auf langatmige Art und Weise. Wofür Whiteheads Buch allerdings vor allem stehen mag, ist das Selbstverständnis einer neuen afroamerikanischen Generation der Mittelschicht, die nicht mehr mit der Wut der Väter auf ihre Geschichte zurückblickt. JULIA ZAR BACH


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Die kleine Dorothy in der großen Stadt Michaela Karl erzählt ihre Biografie von Dorothy Parker als Love-Story zwischen der Autorin und New York eder Journalist ist böse. Wäre es gern. Manchmal. Ein wenig. Doch ist er es tatsächlich, und das auch nur in homöopathischen Dosen, schallt ihm aus weisungsbefugten Mündern augenblicklich der Vorwurf der Polemik entgegen. Er schließt dann die Augen, atmet tief durch und denkt an Karl Kraus und Dorothy Parker und schreibt halt liebe Texte. Dorothy Parker hat, etwa in ihrer Zeit bei der Vanity Fair, Theaterkritiken verfasst, in denen sie weder den Namen des Autors noch jenen der Darsteller erwähnte – weil die alle so furchtbar waren. Oder sie hat aus selbigem Grund bei einer Show nur über die Suche ihrer Sitznachbarin nach dem Handschuh geschrieben. Als Literaturkritikerin stellte sie über eine Neuerscheinung fest: „Dies ist kein Buch, das man mit leichter Hand beiseitelegt. Man muss es schon mit aller Kraft in die Ecke schleudern.“

J

Oh, diese unwiderstehliche Kombination von

Süffisanz und Eiern! Gab es hierzulande Ähnliches? Vielleicht Anneliese Rohrer in ihrer Zeit als Innenpolitik-Chefin der Presse, mit ihrem herben Volksschuldirektorinnen-Charme: jeder Satz eine gsunde Watschn. Oder Sigrid Löffler in ihren Profil-Jahren: oft eine recht unwirsche Texte-Terminatrice vor dem Herrn. Aber Dorothy Parkers Eleganz, ihr Nimbus, Savoir-vivre und Savoir-boire bleiben wohl unerreicht. Michaela Karl, bis dato als Spezialistin für Rudi Dutschke, bayerische Amazonen und andere streitbare Frauen literarisch in Erscheinung getreten, hat im Residenz Verlag eine Dorothy-Parker-Biografie veröffentlicht, sie trägt den Titel „Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber“, ist sonst aber gut. Karl, Jahrgang 1971, erzählt farbenreich, spannend und detailgenau von Dorothy Parkers Leben und skizziert auch die geschichtlichen Hintergründe, vor dem sich die Vita der legendären New

tur, Schlaftabletten) in den ersten vier Lebensjahrzehnten der Schriftstellerin auf. Als Drehbuchautorin in Hollywood verdient Dorothy Parker zeitweise ein Vermögen, das ihr aber zwischen den Fingern zerrinnt. In Hollywood beginnt sie auch, sich politisch zu engagieren, wird Mitglied der Kommunistischen Partei, sitzt im Gründungsvorstand der Screen Writers Guild, engagiert sich im Spanischen Bürgerkrieg. Sie heimst Oscar-Nominierungen ein (1948), eine späte Professur an der Los Angeles State University endet im Eklat. Immer wieder kehrt sie nach New York zurück, in ihre Stadt. So auch in den letzten Lebensjahren. Ihre beiden Ehemänner sind tot, so wie die meisten ihrer Freunde aus dem Algonquin-Kreis. Aufgrund ihrer zahllosen Alkoholexzesse wird sie gesellschaftlich gemieden: „Dottie ist inzwischen eine solche Trinkerin, dass du nie weißt, wann sie mit dem Gesicht in der Suppe landet“, lästert Truman Capote, selbst nicht gerade als Abstinenzler bekannt, über seine Kollegin im Buch „Erhörte Gebete“. Am 7. Juni 1967 stirbt Dorothy Parker 73-jährig in ihrem Hotelzimmer an einem Herzanfall.

Yorker Kritikerin und Autorin von Kurzgeschichten (1893–1967) abgespielt hat. Man erfährt von Parkers Kindheit als Mitglied der gehobenen Mittelschicht der Stadt: Der Vater, Henry Rothschild, ein erfolgreicher Textilunternehmer, hatte jüdische Wurzeln (die er eher verleugnete), Mutter Eliza war eine Tochter schottischer Protestanten. Als Dorothy Parker fünf Jahre alt ist, stirbt die Mutter, fünf Jahre später dann die vom Vater eilig geheiratete Nachfolgerin; eine einsame Kindheit ist die Folge. Schon früh literarisch interessiert, ergattert

Parker nach dem Tod des Vaters eine Anstellung als Texterin für Bildunterschriften bei der Vogue, kurz darauf wechselt sie zur erfolgreichen Vanity Fair – die Redaktionsräume der beiden Magazine des CondéNast-Verlags liegen praktischerweise auf demselben Stockwerk. Als Kritikerin der Vanity Fair schreibt sich Parker schnell in die erste Reihe ihrer damals enorm einflussreichen Zunft – deren mythenumwobenen Mittelpunkt in den Roaring Twenties der Journalisten- und Autorenzirkel im Algonquin Hotel darstellt. 1920 wird Parker wegen einer Kritik, in der sie die Frau des einflussreichen Broadway-Impresarios Ziegfeld beleidigt, von der Vanity Fair gefeuert. Egal: Sie hat auch als freie Journalistin genug zu tun (1924 gab es allein am Broadway 256 Premieren, oft zwölf an einem Abend), und sie beginnt nun auch Gedichte und Kurzgeschichten – u.a. für den 1925 gegründeten New Yorker – zu schreiben. Doch hinter der Fassade der erfolgreichen, schlagfertigen, zynischen Autorin liegt immer noch viel von der Einsamkeit der kleinen Dorothy Parker versteckt – eine Einsamkeit, die Parker mit sehr vielen Partys und noch mehr Scotch und Männern vergessen zu machen sucht. Erfolglos? Karl listet vier Selbstmordversuche (Pulsadern aufschneiden, Veronal, Schuhpoli-

Michaela Karl: „Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber“. Dorothy Parker – Eine Biografie. Residenz, 280 S., € 24,90

„Dies ist eine Liebesgeschichte“, schreibt Michaela Karl zu Beginn ihres Vorwort. Sie bezieht diese Feststellung zwar dann auf die lebenslange love affair zwischen Dorothy Parker und New York, aber der Leser begreift recht schnell, dass das Buch selbst eine Liebeserklärung der Biografin darstellt. Fallweise, selten, geht Karl etwas zu weit, verlässt den Pfad des Faktischen und begibt sich auf das Terrain der boulevardesken Einfühlung – etwa wenn sie eine Affäre zwischen Parker und F. Scott Fitzgerald wie folgt kommentiert: „Zwei verzweifelte Seelen, die sich aneinanderklammern. Es ist Gelegenheits-, vielleicht auch Mitleidssex, Liebe ist es nicht.“ Abgesehen davon kann das Buch uneingeschränkt empfohlen werden. STEFAN ENDER

Wer bloß hat Mann und Frau dann auch noch das Telefon gegeben?!? :: Die soeben in einem sehr eleganten silber-

grauen Bändchen aufgelegte Auswahl von „New Yorker Geschichten“ (allesamt aus „The Portable Dorothy Parker“ von 1944) sind überwiegend Konversationsduelle zwischen Mann und Frau. Für Abwechslung sorgen erzähltechnische und mediale Variationen, sprich: die An- oder Abwesenheit eines Gegenübers beziehungsweise eines Telefons. Der Kampf der Geschlechter hat die physische Anwesenheit beider Adversanten nämlich nicht zwingend zur Voraussetzung. Zum einen erleichtert die Erfindung des Telefons die Möglichkeiten, das über Mann und Frau verhängte und vorsätzlich prolongierte Missverständnis auch über weite Entfernungen hin aufrechtzuerhalten; zum anderen ist das auch dann möglich, wenn der „Gesprächspartner“ (im Text) gar nicht antwortet. Parkers sarkastischer Blick auf das Verhältnis von Mann und Frau – etwa in der kurzen Geschichte „Die Geschlechter“, in der das Paar schon zu Beginn der Hochzeitsreise in heillosen Streit gerät – sorgt dafür,

dumme, faule, nichtswürdige, selbstsüchtige, hysterische, ordinäre, liederliche sexbesessene“ Weiber, vor denen sie ihn beschützen würde, wenn er sie nur ließe.

dass das Vergnügen an diesen Storys kaum je ungetrübt bleibt. Es ist durchaus quälend, diesen unschönen verbalen Gemetzeln beizuwohnen, und die Illusion, dass hier Gegner der gleichen Gewichtsklasse einander gegenüberstünden, kommt erst gar nicht auf. Im Hinblick auf die libidinöse und verbale Verausgabung herrscht nämlich eine eklatante Asymmetrie: Die Frauen reden wie aufgezogen (wes des Herz voll ist …), die Männer sind maulfaul und eloquent nur, wenn es darum geht, das Offensichtliche zu bestreiten. Alles ist aus der Balance: In der ersten Story

ergeht sich die Frau in einem manischen inneren Monolog, weil der „Telefonanruf“, den der Titel in Aussicht stellt, nicht und nicht kommen will; in „Dämmerung vor dem Feuerwerk“ hingegen läutet das Telefon beständig – zum Entsetzen der Frau, die im Appartement „des sehr gut aussehenden jungen Manns“ sitzt und die Anrufe all der anderen Verehrerinnen registrieren muss, selbstverständlich alles „blöde,

Dorothy Parker: Du warst ganz prima. New Yorker Geschichten. Deutsch von Pieke Biermann und Ursula-Maria Mössner. Kein & Aber, 206 S., € 14,40

Die Lektüre deprimierender Geschichten muss selbst keineswegs deprimierend sein, und Parkers Storys sind einfach zu gut, um sie aus der Hand zu legen. Was diesen Impuls dennoch auslöst, sind die Übersetzungen von Pieke Biermann (die von Ursula-Maria Mössner sind um mindestens eine Klasse besser): Voller Anglizismen („enorm grotesk“) holpern sie einerseits dem Original hinterher („Das Esszimmer war in Spanisch-Kolonial“), sorgen andererseits durch die Kombination inkompatibler Idiome für unfreiwillige Komik: „Gib dich drein – das hilft nämlich sehr. (…) Oh, allein der Gedanke, was du durchgemacht hast und wie du hier rumkrauchst wie ein wundes Tierchen.“ Ist zufällig ein Übersetzer im Raum? Nein?? Kann dann bitte jemand Harry Rowohlt anrufen?! K L A U S N Ü C H T E R N


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Von der Klinge des Lebens gezeichnet Eine BiograďŹ e Ăźber und ein Erzählband von Paula Fox zeigen die AbgrĂźnde von Leben und Werk n der Geschichte „Mit sich allein“ bekommt ein gewisser Gerald eines Tages den Brief eines Jugendfreundes. Es entspinnt sich eine Korrespondenz, die die Eifersucht seiner Frau weckt, ihn selbst in ihrer Intimität aber bald Ăźberfordert. In Wahrheit will er nicht durch einen reichen SchnĂśsel an seine eigene trostlose Kindheit erinnert werden. Als der Freund seinen Besuch ankĂźndigt, flĂźchtet Gerald mit seiner Frau ins Kino. Es ist der gnadenlos genaue Blick in das „schwarze Herz des Lebens“, auch auf die Erosionserscheinungen einer Ehe, der Paula Fox’ Romane „Pech fĂźr George“ oder „Lauras Schweigen“ berĂźhmt gemacht hat.

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Paula Fox’ Enkelin wählte ihren Namen nach dem, was in der Familie Mangelware war: Courtney Love

Bereits Fox’ frĂźheste Erzählungen, in den 60erJahren just im Negro Digest publiziert, han-

Der Umstand, dass Jonathan Franzen ihren 1970 erschienenen Roman „Desperate Characters“ („Was am Ende bleibt“) fĂźr sich entdeckte, weil er darin seine eigene gescheiterte Ehe wiederfand, ist nicht das Beste, was sich Ăźber Paula Fox sagen lässt. Dennoch beginnt auch Bernadette Conrad ihr Buch Ăźber die lange vergessene Grande Dame der US-Literatur mit dem lautesten Trompeter ihres neuen Ruhmes. „Die vielen Leben der Paula Fox“ ist keine Biografie im klassischen Sinn, eher eine biografische Reportage, ein temperamentvolles, einfĂźhlsames, da und dort auch gefĂźhliges Buch, das aus seinem Gestus der Bewunderung keinen Hehl macht und in dem manches ein bisschen zu oft wiederholt wird. Conrad, Germanistin und Ăœbersetzerin, erzählt von ihrer Arbeit am lebenden Objekt, von ihren Besuchen im Haus der Schriftstellerin in Brooklyn, von ihren Reisen auf Fox’ Spuren quer durch Amerika, von Gesprächen mit Freunden und Familienmitgliedern. Sie beutet lebensgeschichtliche Sedimente in den Romanen und Memoirenbänden aus und konfrontiert die betagte Autorin, so behutsam das eben geht, mit den wunden Punkten ihrer Existenz. Paula Fox, geboren 1923 in New York, war ein ungewolltes und nur sporadisch geliebtes Kind. Ihre zeitlebens feindselige Mutter gab sie gleich nach der Geburt in ein Findelhaus, ihre GroĂ&#x;mutter holte sie wieder heraus, ihr Vater, der leidlich talentierte Schriftsteller und Drehbuchautor Paul H. Fox, tauchte von Zeit zu Zeit auf, um bald wieder zu verschwinden, ein unzuverlässiger Patron, selten flĂźssig, selten trocken, ein Weiberheld und Schwadroneur. Abgesehen von wenigen glĂźcklichen Jahren bei einem grundgĂźtigen Pfarrer hatte Paula Fox eine ruhelose und emotional unterernährte Kindheit und Jugend, mit wechselnden Erziehungsberechtigten hin- und herhetzend zwischen Queens und Kuba, Florida und Kanada. Vielbegabt, aber schlecht ausgebildet, arbeitet Fox als Erzieherin, Mannequin, Journalistin. Die uneheliche Tochter, die sie mit 21 in San Francisco zur Welt bringt, gibt sie zur Adoption frei. Deren Tochter, Paula Fox’ Enkelin, wählt ihren Namen nach dem, was in dieser Familie Mangelware war: Courtney Love. Einiges davon kann man auch aus dem neuen Erzählband erfahren. In der Titelge-

schichte „Die Zigarette“ erzählt Fox davon, wie sie sich das Rauchen angewĂśhnt hat (ihr Vater nĂśtigte sie zur ersten Zigarette) und wie ihr, 60 Jahre später, die Lust dazu abhanden kam: als ein Räuber sie in Jerusalem niederschlug, sie nach einer Gehirnblutung ins Koma fiel und fast starb. Dies ist auch der Grund fĂźr die merkwĂźrdig ungenierte Mischung von Fiktion, Essay und Erinnerung in diesem Band: Nach ihrer Genesung – das steht wiederum in der Biografie – konnte Fox zwar wieder schreiben, aber nichts mehr erfinden. Zu ihren sechs Romanen (ihren ersten schrieb sie mit 45) wird kein weiterer kommen.

deln von Menschen, die die „scharfe Klinge des Lebens“ zu spĂźren bekommen haben; von schwarzen MĂźttern, die ihre Kinder begraben mĂźssen, als New York City noch ein lebensgefährliches Pflaster ist. Paula Fox, der buchstäblich die Kugeln um die Ohren flogen, erzählt von beschädigten Kindern, die sie als Lehrerin in einem Heim betreute. Sie wĂźrdigt ihre Tapferkeit und warnt, an ihr eigenes Heranwachsen denkend, vor der landläufigen Verklärung der Kindheit: „Wenn das die besten Jahre sind, dachte ich mir, was kommt dann um Gottes willen noch?“ Wie ihre Generationsgenossin Marlen Haushofer, mit der sie das unbestechliche

RĂśntgenauge fĂźr die Korruptheit bĂźrgerlicher Arrangements ebenso teilt wie das lebenslange Thema des verlassenen Kindes, hat Fox nicht zuletzt als Kinderbuchautorin reĂźssiert. So faszinierend Fox’ Erinnerungen an die Familie ihres zweiten Mannes, des Verlegers Martin Greenberg, und das intellektuelle Leben der Upper West Side sind (einmal tritt sogar der Ăśsterreichische KunstfĂśrderer Monsignore Otto Mauer auf), ein Essay Ăźber die Verwerflichkeit der Zensur wirkt hier als FremdkĂśrper. Man darf fĂźglich bezweifeln, ob dieser disparate Band das ideale Eintrittsbillet in die verstĂśrende Wunderwelt der Paula Fox darstellt. Doch immerhin enthält er auch ein Juwel wie die Erzählung „Grace“, das ergreifende Porträt eines vereinsamten Mannes, der mithilfe eines Hundes Anschluss ans Leben sucht – und diesen Hund wieder verliert. Paula Fox mag ein „writers’ writer“ sein, doch sie interessiert nicht das intellektuelle Spiel, sondern allein das weite Spektrum des Menschseins in all seinen Schattierungen und WidersprĂźchen. Das Leben vergleicht sie mit einer Eisschicht: „Alles, worauf es ankommt, liegt darunter. Und alles, was du tun kannst, ist die Oberfläche zu beschreiben.“ Aber eben so, dass man die Tiefe ahnt. DANIEL A STR IGL

" !

Paula Fox: Die Zigarette und andere Stories. Deutsch von HansUlrich MĂśhring und Karen NĂślle. C. H. Beck, 254 S., â‚Ź 20,60

Bernadette Conrad: Die vielen Leben der Paula Fox. C. H. Beck, 342 S., â‚Ź 20,60

Roberto BolaĂąo Gabriel GarcĂ­a MĂĄrquez Andrea Grill James Tiptree Jr. Siri Hustvedt Matthias Politycki YĂ´ko Ogawa Julio CortĂĄzar Susan Sontag Gab riel GarcĂ­a MĂĄrquez Nona FernĂĄndez Guillermo Cabrera Infante e Leser HĂŠlène Cixous YĂ´ko Ogawa Julio r groĂ&#x;CortĂĄzar fĂź n re to u A GroĂ&#x;e Alban Nikolai Herbs t Roberto BolaĂąo Erhältlich im Buchhandel und Onlin e Guillermo Cabrera Infante James Tiptree Jr. Julio CortĂĄzar Andrea Grill Siri Hustvedt verlag.at www.septimeRoberto BolaĂąo Gabriel GarcĂ­a MĂĄrquez Keto von Waberer Juan JosĂŠ Arreola YĂ´ko Ogawa Susan Sontag Diamela Eltit


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Neues von der bösen Mutter In „Das Antwerpener Testament“ erzählt Evelyn Grill die Gruselgeschichte einer Familie in Form eines Jahrhundertromans der zweiten Hälfte des 20. JahrhunIehernderts dominierten in der Literatur ja der Entwicklung ihres Nachwuchses abträgliche Väter – nun holen die Mutterfiguren auf. Im Herbst 2010 erhielt „Rabenliebe“ von Peter Wawerzinek den Deutschen Buchpreis, und Ayelet Waldmans und Elisabeth Badinters Kampfschriften „Böse Mütter“ bzw. „Der Konflikt. Die Frau und die Mutter“ beschäftigten die Feuilletons, im Januar noch überboten von den Reaktionen auf „Tigermutter“ Amy Chua (siehe Rezension im Sachbuchteil, S. 34). Evelyn Grill, in Kritiken regelmäßig für ihre Bosheit gelobt, ist keine Novizin auf diesem Gebiet. Bereits in ihrem letzten Roman „Das römische Licht“ (2008) regierte im Hintergrund eine dominante und rücksichtslose Mutter das Leben der Tochter. In ihrem neuen Roman „Das Antwerpener Testament“ zieht Henriette Stanley, eine tiefgläubige Katholikin aus einer Antwerpener Reederfamilie, die Fäden der Tragödie ihrer Kinder. Zu Henriettes Begräbnis im Jahre 1983 treffen im englischen Worthing die wenigen Hinterbliebenen ein: Sohn Harry, von Absencen und epileptischen Anfällen heimgesucht, und Tochter Ann mit ihrer deutschen Familie, dem Ehemann Ulrich, einem Lehrer und Historiker, und den drei bereits erwachsenen Kindern, den unbeschwerten Zwillingen Greg und Maud und dem Sorgenkind David. Die Perücke der

sätze zum Krieg („Man saß um einen Kerzenstummel zusammen und teilte das letzte Brot“) nicht hinauskommen. Dabei „braucht“ es Lilly im Romangefüge nur als Katalysator für die nach quälend langem Warten dann doch übereilte Heirat von Ulrich und Ann, die zunächst am Veto von Henriette Stanley scheiterte. Über diese Ehe hingegen, die mit altmodischen Liebesbriefen voller pathetischer Beschwörungen beginnt und schließlich auf altmodische Weise geführt wird – die Frau widmet sich den Kindern, während der Mann an der gebremsten Karriere leidet –, hätte man gerne noch mehr erfahren. Ebenso über den feinfühligen und harmoniesüchtigen Ulrich, der sich schließlich als Einziger der Vergangenheit stellt.

kaum 50-jährigen Ann verdeckt die Folgen der x-ten Chemotherapie, der behutsame Umgang der Ehepartner miteinander täuscht über eine gescheiterte Ehe hinweg – und über jede Menge Tabus. Mit dem „Antwerpener Testament“ legt Grill, für ihren Hang zu Groteske und Stilisierung bekannt, einen geradezu altmodischen Roman vor, eine Familiengeschichte, die allerdings – ein Wort, das gegen Ende des ersten Kapitels fällt – Züge einer „Gruselgeschichte“ trägt. Grill ist eine Meisterin der Spannung, die ihre Romane bis ins kleinste Detail durchkomponiert. Die Sprache bleibt dabei aber stets nüchtern und schmucklos. Poetische Bilder oder neue Metaphern erwartet man von dieser Denkerin unter den Romanautoren vergeblich. Unter diesem Primat des Gesamtkonstrukts leidet jedoch bisweilen auch die individuelle Ausformung der Charaktere. Um, wie es im Klappentext heißt, die „Abgründe eines ganzen Jahrhunderts erkennbar“ zu machen, stellt Grill der Geschichte von Ann und Ulrich diejenige von Ulrichs Cousine und Ziehschwester Lilly gegenüber, die ihrer jüdischen Herkunft wegen während des Zweiten Weltkriegs in die Vereinigten Staaten auswanderte und sich rückblickend an die Kriegswirren und die Zeit der Verfolgung in Amsterdam erinnert. Lillys Schicksal sind insgesamt 70 Seiten gewidmet, die allerdings über bekannte Versatzstücke der Emigration und Steh-

Evelyn Grill: Das Antwerpener Testament. Residenz, 319 S., € 22,90 Am 23.3., 19 Uhr, wird der Roman im Literatursalon der Österreichischen Nationalbibliothek präsentiert

Obwohl die Wucht der Enthüllungen von den zwei Lilly-Exkursen zwischenzeitig arg gebremst wird, packt einen Grills unbarmherzige Kunst in den letzten Kapiteln doch wieder derart, dass man den Roman mit angehaltenem Atem zu Ende liest, mit klammem Herzen beiseitelegt und eine Weile braucht, um sich davon zu erholen. Denn sein Zentrum bleibt Henriette Stanley, die in unheimlicher Realitätsleugnung und archaischer Zerstörungskraft nicht nur ihren Sohn vernichtet, sondern auch ihre Tochter Ann, der sie auf Anraten ihres Pfarrers die unerwünschte Partnerwahl eigentlich längst „vergeben“ hat. K IR STIN BR EITENFELLNER

Von der Herzerkrankung zur Krankheit des Herzens In ihrer „Herznovelle“ beschäftigt sich Julya Rabinowich mit den seelischen Folgen einer erfolgreich verlaufenen Herzoperation as Herz ist das Zentrum von allem, sagt D er / ich frage mich, was mein Zentrum ist / ich habe keines / er ist stellvertretend mein Zentrum / ich sage es ihm / er nimmt das Herz aus meiner Brust / und zeigt es mir und sagt. / Das gehört Ihnen. / Und ich sage: / Das Mängelexemplar können Sie gratis zur Ansicht behalten.“ Julya Rabinowich hat sich ein Herz gefasst und Variationen von Redewedungen rund um das Herz literarisch pointiert veranschaulicht: in ihrer „Herznovelle“. Die Ich-Erzählerin, eine Frau etwa Mitte dreißig, wird von ihrem Mann zur Herzoperation in das Krankenhaus begleitet. Die Operation verläuft gut, nach wenigen Wochen kann sie das Krankenhaus wieder verlassen. Sie beginnt ihre alten Lebensgewohnheiten wieder aufzunehmen, ihr hübsches Eigenheim zu pflegen, mit ihrem Mann Bernhard, einem Bankmanager, abends essen zu gehen oder Geschäftsessen für ihn und seine Kollegen auszurichten. Doch innerlich findet sie nicht mehr in ihr altes Leben zurück, fühlt sich entfremdet. Auch ihrer vom Leben und vom Ehemann betrogenen Freundin Carla, die ihren Kummer gerne im Alkohol ertränkt, stattet sie wieder einen Besuch ab. Carla schwimmt auf der Esoterikwelle und betrachtet die Herzkrankheit der Freundin aus dem entsprechenden Blickwinkel; denn auch wenn die Operation gelungen

ihm nach seiner Dienstzeit auf und beobachtet ihn von einem gegenüberliegenden Krankenhaustrakt aus. Irgendwann wird sie seine Zurückweisung akzeptieren und ihr organisch gesundetes Herz auch einem seelischen Heilungsprozess überantworten müssen. Wie, das soll hier nicht verraten werden.

ist, so hat sich dadurch doch etwas Grundlegendes im Leben der Freundin verändert: Ihr Herz schlägt nun für einen anderen. Seit der Operation, die eine Reihe alptraumartiger bis erotisch aufgeladener Träume zur Folge hat, geht ihr der behandelnde Arzt im Krankenhaus nicht mehr aus dem Sinn. Sie hat sich in ihn verliebt und durchleidet nun alle Symptome dieser Verliebtheit. Aus einem Herzleiden ist Herzensleid geworden. Als sie die Sehnsucht nach dem virtuellen Geliebten nicht mehr aushält, täuscht sie einen Herzanfall vor, um wieder in seine Nähe zu gelangen. Im Krankenhaus beginnt sie ihm richtiggehend aufzulauern, ihn zu stalken. In der Gleichförmigkeit des Krankenhausalltags verschwimmen in ihrem Kopf Tag- und Nachtträume, Fantasien und Erlebnisse. Ihre allgemeine Ängstlichkeit, die Angst vor

einem Zusammenbruch, vor der Operation, vor dem Kinderkriegen und vor dem Leben überhaupt, scheint allmählich verschwunden zu sein. Das Hasenherz, das im polnischen Märchen einem Ritter als Strafe für seine Unmenschlichkeit von einer Hexe eingesetzt wird und diesen feige macht, ist einem liebeshungrigen Herzen mit ständig erhöhtem Pulsschlag gewichen. Die Protagonistin scheut keine List, um an ihr Objekt der Begierde zu gelangen. Sie geht alleine auf einen Ärzteball, lauert

Julya Rabinowich: Herznovelle. Deuticke, 158 S., € 16,40 Am 22.3., 19 Uhr liest die Autorin im KAV-Otto Mauer Zentrum (9., Währinger Straße 2—4) aus dem besprochenen Roman

Wie schon in ihrem erfolgreichen Debüt, dem Roman „Spaltkopf“ (2008), gelingt es der aus einer St. Petersburger Künstlerfamilie stammenden Julya Rabinowich auch in der „Herznovelle“, die Entwicklungsgeschichte aus der Gefühlswelt der weiblichen Protagonistin mit traumartigen und lyrischen Sequenzen effektvoll zu ergänzen. Zugleich wird dadurch die Oberflächenhandlung konterkariert und die Scheinwelt der Mittelschicht ausgestellt. Indem der Text die Verliebtheit der Protagonistin als Zeitlupenschilderung eines Erdbebens beschreibt oder das Operationstrauma in metaphernreichen Traumvariationen aufarbeitet, entwickelt er durch diese Verdichtungen eine eigene poetische Kraft. Für einen Roman wäre die Haupthandlung eindeutig zu dünn, aber wer sich auf die ästhetischen Implikationen des Genres Novelle einlässt, nämlich in einer kurzen Erzählung eine kleine Neuigkeit zu erfahren, der wird auf seine Rechnung kommen. ALE X ANDR A MILLNER


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Die Liebe in Zeiten der Supermarktketten Mit „Wiedersehen in Fiumicino“ sucht sich Reinhard Kaiser-Mühlecker von der Selbstbeobachtungsprosa freizuspielen orges hatte Angst vor Spiegeln, er meinte, sie lauerten den Menschen auf und verwirrten sie durch Vervielfachung. Narziss wird von Spiegeln angezogen, er gilt als das Urbild des Eitlen, der sich vom Selbstbild bestricken lässt. Joseph, das Alter Ego des Autors in Reinhard Kaiser-Mühleckers drittem Roman, glaubt sich gegen den Vorwurf der Eitelkeit wehren zu müssen. Sicher ist, dass ihn das Selbstbild im Spiegel anzieht. Am Ende seiner Geschichte, bei einem nostalgieschwangeren Ausflug auf die Alm, betrachtet er zuerst sich selbst, um sich dann der Landschaft zuzuwenden. „Ich betrachtete mich eine Minute lang im Rückspiegel, stieg aus, aber es war sehr kalt, und ich beschloss, wieder einzusteigen und doch mit dem Auto zu fahren.“

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Eine Minute, das ist viel Zeit. Jedenfalls dann,

wenn man sie aus dem großen Strom heraushebt. Dies auf eine Weise zu tun, dass das Vergehen und Stehenbleiben der Zeit an sich schon zum Ereignis wird, ist eine der Stärken des Autors. Kleine Gesten, winzige Szenen, die man im Trott des Alltags zu übersehen pflegt, strukturieren seine Erzählungen, die zugleich etwas seltsam Formloses haben. Sie trudeln dahin wie ein Boot, dessen Steuermann sich der Strömung überlässt. „Wiedersehen in Fiumicino“, so der irreführend trivial klingende Titel, beginnt mit der Reise Josephs nach Buenos Aires, wo dieser im Auftrag einer Forschungsfirma ein halbes Jahr verbringen wird, und sie endet nach dieser Periode. Vielleicht will uns der Titel sagen, dass das wahre Liebesproblem des Helden nicht in Argentinien liegt, sondern bei der „Exfrau“ aus der Heimat, an der er zufällig in Fiumicino vorbeigeht, während sie ihrem Beruf als Mannequin oder Model (oder was auch immer) nachgeht. Erzählt werden uns aber die Monate in Argentinien, die Affären und Liebessehnsüchte von ein paar jungen Leuten und,

eher nebenbei, die Arbeit Josephs und, noch nebenbeier, die Arbeiten der anderen Figuren.

Dessen ausgewanderter Freund Hans (alias Juan) sieht Joseph als Don Juan, den er zuerst bewundert und dann bedauert. Noch eine weltliterarische Spur, auf der dieser Roman wandeln könnte. Alle Blickwinkel zeigen Joseph im Zentrum, der Fokus ist auf ihn gerichtet, obwohl Kaiser-Mühlecker in seinem dritten Roman versucht hat, sich von der subjektiven Wahrnehmungsprosa zu entfernen, indem er vier verschiedene Stimmen – drei Männer, eine Frau; zwei Österreicher, zwei Argentinier – zu einem Ganzen montierte. Das Gebilde dient letztlich der Bespiegelung Josephs.

Über die Arbeit kommt jenes gesellschafts-

kritische Moment ins Spiel, auf das Kaiser-Mühlecker in seinen Fiktionen offenbar nicht verzichten will. Joseph erhebt die Bestände und Ordnungsprinzipien der Supermärkte von Buenos Aires – und zwar im Kontext einer weltweiten Studie, die das Funktionieren der kapitalistischen Nahrungsindustrie bloßstellen will. Sein ihn bewundernder Freund Augusto hegt den leisen Verdacht, „dass sich verschiedene Supermärkte hinsichtlich der Anordnung ihrer Produkte nicht besonders voneinander unterscheiden“. Das lässt sich schärfer formulieren: Wozu sollte dieser ungemein schlaue Bursche, der den Lauf der Welt ändern will, monatelang an diesen immergleichen Unorten wie Coto oder Carrefour (der Autor selbst verzichtet auf Nennung der einschlägigen Namen) herumlaufen? Noch weniger erfahren wir über die zweite Arbeit Josephs, eine Studie über die Auswirkungen des Anbaus von genmanipuliertem Soja in Argentinien, einem für das Land tatsächlich sehr wichtigen Problem. Joseph arbeitet da mit Forschern der Universität Buenos Aires zusammen, aber die kommen kein einziges Mal ins Bild. Nein, im Zentrum des Romans stehen die Liebesprobleme, letztlich das Problem des Helden, der, wie er behauptet, nicht lieben kann. Thomas Mann hat um denselben Konflikt herum einen metaphysisch getönten Künstlerroman gesponnen, den „Doktor Faustus“. Nun muss man einen jungen oberösterreichischen Autor nicht mit dem Lübecker Großschriftsteller vergleichen; die Erinnerung unterstreicht nur, dass es den Problemdarstellungen im Fiumicino-Buch an Gewicht, früher hätte man gesagt: an Tiefgang mangelt.

Dagegen ist nichts einzuwenden, nur scheint

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wiedersehen in Fiumicino. Hoffmann und Campe, 280 S., € 20,60 Am 22.3., 19 Uhr liest der Autor in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (1., Herrengasse ) aus dem besprochenen Buch

die Absicht des Autors eine andere gewesen zu sein. Seine Stärke liegt nach wie vor in dem, wovon er sich offenbar wegschreiben will. Die Abschnitte, in denen Joseph spricht, sind intensiver als die anderen, nicht nur was die Sprache, sondern auch was die Bilder betrifft. Kaiser-Mühlecker scheint das auch zu wissen. Ein bemerkenswerter Abschnitt von „Wiedersehen in Fiumicino“ lässt sich als persönliche Erzähl- und Wahrnehmungstheorie des Autors lesen. Sie beginnt mit der Beobachtung, dass der zweite Blick häufig Dinge zeigt, die dem ersten – dem „gewöhnlichen“ – Blick entgehen. Das im Augenwinkel oder als Nachbild Gesehene wird eigenartig bedeutsam, und dieser Bedeutsamkeitseffekt, den scheinbar triviale Beobachtungen freisetzen, ist ein weiteres Kennzeichen von Kaiser-Mühleckers Erzählen. So wie sich das Beschreibenswerte erst auf den zweiten Blick erschließt, so lässt sich manches erst schreibend erkennen. Beim Aufschreiben „wusste ich Dinge, die ich sonst nicht wusste. Das Aufschreiben war offenbar etwas sehr Ähnliches wie dieses Aus-dem-Augenwinkel-Sehen. Wie soll ich es sagen, ich sah auf eine Sache, und dabei sah ich eine andere plötzlich anders.“ LEO FEDER MAIR

Clemens J. Setz Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

Foto: Paul Schirnhofer

Clemens J. Setz erzählt achtzehn Geschichten, die niemanden kaltlassen: grotesk und skurril, gewalttätig und voller zärtlicher Momente.

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse

Suhrkamp www.suhrkamp.de

Erzählungen. 350 Seiten. Geb. 20,50 (A) Auch als erhältlich


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Tief hängen die Wolken, sanft schaukelt der Fluss Xaver Bayer fegt allerlei Beobachtungsbrösel zu der Erzählung „Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen“ zusammen an beginnt mit dem Lesen, die ErM zählung fließt dahin, sie fließt und fließt, die Kommata sind gesetzt wie kurze Ruderschläge, die das Geschehen sanft vorantreiben. Bald schon ist klar: So wird es dahingehen bis zum Ende, ohne Punkt und Strichpunkt, der Text ein ewiger Fluss, mit dem Ende als einziger Mündung. Eine Hommage an die beiden Beistrichjunkies Heinrich von Kleist und Thomas Bernhard in deren Jubiläumsjahr? Oder einfach nur eine textmäßige Umsetzung des Titels der Erzählung? Denn „Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen“, dann verursacht dieser Steinwurf Wellen – Wellen, die sich fortsetzen und fortsetzen, bis sie irgendwann, ganz weit entfernt, verebben. Mit Thomas Bernhard teilt Xaver Bayer eine gewisse elementare Beladenheit. Tiefe Wolken hängen über den Prosalandschaften und dem darin solistischsolipsistisch existierenden Personal, wenn auch Bernhards Protagonisten ihre Belastung manisch-explosiv nach außen hin abführen, wohingegen Bayers Hauptfiguren doch eher zu einer sanften, aber unauflösbaren Selbstbedrücktheit neigen. Den Ich-Erzähler des jüngsten Buches von Bayer sehen wir im Transitbereich des Brüsseler Flughafens auf seinen Anschlussflug warten; als ständig herumreisender Fotograf als eine Art Odysseus der Jetztzeit. Als klassischer Bayer’scher (Anti-) Held beginnt er gleich mit der Lieblingsbe-

schäftigung fast aller Zentralfiguren des Wieners: Er beobachtet seine Umgebung, und gleichzeitig beobachtet er sich selbst beim Beobachten und denkt anschließend über die Selbstbeobachtungsreflexion nach. Gern lösen einzelne Bilder und Mikroszenen auch Erinnerungsflashs aus, und so treibt der Leser zusammen mit dem IchErzähler „wie in einem Kokon“ aus Beobachtungen und Erinnerungen in intrauteriner Behaglichkeit dahin. Konkret bedeutet das, dass Bayer Kleinsterlebnisse aus einem Duty-freeShop, einer Bierbar und aus Beträumen mit kleinen Memory-Teilchen über das Fliegen, über Farben, Ferienorte, seinen Fotografielehrer und die wichtigste Frau in seinem Leben (Theresa) zu einem Textganzen verleimt. Das gelingt ihm oft auf sehr elegante Art, allerdings auch oft nur unter inflationärer Verwendung von Verknüpfungen wie „und da fällt mir ein“, „und jetzt muss ich daran denken“ oder „und da kommt mir in den Sinn“. In der ersten Hälfte der Erzählung kann man immer wieder wunderschöne Gedankenkiesel aus dem Erzählfluss klauben, wie etwa jenen über Träume: „Träume sind vielleicht nichts anderes als nachtaktive Lebewesen unseres seelischen Ökosystems, und wenn man glaubt, dass Gedanken die Seele eines Menschen bilden, muss es doch unter den Menschen endlos viele Arten von Seelen geben, Monokulturseelen und Ziergartenseelen, Seelen mit Wüs-

ten-, Urwald-, Gebirgs- oder gleichsam maritimer Vegetation, es gibt also natürlich auch Seelenverschmutzung sowie verkarstete, verwüstete, gekippte und verbrannte Seelen, und im Gegensatz dazu blühende, fruchtbare, unberührte und gepflegte Seelen, und es gibt schwarze Löcher in jeder Seele.“ Mit Fortdauer der Erzählung verliert sich die Qualität der Reflexionen, wie auch der Eindruck überhandnimmt, hier lediglich der Resteverwertung von über die Jahre gesammelten Erinnerungsbröseln des Autors teilzuhaben – Krumen, deren geistiger Nährwert sich oft als gering erweist. Abseits des medialen Scheinwerferlichts, in

Xaver Bayer: Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen. Erzählung. Jung und Jung, 119 S., € 16,80 Am 31.3., 20.50 Uhr liest Xaver Bayer im Rahmen der „Wortspiele“ im Porgy & Bess aus dem besprochenen Buch

dem andere Autoren seiner Generation wie Daniel Kehlmann und Thomas Glavinic standen und stehen, hat der 1971 geborene Xaver Bayer in den letzten Jahren Texte von hoher Qualität veröffentlicht; seine stilistische Klarheit erinnert an Christian Kracht, die Traumverlorenheit seiner Erzählwelten an seinen Jahrgangskollegen David Wagner („Meine nachtblaue Hose“). Bayers literarisches Debüt aus 2001, die Bobo-Studie „Heute könnte ein glücklicher Tag sein“, und sein vor fünf Jahren erschienener Roman „Weiter“, ein präzises Protokoll des Sich-selbst-abhanden-Kommens, können und sollen mit Nachdruck empfohlen werden; diese Erzählung lediglich ohne. STEFAN ENDER

Falters SACHBUCH Helene Maimann

ÜBER KREISKY N EU

Gespräche aus Distanz und Nähe Zum 100. Geburtstag Bruno Kreiskys entsteht ein lebendiges, neues Bild eines Politikers und seiner Epoche, die Österreich verändert hat wie keine andere. Mit einer ausführlichen Biografie, wenig bekannten Bilddokumenten und Gesprächen mit Henry Kissinger, Helmut Schmidt, Heinz Fischer, Hannes Androsch, André Heller, Barbara Coudenhove-Kalergi und vielen anderen prominenten Zeitgenossen. 280 Seiten, 5 29,90 Helene Maimann

BRUNO KREISKY Politik und Leidenschaft Bruno Kreisky war ein Reformer, ein Mediengenie, ein großer Rhetoriker, ein Außenpolitiker, der aus seinem Land eine Brücke zwischen Ost und West machte und sich für eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts engagierte. Der Film zeigt Kreisky in fünf Schlüsselsituationen seines politischen Lebens, aber auch Kreisky privat. 62 min + 55 min Bonus, 5 17,99

Buch und DVD zusammen statt € 47,89 nur € 39,90! Bestellen unter: faltershop.at T: 01/536 60-928 F: 01/536 60-935 , E: service@falter.at


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Feuer der Vergangenheit, Wolken der Zukunft In seinem Roman „Brenntage“ bringt Michael Stavarič die Kindheit zum Leuchten, ohne dem Kitsch zu verfallen ange rätselt man, was die Menschen in dem Roman „Brenntage“ antreibt, jedes Jahr mit geradezu religiösem Eifer Möbelstücke, Gummiwaren, Essensreste oder Matratzen in die Feuer ihrer weltabgeschiedenen Waldsiedlung zu werfen. Misten sie aus? Vertreiben sie böse Geister? Solche Rituale markieren in jedem Fall Übergänge, in denen sich etwas verändert – oder besser: jemand. Mit dem 1972 geborenen, in Wien lebenden Autor und Übersetzer Michael Stavaricˇ treten wir im Schein dieser lodernden Feuer aber nichtsdestotrotz sehr behutsam über die Schwelle ins Kindheitsland. Sofort scheint durch sein Erzählen eine schwingende Bewegung einzusetzen, der man sich gerne überlässt.

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

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Der namenlose Ich-Erzähler wächst nach dem Tod seiner Mutter bei Onkel und Tante auf. Nachts schlagen Äste gegen das Haus, und in den Birken vermutet man Geister schaukeln. Tagsüber nährt die Tante die kleine Familie nach alten Rezepten mit Gerichten, die „Scheiterhaufen“ heißen. Der Onkel rüstet sich fürs Leben draußen. Früh lernt der Neffe klettern, Geheimschriften auf Fensterscheiben hauchen oder Tiere im Keller präparieren; später erfährt er, dass Mädchen nach Waldtümpeln duften. Es blieben einfach konventionelle Kindheitsszenen, wenn Michael Stavaricˇ sie

nicht zugleich aus den modrigen Tiefen einer von Aberglauben geprägten Gegend geborgen hätte. Aus den Wolken liest man dort die Zukunft ab, durch die Feuer erhofft man sich erhellende Blicke in die Vergangenheit. Und auch auf die Kinder der Siedlung übt das Spiel mit dem Feuer Faszination aus. Sie erfinden eigene Rituale am Waldteich, die nicht immer ganz ungefährlich sind.

Seinen Helden lässt Stavaricˇ in den unterirdischen Bergwerksminen zurück, wohin sich der Onkel mit ein paar Überlebenden der Siedlung geflüchtet hat – die Feuer hatten doch einmal auf die Häuser übergegriffen. Kindheit, heißt es bei Novalis, sei die erste

Mit allen Sinnen lässt uns Michael Stavaricˇ

an der merkwürdig entrückten Zeit der Pubertät teilhaben. Die Magie, die von dieser Prosa ausgeht, ist aber nicht nur eine der Inhalte, sondern ihr wohnt einer Sprache inne, die Klang hat. Jede Penetranz ist ihr fremd, die variierende Wiederholung lieber als der einmalige, abschließende Satz. Statt Handlung sorgen Leitmotive für Konturen: das Knistern der Flammen, die nicht verstandenen Bewegungen der Soldaten und Jäger im Dickicht des nahen Waldes, nachgelassene Briefe der toten Mutter. Die Kindheit wird bei Stavaricˇ zur rauen Auseinandersetzung mit den Elementen, mit Feuer, Wasser, Erde, Luft. Angelegt als dauerbewegter Kreisel aus Erzählfragmenten, versiegt der Text auf der letzten Seite trichterartig – wie der letzte Wasserstrudel im Badewannenabfluss. Ein Endlosgedenken, das in Wahrheit keinen Schlusspunkt kennt.

Michael Stavarič: Brenntage. Roman. C.H. Beck, 231 S., € 19,50 Am 31.3., 21.30 Uhr liest Michael Stavarič im Rahmen der „Wortspiele“ im Porgy & Bess aus dem besprochenen Roman

Stufe der Bildung – und ein Sehnsuchtsort. „Brenntage“ spielt so leichtfingrig auf der Klaviatur der Romantik, das man es kaum merkt. Und doch ist sie im Hintergrund präsent: die Figur von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, der erst ins Berginnere eindringen muss, wo ein Einsiedler ihm das Buch seines Lebens zur unmittelbaren Anschauung bringt. Auch Stavaricˇ geht es um Anschauung, nicht um Analyse. Seine Fragmente folgen einer inneren Ordnung. Sie respektieren die unsichere Balance einer Lebensphase, die verwirrend zwischen heiliger Erwartung und apokalyptisch wirkenden Umbrüchen angesiedelt ist. Vielleicht ist das der Grund, warum diese literarische Reise ins Kindheitsland nichts Besserwisserisches hat und tatsächlich berührt. Sie berücksichtigt die Naivität der Wahrnehmung, die vieles monströs verzerrt, anderes wieder wundersam auflädt. Die surreale Welt, die dabei entsteht, ist deshalb keine künstlich konstruierte, sondern Teil eben dieser Wahrnehmung – ein Naturgesetz. Von diesem handelt dieser ANJA HIR SCH Roman.


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Gehirn & Gedicht, Genie & Gemeinplatz Raoul Schrott hat sein jüngstes Buch mit einen kompetenten Partner verfasst, macht aber weiter wie bisher aoul Schrott kommt gerne mit Pauken und Trompeten auf den Markt. Die „Ilias“ seriös zu übersetzen – dazu reicht heute ein Gelehrtenleben kaum noch aus. Schrott erledigte das en passant. Er krempelte lust- und schwungvoll die Ärmel hoch und richtete den Text 2008 sinnparaphrasierend und locker holpernd für ein Publikum ein, das mit dem Rumpfdeutsch der Massenmedien und dem metrischen Feingefühl der Popindustrie sozialisiert wurde.

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Ärmel hoch und durch! Dabei hielt er sich nicht lange mit sophistischen Kunstfragen etwa danach auf, wie Homers komplex durchkonstruierte Kunstsprache als Kunstsprache wiederholbar sein könnte in einer Zeit, in der auf der einen Seite niemand mehr an göttliche Helden glaubt und ein „hohes“ Sprechen allenfalls museal sein kann, wir auf der anderen Seite sehr viel mehr über unser Bewusstsein wissen und gleichzeitig über eine immense Zahl von gleichrangigen Idiomen verfügen. Stattdessen verkündete ein begleitendes dickleibiges Traktat über „Homers Heimat“ die Lüftung von Homers Geheimnis: Der sei in Wirklichkeit ein in den Diensten des assyrischen Statthalters von Kilikien stehender Grieche gewesen; Troja sei keine mythisch-literarische Fiktion, sondern ein wohlfeil geschmückter Bericht aus dem heimischen Hafen und einer spät-hethitischen Burg nahebei. Ein freizügig mit Assoziationen verziertes Gebirge aus Fußnoten sollte beweisen, dass Homer ein Dichter war, wie Schrott und altehrwürdige Studienräte sich ihn vorstellen: Dichter sein bedeutet, Wahrnehmungen und Erfahrungen in mit Figuren- und Mythenwerk geschmückte Aussagen zu gießen und mit Assonanzen, Melodie und Rhythmus zu verschönern. Damals wie heute. Schrotts Anthologie „Die Erfindung der Poesie“ (2009) war eine tollkühne Expedition in vergessene Dichterlande, doch Catull palaverte hier in

naiven Vergleichsmetaphern und prosodischem Ungeschick einher; irische Mönche des achten Jahrhunderts produzierten Ketten einfältiger Genitivmetaphern. Man verstand nicht: Warum in die Welt(literatur) hinausfahren, wenn man von überallher nur dasselbe heimbringt, nämlich handwerklich zweifelhafte Durchschnittslyrik von heute? Nun, Raoul Schrott ist ein Phänomen. Ein mitreißend lesehungriger Idealist und sprachvergessener Biedermann; ein marktbewusster Prahlhans und doch auch jemand, der anzuregen und den Horizont zu erweitern weiß wie sonst kaum einer. Auch sein jüngster Coup verrät den sicheren Instinkt: „Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren“ trägt dem Umstand Rechnung, dass unser Bild von Sprache, Gefühl und Bewusstsein durch Kognitionsforschung und Linguistik revolutioniert worden ist – während die literarische Welt sich geistig tot gestellt hat. Literaten sprechen weiterhin laienhaft und anachronistisch davon, welche „Symbole“, welche „wörtlichen“ und welche „figurativen Bedeutungen“ oder „sinnliche Lautwirkungen“ verwendet werden, was der Dichter in welcher „Form“ habe „darstellen“ wollen. Man will die eigenen Arbeitsmittel nicht kennen.

Der Stand der Forschung Ein Buch, das die revolutionären Ergebnisse der Forschung gemeinverständlich präsentiert, ist also überfällig – und Schrott war diesmal so klug, einen pädagogisch und empirisch gleichermaßen versierten Universitätspsychologen als Co-Autoren einzuladen, der diesen Part übernommen hat: Arthur Jacobs referiert in selbstständigen Kapiteln vorbildlich klar und knapp, was heute empirisch gestützt über Sprache und ihre Rolle in Evolution und Bewusstsein gesagt werden kann. Dazu gehört etwa die gemeinsame Entwicklung von Handbewegung und Mundartikulation oder die Rolle,

Falters GENUSSFÜHRER Slow Food Wien, Bio Austria (Hg.)

EAT SLOW! Ein Führer zu ausgewählten Bio- und Slow-Food-Produzenten in Ostösterreich, die wunderbare Lebensmittel mit Identität und höchstem qualitativen Anspruch erzeugen. Von Florian Holzer und Nina Kaltenbrunner. 320 Seiten, € 25,50

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die Spiegelneuronen bei unserer Projektion von Intentionen in leblose Objekte spielen. Dazu gehören die Gründe, die Michael Tomasellos These vom Ursprung der Sprache im Gestikulieren und der Fähigkeit, abwägbare Intentionen herauszubilden, stützen; und diejenigen, welche der verbreiteten Auffassung widersprechen, Lesen heiße, Wörter aus einem abstrakten mentalen Lexikon abzurufen. Am bedeutendsten ist in diesem Zusammenhang aber wohl der Nachweis der Zusammenhänge von Sprachverarbeitung und wortlosem Denken, Orientierung im Raum und Sensomotorik.

Mit dem breiten Pinsel So lehrreich und klar die entsprechenden Passagen sind – das Buch als Ganzes ist dies keineswegs. Es besteht aus einer Kette von Entwürfen und Notaten – auf dem Weg zu einem Buch. Dass dieses sogar eine Generalthese aufstellt, erfährt man nicht etwa am Anfang, sondern auf Seite 428. Das Schlusskapitel „Das Gedicht“ verspricht eine praktische Belegung aller zuvor angerissenen Thesen – handelt allerdings gar nicht vom Gedicht. Mit breitem Pinsel wird eine Art evolutionärer Anthropologie des denk-, sprach- und sangesfähigen Tiers entworfen. Das ist höchst anregend und öffnet einem in vereinzelten Durchblicken die Augen. Umso enervierender ist es daher, dass immer wieder willkürliche, oft prahlerisch und windschief formulierte Thesen vorgetragen werden. Zudem werden Theorien anderer Autoren oft so präsentiert, als wären sie selbst gefunden oder gälten zumindest als gesichert – etwa Anne Carsons essayistisch vorgetragene These von der Gleichursprünglichkeit der Geldwirtschaft und der verschriftlichten, auf Originalität und Subjektivität abzielenden Dichtung. Richard Gregorys geistreiche, aber gewiss nicht problemlose Parallelisierung optischer Täuschungen und sprachlicher Figuren wird von Schrott (ohne Nennung Gregorys) nicht nur als einhellig geteilter Stand der Forschung präsentiert, sondern zur Behauptung ausgeweitet, die gebräuchlichsten rhetorischen Figuren entsprächen den grundlegenden Mechanismen unserer kognitiven Verknüpfungsweisen überhaupt. Mit diesem Handstreich will Schrott seinen biederen Begriff von Dichtung als anthropologische Gegebenheit ausweisen. Zu Recht wird die konventionelle Auffassung abgelehnt, nach der man Metaphern nur verstehen könne, wenn man eine eigentliche, „wörtliche Bedeutung“ finde. Allerdings suchen Schrotts eigene Analysen selbst stets nach eben diesen verborgenen Aussagen, die in die „Form“ einer Metapher gegossen worden seien. Einem exzentrischen „Divan“-Gedicht Goe-

thes wird umgekehrt Klangspielerei und Unklarheit vorgeworfen – es ist mit rhetorischem Schulwerkzeug tatsächlich nicht zu fassen. Dichter wie Reinhard Priessnitz oder Dieter Roth und alle bedeutenden eigenständigen Konzepte nach 1945 kommen daher nicht einmal vor. Es wird herzerfrischend und ideenreich über den Ursprung der Musik spekuliert, die allerdings als geschichtsloser Begriff irgendwo zwischen Dvorˇ ák und Dylan verortet wird. Alle Musik sei eine syntaktische Ordnung von Tonhöhen, die tragenden Intervalle seien von elementaren Frequenzproportionen abzuleiten. Dass das temperierte Tonsystem, auch und gerade die Quinte, gegen die „natürlichen“ Proportionen gebaut wurde, sollte allerdings hinlänglich bekannt sein – und ebenso, dass es seit 100 Jahren kanonische Musik gibt, die ohne diskrete Ereignisse auskommt, ohne Tonhöhen und Syntax. Ihrem Anspruch, mithilfe der Experimentalwissenschaft Neuland zu erobern, werden die Autoren nicht gerecht, stattdessen arbeiten sie notorisch mit Gemeinplätzen – etwa dem, dass Kunst offen und mehrdeutig zu sein habe; was freilich an Bachs „Kunst der Fuge“ oder an Mies van der Rohes Berliner Nationalgalerie noch niemand nachgewiesen hätte. Ähnlich fruchtlos ist der Gemeinplatz, nach dem es zum Eigensinn der Kunst gehöre, „Konventionen“ zu durchbrechen – das tun Therapeuten, Generäle, Erfinder, Wissenschaftler, Unternehmer ebenso und sogar von Berufs wegen.

Erhellend und effekthascherisch „Gehirn und Gedicht“ ist trotz kompetentem Co-Autor also wieder ein echter Schrott-Coup geworden. Ein Füllhorn lebendiger Ideen und erhellender Lesefrüchte und fabelhafter Großperspektiven, doch hastig gestrickt und von Schlampereien, Widersprüchen und effekthascherischen Phrasen durchwirkt. Eine fabelhafte Horizonterweiterung, in der paradoxerweise ein kleinbürgerlicher Kunstbegriff auf die Natur des Menschen zurückgeführt wird. Es ist am Literaturbetrieb, die Perspektiven aufzugreifen, die dieser furiose Rundumschlag eröffnet – nicht zuletzt, um den darin anthropologisierten fantasie- und intellektfeindlichen Studienratsbegriff von Text und Literatur zu überwinden. SEBASTIAN K IEFER

Arthur Jacobs, Raoul Schrott: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren. Hanser, 528 S., € 30,80


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Landidylle und Hardecore-Gastronomie Mit seiner Satire „Karte und Gebiet“ bedient Michel Houellebecq Freund wie Feind aufs Feinste uf gut Französisch darf man Michel Houellebecq durchaus einen „Stecken voll Scheiße“ nennen. Als ein solcher bâton merdeux gilt in der Sprache Molières jemand, von dem man nicht so recht weiß, an welchem Ende man ihn anpacken soll. Bei Houellebecq etwa scheint es nur die Wahl zwischen seiner Verehrung als Prophet und Verachtung als Poseur zu geben. Sein Name wirkt in der literarischen Welt als Pawlow’scher Reiz, der neben Speichelfluss stets auch Debatten auslöst. Die jüngste ist eine Plagiatsdebatte rund um seinen Roman „Karte und Gebiet“, der ihm immerhin den Prix Goncourt eingebracht hat. Der Autor wird den Preis wohl nicht zurückgeben: Sein Verlag Flammarion sah sich zwar zu einer etwas peinlichen Stellungnahme nach dem Motto „sollte er etwas abgeschrieben haben, dann sicher nur ganz wenig“ genötigt, ernstzunehmen ist die Erregung um ein paar einmontierte Wikipedia-Zeilen über die Fortpflanzung von Stubenfliegen oder das von der Wehrmacht zerstörte Städtchen Beauvais aber nicht.

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Bemerkenswerter ist da schon die Artigkeit, mit der sich der Skandalautor für den Preis bedankte, und die geradezu klassische Eleganz in Komposition und Sprache, mit der sein Roman aufwartet. Die aus drei Teilen, Prolog und Epilog bestehende Geschichte vom Leben des Fotografen und Malers Jed Martin wird teils in Rückblenden, teils als Krimi erzählt und erfüllt alle Erwartungen an einen page turner für den feierabendlichen Ohrensessel: Sie liest sich gut, hat Tempo, Spannung, Witz und enthält allerlei Tief- und Abgründiges zu schwergewichtigen Themen wie Liebe, Kunst, Vergänglichkeit, Arbeit, Globalisierung, Väter, Söhne usw. „Karte und Gebiet“ ist aber vor allem eine Satire auf Frankreich, dessen Intellektuelle sowie die Selbstvermarktung als Ferienparadies. Dem jungen Künstler Jed

Martin gelingt mit Fotos von MichelinLandkarten, deren Schönheit und Perfektion ihn faszinieren, der Durchbruch. Sein Überraschungserfolg beruht jedoch auf einem Missverständnis: Es ist nicht Jeds Kunst, sondern die neue Hipness alles Ruralen, Bodenständigen und Lokalen, die für den Erfolg der Landkartenfotos verantwortlich ist. Dabei wird das Ländliche für Franzosen in der nahen Zukunft, in der die Romanhandlung spielt, gerade zum unerschwinglichen Luxus. Die Tourismuswirtschaft spezialisiert sich zunehmend auf reiche Russen, Inder und Chinesen auf der Suche „nach einer Vintage-, wenn nicht gar Hardcore-Erfahrung im Bereich der Gastronomie“. Aus den Gästen werden bald Zweitwohnungsbesitzer, die streng auf Authentizität und Unverfälschtheit achten und das Land in ein Freiluftmuseum verwandeln. Wer die von Nordeuropäern mustergültig restaurierten Dörfer des Périgord oder der Thiérache kennt, wird die düster-komische Zukunftsvision nicht sonderlich weit hergeholt finden. Ihr Gipfel ist ein orgiastisches Fest der Regionen in einem originalgetreu restaurierten Schloss, dessen prächtiges Bibliotheksgewölbe mit Reiseführern vollgestellt ist. Zumindest für das französische Publikum gewinnt die Satire sehr viel Komik durch die Integration prominenter Namen aus der Literatur-, Kunst- und Medienszene, die mit ähnlich scharfem Spott bedacht wird wie die Fremdenverkehrsindustrie. Auch ein Autor namens Michel Houellebecq kommt vor, einmal als alkoholkranker, von Ekzemen übersäter poète maudit, dann als fast schon heiterer Landhausbesitzer, der auf der Suche nach den eigenen Wurzeln dem Glück der Kindheit nachspürt und schließlich aus Gründen, die hier nicht verraten werden, auch im Kindersarg beerdigt wird. Überhaupt wird in diesem Roman viel gestorben, verwest und eingeäschert. Jeds

Realienkunde: Jean-Pierre Pernaut Nachrichtensprecher auf TF1 mit täglich etwa sieben Millionen Zuschauern. Zieht Regionalberichterstattung und Wetterbericht den Hard News vor Patrick Le Lay Ehemaliger Geschäftsführer des Privatsenders TF1, berüchtigt für seine Ansicht, TV sei in erster Linie für die Werbung da Die Lamprete: Kulinarischer Name des aalähnlichen Neunauges, das Fische aussaugt. Wird in Südwest-Frankreich „à la bordelaise“, in einer Sauce aus Rotwein und dem eigenen Blut, serviert

Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont, 400 S., € 23,70

Betrachtungen zu Tod und Verfall zeigen jedoch auch klar die Schwächen des Textes, sobald es darum ginge, von der Satire wegzukommen. Sie changieren zwischen tatsächlich nachdenklich stimmenden Sätzen („Ein Kind zu haben, hatte für seinen Vater bedeutet, all seine künstlerischen Ambitionen aufzugeben, und, allgemeiner gesprochen, sich mit dem Tod abzufinden“), ziemlich vorhersehbaren Philosophemen angesichts der zufälligen Nachbarschaft einer Euthanasie-Anstalt und eines Bordells und Phrasen wie: „Irgendwo in dieser Stadt starben vermutlich in dieser Minute Menschen.“ Wie viele Orgasmen finden in der fabelhaften Welt der unsäglichen Amélie Poulain zur gleichen Zeit noch schnell statt? Nun, vielleicht ist die Assoziation ja Absicht. Neben ein bisschen schwarzem Kitsch bietet

der Roman noch weitere vertraut wirkende Versatzstücke aus Michels Mottenkiste, vom Lob der Prostitution und des Sextourismus über das Interesse für alternative Lebensentwürfe und Zukunftsvisionen der lustigen 60er-Jahre, ein bisschen Geschimpfe über Le Corbusier oder Picasso bis zur Globalisierungs- und Liberalismuskritik am Beispiel der Low-Cost-Airlines. Immerhin sorgt derlei immer nur kurz für Gähnen, der munter plätschernde Lesefluss wird durch den gewohnt zynischen Blick des Erzählers zwar gut gekühlt, friert aber nicht ein. „Karte und Gebiet“ ist nicht der große Künstlerroman, der das Buch womöglich sein will, auch von anderen ernsthafteren Themen lässt das Säurebad des Houellebecq’schen Spotts außer dem einen oder anderen ätzenden Aperçu nur wenig übrig. Eine scharfsichtige und boshaft funkelnde Satire auf die französische Gesellschaft der Gegenwart ist er aber auf jeden Fall. Sowohl Houellebecq-Verehrer als auch -Hasser werden auf ihre Kosten kommen.

Nichts für zarte Herzen! »Auch wenn am Ende der Herznovelle nur ein kleines Glück und eine kleine Liebe erreicht werden, bleibt die Hoffnung, nein, die Erkenntnis, dass ein verrücktes Herz allemal besser ist als ein kaltes.« Stefan Gmünder, Der Standard, zu »Herznovelle«

Auch als

-book erhältlich

»Eine Charakterstudie mit der psychologischen List einer Thriller-Autorin.« Sebastian Gilli, Der Standard, zu »Kein einziger Tag«

160 Seiten. Gebunden. € 16,40 [A] / 176 Seiten. Gebunden. € 17,40 [A]. www.deuticke.at

GEORG R ENÖCK L


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Isi und Cevdet waren auch einmal jung Orhan Pamuk und Mario Levi erzählen die jüngere Geschichte der Türkei als Familienroman n „Anna Karenina“ und an den „Buddenbrooks“ habe er sich orientiert, als er als 22-Jähriger seinen Roman „Cevdet und seine Söhne“ schrieb, erzählt Orhan Pamuk im Nachwort. Das Romandebüt des türkischen Literaturnobelpreisträgers erscheint nun zum ersten Mal auf Deutsch. Es ist die Chronik einer Istanbuler Familie über drei Generationen und zugleich ein Panorama der türkischen Geschichte vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis ins Jahr 1970. Auch bei seiner eigenen Familie hat Pamuk dafür Anleihen genommen. „Cevdet und seine Söhne“ ist ein ganz und gar erstaunliches Buch, nicht nur, aber auch, wenn man sich die Jugend des Autors während seiner Entstehung vor Augen hält – verschwenderisch üppig in den Beschreibungen, rhythmisch souverän in der Erzählführung, tiefgründig und offenherzig in der Figurenzeichnung, elegant im Schlagen der großen historischen Bögen, die sich in den Augen seiner Charaktere spiegeln.

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Cevdet, der Familiengründer, ist ein erfolgreicher muslimischer Kaufmann. Er betritt die Bühne im Jahr 1905, während der letzten Phase des Osmanischen Reichs, als Geldverdienen noch als etwas galt, das vor allem „die Ungläubigen oder schamlose Beamte“ betreiben – sprich die Juden oder Christen Istanbuls. Cevdet sucht seine Rolle zwischen Altem und Neuen, zwischen Tradition und beruflichem Ehrgeiz. Er ist mit einer Tochter aus alter, herrschaftlicher Familie verlobt. Sein Denken und Streben gilt dem richtigen Leben, das sich für ihn in den geregelten Bahnen zwischen Familie und Berufsleben abspielt. Sein an Tuberkulose sterbender Bruder steht als Anhänger der Jungtürken-Bewegung für die Zeiten des Umsturzes und der Republik, die in der Türkei bald folgen werden. An dem einen Tag, dem der ganze erste Teil des Buchs gewidmet ist, konfrontiert Pamuk seinen Titelhelden mit verschiedensten sozialen und politischen Verhältnissen und mit dem Völkergemisch Istanbuls und definiert damit den weiten Raum, in dem sich sein Familienroman bewegen wird. 30 Jahre später – Atatürk und die Republik mit ihren tiefgreifenden Reformen und Eingriffen ins Alltagsleben sind längst Realität – stehen Cevdets drei Kinder im Zentrum der Erzählung. Ihr Leben spielt sich in einem großen gemeinsamen Haus ab, mit Ehefrauen, Freunden und Enkelkindern. Es ist ein Leben in Wohlstand. Cevdet, dem inzwischen alten Patriarchen, wird wohl noch ehrerbietig die Hand geküsst, aber seine Söhne haben bereits das Ruder übernommen.

Cevdets Tod markiert das Aufbrechen der Risse, die sich zuvor schon gebildet haben. Osman, der ältere Sohn, hält mühsam und steif die Familientradition aufrecht, nicht ohne sich daneben eine Geliebte zu leisten. Refik, der Jüngere, bricht hingegen aus. Er reist weit in den Osten des Landes, zu seinem Freund Ömer, der im Westen studiert hat und nun als Ingenieur im Eisenbahnbau ein Vermögen verdient. Ömer sieht sich als Eroberer, bleibt aber letztendlich in seiner Verachtung für das Alte und in seinem Spott über die seiner Meinung nach naiven Reformen stecken. Er wird selbst zum Großgrundbesitzer und verkriecht sich in einem Herrenhaus in der Provinz. Refik ist umgekehrt ein naiver Bilderstürmer und denkt – inspiriert von Rousseau und Hölderlin – über Reformen für die Landbevölkerung nach, kehrt aber als Familienmensch am Ende doch nach Istanbul und in den Schoß von Familie und Firma zurück. Später wird er einen Verlag gründen und als Einziger zumindest versuchen, seinen Idealen gerecht zu werden. Alle von Pamuks Figuren suchen nach dem richtigen Leben und bemühen sich angesichts gesellschaftlicher Umwälzungen um Orientierung – zwischen Orient und Okzident, zwischen Sultanat und Republik, zwischen türkischem Nationalismus und den Traditionen der Aufklärung. Cevdets Enkel Ahmet, dem wir schließlich 1970 begegnen, ist Maler. Er ist in der Moderne angekommen, doch auch er befindet sich auf der Suche. Das Tagebuch seines Großvaters, noch in arabischer Schrift geschrieben, kann er nicht mehr selbst lesen. An der Stelle des alten Hauses, in dem die Großfamilie zusammenlebte, steht nun ein Appartementgebäude – die moderne Variante des Clan-Lebens. Ein paar Jahre auf oder ab setzt Mario Levis neuer Roman, „Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?“, dort ein, wo Pamuks Romandebüt endet. Levi, Jahrgang 1957, erzählt ebenfalls aus einem Kaufmannsleben. Sein Held Isi ist ein jüdischer Istanbuler Kaufmann um die 50. Sein Geschäft läuft verlässlich dahin, sein Familienleben ebenso. Cela, mit der er eine gute, traditionelle Ehe führt, sieht er „manchmal als das Symbol meiner Kapitulation“, denn Isi war einst ein linker Revoluzzer. In seinem jüngsten Werk führt Levi, einer der wesentlichen türkischen Erzähler der Gegenwart, zurück in die Zeit der türkischen Militärdiktatur der 80er-Jahre und zu deren Spätfolgen. In jene Zeit des Aufbruchs, des Widerstands gegen alte Traditionen und neue staatliche Gewalt fällt Isis Kindheit. Sein persönlicher politischer Kampf erschöpft

Orhan Pamuks erstmals auf Deutsch übersetztes Debüt ist erzählerisch elegant und tiefgründig in der Figurenzeichnung

Orhan Pamuk. Cevdet und seine Söhne. Roman. Deutsch von Gerhard Meier. Hanser, 665 S., € 25,60

Mario Levi. Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach? Roman. Deutsch von Barbara und Hüseyin Yurtdas. Suhrkamp, 679 S., € 25,60

sich bald in Brandreden vor den höflich lächelnden Mitarbeitern des väterlichen Betriebs, in den er – aus Mangel an anderen Ideen – selbst sehr bald eingestiegen ist. Nun aber, 30 Jahre später, will er noch einmal zurück, vor allem zu seinen Schulfreunden von damals, die sich mittlerweile weit zerstreut haben. Er forscht sie aus, um mit ihnen wieder ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen, das sie zu Schülerzeiten geschrieben und aufgeführt haben. Isi macht sich auf, „Teile von früher einzusammeln“. Er findet alle wieder: seinen engsten Schulfreund Necmi, der als Student den Kampf gegen die Diktatur ausgefochten und dafür mit Gefängnis und Folter bezahlt hat. Sebnem, deren traumatische Erlebnisse für sie in der Psychiatrie endeten. Den Griechen Yorgos, den seine alte Heimat nicht wollte und der sich in Athen ein neues Leben voller Sehnsucht nach dem alten aufgebaut hat. Die Jüdin Seli, die dem Druck ihrer Eltern nachgegeben und ihre große Liebe nicht geheiratet hat, um später nach Israel auszuwandern. Levis Roman ist eine Spurensuche von beinah märchengleicher Erzähllinearität. Die alten Freunde lässt er einer nach dem anderen auftreten und mit Isi Geschichten aus den letzten 30 Jahren austauschen. Am Ende kommt es zum gemeinsamen Treffen der Gruppe. Angesichts des Umfangs von mehr als 600 Seiten könnte der gleichförmige Romanaufbau lähmend wirken, tut es aber nicht, weil Levis Figuren einander mit erstaunlicher Aufrichtigkeit begegnen. Ihre Begegnungen erzählen nicht nur von mehrfach gebrochenen Biografien, sie erzählen auch von der Entwicklung der Türkei in den letzten 30, 40 Jahren, von den Nachwehen der Militärdiktatur bis in die Gegenwart, vom Anschluss an den Westen, von Massentourismus und Modernisierung. Das wirklich Schöne aber sind Levis Beschreibungen der Freundschaft, die Ernsthaftigkeit, die Geduld und das tiefe Interesse, mit dem sich alle seine Figuren den Lebensgeschichten ihrer alten Kameraden aussetzen. Und schließlich erzählt „Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?“ auch noch vom sich ständig wiederholenden Konflikt der Generationen: Denn am Ende wird klar, dass Isi die große Suche nach seiner Vergangenheit nicht aus saturierter Langeweile unternommen hat, sondern aus einer Erschütterung, die ihm sein eigener Sohn zugefügt hat – und zwar aus sehr ähnlichen Motiven, deretwegen sich Isi einst vom eigenen Vater distanziert hat. Isi wird mit seinen eigenen Waffen geschlagen – und ist bereit, die Ironie seines Schicksals zu akzeptieren. JULIA KOSPACH

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Die Bretter, die die Politik bedeuten Auf der Suche nach dem Politischen wieselt Alexander Kluge durch die Welt- und Zeitgeschichte er Beruf des Politikers – so Max Weber in einem berühmten Vortrag im Januar 1919 – sei das starke Bohren harter Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft. Kann sich jemand Alexander Kluge, den wieselflinken Ideenartisten, als Politiker vorstellen? Nun ja, seine Filme, Fernsehsendungen und Bücher, auch für belastbare Fans kaum noch zu überblicken, agieren politisch im doppelten Sinn: als Kommentare zu den laufenden Ereignissen, die sich den üblichen Gesetzen des politischen Diskurses verweigern und damit, zweitens, eine ganze eigene Sprache der Bilder, Gleichnisse und Allegorien erfinden, in der sie die öffentlichen Angelegenheiten verhandeln. Nun also „133 politische Geschichten“, auf den ersten Blick so zierlich wie Laubsägearbeiten, bei genauerer Lektüre aber doch Bohrungen in harten Brettern. Seinen Stoff findet Kluge in der Weltgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, die Akteure sind die großen Heroen von Perikles bis Obama, aber auch namenlose Adlati und völlig Unbekannte, denen ungewollt für einen Moment eine Rolle in der Geschichte zugefallen ist.

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Foto: © Heribert Corn

Das Bergwerksunglück zum Beispiel ist ein bewährter Novellenstoff. Kluge greift ihn noch einmal in einer tagesaktuellen Wendung auf: Was spielte sich ab im vergangenen Sommer, als 33 chilenische Kumpel in

einer Kupfermine eingeschlossen waren und sich darauf einstellen mussten, wenn überhaupt, erst Monate später gerettet zu werden? Wiederholte sich da tief unten im Berg, als unter den Kumpeln Macht und Vertrauen ausgehandelt werden mussten, eine Urszene des Gesellschaftsvertrags? Was geht auf einem französischen Postschiff vor, das im fernen Pazifik unterwegs ist und dessen Besatzung erst im Januar 1790 von der Revolution in Paris erfährt, ein knappes halbes Jahr also außerhalb des historischen Raums kreuzte? Solche Geschichten sind es, die Kluge an den Kern des Politischen führen, dorthin, wo es um die rechte Weise zu leben geht, aber auch um Macht, Vertrauen und Gerechtigkeit. Die kurze Erzählung, als Gattung das schiere Gegenteil der monumentalen Wissenschaftsprosa Max Webers, ermöglicht ihm ganz unterschiedliche Versuchsanordnungen, um sich diesen großen Begriffen anzunähern. Kluge greift als Erzähler auf spielerische Verfahren zurück, die man aus seiner Fernseharbeit kennt: Er denkt sich etwa eine kleine Figur aus, die als Dolmetscher oder Protokollbeamter große Staatsaktionen beobachtet; er erfindet Wissenschaftler, die in die Rolle des Erzählers schlüpfen; er protokolliert lange Dialoge, deren Ton an seine berühmten Fernsehinterviews erinnert.

Der Erzähler in der Rolle des Gastgebers: Dazu passt gut, dass eine lange, in zwei Abschnitte aufgeteilte Erzählung in diesem Buch von Reinhard Jirgl stammt, der einen Dolmetscher aus der sowjetischen Delegation über das Wiener Treffen von Chruschtschow und Kennedy berichten lässt.

Alexander Kluge: Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten. Mit einem Gastbeitrag von Reinhard Jirgl. Suhrkamp, 336 S., € 25,60

Das starke Bohren harter Bretter: Alexander Kluges neueste Geschichten bearbeiten jenes Material, von dem auch schon Max Weber gesprochen hat. Das härteste Brett aber, das sie sich vornehmen, ist die Politik selbst. Wer sich der mit Leidenschaft und Augenmaß zuwendet, braucht zunächst einmal unterschiedliches Handwerkzeug für Grob- und Feinarbeiten, je nachdem, ob er etwa einen Putsch vorbereitet oder einen diplomatischen Coup einfädelt. Das von Max Weber beschworene Bild solider Handwerksarbeit deckt aber nur einen Teil der politischen Praxis ab. Den Rest besorgen der Zufall, Chancen und Konstellationen, mit denen keiner gerechnet hat, auch Emotionen, die niemand vollständig zu kontrollieren vermag. Für sie ist eine eigene Methode der politischen Wissensproduktion zuständig, deren Erfinder Alexander Kluge heißt: hellwach und hochgebildet, sensibel und virtuos in der Fähigkeit zur Assoziation, ein seltenes Wunder der Wissenschaft wie der Literatur. TOBIAS HE YL

Florian Klenk Packend und präzise: Florian Klenks Reportagen berichten von menschlichen Grenzen und grenzenloser Unmenschlichkeit. 176 Seiten. Gebunden. € 18,40 [A] www.zsolnay.at


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SAMMELREZENSION: SIGRID LÖFFLER

ber nette Väter werden keine Bücher geschrieben. Unnette Väter hingegen geben seit Abraham unendlich viele Geschichten her. Auf dem Buchmarkt scheint die Nachfrage nach unglücklichen Kindheiten unter der Herrschaft tyrannischer Väter denn auch unersättlich. Allein in diesem Frühjahr erscheinen mindestens zwei Dutzend neue Vater-Sohn-Geschichten, bei denen teils schon die Titel verraten, was Sache ist: „Im Schatten des Vaters“, „Der letzte Patriarch“, „Die Tränen meines Vaters“, „Cevdet und seine Söhne“, „Lügen über meinen Vater“.

Ü

Stark ist gut, aber schwach geht auch Um literaturtauglich zu werden, müssen Väter allerdings das Zeug zum Erzählstoff haben – nämlich Konfliktpotenzial en gros. Vater-Sohn-Beziehungen müssen kompliziert sein und möglichst die ganze Gefühlsskala abdecken, in aller Widersprüchlichkeit und aller Hassliebe. Vaterfiguren müssen schon aus dem Rahmen fallen, sonst lohnt sich’s für die Söhne nicht, sich literarisch an ihnen abzuarbeiten. Die Väter mögen Bundeskanzler gewesen sein und ihre Söhne mit ihrer Gefühlskälte und Gleichgültigkeit verletzt haben, wie Lars Brandt und neuerdings Walter Kohl in ihren kummervollen Vater-Büchern offenlegen. Auch ein berühmter Nazi-Filmregisseur wie Veit Harlan taugt als ergiebige, hassgeliebte Vaterfigur für die SohnLiteratur, wie Thomas Harlan sie zuletzt geschrieben hat; und Péter Esterházy hatte gar einen gestürzten ungarischen Magnaten und Geheimdienstspitzel zum Vater, der sich in Weltliteratur verwandeln ließ. Und wenn Väter schon keine großen Namen haben, dann sollte ihnen von den gequälten Söhnen doch Überlebensgröße anderer Art nachgesagt werden können. Dann wird eben ein autoritärer Kärntner Ackermann zum alttestamentarisch grausamen Dorfgott hochgeschrieben, wie Josef Winkler das vorexerziert hat. Und soeben sind zwei Väter-Romane erschienen, in denen Säuferungeheuer als Familiendespoten ein Gewaltregime über ihre geduckten Söhne führen und dafür bis zu Mordfantasien gehasst werden: Der Schotte John Burnside und der Norweger Karl Ove Knausgård rechnen, kaum fiktiv verhüllt, mit ihren realen Schreckensvätern ab. Doch auch schwache Väter taugen zum Romanstoff – sofern die schreibenden Söhne ihrer Schwäche etwas Beispielhaftes abgewinnen können. Dem Vorarlberger Erzähler Arno Geiger und dem pakistanischbritischen Autor Hanif Kureishi gelingt in ihren neuen Büchern eben dies. Beide porträtieren den eigenen Vater als exemplarisch gescheitert, der eine an seiner Demenzerkrankung, der andere als entwurzelter pakistanischer Migrant und erfolgloser Schriftsteller in London.

Die Söhne haben das letzte Wort Wenn ein Mann Vater wird, dann gehört seine Geschichte nicht mehr ihm allein, dann wird er Teil der Lebenserzählung seines Sohnes – und diese Geschichte endet nicht mit seinem physischen Tod. „Vaterschaft ist eine Geschichte, die nicht nur anderen erzählt, sondern auch von anderen erzählt wird“, stellt John Burnside fest. Alle Vatergeschichten mögen zunächst Herrschafts- und Allmachtserzählungen aus der Perspektive ohnmächtiger Söhne sein,

Die Suche nach dem

verlorenen Vater Mehr oder weniger autobiografisch schreiben die Söhne ihren Vätern hinterher, tragen diesen ihren Hass und ihre Liebe bis ins Grab nach


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doch sie handeln letztlich immer vom kontinuierlichen väterlichen Machtverlust. Die Söhne gewinnen an Stärke, die Väter werden schwächer; die Söhne gehen fort, die Väter bleiben auf der Strecke und haben das Nachsehen. Die Söhne haben immer das letzte Wort über das Leben der Väter – erst recht, wenn sie Schriftsteller sind.

Die Eiche seiner Kindheit Das heißt allerdings nicht, dass die Söhne naturgemäß die Sieger sein müssen. Der Filmemacher, Holocaust-Rechercheur und Schriftsteller Thomas Harlan, der bis zu seinem Tod im vergangenen Oktober an seinem ultimativen und finalen VaterBuch schrieb, hat sein ganzes Leben lang mit radikalem Furor seinen Nazi-Vater, den Regisseur Veit Harlan, und dessen Gesinnungsgenossen bekämpft. Nach Ansicht des Sohnes hat Veit Harlan mit seinem Hetzfilm „Jud Süß“ den Judenvernichtern im „Dritten Reich“ ein künstlerisches Mordinstrument an die Hand gegeben. Doch Thomas Harlans unerbittlicher Vaterhass war von seiner hingerissenen Vaterbewunderung nie zu trennen. Er blieb dem vermaledeiten Vateridol in ewiger Selbstzerfleischung verfallen, wie seinem nun posthum erschienenen Vater-Buch „Veit“ auf jeder Seite abzulesen ist. Schwer zu sagen, was für eine Art Text „Veit“ eigentlich ist: Totengedenken, Abrechnungs- und verquere Huldigungsschrift an den „Riesen, die Eiche meiner Kindheit“, Liebesbrief an den „allerliebsten, einzigen, unglücklichen Vater“, der 1964 auf Capri in den Armen der katholischen Kirche starb, erbitterte Familienvendetta, Wuttirade und überschwängliche Identifikationshymne auf einen reuelosen Nazi-Künstler. In seinem Exhibitionismus ist „Veit“ das peinliche Dokument einer Kapitulation. Das Buch offenbart, dass der Sohn mit diesem Vater sein Leben lang nicht fertig geworden ist, und es endet mit dem Angebot des Selbstopfers: „Wenn Du Deine Verantwortung nicht trägst, ich übernehme sie an Deiner statt. Vater, Du Geliebter, Verstockter. Ich habe Deinen Film gemacht. Ich habe ,Jud Süß‘ gemacht. Lass mich Dein Sohn sein.“

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

Der Vater aus der Flasche Verglichen mit Thomas Harlans masochistisch zur Schau gestellten Gefühlsverwirrungen sind die Erinnerungen John Burnsides und Karl Ove Knausgårds an die Selbstzerstörungsorgien ihrer Säuferväter bei aller autobiografischen Offenheit nachgerade dezent zu nennen. Burnsides Vater, ein Hilfsarbeiter in der schottischen Bergwerksstadt Cowdenbeath, und Knausgårds Vater, ein Gesamtschullehrer im norwegischen Städtchen Kristiansand, hatten miteinander die despotische Befähigung gemein, ihre heranwachsenden Söhne die längste Zeit in unterwürfiger Angst zu halten. Beide Väter waren Familientyrannen mit Neigung zum Jähzorn, die ihre Söhne unter ihrer Lieblosigkeit leiden ließen und sie in die eigenen Selbstzerstörungsexzesse mit hineinzogen. Ihre Säuferkarrieren waren allerdings verschieden. Sein Vater, so schreibt John Burnside in seinem autobiografischen Roman „Die Lügen meines Vaters“, den er jedoch als „ein Werk der Fiktion“ wahrgenommen sehen

will, war sein Leben lang ein Lügner, Angeber, Gewalttäter und schwerer Trinker, der seinen Wochenlohn im Pub versoff, während die Familie hungerte und aus gestohlenen Futterrüben Suppe kochte. Der Sohn erlebte ihn als „eine Art Monster, eine Naturgewalt, eine unberechenbare, wilde, manchmal absurde Kreatur, skrupellos und unglaublich schnell“ und hasste ihn zeitweilig bis zu Mordfantasien und einem knapp abgebrochenen Mordversuch mit dem Küchenmesser. Erst nach dessen Tod – mit 62 Jahren an seinem vierten Herzinfarkt, der ihn in einem Pub zwischen Tresen und Zigarettenautomat niederstreckte – lernte Burnside seinen Vater in einem anderen Licht zu sehen. Sein Erzeuger war ein Findelkind gewesen, abgelegt an der Türschwelle fremder Leute und fortan immer nur lieblos weitergereicht und herumgestoßen – „ein verlorenes Kind, das kein Mensch gewollt hatte“. Den Sohn, der parallel zum Untertang des Vaters seinen eigenen Absturz in Drogenkonsum und Trinken bis zum Säuferwahn durchlebte, überkommt im Nachhinein Mitleid: Er erkennt die zwanghafte Lügerei des Vaters als Versuch eines „Niemands von Nirgendwo“, sich eine Identität und eine Geschichte zu geben. Inzwischen selbst Vater zweier Buben, gelingt dem Autor eine Art Versöhnung mit dem Toten. Burnside schreibt, „dass ich meinem Vater auf meine Weise vergeben hatte, was mir von ihm angetan worden war, dass ich es aber niemals vergessen würde“.

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wirrte Großmutter und sein angereister Bruder im Schatten des toten Patriarchen rauschhaft zu einer Art Familiengefühl zurück.

Der Zugriff des zärtlichen Sohns

Thomas Harlan: Veit. Rowohlt, 155 S., € 18,50

John Burnside: Lügen über meinen Vater. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus, 382 S., € 20,60

Vorsätzliche Selbstzerstörung Im Leben von Karl Ove Knausgårds Vater gab es einen jähen Bruch, für den der Sohn und Autor in seinem Roman „Sterben“ trotz allem detailversessenen Hyperrealismus seiner ausufernden Lebenserzählung keine Erklärung zu geben vermag. Als Knausgård ein 16-jähriger Gymnasiast war und eben die Wonnen des Alkohols für sich entdeckt hatte, ließen sich seine Eltern abrupt und ohne Angabe von Gründen scheiden. Der Vater gab den Lehrerberuf auf, zog mit einer blutjungen Geliebten in den Norden Norwegens, zeugte noch ein Kind und verschwand aus dem Leben des Sohnes, das er bis dahin – mürrisch, wortkarg, nüchtern und autoritär – bis ins Kleinste reglementiert hatte. Der Sohn wird ihn erst als Leichnam im Bestattungsinstitut wiedersehen. Und erst von seinem fürchterlichen Ende her wird er den Untergang seines Vaters in seiner ganzen Unbegreiflichkeit rekonstruieren können. Der Vater ist vorsätzlich vor die Hunde gegangen. Er hat sich buchstäblich zu Tode gesoffen und ist, verbarrikadiert in seinem völlig verwahrlosten Elternhaus und in Gegenwart der hilflos-dementen Mutter, inmitten einer Müllhalde leerer Flaschen in seinem Unrat verreckt. Wie konnte das geschehen? Karl Ove Knausgård hat keine Deutung anzubieten, doch in seiner peniblen Familienerzählung, in der sich sein Held Karl Ove an Schlüsselszenen seiner Kindheit und Jugend erinnert, herrscht von Anfang an ein Klima der Gleichgültigkeit, der Knausrigkeit und emotionalen Kälte. Diese Familie ist bereits innerlich zerfallen, ehe sich die ersten Risse zeigen und der Vater sein Selbstzerstörungswerk beginnt. Nur in einem großen gemeinsamen Besäufnis finden der Ich-Erzähler Karl Ove, seine ver-

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Karl Ove Knausgård: Sterben. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, 575 S., € 23,70

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Hanser, 190 S., € 18,40

Hanif Kureishi: Mein Ohr an seinem Herzen. Deutsch v. Henning Ahrens. S. Fischer Verlag, 240 S., € 19,50 (Erscheint am 12. April 2011)

All diese Sohn-Romane beschwören, obwohl sie von Entfremdungen und Zerwürfnissen handeln, immer auch die körperliche Präsenz des Vaters. Doch keiner dieser Autoren ist dem eigenen Vater näher auf den Leib gerückt als Arno Geiger. Dieser Sohn sucht sogar ins alzheimerkranke Gehirn seines Vaters vorzudringen, um die Zerrüttungsprozesse möglichst intim zu beobachten, in aller Sohnesliebe. Er führt Protokoll, ganz der recherchierende Schriftsteller, der die merkwürdig weise klingenden Fehlleistungen des Vaters für sein späteres Buch sammelt und notiert. Eine Blütenlese der surreal anmutenden väterlichen Gesprächsäußerungen ist jedem Kapitel in Zitaten vorangestellt. Im Gegensatz zu den hasserfüllten Söhnen Harlan, Burnside und Knausgård ist Arno Geiger ein liebevoller Sohn. Er und seine Geschwister begleiten und tragen den Vater August Geiger durch alle Phasen des geistigen Abbaus und Zerfalls. Sie behüten ihn, sie lassen ihn nicht im Stich. Der Alte kann in Würde und Respekt verdämmern und dahinschwinden. Arno Geiger macht aus seinem dementen Vater eine exemplarische Gestalt, einen großartig verwirrten König Lear von Wolfurt im Rheintal. Er überhöht ihn zum titelgebenden „Alten König in seinem Exil“. Und doch kann man als Leser keinen Augenblick vergessen, dass Arno Geiger nicht nur ein zärtlicher Sohn ist, sondern zugleich auch als kühl Material sammelnder professioneller Autor auftritt, der bei aller Empathie der teilnehmenden Beobachtung sein Schreibziel nie aus den Augen verliert. „Ich dachte mir, da haben sich zwei gefunden, ein an Alzheimer erkrankter Mann und ein Schriftsteller. Ich wollte mir mit diesem Buch Zeit lassen, ich habe sechs Jahre darauf gespart“, bekennt er. Der Leser wird zum beklommenen Zeugen eines lange geplanten Übergriffs gemacht. Seltsam, dass diese zärtlich gemeinte Bloßstellung eines wehrlosen Vaters sich letztlich verstörender liest als die aggressiven Abrechnungen der anderen Schriftsteller-Söhne mit ihren VaterUnholden.

Ich habe ihn nicht wirklich gekannt Noch deutlicher als Arno Geiger legt sein britisch-pakistanischer Kollege Hanif Kureishi sein Vater-Erinnerungsbuch als schriftstellerisches Konkurrenzunternehmen an. Denn Kureishi senior war nicht nur ein aus Pakistan eingewanderter Migrant, der an der Londoner Botschaft seines Landes einen unbedeutenden und langweiligen Posten bekleidete; er war auch ein gescheiterter Schriftsteller, der sein Leben lang für die Schublade schrieb, weil er trotz aller Bemühungen nie einen Verlag fand. Nach seinem Tod sucht der Sohn aus den Manuskripten des Vaters dessen Leben zu rekonstruieren, immer im vollen Bewusstsein, an Vaters statt selbst der erfolgreiche Schriftsteller geworden zu sein. Das Resümee seiner Gedenkarbeit könnte als Motto für alle Sohn-Bücher taugen: „Nach allem habe ich bei meinem Vater das Gefühl, dass ich ihn im Grunde gar nicht wirklich F kannte.


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Überschätzt: Goethe und das Zähneputzen Entlarvend, erschütternd und erzkomisch: Matthias Zschokke mailt sich das Gewicht der Welt vom Herzen ie Disziplin der Kollegenschelte ist in der literarischen Zunft mit einem strengen Tabu belegt. Zwar weiß jeder, dass außer ihm selbst eigentlich keiner was taugt. Öffentlich aussprechen mag es aber niemand, weil es mit einem hohen Risiko, mit Neidunterstellung und Verbitterungsverdacht verbunden ist. Matthias Zschokke hat dieses Tabu nun gründlich gebrochen. Der 1954 in der Schweiz geborene Autor, der seit 1980 in Berlin lebt und sich doch eigentlich eher für die leiseren Töne zuständig fühlt, legt mit „Lieber Niels“ ein Werk vor, in dem er auf alle Rücksichtnahme vorsätzlich verzichtet.

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„Unbedingt mehr verwildern in allem, was ich

tue!“, lautet die entsprechende Lebens- und Schreibmaxime, und dass er es ernst damit meint, deutet bereits der Umfang von 800 Seiten an. Es handelt sich um E-Mails an den Kölner Freund Niels Höpfner aus den Jahren 2002 bis 2009. Man kann sie als eine Art Tagebuch lesen, das allerdings an ein Gegenüber adressiert ist. Von einem Brief unterscheidet sich ein E-Mail durch die höhere Geschwindigkeit und Unkontrolliertheit; es kann ja durch das nächste sofort relativiert werden. Und dass Zschokkes Mails niemals zur Veröffentlichung gedacht gewesen seien, versichert der als eine Art Herausgeber fungierende Niels Höpfner, der sein Dasein ebenfalls als Autor, Publizist, Kritiker und so weiter fristet. Höpfner ist für Zschokke etwa das, was im letzten Jahrhundert der vornehme F.W. Oelze für den Briefschreiber Gottfried Benn gewesen ist: ein verehrender, manchmal Einspruch erhebender Gesprächspartner in geziemender Ferne. Unter dem Titel „Ein sanfter Rebell“ hat er eine umfangreiche Homepage über Zschokke erstellt, von der in dem Mailkonvolut immer wieder in ergriffenem, dankbarstem Ton die Rede ist. Auch Peinlichkeiten werden hier nicht zensiert. Zschokkes Mails (die von Höpfner fehlen) wurden leicht gekürzt und überarbeitet, bleiben aber dennoch ein unverfälschtes Dokument spontaner und alltäglicher Lebensäußerungen eines Schriftstellers, der mit sich, den anderen und dem Literaturbetrieb zu kämpfen hat. Seine Einschätzungen muss man nicht unbedingt immer teilen, um Freude an ihnen zu haben. Es geht dabei ja nicht um Gerechtigkeit. Sigmund Freud bezeichnet Zschokke als Einfaltspinsel, Sekundärdenker, Langweiler, mindestens so überschätzt wie Goethe. Peter Weiss: grottenschlecht, ein humorloser Kursleiter für Marxismus an der Volkshochschule Lübeck. Christa Wolf: „Als ich einmal mit ihr zusammen eingeladen war, las ich vorher alle Bücher von ihr, weil ich dachte, das gehöre sich so – und starrte sie

daraufhin den ganzen Abend wütend an, weil ich die Bücher so grauenvoll gefunden habe.“ Robert Gernhardt: „nicht schlecht, aber immer ein klein bisschen ranzig“. Günter Kunert: „mag ich nicht (auch nicht – ich mag ja fast keinen)“. Auch die Gegenwartsgarde kommt nicht besser weg: Felicitas Hoppe: „Fräuleinliteratur“. Peter Stamm: „argloser Stimmenimitator“. Botho Strauß: Pose, Gespreiztheit. Und Brigitte Kronauer: „Nein, Mittelmaß ist das nicht, aber Rainer-Virginia Proust, eine Mischung aus Mayröcker und Thomas Mann, mit einer Prise Joyce, alles auf dem neuesten Stand der germanistischen Forschung.“ So viel „mag ich nicht“ wäre ziemlich unerträglich, wenn man es von einem Menschen wie, sagen wir, Thomas Mann zur Kenntnis nehmen müsste, der von der hohen Kanzel der Selbstgerechtigkeit herab doziert. Zschokke jedoch gehört in eine andere Linie von Autoren, die sich eher von Robert Walser ableitet und die eigene Nullundnichtigkeit durchschaut hat. „Ich habe nichts zu sagen“, beteuert Zschokke immer wieder, „mir fällt nichts mehr ein.“ Aber: „Ich glaube, die wenigsten haben etwas zu sagen. Und das auszuhalten und zuzugeben, dieses Nichts-zu-sagen-Haben, kommt mir mal wieder als meine Hauptaufgabe vor.“ Es ist demnach leicht nachzuvollziehen, dass Melvilles Bartleby zu Zschokkes liebsten literarischen Helden gehört, ein Mann, der dem Gesellschaftstreiben und allen Arbeitsanforderungen mit dem schlichten Satz „Lieber nicht!“ zu entkommen sucht. Oh ja, Bücher und Autoren, die Zschokke gefallen, gibt es schon auch: Wilhelm Genazino gehört dazu, Andrzej Stasiuk, vor allem aber Peter Handke und eben Robert Walser.

bislang passiert (ein Buch kommt in 3000 Exemplaren auf den Markt, keine Reklame, nichts; ein paar werden verkauft, der Rest bleibt liegen), ist genau das, was mit mir möglich ist.“ „Ich glaube, die wenigsten haben etwas zu sagen. Und das auszuhalten und zuzugeben, kommt mir mal wieder als meine Hauptaufgabe vor“ Matthias Zschokke

Zschokkes literarische Präferenzen führen

weg vom Inhalt, von Handlung, vom Gefälligen, leicht Konsumierbaren. „Aufregende Sätze“ will er stattdessen lesen und schreiben, Texte, in denen einer etwas von sich preisgibt. Haltung und Stil also statt Handwerk und Standardware. Mit der Gattung „Roman“ hat er folglich seine Schwierigkeiten und überhaupt mit allem, was an den Markt und die unvermeidliche Produkt-Form von Literatur erinnert. Trotzdem hofft Zschokke von Buch zu Buch (für den Zeitraum, um den es hier geht, sind das vor allem der sogenannte Roman „Maurice mit Huhn“ und der Reportagenband „Auf Reisen“) auf den großen Durchbruch, auf Geld und Berühmtheit. Dabei würde er sich sehr gerne schon den Lesungen und Auftritten, die er als Autor zu absolvieren hat, mit einem „Lieber nicht!“ entziehen und schätzt seine Lage realistisch ein: „Ich fürchte, was mit mir

Matthias Zschokke: Lieber Niels. Wallstein, 768 S., € 30,80

Niels Höpfner: Ein sanfter Rebell www.angelfire. com/ms/zschokke/ Titel.html

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen.

Schuld daran ist naturgemäß vor allem der

Verleger Egon Ammann, der sich noch nicht einmal schämt, vor Zschokke von seinem Erfolgsautor, dem Kitschschriftsteller Eric-Emmanuel Schmitt, zu schwärmen. Andererseits versteht es Ammann, in Zschokke immer wieder neue Hoffnung zu entfachen, ihn zu loben und zu umgarnen, wenn der Autor wieder einmal mit dem Gedanken spielte, den Verlag zu wechseln. So geht das durch die Jahre – fast so wie zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard, nur dass das Geld für Zschokke keine so überragende Rolle spielt und sein Furor des Hassens weniger ausgeprägt ist. Er möchte halt genug verdienen, um die Miete im Wedding bezahlen zu können, ohne von Almosen leben zu müssen. Und für gute Restaurants soll es reichen. Der Verleger kommt nicht gut weg, und das Buch hätte demnach wohl auch kaum im Ammann Verlag erscheinen können. Dessen Ende vor gut einem Jahr und der folgende Wechsel Zschokkes zu Wallstein ist also eine Voraussetzung dieser Publikation. „Lieber Niels“ liefert ein ungeschöntes Bild der Psyche, Lebensweise und der sozialen Randlage eines Literaturmenschen, der diese Randlage zugleich als ihm angemessene Stellung befürwortet. Dort ist er als Flaneur mit dem Fahrrad unterwegs, fährt während der WM an der Fanmeile vorbei, genießt die aufgewühlte Stimmung in der Stadt, bleibt aber stets der Einzelgänger, der zu Silvester um 22 Uhr zu Bett geht und an seinem 50. Geburtstag den ganzen Tag herumspaziert, um nur ja keine Glückwünsche entgegennehmen zu müssen. Weil es zu mühsam geworden ist, wäscht er sich nur noch einmal in der Woche und schränkt seine Sozialkontakte weiter ein. Selbst das Zähneputzen hat sich irgendwann in eine unangemessene Anstrengung verwandelt. Das Verwildern, das Zschokke anstrebt und auch umsetzt, spiegelt zugleich den Prozess des Älterwerdens: Die Zähne brauchen neue Füllungen, der Kopfschmerz nach abendlichen Trinkereien wird immer schlimmer, das pure Existieren ist eine ermüdende Herausforderung. Und doch trotzt Zschokke Tag für Tag der Zeit und der Vergänglichkeit neue Texte ab, auch wenn es nur ein Mail ist. „Lieber Niels“ ist bei aller Grundtraurigkeit des Daseins vergnüglich, bei aller schlechten Laune sympathisch und bei aller Marktskepsis unterhaltsam – also genau das, was Literatur ausmacht. JÖRG MAGENAU


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Espresso und Erinnerung Peter Kurzeck ergeht sich sein Werk beim Flanieren durch Frankfurt oder das südfranzösische Uzès as Schönste, was Literatur zu leisten vermag, ist, einen neuen Blick auf die Welt zu ermöglichen. Nach der Lektüre eines Gedichts oder eines Prosatextes sollte man hinausgehen und alles ein wenig anders wahrnehmen: genauer, verschobener, verrückter. Aber wie oft geschieht so etwas? Manchmal. Viel zu selten. Fast nie. Und dann passiert es doch, und es passiert mit einem Text, der auf schlichte Weise ganz gewöhnliche Alltagsmomente aneinanderreiht. Eine nachgerade monoton anmutende Prosa, ein Rinnsal von Sätzen, das durch ein Großstadtviertel fließt. Und man wundert sich, wie man von diesem unscheinbaren Text verwandelt wird und nicht mehr aufhören kann zu lesen, obwohl der Fortgang der Geschichte einem Stillstand gleicht, obwohl es keine Handlung gibt, sondern nur ein Leben, das sich erzählt – so, wie ein vollkommenes Bild oder ein Musikstück sich selbst erzählt und keine Erklärungen braucht.

se er arbeiten, sagt er, sich erinnern. Noch bevor er lesen und schreiben konnte, habe er gewusst, dass er eines Tages Schriftsteller werden würde: „Ich habe eh und je den Zwang verspürt, nichts vergessen zu dürfen. Und als Folge davon dachte ich, ich sei zuständig dafür, die Welt zu bewahren, was für einen Vier- oder Fünfjährigen ja eine Riesenarbeit ist.“ Dieser Impuls, die eigene Geschichte zu speichern, hat wohl auch autobiografische Gründe: Als Flüchtlingskind kam Kurzeck aus Böhmen nach Staufenberg in der Nähe von Gießen. Ein ganzer Geschichtenraum war plötzlich versunken, und ein neuer musste erst erforscht werden. Fortan begleitete das Gefühl des Fremdseins den Autor. Der einzige feste Ort blieb die Sprache. In der bewegt sich Kurzeck wie ein Flaneur, er schweift ab, geht Umwege, lässt sich treiben. Aus einem Nebensatz kann plötzlich ein neues Buch von 200 Seiten entstehen. So hat sich sein „autobiografisches“ Romanprojekt aus einem Nachwort für eine kurze Frankfurt-Prosa inzwischen zu Proust’scher Dimension ausgewachsen.

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FOTO: LESUNG KIRSCHKERN/WIKIPEDIA

Der lange und langsam fließende Text ,

von dem hier die Rede ist, verteilt sich inzwischen auf viele teils voluminöse Bücher, die Titel wie „Ein Kirschkern im März“, „Oktober oder wer wir selbst sind“ oder „Vorabend“ tragen, obwohl es sich eigentlich nur um ein einziges großes Werk handelt. Peter Kurzeck heißt der Autor, und er ist zugleich ein Rhapsode – in seinen Romanen, bei seinen Lesungen (für die man einen anderen Namen finden müsste) und in seinen gefeierten Hörbüchern, in denen er frei erzählt und dabei auf wundersame Weise Poesie erschafft. Kurzeck ist vielleicht der bekannteste unbekannte Autor, 67 Jahre alt, ein manischer Schriftsteller, der manchmal über dem Schreiben das Essen vergisst und an einem Großprojekt arbeitet, das in einem einzigen Menschenleben nicht abgeschlossen werden kann,. weil es das ganze Leben umfasst. Alleine zum Jahr 1984, ein wichtiges Jahr in der Biografie Kurzecks, sind bereits fünf dicke Romane erschienen – viele weitere sind geplant oder teils schon geschrieben. Eine Autobiografie ist das gleichwohl nicht. „Ich schaffe die Wirklichkeit noch einmal nach“, erklärt Kurzeck, der seit vielen Jahren in Südfrankreich lebt, in einem Haus in Uzès, das schon André Gide als Unterkunft gedient hat. Es geht ihm um das Einfrieren der „ruckenden“ Zeit, um Verdichtung. So bescheiden die verhandelten Themen sind – das Schreiben, das Flanieren durch die Stadt mit der kleinen Tochter, die Trennung von der Freundin –, so intensiv und ausdifferenziert gerät die zirkuläre Bewegung um ein Ich, das sich immer wieder in Selbstgesprächen zu fassen sucht. „Das ist natürlich auch der Versuch, nicht nur den Ablauf der Zeit selbst auszudrücken, sondern sie zu etwas All-

Rhapsode Peter Kurzeck: für seine Lesungen müsste man einen neuen Namen finden

gegenwärtigem zu machen“, gesteht Kurzeck. „Mich quält die Vergänglichkeit. Und das Schreiben ist mein Versuch, es trotzdem aushalten zu können, dass die Zeit vergeht.“ Das Vergehen der Zeit soll in dieser Prosa nicht geschildert, sondern selbst zum Ausdruck werden, um die bösen Geister und die quälenden Gedanken zu bannen. „Heb jeden Augenblick auf. Merk dir jeden Schritt Weg“, heißt es einmal. Und an anderer Stelle: „Musst stehenbleiben und dir den Augenblick merken. Für immer. Dein Leben, den Herbst, die Straßenecke, den heutigen Tag.“ Bei Kurzeck geht es nicht um Handlung, sondern um die Entfaltung des Erinnerten – und um Sound. Die Texte sind musikalische Gebilde, in denen die Alltagssprache, verschiedene Dialekte und Jargons anklingen. Sie sind präzise geformt, und wenn der Autor sie auf seine eindringliche, fast mantrahafte Weise vorliest, wird ihr rhythmisches Prinzip deutlich: Sie nehmen die Bewegung des Gehenden auf, dem die Tätigkeit des Gehens schon nicht mehr bewusst ist, dessen

Denken vollkommen mit dem Takt der Welt korrespondiert. Gleichklang und Repetition: Es sind kleine Verschiebungen, die in diesen Texten stattfinden und auf subtile Weise bedeutsam werden. „Ich bin gezwungen, so lange daran herumzuarbeiten, bis ich den Eindruck habe, jetzt stimmt nicht nur jeder Satz, sondern eigentlich jeder Ton. Ich weiß genau, wie jeder Satz zu klingen hat. Und das ist mit den Jahren des Schreibens immer wichtiger geworden.“ Oft ist Peter Kurzeck in jener Stadt anzutreffen, die in seinen Texten – neben dem Kindheitsort Staufenberg im Oberhessischen – die größte Rolle spielt: Frankfurt. Man sieht ihn dann dort spazieren gehen, immer einen Stift und ein Notizbuch zur Hand, ein distinguiert wirkender Herr im Anzug, mit Seidenschal und Einstecktuch. „Selbst in der U-Bahn habe ich schon ganze Kapitel geschrieben, obwohl man in Frankfurt mit der U-Bahn ja immer nur ein paar Minuten fährt.“ Sein Blick hat etwas jungenhaft Neugieriges, mit ihm fängt er noch das Unscheinbarste ein. Immer müs-

Frankfurt lässt Kurzeck nicht los. Hier wurde er zum Schriftsteller. Hier hat er sich selbst vom Alkoholismus geheilt – und stattdessen den exzessiven Espressokonsum für sich entdeckt. Früher sei er die Allerheiligenstraße entlanggegangen und habe auf dem Nachhauseweg in jeder Kneipe Halt gemacht, erzählte er einmal. Dann waren es die Cafés – in Spitzenzeiten brachte er es auf über 20 Tassen Espresso am Tag. Peter Kurzeck sollte man als Erzähler auf der Bühne erleben. Hat man seine Stimme im Ohr, dann wird man sie auch beim Lesen seiner Romane hören. Man wird in dem von ihm vorgegebenen Takt durch diese Texte wandern, die minutiös jedes noch so am Rande liegende Detail registrieren, archivieren und in den eigentümlichen Fluss dieser Prosa einfügen. Leben, Erinnern und Schreiben lassen sich hier nicht mehr trennen. Als Schriftsteller ist man zuständig für die Vielfalt der Welt, lautet Kurzecks Credo. Dessen Prosa schenkt einem nicht nur einen neuen Blick auf diese Welt, sondern auch den Glauben an ihre Schönheit. Es gibt zur Zeit wohl keine Romane, die menschenfreundlicher und trostreicher sind als jene von Peter Kurzeck. ULR ICH RÜDENAUER

Von Peter Kurzeck erschien zuletzt das Hörbuch „Mein wildes Herz“ (supposé). Der 800-Seiten-Roman „Vorabend“ erscheint demnächst als Buch und 4fachCD bei Stroemfeld


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KIR STIN BREITENFELLNER

n der Behauptung, die Welt sei zu komplex und unübersichtlich geworden, schwingt immer die Annahme mit, dass man selbst darin ohnmächtig und hilflos sei. So kann man sich fein heimlich aus der Verantwortung stehlen, die Welt zu verändern. Diese Einsicht nahm Ines Pohl zum Anlass, ein Buch zusammenzustellen, in dem es nicht um Revolutionsentwürfe, sondern um kleine Schritte geht, nicht um einen theoretischen Überbau, sondern um praktische Tipps und Anregungen, gleich vor Ort bei sich selbst oder durch Hilfe für andere damit zu beginnen, die Welt vielleicht nicht zu retten, aber zumindest zu verbessern. Nach dem von ihr konstatierten Scheitern des ungezügelten Kapitalismus und des staatszentrierten Sozialismus, der großen Ideologien im 20. Jahrhunderts, verortet Pohl, seit 2009 Chefredakteurin der taz, in ihrem Vorwort zu „50 einfache Dinge, die Sie tun können, um die Gesellschaft zu verändern“ die politische Alternative in einer gemeinwohlorientierten ökologischen Gesellschaft, die effizienter dazu in der Lage sein soll, die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, von der Klimakatastrophe über Hunger- bis zu weiteren heraufdräuenden Finanzkrisen, anzunehmen und zu bewältigen. Die Autoren des schmalen und deswegen äußerst benutzerfreundlichen Bandes rekrutieren sich aus Redakteuren der taz, Praktikern der beschriebenen Projekte und Institutionen und Vordenkern einer neuen, gerechteren Weltordnung, allesamt einschlägig bekannt, von linkem Urgestein wie Dany Cohn-Bendit bis zum österreichischen attac-Sprecher Christian Felber oder Falter -Autor Robert Misik. Die 50 Beiträge decken, mal als nüchterne Analyse, mal als flammender Appell, die Sparten solidarische Ökonomie, Ökologie und soziale Kreativität ab.

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Radikalität entsteht durch Menge

Wie man

leben soll Moral I + II: Moral macht glücklich: Weltverbesserungstipps und eine Geschichte moralischer Revolutionen

Schwerpunkt Sachbuch Moral ist in aller Munde und wird immer öfter zwischen zwei Buchdeckel gepackt. Sie kommt als Theorie oder Tipp daher und ohne Zuhilfenahme von nichtmenschlichen Imperativen, sprich Gott, aus. Standen zuletzt soziale Gerechtigkeit und die Gräuel der Massentierhaltung im Mittelpunkt der ethischen Debatten, sind es heuer Fragen nach dem guten Leben und dem Ursprung des Bösen

Moral macht glücklich Kleine Tipps und große Revolutionen ........................................................................................................................... Ethik zum Wohlfühlen Rainer Erlinger macht Moral bequem ............................................................................................................................ Die gesellige Zigarette Robert Pfaller löckt wider die Mäßigung .................................................................................................................. Abschied von Gut und Böse Eine philosophische Reise mit Peter Kampits .................................................................................................... Die Lust am Bösen Eugen Sorg über das grundlos Böse ................................................................................................................................. Das gute Tier Frans de Waals Plädoyer für die Empathie ............................................................................................................... Umwerter aller Werte Sabine Appels Nietzsche-Biografie .................................................................................................................................... Böse Philosophen Philipp Bloms Geschichte der Aufklärung

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Gemeinsam ist den Beiträgen der praktische Zugang, und so endet die Mehrzahl davon mit einem Absatz unter dem Titel „Was kann ich selbst tun?“. Dort finden sich Tipps, welche Institutionen man mit Spenden unterstützen kann, Literaturhinweise und Adressen von Homepages, auf denen man weitergehende Informationen findet. Nicht alles davon ist naturgemäß neu, z.B. dass man NGOs unterstützen soll, die sich mit Steuern und Finanzmärkten auseinandersetzen, wie attac oder Tax Justice Network. Manches scheint ein wenig utopisch, wie der Traum von einer Wirtschaft ohne individuelle Verantwortung – woran bekanntlich der real existierende Sozialismus gescheitert ist. Während Dany Cohn-Bendit die Notwendigkeit eines globalen Handelns hervorhebt, konzentrieren sich die meisten anderen Autoren auf das regionale bzw. kommunale Agieren – von der Unterstützung schwacher Schülerinnen durch Lesecoaches über die Einflussnahme auf die Energiepolitik der Heimatgemeinde bis zur Begrünung des eigenen Balkons oder Innenhofs im städtischen Raum. Hier, im Kleinen, vermitteln die Beiträge wirklich anregende und kreative Ideen, vom auf Tausch basierenden Regiogeld, das Unabhängigkeit von globalen Finanzströmen verspricht, bis zum Quadratgärtnern mit Terra preta, selbstgemachter Erde. Vor allem die Kreativzone Berlin hat in den letzten Jahren zahlreiche Projekte hervorgebracht, die es wert wären, übernommen zu werden. Im Mentorinnenprogramm Sista Abla etwa unterstützen junge Akademikerinnen deutscher Herkunft Schülerinnen mit Migrationshintergrund beim Übergang vom Abitur zum Studium. Und im Projekt Heroes gegen Mädchenunterdrückung und „Ehren“-Morde münzen junge türkisch- oder arabischstämmige


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„Helden der Gleichberechtigung“ in Theateraufführungen an Schulen einen archaischen Ehrbegriff in einen zeitgenössischen um. Wenn dann ein Schüler am Schluss sagt: „Ehre ist mehr Freiheit für Mädchen“, haben die Jungs in den coolen schwarzen Sweatshirts, die sogar ein kleines Honorar erhalten, ihre Mission erfüllt.

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

Ehre als Problem und als Lösung Dass die Ehre nicht nur ein Problem, sondern gleichzeitig dessen Lösung sein kann, behauptet auch Kwame Anthony Appiah. Selbst in einer von Ehre geleiteten Gesellschaft in Ghana aufgewachsen, weiß Appiah, wovon er spricht. In seiner Studie „Eine Frage der Ehre“ versucht der Philosophieprofessor in Princeton und Direktor des amerikanischen PEN-Zentrums diesen nicht nur altmodischen, sondern auch aus gutem Grund desavouierten Begriff zu rehabilitieren oder vielmehr umzudeuten – auf gar nicht unähnliche Weise wie die „Heroes“ im Berliner Neukölln. „Wie es zu moralischen Revolutionen kommt“, lautet der Untertitel des Buches, an dessen Ausgangspunkt die Frage steht, was wir aus bereits stattgefundenen moralischen Revolutionen lernen können. Appiah hat drei exzellente Beispiele ausgewählt, die er gekonnt knapp und anschaulich nacherzählt und analysiert: das Ende des Duells im Europa des 19. Jahrhunderts, die Aufgabe des Füßebindens im China der Wende zum 20. Jahrhundert sowie die Abschaffung der atlantischen Sklaverei. An ihnen führt er vor, dass nicht die jeweils schon lange vorliegenden moralischen, also vernünftigen (Gegen-)Argumente zum Ende dieser Praktiken führten, sondern die Rekrutierung der Ehre für die Seite einer neuen Moral und ein daraus resultierender veränderter Ehrbegriff. Dabei spielten auch neue Medien eine Rolle. Es sei an der Zeit, die Ehre wieder in die Philo-

sophie einzuführen, schließt Appiah. Wobei er unter Ehre den Respekt und die Achtung durch andere und die Selbstachtung versteht, ohne die kein Mensch ein glückliches, erfülltes Leben führen kann. „Ich denke (my Lords), dass Männer von Geblüt und Rang diese Praxis aufgeben werden, wenn sie erst (…) von so gemeinen Leuten wie Barbieren, Feldschern und ähnlich niedrigen Handarbeitern übernommen wird“, schrieb Francis Bacon vorausschauend über das Duell. Und tatsächlich wurden die von Appiah diskutierten moralischen Revolutionen jeweils von den oberen bzw. aufstrebenden Schichten auch als Distinktionsmerkmal benutzt. Im Falle der Sklaverei etwa von der englischen Arbeiterklasse, die durch den Status von Sklaven die manuelle Arbeit und damit ihre eigene Würde herabgewürdigt sah. In China verschwand das Füßebinden binnen einer Generation, als die gebildete Elite damit aufhörte und nur noch Mädchen mit ungebundenen Füßen Aufstiegschancen hatten. Und als der Ehrbegriff erstmal über die Grenzen des Reichs der Mitte hinaus gefasst wurde. Auch Appiahs Theorie der Ehre wendet sich ins Praktische, wenn er seine Erkenntnisse im vierten Kapitel auf die „dunklen Seiten der Ehre“ anwendet, die es heute noch gibt und die etwa in Pakistan im Jahr 1999 zum „Ehrenmord“ an Samia Sarwar durch einen von ihren Eltern angeheuerten Schergen führte. „Bei den früheren Revolutionen“, lautet sein Fazit, „wurde die Ehre als treibende Kraft nicht in Frage gestellt, sondern umgelenkt.“ So scheine es auch hier angeraten, „nicht gegen die Ehre zu argumentieren, sondern die Grundlagen der Ehre und den Ehrenkodex zu ändern“.

Neue Moral erfordert neues Denken Wenn sich so etwas wie ein gemeinsames Fazit aus diesen beiden so unterschiedli-

Gute Adressen

www.attac.at www.greenpeace-energy.de www.regiogeld.de www.zeitbank.net www.triaterra.de www.happyplanetindex.org www.heroes-net.de www.beschwerdechor.de (Mehr Adressen in: „55 einfache Dinge“, hg. v. Ines Pohl)

Ines Pohl (Hg.): 50 einfache Dinge, die Sie tun können, um die Gesellschaft zu verändern. Westend, 180 S., € 13,40 Kwame Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt. C.H. Beck, 270 S., € 25,70

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chen Büchern ziehen ließe, dann dieses: Moral entsteht in den seltensten Fällen aus rein vernunftgesteuerten Entscheidungen. Und sie muss keine moralinsaure Pflichterfüllung, sondern kann höchst befriedigend sein. Denn moralisches Verhalten macht stolz und kann, wie Ines Pohl betont, auch glücklich machen: „Das Gefühl, etwas verstanden und durchdrungen zu haben und schließlich in Handlung umzusetzen, kann eine Menge Glückshormone freisetzen. Man erfährt sich als eine Person, die tätig eine Veränderung bewirkt und dafür Anerkennung erhält.“ „Mit den alten Denkschablonen von Moral und Verzicht ist nichts zu gewinnen“, meint auch Peter Unfried in seinem Beitrag „Klimakultur“ zu Pohls Band – denn ihr antihedonistischer Geruch hat abschreckende Wirkung und kann also als Verteidigungswaffe gegen die Aufforderung zur Veränderung missbraucht werden. „Die Frage ist nicht: Worauf könnte ich jetzt verzichten und worauf nicht? Sondern: Was will ich nicht mehr und worauf will ich in der Zukunft nicht verzichten (etwa auf London, Hamburg oder halb Holland) und was bedeutet das für die Gegenwart? Das alte Denken wird umgedreht: Wir verzichten nicht auf Wohlstand und Lebensqualität, wenn wir handeln, sondern wir bewahren Wohlstand und schaffen zusätzliche Lebensqualität.“ Wenn es denkbar ist, dass islamische Staaten und deren Bürger sich für den (eigentlich im Koran nicht erlaubten) Ehrenmord zu schämen beginnen, wäre es dann nicht auch denkbar, dass wir uns hierzulande in absehbarer Zukunft auch für den Verzehr von „Qualfleisch“ (Karen Duwe) aus der Massentierhaltung oder den Wochenend-Shoppingtrip nach London oder das Beziehen von Atomstrom schämen? Und daraus auch noch Befriedigung ziehen? F


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Ein Lüstchen für den Tag und eines für die Nacht

Plädoyer für eine Zigarette in geselliger Runde

Moral III: Rainer Erlinger legt eine kantianische praktische Ethik vor, mit der es sich gut leben lässt

Moral IV: Robert Pfaller philosophiert gegen Mäßigung, Makellosigkeit und den Terror der Intimität

rst kommt das Fressen, dann die E Moral. Wenn dieses vielzitierte Diktum Bertolt Brechts stimmt, dann

enn Hollywoodstars auf die W Frage antworten, was ihr größter Glücksmoment war, sagen sie in

gibt es hierzulande wahrlich mehr als genug zu essen. Denn so viel Moral war nie. Alle sind satt – und kümmern sich nun um das Gute. Bücher über Tugenden und Laster haben ebenso Konjunktur wie Empfehlungen, wie man sein Leben ändern muss, die Ethik boomt in der Wirtschaft, in der Medizin und im Tierreich. Politiker werden, im Gegensatz etwa zu Popstars, daran gemessen, inwiefern sie sich nicht nur gesetzeskonform, sondern auch moralisch verhalten, allerorten werden Wertedebatten geführt, und wer wissen will, wie man sich in seinem eigenen bescheidenen Alltag moralisch so richtig gut fühlen kann, kann sich nun von Rainer Erlinger beraten lassen. Erlinger, promovierter Jurist und Mediziner, ist durch seine Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung bekannt geworden. Unter dem Titel „Die Gewissensfrage“ behandelt er Anfragen seiner Leser zu alltagsmoralischen Problemen. Da geht es dann darum, ob und wann man jemanden belügen darf, wann ein Seitensprung gerechtfertigt ist, ob man Bettlern etwas geben muss, wie man es mit der Höflichkeit hält oder ob man die Obdachlosenzeitung kaufen soll. Das ist mal witzig, mal banal, mal antwortet Erlinger mit Rückgriff auf moralphilosophische Traditionen, mal genügt der Hausverstand, aber eines gilt für alle diese Kolumnen: Ihre Würze liegt in ihrer Kürze. Nun hat Erlinger aus seiner Passion für moralische Zwickmühlen und Fangfragen ein Buch gemacht. Und für dieses bestätigt sich leider die Vermutung Søren Kierkegaards: Wo sich die Moral breitmacht, beginnt es langweilig zu werden. Das muss auch Erlinger gespürt haben, denn er ist so sehr bemüht, alles kurzweilig, anschaulich, praxisbezogen und anekdotisch zu gestalten, dass diese didaktische Absicht unübersehbar und damit kontraproduktiv wird. So beginnt er – ach, wie originell – mit einer im Playboy präsentierten Untersuchung, nach der elf Prozent der Deutschen das Gebot „Du sollst nicht töten“ für nicht mehr zeitgemäß halten. Die Dringlichkeit moralischer Fragen ist damit unterstrichen, warum dies so ist oder was dies für eine Gesellschaft bedeutet oder wer diese elf Prozent sind, wird allerdings nicht diskutiert. Erlinger wechselt rasch zu weniger drastischen Fragen: Wie viel an natürlichem Egoismus dürfen wir uns gönnen? Kann Mutter Teresa ein Vorbild sein? Wie halten wir es mit dem Seitensprung? Wie tolerant müssen wir gegenüber Andersdenkenden sein? Diese einleitenden Fragen sol-

len zu grundsätzlichen Überlegungen führen, und wie in einem Lehrbuch werden im ersten Teil dann auch handelsübliche Definitionen für Moral (Summe der Grundsätze, nach denen Menschen leben) und Ethik (Begründungsdiskurse für moralische Grundsätze und Regeln) angeboten, dann wird ein Grundkurs in Moralphilosophie verabreicht: ein bisschen Aristoteles, viel Kant, eine Prise Utilitarismus und immer wieder John Rawls. Im zweiten Teil kehrt Erlinger zu alltagsmoralischen Fragen zurück, ein dritter Teil bemüht sich um die Grundpfeiler einer zeitgemäßen Moral. Erlingers Credo lautet: Die Moral ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Moral. Die Moral soll unser Leben erleichtern, das Zusammenleben ermöglichen, bei Gewissensfragen Hilfe geben, sie darf uns aber nicht zu viel abverlangen. Und das bedeutet: Mutter Teresa ist eine Ausnahmeerscheinung und kein Maßstab; an Gesetze soll man sich halten, auch wenn man ihre Sinnhaftigkeit nicht gleich einsieht, weil jeder gesetzeslose Zustand noch schlimmer wäre; im Sex ist alles erlaubt, vorausgesetzt, es handelt sich um erwachsene Menschen, die sich freiwillig dafür entscheiden – und so weiter. Aber bitte alles mit Maß und Ziel.

der Regel: „die Geburt meines Kindes“. Der Wiener Philosoph Robert Pfaller findet in seinem neuen Buch alltäglichere Beispiele: Eine Zigarette in geselliger Runde oder ein Glas Sekt bei einer Firmenfeier sind die Ereignisse, für die es sich zu leben lohnt. Pfaller sieht sich als Materialist und beruft sich auf antike Vorbilder – etwa Epikurs „Lust des Bauches“ –, um den postmodernen Idealismus zu bekämpfen. Mitte der 90er-Jahre sieht der Autor einen „Beleuchtungswechsel“ um sich greifen, der den vormals als genussvoll erachteten Konsum in einem schlechten Licht erscheinen lässt: Das Rauchen gilt nicht mehr als mondäne Geste, sondern als obszönes Laster. Alles Anrüchige soll aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Das Menschenrecht, vom anderen nicht belästigt – und in die Luft gesprengt – zu werden, drängt den Staat in die Rolle des reglementierenden Überichs: Er erteilt Rauchverbote und zwingt Passagiere, am Flughafen die entwürdigende Prozedur eines Nacktscanners über sich ergehen zu lassen. „Wir mäßigen uns maßlos“, schreibt Pfaller über die „Kultur der Makellosigkeit“. Pfaller beruft sich in seinen Analysen auf

Fleisch bitte nur als „Sonntagsbraten“,

Toleranz für die Intoleranten nur, solange diese unsere Gesellschaftsordnung nicht in Gefahr bringen. Erlingers Moralphilosophie kann über weite Strecken als ein pragmatisch gewendeter Kant aufgefasst werden. Im Ernstfall gilt der kategorische Imperativ in seiner zweiten Fassung: Behandle den Menschen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck. Allerdings: Ganz so rigide, wie Kant es sich vorstellte, können wir das Sittengesetz auch nicht auffassen. Die Moral muss sich auch an neue Entwicklungen, Technologien, Lebenswelten, Bedürfnisse anpassen. Das ist alles sehr sympathisch und erfüllt genau den Zweck, den Erlinger anvisiert: eine Ethik, mit der es sich gut leben lässt. Wäre man ein wenig böse, könnte man sagen: Es ist die Moral für Nietzsches letzten Menschen: „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.“ KONR AD PAUL LIESSMANN

Rainer Erlinger: Moral. Wie man richtig gut lebt. S. Fischer, 256 S., € 20,60

den US-Soziologen Richard Sennett, der mit seinem „Verfall des öffentlichen Lebens. Tyrannei der Intimität“ (dt. 1986) Begriffe wie Distanz, Spiel und Maske gegen Phänomene der Medien- und Therapiegesellschaft setzte. Sogar die Mode des vorrevolutionären Ancien Régime ist für ihn das positive Beispiel einer spielerischen Kultur des Als-ob, in einer Zeit, in der noch kein Geständniszwang die politische Rede dominierte. Pfallers „Ancien Régime“ sind die 1960er- und 1970er-Jahre, als in Filmen noch „knisternde Spannungen in den Geschlechterverhältnissen aufgebaut wurden“. Die Sexpräsenz in heutigen Talkshows dagegen sei Ausdruck eines narzisstischen Hangs zur Selbstdarstellung, der den lustbetonten Kontakt zu den Mitmenschen kappt. Der öffentliche Raum verödet: An die Stelle cocktailtrinkender, höflicher und elegant gekleideter Persönlichkeiten seien verbissene Tugendwächter getreten. Der rauchende und ölverschmierte Autorennfahrer Jochen Rindt war laut Pfaller einer der letzten lust- und humorvollen Helden, die für ihren Exzess bereit war, etwas aufs Spiel zu setzen. Rindt starb 1970 in seinem Rennwagen. Gern folgt der Leser Pfallers aus dem Alltag destillierten Beobachtungen über die kleinliche Logik des Neids und seiner Relektüre Friedrich Nietzsches, der in seinen kulturkri-

tischen Schriften die Welt der jammernden, moralisierenden Kleingeister durchleuchtete. Die um ihr Körpergewicht besorgten und die Schadstoffe in den Lebensmitteln kontrollierenden Zeitgenossen erinnern tatsächlich an jene Grundstimmung um 1900, als sich die Zivilisationsgeschädigten in Agraridyllen und die indisch-altgriechisch inspirierte Gymnastik flüchteten. Mit spürbarer Lust am Kombinieren stellt der Autor den nicht auf der Hand liegenden Zusammenhang zwischen postmodernem Hedonismus und einer von Hemmungen, Verboten und Ängstlichkeiten angetriebenen Askese her. Man teilt seine Verehrung für die materialistische Komödie („aus gespielter Liebe wird notwendigerweise echte Liebe“) und seine Abneigung gegen die selbstverliebte Tragödie („ihr seid das, wofür ihr euch selbst haltet“). Beobachtungen über den Stalker, für den es die größte Kränkung bedeuten würde, wenn das verfolgte Liebesobjekt sich ihm zuwendete, bereiten Vergnügen. Pfaller pflegt genüsslich Ressentiments gegen „demutstrunkene“ Exerzitien im Feld politisch engagierter Kunst. Seinen Fans bietet das Buch allerdings wenig neue Einsichten: Die meisten Themen und Theorieadaptionen – etwa des französischen Psychoanalytikers Octave Mannoni – sind bereits aus älteren Werken, etwa „Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“ (2008), bekannt. In den Lebensreformbewegungen um 1900 gab es zahlreiche Experimente, die erkunden wollten, wie ein befreiter Übermensch leben könnte. Die Übungsprogramme reichten von metaphysischen Selbstumstülpungen à la Rudolf Steiner bis zur Lustbejahung des Freudianismus. Im Vergleich dazu haben Pfallers Anweisungen für ein besseres Leben – ein Gläschen Wein da, ein durch komödiantisches Lachen ausgelöster „atomarer Impuls“ dort – ein sympathisch unpädagogisches Format. Nach dem x-ten „kleinen Bier“, Pfallers Lieblingsbeispiel für Verausgabung, drängt sich allerdings der Eindruck auf: Hier spricht ein Zivildiener über den Krieg. Eine Schule lässt sich aus dieser Feierabendphilosophie nicht machen. MAT THIAS DUSINI

Robert Pfaller: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. S. Fischer, 280 S., € 20,60


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Bestie Mensch oder Moral oder Ethik? Abschied von Gut und Böse Das bedingungslos Böse Moral V: Peter Kampits rollt in einem Parforceritt die Definitionen von Gut und Böse seit der Genesis auf

Moral VI: Ist der Mensch aus reiner Lust böse? Eugen Sorg hat dafür verstörende Argumente gesammelt

ahlreiche Versuche, das Böse Z zu bestimmen und seine Herkunft zu erklären, durchziehen die

chwerverbrecher haben Schweres S im Gepäck. Psychologie kann das Verhalten der Täter begründen, viel-

Menschheitsgeschichte: von Religion und Theologie über die Philosophie und Ethik bis zur Wissenschaft, von der Genetik und Neurobiologie, von der Verhaltensforschung bis zur Psychoanalyse.“ In „Wer sagt, was gut und böse ist“ rollt der Wiener Philosoph Peter Kampits diese Definitionsversuche in 44 lesbaren Kapiteln auf nur 200 Seiten auf – so komprimiert wurde wohl kaum je eine Zusammenschau des menschlichen Ringens um die Definition von Gut und Böse und damit um die Moral und die mit diesem Begriff eng verbundenen Begriffe Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung vorgelegt. Ist das Böse überhaupt eine Realität für sich? Gibt es das Böse ohne das Gute? Kampits hat eher die enge Verflechtung von Gut und Böse im Visier als ihre oft beschworene Gegensätzlichkeit. Deswegen beginnt er seine philosophische Reise mit dem grausamen Märchen von Hänsel und Gretel, aus dem er am Schluss des Buches, dorthin zurückgekehrt, die Botschaft filtert: „Ohne das Böse gibt es nichts Gutes, und natürlich auch umgekehrt: Ohne das Gute wäre das Böse nicht denkbar.“ Dazwischen liefert Kampits einen Grundkurs in Philosophie – vom Sündenfall durch das Essen vom Baum der Erkenntnis über Aristoteles’ Definition des glücklichen Lebens bis zum Theodizee-Problem (warum ein allmächtiger, guter Gott Böses zulassen kann), von Kants „innerem Gerichtshof“ über Dostojewskijs Kampf gegen den Nihilismus bis zu Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“, wo das Leben gegen die Moral ausgespielt wird, und Sartres radikaler Freiheitsphilosophie (inklusive Einführung in den neuesten Stand des Diskussionsbeitrags seitens der Naturwissenschaften zum Thema und Anmerkungen zu Wirtschaftskrise und Terrorismus). Kampits diskutiert anhand dieser Lektüre die Gegensätze Natur/ Kultur, Vernunft/Gefühl, Willensfreiheit/Gnade, Freiheit/Sicherheit, Egoismus/Altruismus, Schuld/Sühne, Vergeltung/Abschreckung und die Zuordnung des Bösen zum weiblichen Geschlecht, arbeitet sich an einer ganzen Phalanx von Literatur

zum Thema aus den letzten 20 Jahren ab – aber keine der vielen Erklärungen über das Böse, die er referiert, kann den Autor rückhaltlos überzeugen. Im Gegenteil: „(…) je mehr wir über das Böse nachdenken, desto unerklärlicher werden seine Herkunft, seine Realität und seine Verankerung in unserer Lebenswelt.“ „Kennen Sie sich noch aus?“, fragt er gegen Ende des Buches kokett. „Ich beinahe nicht mehr.“ Und versucht sich zum Schluss trotzdem an einer eigenen Definition, indem er die Begriffe Gut und Böse infrage stellt und den verstaubten Moralbegriff gegen die moderner wirkende „Ethik“ austauscht. Wobei er unter Moral ein System von Regeln, Prinzipien und Maximen versteht, das uns bestimmte Handlungsnormen vorgibt, und unter Ethik mit Michel Foucault ein „Ensemble fakultativer Regeln, nach denen das, was wir tun, entsprechend der jeweiligen Existenzweise bewertet wird“. Die Verabschiedung von Gut und Böse

möchte er zwar als Befreiung vom Moralismus, vom „Schwingen der Moralkeule“ sehen, aber natürlich nicht als Abschied von ethischen Prinzipien. Und auf die altgedienten Begriffe von Gut und Böse möchte er am Ende dann doch nicht verzichten: „Gut und Böse bleiben über den Moralismus hinaus Bezugspunkte unseres ethisch verantwortlichen und freien Handelns.“ Was aber für Kampits nicht bedeutet, dass Gut und Böse als eigenständige Entitäten anerkannt werden müssen. Seiner Annahme, dass es ein Gutes im Bösen und Böses im Guten gibt, kann man tatsächlich folgen. Der Vorschlag, sich bei der Beurteilung von bösen Menschen auf ein intuitives Verständnis von Gut und Böse zu verlassen, scheint aber dann doch eine etwas dürftige „Lösung“ des Problems zu sein. KIR STIN BREITENFELLNER

Peter Kampits: Wer sagt, was gut und was böse ist. Eine philosophische Reise. Ueberreuter, 207 S., € 19,95

leicht sogar heilen. „Westlichen Therapeutismus“ nennt Eugen Sorg diese Annahmen abfällig. In „Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist“ bricht er mit dem Paradigma des Bösen als bloßer Abweichung vom Guten. Gewalt ist geil. In Serbien wird der ehemalige Schulkollege kastriert. In Ruanda kehrt die Hutu-Dorfgemeinschaft müde und zufrieden von der „Arbeit“ nach Hause – dem Gemetzel an ihren Nachbarn vom Volk der Tutsi. In der friedlichen Schweiz vergnügen sich junge Männer mit Streichen an unbekannten Passanten. Niederschlagen ist angesagt, dann werden die am Boden Liegenden ins Koma getreten. Eugen Sorg berichtet aus Gebieten zivilisatorischer Umnachtung. Manches, was kroatische, serbische und bosnische Kämpfer von den Foltermethoden der jeweiligen Gegenseite erzählten, wollte der gelernte Psychotherapeut zunächst selbst nicht glauben. Als Delegierter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes im Bosnienkrieg musste er einiges selbst mit ansehen: „Nun wurde mir mit beinahe physischer Wucht bewusst, dass die Decke der Zivilisation dünn und brüchig ist.“ Als Journalist lieferte er später Reportagen aus Krisen- und Kriegsgebieten in Afrika und Nahost. Hier hat er wohl auch seine erzählerische Stärke kultiviert: klare, einfache Worte für Grausamkeiten zu finden, bei denen jede Ausschmückung zu viel des Bösen wäre. Sorg setzt sich mit Stanley Milgrams berüchtigten Bestrafungsexperimenten auseinander und mit Hannah Arendts Berichten von Adolf Eichmanns banaler Bösartigkeit. Scharf beobachtet, lautet sein Urteil – aber die Interpretation hinke. Sowohl Milgram als auch Arendt führen das Verhalten ihrer Täter auf Autoritätshörigkeit, auf Befehle von Vorgesetzten zurück. Sorg hält dem entgegen, dass im KZ die vorgesehenen Quoten bei den Tötungen bei weitem übererfüllt wurden. Seine Erklärung für das Böse ist viel einfacher: „Es ist die Lust am Kampf an sich, die Freude an der Zerstörung, am verheerenden Racheschlag, am gelungenen Beutezug.“

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Das Lesen der Beispiele erschreckt. Weil sie grausam sind und weil sie überzeugen: Die Täter handeln nicht aus Not, sie handeln aus Lust. Wissenschaftliche Belege für die Befriedigung durch Bestialität liefert Sorg allerdings nicht. Gängige Erklärungen hält er für naiv. Nie zuvor habe es eine Kultur gegeben, die das Böse als Irrtum begriffen habe, „als fehlgeleitetes Gutes, als reaktive Verhaltensweise, als Glaube für Kinder, Wilde oder Amerikaner. (…) In allen bekannten bisherigen Gesellschaften wurde das Böse als eigenständige Realität begriffen.“ Im Kielwasser von 9/11 nahmen sich Wissenschaftler und Journalisten des Phänomens der Selbstmordattentäter an. Hier wittert Sorg strategische Verwertung der Täter-sind-auch-nurOpfer-Hypothese: „Die Islamisten hatten schnell gelernt, dass man sich nur als Opfer präsentieren, ein wenig laut werden und wild mit den Augen rollen muss, und schon bricht in den Hauptstädten von Europa und Amerika der Angstschweiß aus.“ Doch er versteigt sich zur Verunglimpfung des gesamten Kulturkreises, den er des „islamo-arabischen Überlegenheitskomplexes“ bezichtigt. Damit sorgt er für einen entbehrlichen Kontrapunkt zur sonst gepflegten Nüchternheit. Schließt man sich Sorg an, kommt man um die Frage der Verantwortung nicht herum – und kaum umhin, sich selbst einzuordnen zwischen rationaler Zusammenhangsforschung und Sorgs radikalem Verständnis des Bösen als Gelüst an sich. Haben sich in unserer watteverpackten Wohlstandswelt Erklärungsmodelle entwickelt, die an der Realität „da draußen“ vorbeilaufen? Oder leitet Sorg zu viel von Ausnahmezuständen ab, in denen die Gesetze der Vernunft aufgehoben sind? Die Fragen, die der Autor aufwirft, bleiben noch lange im Kopf. ANDREAS KREMLA

Eugen Sorg: Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist. Nagel & Kimche, 154 S., € 15,40


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Das gute Tier: zwei Seelen in der Affenbrust Moral VII: Frans de Waal hält ein Plädoyer für das Tierische im Menschen – seine Fähigkeit zur Empathie

thematisch an seine bisherigen Publikationen anknüpft. Denn auch in „Das Prinzip Empathie“ macht er sich auf die Suche nach den Ursprüngen des menschlichen Verhaltens in der Tierwelt und deckt dabei evolutionsgeschichtliche Parallelen auf. Von der hellen Seite des Lebens fasziniert, gilt de Waals Interesse vor allem dem, was eine Gemeinschaft zusammenhält. Sein Fokus auf der Empathie als menschlicher Grundausstattung zeigt diese als eine uralte, angeborene Fähigkeit, deren Revival er in der aktuellen US-amerikanischen Politik zu erkennen vermeint: Mit dem neuen Präsidenten Barack Obama, der sich nach der globalen Wirtschaftskrise mehr für soziale Themen einsetzt, sieht der in den USA lebende Niederländer ein neues Zeitalter der Empathie – so auch der Titel im Original: „The Age of Empathy“ – eingeläutet. Um menschliches Verhalten zu begreifen, wirft der studierte Biologe und Ethnologe einen Blick weit zurück in die Vergangenheit: Es ist das Tierische im Menschen, das ihn empathisch macht, lautet die These, die de Waal hauptsächlich anhand seiner Studien über Menschenaffen am Yerkes National Primate Research Center in Atlanta zu belegen versucht. Denn auch Menschen sind nur „Affen mit zwei See-

len in der Brust“ – einer dominanten und einer mitfühlenden. Mit moralischen Begriffen wie sozialem Handeln, Kooperation und Teilen, die neben dem Aggressionsverhalten genauso zur Überlebensstrategie im Tierreich zählen, wartete de Waal bereits in Büchern wie „Der gute Affe“ (1996) auf, in dem er sich mit dem Ursprung von Recht und Unrecht beschäftigte. Über die Jahre hinweg konnte de Waal zahlreiche Formen der Empathie bei Menschenaffen beobachten – bei den dominanten Schimpansen ebenso wie bei den liebestollen Bonobos. Sie sind empfänglich für Befindlichkeiten anderer, wie wir gähnen sie, wenn andere gähnen, sind zu Perspektivübernahme und vorausschauender Planung fähig, haben ein Gerechtigkeitsempfinden, sorgen sich um andere und speichern Gefälligkeiten in ihrem Gedächtnis: „Empathie ist vielschichtig wie eine russische Puppe: Im Kern die uralte Fähigkeit, den eigenen emotionalen Zustand dem eines anderen anzugleichen. Um diesen Kern hat die Evolution immer komplexere Fähigkeiten angelegt – etwa Anteilnahme für andere oder Übernahme ihres Standpunktes.“ De Waal stützt seine Ansichten vor allem durch die Forschungsergebnisse der Psychologie und Neurowissenschaft, die Empathie als automatische Reaktion beschreiben. Dies beweist auch die Entdeckung der Spiegelneuronen in den 1990erJahren – Gehirnzellen von Primaten, die

die Ausführung von Bewegungen steuern, aber auch aktiv sind, wenn solche Bewegungen bei anderen nur beobachtet werden. Spiegeltests belegen auch die kognitiven Fähigkeiten von Tieren mit großen Gehirnen, wie Menschenaffen, Elefanten und Delphinen; dabei werden die Momente des mentalen Spiegelns und Trennens als eine Form von höher entwickelter Empathie gewertet.

Frans de Waal: Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können. Hanser, 352 S., € 25,60

De Waal bemüht sich mit seiner anthropomorphen, manchmal rührend positiven Lesart des Seins, ein neues Bild des Zusammenlebens jenseits von sozialdarwinistischen Auffassungen zu schaffen. Sozialkritisch betrachtet er den menschlichen Individualismus als relativ junge Entwicklung der Geschichte seit der industriellen Revolution und betont die kooperativen Fähigkeiten der Menschheit, die für ein humanes (Über-)Leben unserer Art unumgänglich sind. Dem Menschen ist es im Gegensatz zum Tier vorbehalten, sich selbst zu bestimmen, was den Autor zu einem leidenschaftlichen Aufruf veranlasst: „Jede Gesellschaft muss ein Gleichgewicht zwischen egoistischen und sozialen Motiven herstellen, um dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft der Gesellschaft dient und nicht umgekehrt.“ Es könnte fast scheinen, als wäre nicht die Natur des Menschen das Problem, sondern sein mangelnder Zugang zu ihr ... JULIA ZARBACH

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

ier ist out, Empathie ist in“, lautet das G Motto des neuen Buchs des Verhaltensforschers Frans de Waal, mit dem er


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Frankensteins Monster oder Umwerter aller Werte Moral VIII: Sabine Appels Nietzsche-Biografie erklärt den Menschen hinter dem Philosophen einer neuen Moral

rich Nietzsche (1844–1900). Während andere Tausende von Seiten alleine seiner Jugend im sachsenanhaltischen Naumburg widmen, begnügt sich die Biografin Sabine Appel mit schmalen 272 Seiten (mit Abbildungen), um das gesamte Leben und Werk des Umwerters aller Werte zusammenzufassen. Es lohnt daher nicht, sich Neues, weitere Enthüllungen oder gar einen tiefen Einblick in Entstehungs- und Wirkungsgeschichte seiner Philosophie zu erwarten. Die Darstellung muss vielmehr kompakt und gleichermaßen unterhaltend sein. Und dies gelingt der Autorin tatsächlich – mit Witz und vor allem dadurch, dass sie Nietzsche auch der Lächerlichkeit preisgibt. Nietzsche, der schon in jüngsten Jahren eine Lehrstelle der Philologie in Basel erhielt, wird als schrulliger Professor beschrieben. Die Schilderung seiner Migräneanfälle und seines Augenleidens, seiner höchst merkwürdigen Beziehung zum anderen Geschlecht, seiner Bewunderung für Richard Wagner – der ihn zum Laufburschen machte und der alles war, was Nietzsche nicht war, vor allem stark und rücksichtslos –, lässt seine Existenz bisweilen kläglich und bedauernswert erscheinen. Wie Frankensteins Monster geistert der

halbblinde Wanderer und Frühpensionist später durch die Gebirgslandschaft der Schweiz, um Krankheit und Dämonen loszuwerden, während er die Grundgedanken für den „Zarathustra“ entwirft. Aus diesem tragischen Leben erklärt Appel große Teile des Denkens Nietzsches. Das Leben und die Lebensproblematik einer Person zur Erklärung ihrer Gedanken zu verwenden birgt allerdings immer die Gefahr der Relativierung. Es ist nicht schwer, das Lächerliche in Nietzsches Werk oder die Männlichkeitsfantasien seinem feinfühligen Wesen oder die von ihm geforderte „Krieger-Kost“ seiner Gemüsediät gegenüber und somit infrage zu stellen. Wo aber Nietzsches Denken auch heute noch von Bestand ist, wie beispielsweise in der Sprach- und Moralkritik, muss diese Methode zwangsläufig scheitern: Seine philosophischen Theorien sind nämlich keineswegs nur über seine Person herzuleiten. Spätestens hier wird

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der Nachteil der nicht streng wissenschaftlichen Herangehensweise Appels deutlich. Ihrer personenzentrierten Methode folgend, gibt Appel den persönlichen Beziehungen Nietzsches weitaus mehr Raum als seinen akademischen. Etwa dem Verhältnis zu seiner Schwester Elisabeth, der „Canaille“, deren Einfluss noch nach seinem Tod andauern sollte, da sie seine Schriften verfälschte und, wo sie sie selbst betrafen, unterdrückte. Wie Appel anmerkt, waren diese Umstände dazu angetan, Nietzsche sogar „seinen Gedanken der ewigen Wiederkehr zu vergällen, denn das würde ja bedeuten, so erwog er mit Schrecken, wieder diese Mutter und diese Schwester zu haben“. Die wenigen Frauen Nietzsches und sei-

ne immer unglücklichen Liebesbeziehungen und Brautwerbungen werden übergebührlich genau behandelt. Als einzige Kurzbiografien werden jene von Malwida von Meysenbug, der Gönnerin Nietzsches, und die von Lou Salomé in den Text eingeflochten, und Appel mag auch nicht auf das unsägliche Peitschenzitat verzichten („Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“), samt dem Foto, das Salomé mit einer Peitsche zeigt, während Paul Rée und Nietzsche vor den Karren gespannt sind. Die Germanistin Sabine Appel veröffentlichte zuletzt zum Leben Goethes und Schopenhauers. Trotz des einen oder anderen entbehrlichen Ausflugs in das populäre Nietzschebild kann auch diese Biografie des heute noch aktuellsten und umstrittensten Denkers des 19. Jahrhunderts überzeugen. Die Behandlung der philosophischen Schriften ist zwar eindeutig der Lebensbeschreibung untergeordnet, aber diese ist treffsicher und pointiert. Appels Recherche war offensichtlich umfassend, auch wenn aufgrund der gebotenen Kürze wohl nicht alles, was Beachtung verdient hätte, berücksichtigt werden konnte.

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aum ein Philosophenleben hat K die Fantasie der Wissenschaft dermaßen beflügelt wie das von Fried-

STEPHAN FADINGER

Sabine Appel: Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist. Eine Biographie. C.H. Beck, 272 S., € 20,60

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Böse Philosophen und böse Popen

Wer hat Angst vor der Tigermutter Amy Chua?

Moral VII: Philipp Blom erzählt eine monumentale Geschichte über die Errungenschaften der französischen Aufklärung

Böse Mütter: Die Yale-Professorin Amy Chua sorgt mit einer Homestory für die heftigste Pädagogikdebatte seit langem

as Schicksal Voltaires (1694– D 1778) war abschreckend. Weil ihn niemand in Paris begraben woll-

as kann keine Gute sein: Amy D Chua lässt ihre beiden Töchter nicht bei Freundinnen übernach-

te, steckte man seinen Leichnam in Straßenkleider und schickte ihn in einer Kutsche aufs Land. Dort fand sich ein toleranter Priester, der ihn bestattete. Denis Diderot (1713–1784) sorgte dafür, dass dergleichen mit ihm nach seinem Tod nicht passieren konnte. Obwohl er bereits gebrechlich war, siedelte er in einen anderen Pariser Stadtteil um, wo unkonventionelle Priester auf Bohemiens wie ihn warteten. Eine kleine Spende war für ein feierliches Begräbnis genauso hilfreich wie die Miete von 55 (!) Priestern. Einen Widerruf seiner blasphemischen Ideen verweigerte er allerdings: „Sie müssen zugeben, dass so etwas eine freche Lüge wäre.“ Denis Diderot und sein Kreis, meint Philipp Blom, könnten die gegenwärtige Debatte um den Atheismus beleben. Denn sein radikales Denken weise schon alle intellektuellen Ingredienzen auf, die wir aus aktuellen Büchern wie denen des Evolutionsforschers und Religionskritikers Richard Dawkins kennen. Diderots spielerischer Zugang gestattete es ihm allerdings, vor alten Traditionen und Ritualen den Hut zu ziehen. Er liebte den dialektischen Streit, schickte in seinen theoretischen wie literarischen Schriften die Kampfhähne gegeneinander los und setzte seinem Materialismus stets die Krone der Ironie auf. So manchem seiner Zeitgenossen war seine Philosophie zu flatterhaft, er selbst sah sich in seiner Widersprüchlichkeit kompromisslos: „Unsere wahre Meinung ist nicht diejenige, von der wir nie abgewichen sind; sondern die, zu der wir am häufigsten zurückgekehrt sind.“ Bloms Buch ist eine mit viel Sinn fürs Anekdotische geschriebene Liebeserklärung an die radikale Aufklärung vor der Französischen Revolution. Ein Vierteljahrhundert lang versammelten sich regelmäßig illustre Geister im skandalumrankten Salon des Paul Thierry d’Holbach und debattierten dort über aktuelle Fragen wie das Verhältnis von Religion und Staat, Gerechtigkeit und Freiheit, Verbrechen und Strafe, Fortschritt und Glück. Die Beiträger der großen Enzyklopädie, die unter d’Alemberts und Diderots Regie das naturwissenschaftliche Denken in allen Fragen des Lebens einübten, gingen ein und aus. Jean-Jacques Rousseau, der Begründer der Romantik, entwickelte hier seine Ideen von der Dialektik des Fortschritts, bevor er mit Paris und Holbachs Salon brach. David Hume, der schottische Empirizist, war nicht der Einzige, der die europäische Bedeutung des Salons belegte.

In seiner Spätzeit kamen aus ganz Europa scharenweise Intellektuelle und solche, die es werden wollten, in Holbachs „Café de l’Europe“, um an Europas geistiger Avantgarde Maß zu nehmen. Holbachs Salon war eine Schule des mo-

dernen Denkens, ein Utopia des freien Geistes, in dem alles ohne Restriktionen gedacht und besprochen werden konnte, deren schriftliche Fassung, die 17 Bände der Enzyklopädie, sich zwar (wegen der Zensur) vorsichtiger gab, aber nichtsdestoweniger der Radikalität verpflichtet blieb. Als Lieblingsfeind firmierte die Kirche mit ihren Denkzöpfen. Auch die Bibel wurde vom Spott nicht verschont. Für die große Porträtgalerie greift Blom ordentlich in den Farbtopf. Der Strahleheld ist für ihn zweifellos Diderot; neben diesem leuchten aber auch andere Geister wie der Philosoph Bayle, der Mathematiker d’Alembert, der Biologe Buffon oder der Jurist Beccaria. Um stärker zu wirken und die Lesefreuden zu erhöhen, tummeln sich im Buch auch einige veritable oder relative Bösewichte. Der etwas ältere Voltaire wird als skrupelloser Karrierist enttarnt, der immer Kompromisse einging, wenn dies zu seinem Vorteil war. Am schlimmsten erwischt es JeanJacques Rousseau, der nach und nach in die Antiaufklärung einschwenkte. Blom meint, dass dieser seitdem zu Recht als Gewährsmann für den Terror – von Robbespierre bis Pol Pot – reklamiert werden konnte. Zu Diderots Zeiten war die Kirche noch so stark, dass sie Ketzer zu Tode foltern und Querdenker ins Gefängnis werfen konnte. Im Vor- und im Nachwort wechselt Blom mit polemischem Grundton in die Gegenwart über, wo er noch immer die gleichen Kräfte am Werk sieht, wenn auch besser verkleidet. Auch heute werden Materialismus und Atheismus als amoralisch verdammt, wird der Körper gehasst und dem Leiden gehuldigt. Trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte der letzten zwei Jahrhunderte bleibt das fragwürdige Erbe des Christentums virulent. Fazit: Eine gut lesbare und intelligente Kulturgeschichte mit reichlich Farbe, Polemik und Pathos. ALFRED PFOSER

Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. Hanser, 399 S., € 25,60

ten, besteht auf Bestnoten-Serien und weist unzulängliche Geburtstagskarten zurück. US-Medien haben sich auf die Autorin eingeschossen, Postings mit wüsten Beschimpfungen füllen deren Internetseiten. „Battle Hymn of the Tiger Mother“, so der Originaltitel, wird als Schlachtgesang gegen ein westlich-liberales Weltbild gewertet. Das zu wanken beginnt: Vor allem im deutschsprachigen Raum zeigt der Diskurs Bereitschaft, Schwächen zuzugeben. Und war da nicht auch noch die Pisa-Studie mit Bestnoten für Schüler aus Shanghai? „Die Welt rätselt, warum Chinas Kinder erfolgreicher sind als ihre Altersgenossen in Europa oder den USA“, meint Maria Holzmüller in der Süddeutschen Zeitung, „Amy Chua, Jura-Professorin aus Yale mit chinesischen Wurzeln, liefert jetzt die Antwort.“ Und die ist einfach und lautet: Erfolg durch Disziplin. Amy Chua investiert in ihre Kinder. Stun-

denlanges Klavier- und Geigeüben steht auf dem täglichen Programm, nebst Schulaufgaben bis zur Perfektion in jedem Fach. Der Brotberuf der amerikanischen Übermutter mit chinesischen Wurzeln nimmt sich dabei nur noch wie ein Nebenjob aus. Nur en passant erwähnt sie ihre Verpflichtungen als Professorin und Fachautorin an der renommierten Yale-Universität. Nicht nur Zeit setzt sie für ihre Kinder ein, sondern auch eine enorm hohe Bereitschaft, Unannehmlichkeiten auszuhalten und Konflikte auszufechten. „Mein Ziel als Mutter ist es, euch auf die Zukunft vorzubereiten – nicht, mich bei euch beliebt zu machen“, erklärt sie ihren Sprösslingen. Und sie ist überzeugt, ihnen auch in der Gegenwart schon Gutes zu tun: „Spaß macht gar nichts, solange man nicht gut darin ist.“ Amy Chua, die seit dem Erscheinen des Buchs vor wenigen Wochen unter medialem Dauerbeschuss steht, hat offenbar eine Schwachstelle aufgedeckt. Wäre es möglich, dass die Verfechter liberalerer Erziehungsmodelle ein wenig neidisch sind? Und könnten nicht die meisten von uns mehr in ihre Kinder investieren? Die Logik des Modells „Chinesische Mutter“ klingt einleuchtend: Kinder, die diszipliniert lernen und trainieren, haben Erfolg. Erfolg schafft Motivation, noch mehr zu üben. Daraus entstehen weitere Erfolge und Selbstwert. Westliche Individualität hat da wenig Platz. „Auch Versager sind auf ihre eigene besondere Art was Besonderes“, zitiert Chua höhnisch das amerikanische Credo. China hatte keinen Pestalozzi. Manche Ideen der Aufklärung dür-

fen erst in den letzten Jahren laut geäußert werden. Dass deren Rezeption im Land der Mitte eher kritisch ausfiel, überrascht auf den ersten Blick. Die Erklärung dafür liefert Chua selbst, wenn sie die starke Leistungsorientierung von Einwanderern beschreibt. Denn chinesische Emigranten und ihre Kinder halten an den tradierten Werten fest, während diese im Herkunftsland bereits hinterfragt werden. „Wer hat Angst vor dieser Frau?“, fragte Elisabeth von Thadden in der Zeit und bemerkte als eine von wenigen, dass hier kein durchgängiges Plädoyer für Disziplin und Autorität vorliegt, sondern „eine Art schillernder Homestory, voller Widersprüche und Brüche“. Eltern sind eingeladen, den Zwiespalt nachzuvollziehen. Der Frage, ob man dem eigenen Nachwuchs gegenüber nicht manchmal doch zu nachgiebig sei, entkommt man bei der Lektüre kaum. Amy Chua verliert. Hat das Härte-macht-

stark-Konzept bei ihrer älteren Tochter mustergültig funktioniert, scheitert es bei ihrer jüngeren spektakulär. Die talentierte Geigerin verweigert der Mutter plötzlich den Gehorsam und blamiert sie in aller Öffentlichkeit. Was nun? Misserfolge sieht die traditionelle chinesische Pädagogik nicht vor, ungehorsame Kinder schon gar nicht. Chua greift zu einem Stilmittel, das ihr zumindest im Buch weiterhilft: Selbstironie. Wie sie am Ende humorvoll ihre Niederlage schildert; wie sie von Anfang an mit schonungsloser Offenheit von all den kleinen, oft auch kleinlichen Kämpfen mit den lieben Kleinen berichtet; wie sie den Leser immer wieder mit Familienslapstick unterhält, das hat etwas Sympathisches. Hier spricht keine trockene Rechtsprofessorin und auch keine verschrobene Traditionalistin, hier spricht eine Frau, die für ihre Kinder lebt – und das durchaus auch mit Freude. Am Ende steht eine Versöhnung: Amy Chua erlaubt ihrer jüngeren Tochter, das Geigenspiel aufzugeben, Tennis zu spielen und das Leben einer westlichen Jugendlichen zu führen. Ein Stück weit kittet sie den Spalt zwischen den Kulturen: zwischen chinesischer Disziplin und amerikanischer ANDREAS KREMLA Freiheit.

Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte. Nagel & Kimche, 256 S., € 20,50


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Böse Märkte oder Das Märchen von der guten Gier Wirtschaftstheorie: Joseph Vogl zeigt, warum Finanzmärkte ruinös sind und Wirtschaftstheorie zu Ideologie tendiert as Bild, das die WirtschaftswisD senschaften von der Ökonomie zeichnen, ist eines der vollendeten Harmonie. Diese Wissenschaft ist seit jeher auch und vor allem eine große literarische Kunstform, die suggestiv zu beschreiben vermag, wie aus den erratischen Handlungen vieler eine große Ordnung entsteht, wie aus irrationalen oder nicht rationalen Impulsen Vernunft wird. An vielen Beispielen, von Adam Smith’ „unsichtbarer Hand“ bis zu den „Effizienzmarkttheorien“ jüngerer Zeit, lässt sich das unschwer zeigen. Da wird nachzuweisen versucht, wie Märkte zum „natürlichen Gleichgewicht“ tendieren, wie das Spiel von Angebot und Nachfrage zur vernünftigen „Selbstkorrektur“ führt, wie aus einem Gewirr an Zahlungen auf einer Metaebene „ideale Märkte“ entstehen. Die Wirtschaftswissenschaft ist eine versöhnliche Ideologie, die uns glauben macht, das Unvernünftige würde mithilfe der großen Verwandlungsmaschine der Märkte zu Vernunft, das Amoralische zu Moral, die Selbstsucht zum allgemeinen Vorteil und die irrationalen Exuberanzen zu Stabilität führen. Das beginnt schon bei der Morallehre der freien Marktwirtschaft, bei der Vorstellung nämlich, dass der Eigennutz

und die Gier des Einzelnen zum allgemeinen Nutzen umschlagen würden. Dass, wie uns Adam Smith klarzumachen versuchte, nicht die Menschenfreundlichkeit des Bäckers unsere Versorgung mit Brot garantiert, sondern dessen Gewinnstreben. Angesichts eines solchen Narrativs müssen die Ausschläge und Zusammenbrüche, die Krisen und Finanz-GAUs völlig unerklärlich bleiben, und sie werden regelmäßig auch so beschrieben: als völlig überraschende Geschehnisse. Aber, so fragt Joseph Vogl in seinem klugen Großessay „Das Gespenst des Kapitals“, „sind die irrationalen Exuberanzen wirklich Ausnahmefälle oder nicht eher reguläre Prozesse im Getriebe kapitalistischer Ökonomien? Reicht die Unterscheidung von rational und irrational überhaupt hin, die Effekte dieses Systems zu fassen?“ Joseph Vogl hat ein kluges und gelehrtes Traktat vorgelegt. Als Sozialtheoretiker und Kulturwissenschaftler hat er sich in den vergangenen Jahren durch die Fachliteratur gelesen, aber auch reale Marktgeschehnisse studiert. So ist er in der Lage, genau hinzusehen. Auf Gütermärkten, so Vogl, mag die Harmonielehre ihre Berechtigung haben. Wächst die Nachfrage nach Zahnstochern, das Angebot aber nicht, so steigen die Preise,

was wiederum in aller Regel die Nachfrage reduziert. Aber für die modernen Finanzmärkte gilt das nicht. Wertwachstum ge-

biert neuen Kredit und damit weiteren Wertwachstum, der Boom bläht die Geldmenge auf, was wiederum den Boom aufbläht. Das ist schon auf simpel strukturierten Finanzmärkten der Fall und erst recht auf unregulierteren, ausdifferenzierteren, auf denen ein neues Finanzierungsinstrument nach dem anderen erfunden wird. „Mit Fragen der Finanzökonomie verlieren die notorischen Gleichgewichtsmodelle der politischen Ökonomie ihr verlässliches, gleichsam naturwüchsiges Statut.“ Die Mechanismen von Angebot und Nachfrage, so Vogl, gelten nur für einen Bereich, „in dem man mit fixen Budgets operiert“, aber dort, wo optimistische Zukunftserwartungen sofort zum Wachstum der Geldmenge führen – oder verdüsterte Erwartungen zu einem Schrumpfen der Geldmenge –, gilt das nicht. „Gerade darum aber sind Trendverstärkungen und positive Rückkopplungen keine katastrophischen Ausnahmen, sondern endogene Funktionselemente des Systems.“ Die Finanzmärkte, kurzum, tendieren zu keinem Gleichgewicht, sondern sind ruinös.

Gewiss, Vogl ist nicht der Erste, der das erkannt hat: Bei Keynes oder Hyman Minsky oder in jüngerer Zeit bei Robert Shiller und Robert Skidelsky kann man das auch nachlesen, ohne den manchmal schwerfälligen kulturtheoretischen Jargon. Vogl zeigt in seiner großen Skizze, dass der gängigen Wirtschaftstheorie seit jeher ein harmonisierendes Narrativ zugrunde liegt, dass sie, auch wenn sie mit noch so vielen nüchternen Formeln und mathematischen Gleichungen daherkommt, ökonomische Ideologie ist, deren Prämissen mit dem „Markt der Märkte“, den Finanzmärkten, nichts zu tun haben. Vogl schreibt nicht gegen Märkte, aber für eine Säkularisierung der Marktideologie und dekonstruiert, wie er es nennt, die „Metaphysik des Westens“. Er rennt damit offene Türen ein, aber manchmal ist das notwendig. ROBERT MISIK

Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Diaphanes, 224 S., € 15,40

Fliegende Piraten und die Theorie der Moderne Kulturgeschichte: Annette Vowinckel legt eine umfassende, aber etwas geschwätzige Geschichte der Luftpiraterie vor ie bestiegen das Flugzeug mit SaS murai-Schwertern, Pistolen und Rohrbomben im Handgepäck. Der Japan-Air-Flug sollte die 131 Passagiere von Tokio nach Fukuoka bringen, doch die neun Entführer, Mitglieder der Japanischen Roten Armee, hatten ein anderes Ziel vor Augen: Pjöngjang im kommunistischen Nordkorea. Wir schreiben den 31. März 1970. Die kubanische Revolution und der nach 1967 eskalierende Nahostkonflikt haben in den Jahren zuvor eine regelrechte Flut an Flugzeugentführungen ausgelöst. 85 waren es allein 1969. Handgepäckskontrollen sind noch nicht üblich, und das erste internationale Abkommen zur Bekämpfung von Flugterrorismus ist gerade einmal ein Jahr alt, als die Japan-AirMaschine Kurs auf die koreanische Halbinsel nimmt und dabei Geschichte schreibt: als erste Flugzeugentführung, die live im Fernsehen übertragen wird. Den Zusehern wird etwas geboten. Denn die zuständigen Behörden versuchen es mit einer Finte. Anstatt die Entführer nach Pjöngjang fliegen zu lassen, wird der Pilot instruiert, in Seoul, Südkorea, zu landen. Dort werden in Windeseile Werbebanner abmontiert und nordkoreanische Uniformen ausgeteilt. Aber der Coup läuft schief:

Denn nirgendwo in Südkorea lassen sich Plakate des Führers Kim Il Sung auftreiben – die vorhandenen sind durchlöchert, weil das Militär sie für Schießübungen benutzt hat. Wirklich wahr, so soll es sich zugetragen haben. Die Anekdote entstammt dem Buch „Flugzeugentführungen“ von Annette Vowinckel. Ein ganzes Buch nur über Skyjackings? Das klingt zunächst hochinteressant und ist es auch, 30 Seiten lang. Aber eins nach dem anderen. „Flugzeugentführungen“ ist eine 200 Seiten lange, aus einem Vortrag entstandene Kulturgeschichte selbiger, von der ersten bekannten im März 1931, als peruanische Rebellen eine Pan-AmMaschine kaperten, um über dem Dschungel politische Pamphlete abzuwerfen, bis zu jener an dem historisch, politisch, medial, kulturell – also in jeglicher Hinsicht – epochal gewordenen Dienstag Anfang September 2001. Vowinckels Ausgangspunkt bilden die „airworld“ – den Begriff entleiht sie Walter Kirns Roman „Up in the Air“ (dt. „Mr. Bingham sammelt Meilen“, 2003), der mit George Clooney in der Hauptrolle verfilmt wurde – und die Behauptung, es handle sich bei dieser Luftwelt um einen „symbolischen Kernort der Moderne“. Die Flugzeugentführung lasse sich sogar

als Phänomen begreifen, in dem die Moderne mit sich selbst konfrontiert werde – Stichworte: Mobilität, Medialisierung, Risikogesellschaft. Allein, das einleitende Versprechen, das Buch skizziere die Luftpiraterie als Teil einer Geschichte der Moderne, wird nur 20 Seiten lang gehalten. Der enzyklopädische Anspruch auf Vollständigkeit – Anekdoten und Redensarten, Fakten und Statistiken, Filme und Lieder, Bücher und Bilder zum Thema – wird zwar eingelöst, aber gerade deswegen wirkt das Buch wie ein langer Wikipedia-Eintrag, dem ein Narrativ, eine These, also eine große, nachvollziehbare Erzählung fehlt. So erfahren wir, dass Sigmund Freud

Flugträume für Erektionsträume hielt und dass das Psychogramm des durchschnittlichen Luftpiraten auf einen gewalttätigen Vater, eine warmherzige Mutter und ein Selbstbild des depressiven Versagers hindeutet, und werden daran erinnert, dass Ovids Ikarus der Erste war, der unter Flugangst litt – und dann schließlich aus Übermut abstürzte. Eine Geschichte der Moderne ergibt sich daraus allerdings nicht. Wer sich also mit Vermischtem über Flugzeugentführungen anfüttern will, dem sei die Lektüre emp-

fohlen. Allen anderen seien hier ein paar Smalltalk-Häppchen geboten: Das Flugzeug ist statistisch gesehen das sicherste Fortbewegungsmittel, das bislang erfunden wurde; pro Jahr sterben 500 Menschen bei Abstürzen und Entführungen. Sogar der Weg zum Flughafen fordert mehr Todesopfer. In den USA sind seit 9/11 Witze über Bomben im Handgepäck verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es im Ostblock zu so vielen Entführungen, die die Flucht in den Westen zum Ziel hatten, dass die polnische Fluglinie LOT eine Zeitlang als Akronym für „Landet och in Tempelhof“ interpretiert wurde. Die eingangs erwähnte Flugzeugentführung der Japan-Air-Maschine dauerte übrigens sechs Tage. Am Ende der Odyssee bekamen die Luftpiraten ihren Willen, Exil in Nordkorea. Und waren seither nicht mehr gesehen. STEFAN APFL

Annette Vowinckel: Flugzeugentführungen. Eine Kulturgeschichte. Wallstein, 208 S., € 20,50


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Kurze Geschichte und schnelles Vergessen Ökologie: Joachim Radkau legt eine umfangreiche und spannende Geschichte der Umweltbewegung vor

Um die Komplexität der Umweltbewegung und ihre stets präsenten, wenn auch von vielen Protagonisten aktiv ignorierten Widersprüchlichkeiten und Konfliktpunkte erzählerisch in den Griff zu bekommen, orientiert sich Radkau in „Ära der Ökologie“ an Leitmotiven und Spannungszonen, die die Umweltbewegung geprägt haben: am Problem der Prioritätensetzung, am An-

tagonismus zwischen charismatischer Zivilbewegung und fortschreitender Bürokratisierung, am Paradigma Atomkonflikt, an der Frage, ob Naturschutz für oder gegen den Menschen betrieben wird, sowie am Wechselspiel zwischen globaler Bewegung und lokalen Anliegen, um nur einige zu nennen. Radkau betont: „Die globale Geschichte der Umweltbewegung ist keine harmonische Geschichte. Gerade durch den transnationalen Vergleich erkennt man, in welch unterschiedlichen Welten viele Umweltinitiativen leben und wie wenig sie in Wahrheit voneinander wissen. Eine grenzüberschreitende Kommunikation kann erst dann gelingen, wenn man sich die Unterschiede bewusst macht.“ Auch wenn die jüngsten internationalen Umwelt- und Klimakonferenzen allesamt gescheitert sind, ist für Radkau trotz eigener Skepsis noch nicht gesagt, dass der globale Top-down-Ansatz, der sich vom Abstrakten, Allgemeinen schrittweise zum Konkreten, Speziellen vorarbeitet, in umweltpolitischer Hinsicht nicht funktioniert: „Die tief verwurzelte Regionalität der Umweltbewegung ist nur die eine Seite: Der globale Horizont, so imaginär er auch sein mochte, gehörte frühzeitig dazu.“ Während die US-amerikanische Umweltbewegung sehr lokal und regional orientiert ist und die internationalen Umweltkonferenzen für wenig sinnvoll hält, liefern diese in anderen Ländern, wie zum Beispiel in China, allerdings wesentliche Impulse für die dortige Umweltdiskussion. Die Geschichte der Umweltbewegung kann – auch aufgrund der zeitlichen Nähe – wohl kaum aus einer distanzierten Perspektive erzählt werden. Joachim Radkau ist Wissenschaftler, ein renommierter Historiker – und gleichzeitig ist er seit mehr als 40 Jahren umweltpolitisch engagiert. Anhand seines eigenen Werdegangs kann er auch die teilweise problematische Spaltung zwischen „Experten“ und „Basis“ nachvollziehen: „Mein primärer Impuls, als ich die Umweltinitiativen als ,meine‘ Bewegung empfand, war vor vierzig

„Mein primärer Impuls, als ich die Umweltinitiativen als ,meine‘ Bewegung empfand, war vor vierzig Jahren der Hass auf den Lärm und den unaufhaltsam vordringenden Autoverkehr. Für Global-Ökologen ist das Lärmproblem aber uninteressant; Anti-Lärm-Initiativen, die per se lokal sind, werden als bornierte NIMBY-Bewegungen (,Not in my backyard‘, etwa: nach dem Florianiprinzip handelnd) abgetan“ Joachim Radkau

Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. C.H. Beck, 782 S., € 30,80

Jahren der Hass auf den Lärm und den unaufhaltsam vordringenden Autoverkehr. Für Global-Ökologen ist das Lärmproblem aber uninteressant; Anti-Lärm-Initiativen, die per se lokal sind, werden als bornierte NIMBY-Bewegungen (,Not in my backyard‘, etwa: nach dem Florianiprinzip handelnd) abgetan.“ Für Radkau ist diese zunehmende Abstraktion von globalen Umweltproblemen und deren scheinbare Unzugänglichkeit für die meisten Menschen die größte Herausforderung der Umweltkommunikation, von der aktuell alles abhängen könnte: „Der globale und nachhaltige Erfolg des Umweltschutzes dürfte entscheidend daran hängen, ob es gelingt, ihn an einer begrenzten Zahl von klaren und einfachen, allen vernünftigen Menschen einsichtigen Regeln festzumachen (...). Eben darin besteht der praktische Nutzen eines Rückblicks über die vergangenen Jahrzehnte: Hinter dem bis ins Unendliche anschwellenden Wust der Umweltschutzbestimmungen doch die einfachen Grundmotive wiederzuerkennen. Wenn ein Menschenrecht auf sauberes Wasser, gute Luft, gesunde Ernährung und ruhigen Schlaf (...) durchgesetzt wird, dann wird damit zugleich auch ein Großteil der Umweltprobleme in Angriff genommen. Nur im Einklang mit der menschlichen Natur kann die menschliche Beziehung zur Natur reformiert werden. Die Klimapolitik verrennt sich als bloße Klimapolitik in Sackgassen.“ Eines macht Radkaus ebenso ambitionierte wie spannende Zusammenschau deutlich: Auch wenn Umweltinitiativen meist im Hier und Jetzt leben, würde sich ein Blick wenige Jahrzehnte zurück auch für sie selbst oft lohnen. So kurz die Weltgeschichte der Umweltbewegung nach historischen Maßstäben auch noch sein mag, fasziniert sie doch schon heute aufgrund ihrer Vielfalt, Komplexität und des immer neuen Wechselspiels ihrer Leitmotive. Im Übrigen gilt: „The future is unwritten“ (Joe Strummer). K ARIN CHLADEK

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

oachim Radkau hat ein neues Buch über sein Lebensthema veröffentlicht. Der Bielefelder Historiker mit den Forschungsschwerpunkten Technik- und Umweltgeschichte und großem Interesse an Philosophie wurde bekannt, als er im Jahr 2000 eine vielbeachtete globale Umweltgeschichte unter dem Titel „Natur und Macht“ publizierte und diese 2002 noch erweiterte. In seinem neuen Werk „Ära der Ökologie“ widmet sich Radkau der Geschichte der Umweltbewegung, die spätestens in den 70er-Jahren global an Schwung gewann. Kein einfaches Unterfangen, denn wie allen klar sein dürfte, die sich auch nur ansatzweise mit der Thematik befasst haben, ist gerade die Umweltbewegung heterogen und von inneren Widersprüchen geprägt wie kaum eine andere politische Kraft. Das lässt sich schon innerhalb von Nationalstaaten und einzelnen Kulturräumen feststellen – und erst recht in globaler Hinsicht. Dazu kommt noch, wie Radkau mehrfach betont, eine eigenartige Geschichtsvergessenheit: „Die Geschichte der Öko-Ära ist nicht nur die Geschichte einer neuen Aufklärung, nicht nur eine Wissens-, sondern auch eine Vergessensgeschichte. Viele Namen, die einst eine Zeitlang die Zukunft zu verkörpern schienen, sind heute selbst innerhalb der Öko-Szene unbekannt.“ Daher sind beträchtliches Insiderwissen und hervorragende Kontakte zu zahlreichen Umweltakteuren sowohl in Politik und Verwaltung als auch bei den Nichtregierungsorganisationen nötig, um sich überhaupt an eine Geschichte der Umweltbewegung wagen zu können. Über beides verfügt Joachim Radkau seit geraumer Zeit.

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Wer hat Lust auf Barramundi und Kahala? Meere: Zwei Bücher erzählen von der Plünderung der Meere und den Fahrten von Tieren über das Meer ach Jahrzehnten des gedankenund bedenkenlosen Konsums liegt es im Trend, sich über die Herkunft des Essens in einer industrialisierten Welt Gedanken zu machen. Dokumentarfilme wie Erwin Wagenhofers „We Feed the World“ (2005), Bücher wie Jonathan Safran Foers „Tiere essen“ (2010) oder Karen Duves „Anständig essen“ (2011) oder ganze Kulturfestivals wie das im Rahmen der Berlinale seit fünf Jahren programmierte „Kulinarische Kino“ wecken Interesse. Das Private ist plötzlich wieder einmal politisch.

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Immer mehr Fisch auf dem Tisch Nicht nur Fleisch, auch Fisch bleibt inzwischen vielen im Hals stecken: Allseits bekannt sind die rücksichtslose Plünderung der Weltmeere, die drohende Ausrottung zahlreicher Fischarten und die bedenklichen Begleitumstände der Fischzucht. Anders als die meisten der durchaus lesenswerten Bücher, die in den letzten Jahren über diese Thematik erschienen sind, setzt „Vier Fische“ von Paul Greenberg nicht bei den Problemen – und damit dem erhobenen Zeigefinger – an, sondern bei der Faszination für die Weltmeere. Dabei ist ihm ein höchst interessantes Buch mit vielen Aha-Erlebnissen und neuen Perspektiven gelungen. Greenberg hat sich Zeit seines Lebens für Fische interessiert. Aufgewachsen an der US-amerikanischen Ostküste, war er schon als Kind ein leidenschaftlicher Angler. Mit entsprechender Akribie und Sachkenntnis geht der renommierte Journalist in seinem neuen Buch den Geschichten der vier Fischarten nach, die mittlerweile überall auf der Welt die Speisekarten beherrschen: Lachs, Barsch, Kabeljau und Thunfisch. Dabei folgt er den Fischen von den Flüssen aufs offene Meer – und damit auch in eine Zone, die kein Staat im Alleingang gesetzlich regulieren kann. Hochseefische wie die Blauflossenthune sind daher massiv von der Ausrottung bedrohtes Freiwild in einer Welt, in der immer mehr Menschen leben und viele davon sich den Appetit auf Fisch leisten können.

Gute Fische und böse Fische Auch Fisch, die letzte Nahrung der Menschheit, die bis vor kurzem vorrangig in ihrem natürlichen Lebensraum erbeutet wurde, wird seit einigen Jahrzehnten immer mehr domestiziert und gezüchtet. Auch wenn Greenberg vom Wildtier Fisch fasziniert ist und selbst die Sportfischerei nicht missen möchte, weiß er, dass Fisch für die meisten Menschen schlicht ein Nahrungsmittel ist. Einfach darauf zu setzen, dass die Mehrheit der Menschen mit der Zeit auf Fleisch und Fisch verzichten wird, scheint ihm unrealistisch. Der Klugheit und Konsequenz der Konsumenten – und damit dem freien Markt – vertraut er keineswegs, denn Untersuchungen zeigen, dass Listen mit „guten“ und „bösen“ Fischen, die man kaufen bzw. nicht kaufen sollte, auf globaler Ebene nicht funktionieren, nicht einmal Kampagnen, die an das Gesundheitsbewusstsein von Konsumenten appellieren: „Ausgerechnet Japan, das die schlimmste Quecksilber-

vergiftung erleben hat müssen, fährt damit fort, den großen (quecksilberbelasteten Thun-)Fisch mit Hingabe zu verspeisen.“ Greenbergs Fazit: „Bei weltweit gefangenen und verzehrten Fischen wie dem Blauflossenthun wird die Abstinenz eines Verbrauchers fast immer durch den Appetit eines anderen aufgehoben.“ Am Beispiel des Schwertfisches zeigt Greenberg, dass es nicht die US-weit laufende Kampagne gegen den Konsum der bedrohten Art war, die die Schwertfischbestände rettete, sondern das Handeln der amerikanischen Fischereiverwaltung: Die Behörde sperrte die Brutgebiete im Golf von Mexiko für die gewerbliche Fischerei. Um also die hungrigen Mäuler von immer mehr Menschen mit Fisch zu stopfen und dabei die Wildbestände langfristig zu bewahren, braucht es Zuchtfisch. Die wesentliche Frage dabei ist: Welcher Fisch eignet sich überhaupt für die Zucht in großen Mengen? Denn nicht nur Menschen können einen zu großen ökologischen Fußabdruck hinterlassen, auch Nutztiere inklusive Fische. Die allermeisten Speisefische sind Raubfische; ihre Zucht kann das Problem der Überfischung der Meere nicht lösen, wenn für ihre Ernährung Unmengen kleinerer Fische aus dem Meer geholt werden. Die Zahlen überzeugen: Für ein Kilo Lachsfleisch aus Zuchtanlagen müssen 1,5 bis zwei Kilo kleinere Fische verfüttert werden, für ein Kilo Blauflossenthun bis zu 20 Kilo!

„Trotz zahlloser Kampagnen, Boykotte, Publikationen, Dokumentarfilme (...) essen die Menschen nicht nur insgesamt, sondern auch pro Kopf Jahr für Jahr mehr Fisch. Selbst in Anbetracht der vielen Warnungen zur Quecksilber- und Bleibelastung mancher Arten hat die Welt im vergangenen halben Jahrhundert den Pro-Kopf-Verbrauch an Fisch von zehn Kilo im Jahr 1960 auf 18 Kilo im Jahr 2005 fast verdoppelt“

an Bekanntes anzuknüpfen; die hawaiianische Stachelmakrele, die sich vor allem für Sushi eignet, wird bereits in Anlehnung an einen ähnlichen, in Japan bekannten Fisch als „Kona Kampachi“ vermarktet. Greenberg überzeugt durch gute Recherche und interessante Detailinformationen, etwa die, dass der unbeliebte „erdige“ Geschmack von Grundfischen wie Karpfen, Wels, Pangasius oder Barramundi durch Blaualgen verursacht wird und durch eine ausgeklügelte Zufuhr von Frischwasser weitgehend vermieden werden kann. Oder dass das, was man in italienischen und französischen Restaurants als Branzino bzw. Loup de mer gern verspeist, der gleiche Fisch ist: der Europäische Wolfsbarsch, inzwischen im ganzen Mittelmeerraum Zuchtfisch Nummer eins.

Paul Greenberg

Ein zweites neues Buch mit Meeresthematik handelt ebenfalls von weiten Reisen, allerdings seitens der Autorin eher durch Archive als zu Vor-Ort-Recherchen: Birgit Pelzer-Reith erzählt in „Tiger an Deck“ von den Fahrten, die Tiere und Pflanzen unter menschlicher Regie von einem Kontinent zum anderen und damit über alle Meere brachten. Das Meer steht hier nicht als Lebensraum oder Nahrungsreservoir im Vordergrund, es ist einfach Transportfläche. Pelzer-Reith thematisiert mit Ausnahme des letzten Kapitels weniger die zunehmende Problematik von „eingeschleppten“ Arten, die ihre neuen Lebensräume in ökologischer Hinsicht ernsthaft durcheinanderbringen können (wie etwa Aga-Kröten in Australien), sondern die verschlungenen Wege, die vor allem ab der frühen Neuzeit zu einer immer stärkeren Globalisierung von Fauna und Flora durch menschliche Einwirkung führten. Manche Arten, vor allem Pflanzen wie die Kartoffel oder die Brotfrucht, sollten gezüchtet und verbreitet werden, andere, vor allem Tiere, wurden aus wissenschaftlichem Interesse und mit dem Wissen um die menschliche Gier nach „Exotischem“ verschleppt. Bei europäischen Matrosen war es lange üblich, in überseeischen Häfen Papageien zu erwerben und diese im Heimathafen mit Gewinn zu verkaufen. Die Schaulust des Adels, aber auch des Volkes war der Grund, warum schon während des Römischen Reichs viele exotische Tiere nach Europa gebracht wurden. Ab dem 18. Jahrhundert wurden die unglücklichen Wesen, die die Transporte überlebten, von Wanderzirkussen in kleinen Käfigen zur Volksbelustigung von Ort zu Ort gekarrt. Wenig besser dürfte das Los der Tiere gewesen sein, die als „besondere Attraktionen“ in den Menagerien des Adels landeten. Artgerechte Haltung war damals kein Thema. Birgit Pelzer-Reith zeichnet ein dichtes, sehr detailreiches Bild von einer Spielart der Globalisierung, die ganze Landschaften und Kulturen neu geprägt hat. Die internationalen Transportbeziehungen sind heute enger und umfangreicher denn je, eine aus ökologischer und zunehmend auch ökonomischer Sicht problematische Situation.

Auf die Fischart kommt es an Greenberg zeigt, dass viele Probleme der Aquakultur – immerhin laut FAO der weltweit am stärksten wachsende Nahrungsmittelsektor – wesentlich mit der Auswahl der gezüchteten Fischart zu tun haben. Arten mit starkem Wandertrieb und hohem Energieumsatz wie Lachs oder Kabeljau eignen sich nicht für ein Leben in Gefangenschaft, mögen sie noch so bekannt und gefragt sein. Eingesperrtsein ist schlicht gegen ihre Natur: Sie leiden und kämpfen gegen ihre Situation an, weshalb alle Versuche, ausgerechnet diese Arten zu domestizieren, unweigerlich mit großem Aufwand, hohen Kosten und immer neuen Hindernissen verbunden sind. Auch Ansätze einer nachhaltigen Fischzucht, so notwendig diese etwa bei der etablierten Lachszucht sein mag, können daran wenig ändern. Die erste und einzige nach Biokriterien arbeitende KabeljauZuchtfarm der Welt auf den Shetland-Inseln ging aufgrund der hohen Forschungsund Investitionskosten pleite. Nicht wegen der Biokriterien, sondern weil Kabeljau als Aquakulturprodukt „schlicht eine Katastrophe“ sei, so Greenberg. Die Lösung könnte in einer anderen Auswahl der Zuchtfische liegen: Greenberg berichtet von Zuchtfarmen in Australien und Hawaii, die höchst erfolgreich mit dem barschähnlichen Barramundi und der geschmacklich an Thunfisch erinnernden Stachelmakrele oder Kahala experimentieren. Die Herausforderung liegt dabei in der Vermarktung der auf dem Weltmarkt weitgehend unbekannten Fische. Greenberg schlägt vor, den Barramundi international als „asiatischen Barsch“ zu handeln und so

Paul Greenberg: Vier Fische. Berlin, 320 S., € 22,70

Birgit Pelzer-Reith: Tiger an Deck. Die unglaublichen Fahrten von Tieren und Pflanzen quer übers Meer. Mare, 252 S., € 20,50

Weit gereiste Wesen

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Kulturkritik im Schweinehälftenkostüm Humor: Viel Spaß für wenig Geld: neue Bücher von Regener, Grisse- und Stermann und Heinz Strunk m angenehmsten von all seinen Tätigkeiten sei ihm das Schreiben, hat der als Austrofred-Darsteller bekannt gewordene Musiker und Autor Franz Wenzl einmal zu Protokoll gegeben. „Da sitze ich daheim, und das ist eigentlich schon das Wichtigste. Jede Arbeit, wo ich daheim sitze, ist eine gute.“ Mit diesem Befund dürfte er nicht alleine dastehen. Etliche Musiker, Bühnen- und Fernsehentertainer haben in den letzten Jahren einträgliche Zweit-, Dritt- und Viertkarrieren als Autoren gestartet. Mancher davon mag von einem Verlag ein verlockendes Angebot erhalten haben, ein Buch zu verfassen, mancher mag auch das dringende Bedürfnis verspürt haben, eine Geschichte zu erzählen oder einen Stoff zu bearbeiten. Auffällig ist, dass kaum einer, der einmal mit dem Bücherschreiben begonnen hat, wieder damit aufhört. Der Suchtfaktor des Schreibens ist nicht zu unterschätzen, allerdings auch nicht, dass es den Unterhaltern als an die Arbeit mit Texten gewohnten Profis vergleichsweise leicht von der Hand geht, sich ein Thema zu suchen und fluffig auf Buchlänge abzuhandeln. Was natürlich die Gefahr birgt, nach einem Strickmuster zu verfahren. Indem man etwa hier noch einmal eine alte Idee abendfüllend auswalzt, dort eine Textsammlung veröffentlicht. Solange es einen Markt dafür gibt, nur raus damit.

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Alles muss raus Solcherart scheint auch die Motivation hinter dem Band „Meine Jahre mit HamburgHeiner. Logbücher“ von Sven Regener zu sein. Der Sänger der Band Element of Crime hat mit seiner Romantrilogie um Herrn Lehmann seit 2001 Bestsellererfolge gelandet. Da ist es nur logisch, dass zweieinhalb Jahre nach dem letzten Roman, „Der kleine Bruder“ (2008), langsam etwas Neues kommen muss. Weil aber kein Roman in Sicht ist, erscheint ein Sammelband mit Blogs für taz.de, spiegel.de oder derstandard.at. Diese sind nicht allein aus Freude an der Wortkunst und dem Internet entstanden, sondern dienten zu Promotionzwecken für neue Platten oder Tourneen von Element of Crime. Spaß dürfte das Schreiben Regener trotzdem gemacht haben. Die gesammelten Interneteinträge nehmen in Buchform, inklusive einiger Fotografien, über 400 Seiten ein. Dass der Autor etwas von seinem Handwerk versteht, ist unbestritten. Regener kann mit Sprache umgehen, wie es vielen gehobenen Literaten nicht gegeben ist, und auch gegen seinen teils hippen, teils onkelhaften Humor kann man nichts sagen. Unter dem Titel „Versuch über das Landleben“ etwa gelingt ihm eine denkwürdige Miniatur: „Die Natur ist eine Sau!“ Allzu oft aber haben die Einträge trotz ihrer Kürze etwas sich in die Länge Ziehendes. Einmal erblickt der Autor bei einem Flug auf dem Speibsackerl den Spruch „Danke für Ihre Kritik“. Das sollte als Pointe idealerweise unkommentiert bleiben. Regener fühlt sich jedoch bemüßigt, noch ein paar Sätze nachzuschieben: „Hat mir gefallen. Verbirgt sich irgendeine tiefere Wahrheit drin. Muss ich mal drüber nachdenken.“

Dieser Zwang, immer noch zwei, drei Sätze nachzulegen, ist symptomatisch dafür, warum dieses Blog-Buch nicht funktioniert. Die Form des Blogs, wie Regener sie praktiziert, und erzählerische Ökonomie stehen sich nämlich diametral gegenüber. Der Autor schreibt einfach, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Der Leser wird dem über ein paar Einträge und Seiten gern folgen, bald aber übersättigt von all den en passant eingestreuten Aperçus, flachsigen Bemerkungen und Pointen das Weite suchen. Zwar versucht Regener, über die Figur des Hamburg-Heiner als Ansprechpartner und Korrektiv ein bisschen Struktur in die Sache zu bringen. Aber vergebens. Witzereißen ist für Regener ein Muss, das er sich und seinem Publikum schuldig zu sein meint. Dabei wäre er aus der Generation der in den 60ern geborenen und mit Punk sozialisierten Entertainer derjenige, der sprachlich und literarisch am meisten draufhat. Einen Versuch wäre es jedenfalls wert, die Pointe als letzten Rettungsanker am Ende eines jeden Absatzes in Zukunft wegzulassen. Vielleicht passiert da Erstaunliches.

Es ist erstaunlich, dass zwei Gehirne wie die von Stermann und Grissemann derart viele kranke Ideen ausschwitzen können

Nur 700 Seiten für 18 Euro Christoph Grissemann und Dirk Stermann fahren noch schwerere Geschütze auf. „Speichelfäden in der Buttermilch. Gesammelte Werke I“ enthält auf 700 Seiten „Salon Helga“-Texte aus den 90ern bis herauf in jüngere Zeit. Das Cover flirtet mit der Ästhetik preisgünstiger Studienausgaben deutscher Klassiker. Als Witz zum Drüberstreuen ist ein Sticker angebracht: „Nur 700 Seiten für 18 Euro“. Durch „Willkommen Österreich“ sind die beiden Entertainer in den letzten Jahren vor allem über das Fernsehen wahrgenommen worden, was ihnen angesichts der zähen Routine, die der Sendung inzwischen anhaftet, nicht schmeichelt. Man täte ihnen jedoch Unrecht, sie darauf festlegen zu wollen, vermögen die beiden doch weitaus bessere Texte zu schreiben als jene für kleine TV-Witzchen. Vor drei Jahren veröffentlichten sie bei Tropen gemeinsam den Quasiroman „Debilenmilch“, die skurrile Geschichte eines Kaffeerösters. Der enorme Einfallsreichtum und die hohe Dichte an Lachern waren bemerkenswert. Das Buch litt aber darunter, dass die Figuren in Texten von Grissemann und Stermann Schießbudenfiguren und den Autoren völlig egal sind. Ein ähnliches Bild zeichnet die Werkschau, die charmant-kapriziös in Erinnerungen, Tagebücher, Listen, Gespräche, Lyrik, Stücke und Hörspiele, Kleine Prosa und Diverses unterteilt ist. Zwar stammen die Beiträge vermutlich – genaue Zeitangaben fehlen leider – aus einem Zeitraum von eineinhalb Jahrzehnten, dennoch ist es erstaunlich, dass zwei Gehirne derart viele kranke Ideen ausschwitzen können. Ausschwitzen, dieses Wort wäre den beiden mindestens einen Kalauer mit Auschwitz wert. Wo man das Buch aufschlägt, finden sich groteske Wortspiele und -verdrehungen. „Als wir noch nicht von Funk und Fernsehen kaputtgemacht worden sind“, eröffnet ein Text, „waren wir Straßenkartenmaler. Jeden Sonntag

Sven Regener: Meine Jahre mit Hamburg-Heiner. Logbücher. Galiani, 419 S., € 20,60

tauchten wir die Straßenkarten in ein Tintenfass und malten mit ihnen die schönsten Bilder.“ Am hübschesten sind die von einem Schlüsselwort zum nächsten mäandernden Texte, wenn sie so harmlos und „naiv“ daherkommen. Der Hang zur Brachialkomik, der sich in skurril übersteigerten Gewalt- und Sexfantasien äußert, nützt sich dagegen recht schnell ab.

Abschwellender Bocksgesang Dass die Humoristen das eine oder andere germanistische und philosophische Seminar besucht haben, verhehlen sie nicht. Als Brechung und gleichsam, um Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, haben sie an einigen Stellen Ausschnitte aus einer angeblichen Dissertation über ihr literarisches Werk eingebaut. Es hat schon Monty-Python-Format, wenn eine gewisse Mag. Inge Sämann in ihrer Arbeit „Abschwellender Bocksgesang. Kulturkritik im Schweinehälftenkostüm“ anmerken darf: „In seiner Unfähigkeit, die Aporien seiner Existenz auszuhalten, ja überhaupt zu artikulieren, wird dieser Grisse- und Stermann’sche Protagonist als tragikomischer Prototyp des spätmodernen Durchschnittsmanns kenntlich, eine Figur, die der eigenen körperlichen und geistigen Impotenz zum Opfer fällt (...).“ Ihr parodistischer Umgang mit dem akademischen Duktus und dem hohen literarischen Ton zeigt, dass Grissemann und Stermann diese Welten irgendwie mögen. Man könnte auch sagen, sie flirten mit „richtiger“ Literatur, bleiben dabei aber immer ironisch auf sicherer Distanz, um sich im Fall des literarischen Scheiterns noch abputzen zu können: War gar nicht ernst gemeint, so verschnarcht wie die ollen Dichter sind wir doch nicht.

Heinz, pack die Pointen aus!

Christoph Grissemann, Dirk Stermann: Speichelfäden in der Buttermilch. Gesammelte Werke. I. Tropen, 698 S., € 18,50

Heinz Strunk: Heinz Strunk in Afrika. Rowohlt, 269 S., € 14,40

Denn wenn’s einmal einer ernsthafter probiert, ist es auch nicht recht. Heinz Strunks jüngstes Buch – man tut sich schwer, zu sagen, ist es ein Roman oder bloß Erlebnisbericht? – „Heinz Strunk in Afrika“ überrascht mit geringer Gagdichte. Nachdem der Hamburger zuletzt den zum Schreien komischen Roman „Fleckenteufel“ (2009) über die erotischen Strohfeuer der Pubertät vorgelegt hat, hält er diesmal den Ball sehr flach. Heinz Strunk, der der Einfachheit halber auch im Buch Heinz Strunk heißt, fliegt mit seinem österreichischen Freund C. (hinter dem sich unschwer Christoph Grissemann erkennen lässt) über Weihnachten zum All-inclusive-Urlaub in ein Ressort in Kenia. Vorgabe: Ruhe, Entspannung. Nichts soll passieren außer kontrolliertem Pool- und Strandurlaub mit regelmäßiger Speisefolge. Und es passiert dann auch nicht viel. C. reißt mit seiner Mischung aus hypochondrischen und diktatorischen Verhaltensweisen unterhaltungstechnisch manche Länge wieder raus. Insgesamt jedoch ist das Buch schlicht langweilig und banal. Falls es einer sein sollte – auch als Versuch über Langeweile und Banalität wäre es grandios missglückt. Heinz, pack die Pointen wieder aus! SEBASTIAN FASTHUBER


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Leichter lässt sich die Diktatur berechnen Mathematik: George G. Szpiro schildert an zwei Beispielen, wie sich die Mathematik mit Lösungen plagt ir alle stimmen darin überein, dass dieser Beweis hässlich ist.“ Mit wenig schmeichelhaften Worten kommentierte der US-Mathematiker Sam Ferguson einen Beweis, an dem er selbst mitgearbeitet hatte. Das ist sicherlich eine ungewöhnliche Reaktion auf die Lösung eines Problems, das fast 400 Jahre die mathematische Kollegenschaft auf Trab gehalten hatte und sogar auf David Hilberts berühmter Liste der wichtigsten im 20. Jahrhundert zu lösenden mathematischen Probleme stand, die dieser beim Internationalen Mathematikerkongress in Paris im Jahr 1900 vorstellte. Die „Hässlichkeit“ des Beweises war jedoch nicht das Einzige, was die Mathematik-Community vom Freudentaumel als der sonst üblichen Reaktion auf die Lösung eines Problems solchen Ranges abhielt. Zwölf Experten wurden nach Bekanntgabe des Beweises auf dessen Überprüfung angesetzt. Fünf Jahre später gaben sie auf. Es sei zwar zu 99 Prozent sicher, dass der Beweis richtig sei, eine komplette Zertifizierung sei seinem Team aber nicht gelungen, so der Teamleiter Gábor Fejes-Tóth in seinem Abschlussbericht. Was in aller Welt war da geschehen?

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Das Rätsel der Orangenpyramide Sieben Jahre nach der englischen Originalausgabe und genau 400 Jahre nach der Formulierung des Problems durch den Astronomen Johannes Kepler ist nun George G. Szpiros „Die Keplerscher Vermutung“ auf Deutsch erschienen. Die Keplersche Vermutung ist, wenn man keinen Wert auf mathematische Exaktheit legt, schlicht und einfach mit Hausverstand zu lösen: Sie besagt, dass die platzsparendste Art, Kugeln zu stapeln, vom Prinzip her jene der Orangenpyramide von Obsthändlern ist. Da bekannterweise Hausverstand nicht als mathematischer Beweis durchgeht, machten sich im Laufe der Jahrhunderte Mathematiker mit allerlei Methoden an die Lösung des Problems – und scheiterten kläglich. Ihre leidvollen Erfahrungen begleitet George G. Szpiro, routinierter Verfasser zahlreicher populärwissenschaftlicher Bücher zum Thema Mathematik, bis zu jenem „hässlichen“ Beweis, den der USMathematiker Thomas Hales unter Mitarbeit des eingangs zitierten Sam Ferguson im Jahr 1998 vorgelegt hat. Wobei das Buch sehr lesefreundlich gestaltet ist: Haarige mathematische Passagen sind gekennzeichnet und können bei Bedarf übersprungen werden. Grafiken erklären auf einen Blick, wo tausend Worte nur große Fragezeichen auslösen. Ein umfassendes Literatur-, Personen- sowie Sachverzeichnis gibt nicht nur Hilfestellung, wenn einem die zahlreichen Protagonisten wie Begriffe im Laufe der Lektüre verlo-

rengehen, sondern auch Hinweise, wo vertiefende Betrachtungen nachgelesen werden können, sofern Bedarf danach besteht. Dass sich dieser Bedarf außerhalb der einschlägigen Fangemeinde in Grenzen halten könnte, liegt nicht an Szpiros kompetenter und mit angemessenem Humor gewürzter Darstellung. Die Lösung der Keplerschen Vermutung ist, und das scheint in der Natur der Sache zu liegen, eine mehr mühsame als spannende Angelegenheit. So zitiert Szpiro seinen Popularisierungskollegen in Sachen Mathematik Ian Stewart, der dem Beweis der Keplerschen Vermutung sinngemäß den Charme eines Telefonbuchs zusprach. Die Lösung wurde letztendlich dem Computer überantwortet, was auch zum Problem der nicht 100-prozentigen Zertifizierung führte, da es den Gutachtern schlicht und einfach nicht möglich war, jeden einzelnen Beweisschritt zu überprüfen, und man nie weiß, ob sich beim Computer während des Rechnens nicht unbemerkt ein Fehler einschleicht. Selbst Thomas Hales hatte von seinem zu guter Letzt mehrere hundert Seiten umfassenden Beweis anscheinend einmal genug. Zumindest kam er der Bitte der Gutachter, die Beweisdarstellung für die Überprüfung ein wenig lesbarer zu machen, nicht nach.

Einsatz der Mathematik in demokratischen Belangen keinerlei Anlass zur Hoffnung auf eine befriedigende Lösung. Das macht den Titel des zeitgleich erschienenen Buchs „Die verflixte Mathematik der Demokratie“ desselben Autors programmatisch. George G. Szpiro, geb. 1950 in Wien, studierte Mathematik an der ETH Zürich, Betriebswirtschaft an der Stanford University (USA) und promovierte 1984 an der Hebräischen Universität Jerusalem in Mathematischer Ökonomie. Autor zahlreicher Bücher und Fachartikel, seit 1986 als IsraelKorrespondent und seit 1997 für das Ressort Wissenschaft und Technik der NZZ tätig. Er lebt und arbeitet in Jerusalem

Mathematik und der Computer Was das Buch in jedem Fall trotz der Mühsal der Angelegenheit absolut lesenswert macht, ist neben Szpiros gelungener Darstellung, dass es wie selten ein anderes auf die zeitgenössische und potenzielle künftige Arbeitsweise der Mathematik und ihr Verhältnis zum Computer eingeht. Denn dieses ist weniger eng, als man annehmen möchte. Es ist eine Sache, den Computer für die Lösung numerischer Probleme oder als Hilfsmittel bei der Suche nach Beweisideen einzusetzen. Ihn aber direkt für die Beweisführung zu verwenden heißt in letzter Konsequenz, die Mathematik zu einer Experimentalwissenschaft zu machen. Was vielen Mitgliedern der MathematikCommunity gar nicht behagt. Als Reaktion auf die nicht gelungene Zertifizierung seines Beweises hat Thomas Hales das Projekt „Flyspeck“ ins Leben gerufen, im Zuge dessen der Beweis der Keplerschen Vermutung mithilfe des Computers schrittweise und lückenlos bis in den letzten Winkel durchgearbeitet werden soll. Die deutsche Ausgabe von Szpiros Buch ergänzt zwar, was seit Erscheinen der Originalausgabe geschehen ist, das Projekt ist jedoch auf 20 Jahre ausgelegt, eine mögliche Jubelbotschaft werden wir also erst Mitte der 2020er-Jahre vernehmen. Ist bei der Verifizierung der Keplerschen Vermutung zumindest das vielzitierte Licht am Ende des Tunnels zu sehen, gibt es beim

George G. Szpiro: Die Keplersche Vermutung. Wie Mathematiker ein 400 Jahre altes Rätsel lösten. Springer, 325 S., € 30,80

George G. Szpiro: Die verflixte Mathematik der Demokratie. Springer, 220 S., € 30,80

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen.

Mathematik und Demokratie Wer schon bei der Keplerschen Vermutung Schwierigkeiten hatte, sollte von diesem Buch definitiv die Finger lassen. Die Problemstellung, welches Wahlverfahren das fairste ist und wie in Demokratien Parlamentssitze vergeben werden sollen, führt nicht nur zu der wenig befriedigenden Erkenntnis, dass die am leichtesten zu berechnende Staatsform die Diktatur ist, sondern auch dazu, dass es bis heute weder ein 100-prozentig gerechtes Wahl- noch Zuordnungsverfahren gibt und wahrscheinlich auch nie geben wird. „Die verflixte Mathematik der Demokratie“ ist kein Buch für Menschen, die Lösungen brauchen. Demgemäß lesen sich George G. Szpiros letzte Sätze: „Am Ende dieses Buches kommen wir zu der traurigen Schlussfolgerung, dass die verflixte Mathematik der Demokratie nicht verschwindet.“ Wer dieses Buch liest, muss also Freude am Prozess des Ringens haben. Dieser wird, von Platon bis zu den gegenwärtigen Visionen zum Thema anhand der historischen Protagonisten und ergänzt durch Kurzbiografien ausgiebig dargestellt. Immerhin hat das Thema einen Vorteil: nämlich dass die Mathematik der Wahl- und Zuordnungsverfahren im Großen und Ganzen mit den Grundrechnungsarten auskommt und damit auch für mathematisch weniger Versierte kaum Verständnisprobleme aufwirft. Gleichzeitig machen Szpiros Ausführungen schmerzhaft klar, in welchem Ausmaß für die Gesellschaft wichtige Entscheidungen vom benutzten mathematischen Verfahren abhängen. So ist wohl den wenigsten Menschen bewusst, dass die US-Präsidentschaftswahl zwischen George W. Bush und Al Gore im Jahr 2000 anders ausgehen hätte könnten – auch wenn man die kolportierten Wahlunregelmäßigkeiten beiseite lässt. Es konkurrieren nämlich bei der Zuteilung der Anzahl der Abgeordneten, die einen Bundesstaat im Repräsentantenhaus vertreten können, mehrere Verfahren, die einmal den einen, einmal den anderen Bundesstaat bevorzugen. Da das Repräsentantenhaus zusammen mit dem Senat den Kongress bildet und die Zahl der Wahlmänner pro Bundesstaat der Zahl der Repräsentanten im Kongress entspricht, wäre mit einem anderen Zuordnungsverfahren als dem angewandten damals Al Gore Präsident der Vereinigten Staaten geworden. MARTINA GRÖSCHL


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Überlebensstrategien aus dem Jahre 1000 Moskau: Christina Eibl hat ein lesenswertes Buch über das zeitgenössische und alte Russland geschrieben

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Moskau ist ein Moloch mit achtspurigen Straßen zwischen stalinistischen Zuckerbäckerbauten; ein eiliges, extremes, immer übernachtiges, niemals ausgeruhtes Ungetüm. Moskau ist eine Stadt, deren mittlerweile geschasster Bürgermeister Luschkow Flugzeuge mit Chemikalien in den Himmel schickte, um für sonnige Feiertage zu sorgen. Es ist eine Stadt, in der vor einigen Jahren der größte Swimmingpool der Welt zugeschüttet wurde, um an seiner Stelle die größte orthodoxe Kathedrale der Welt hochzuziehen. Ein neues Buch beschreibt den Alltag in dieser Stadt auf witzige Weise. Christina Eibl, promovierte Historikerin, war von 2006 bis 2008 Verlagschefin des Medienkonzerns Gruner + Jahr in Russland. Das liefert ihr eine vielversprechende Perspektive. Denn Eibl ist keine Reiseschriftstellerin oder politische Beobachterin, sondern Wirtschaftstreibende, eine Agentin des westlichen Kapitalismus im Osten. Als solche macht sie andere Erfahrungen als etwa Journalisten, die Politiker treffen und Menschenrechtsaktivisten interviewen. In der Twerskaja-Straße unweit des Roten Platzes im Herzen Moskaus, wo sie wohnt, rangieren die Mietpreise unter den höchsten weltweit. Zu ihrem Umfeld gehört die neue russische Yuppie-Kaste, die den westlichen Konsumstil übernommen und teilweise bis zur Karikatur überzeichnet hat. Ihrer zutiefst russischen Prägung und Mentalität entkommt diese Schicht da-

durch aber keineswegs. Nicht umsonst sagen Russen gern, dass sie von den Europäern nur deshalb als artverwandt betrachtet werden, weil sie zufällig nicht ausschauen wie Inder oder Chinesen. Eibls „Protagonisten“ sind ihr Chauffeur,

die Buchhalterin ihres Verlags, ihre Geschäftspartner – allesamt Improvisationstalente, die ihre unsichere Lebenssituation zwingt, auf unverhoffte Fragen schnell Antworten parat zu haben. Was Eibl über Behördengänge und Finanzamtsbedienstete, über Taxifahrten und Geschäftsessen erzählt, spiegelt den Alltag einer Umbruchgesellschaft wider. Und klingt dennoch nicht nach Kriegsberichterstattung, wie es in solchen Berichten oft der Fall ist. Sieht man von ein paar Kleinigkeiten ab – wie den andauernd kursiv gedruckten Originalausdrücken und dem sperrigen Titel, dessen oberflächliche Aussage dem Inhalt des Buchs noch dazu überhaupt nicht gerecht wird –, ist das Buch also äußerst lesenswert. Eibl nimmt sich selbst nicht zu wichtig, aber sie leugnet auch nicht den subjektiven Anteil ihrer Eindrücke und Einschätzungen. Sie fürchtet sich nicht davor, als klischeehaft oder ressentimentgeladen zu gelten – und kann gerade deshalb Klischees und Ressentiments auf humorvolle und ungezwungene Weise auf Wahrheitsgehalte abklopfen. Zum Beispiel, wenn sie den Besuch bei sinistren Netzwerkern in heruntergekommenen Büros beschreibt, die gegen Bezahlung in Problemfällen bei den „richtigen“ Personen intervenieren. Oder wenn Verlagsmitarbeiter urplötzlich eine Wolja antreten, eine Art spirituelle Reise, ähnlich den französischen und amerikanischen Aussteigern. Ihre Reportagen sind mit soziologischen und historischen Erläuterungen unterfüttert – und auch hier scheut sich die Autorin nicht, in die Breite und Tiefe zu gehen. Aus der Topografie und Ausdehnung Russlands, aus den einstigen Feldzügen asiatischer Steppenvölker lasse sich viel über die Men-

„Nach jahrhundertelanger Subordination, Erpressung von Tributleistungen und Verharren im Kontemplativen ist man mehr Objekt als Subjekt. Angewandt auf das wirtschaftliche Leben heißt das: Das Schicksal bestimmte den ökonomischen Output“ Christina Eibl

Christina Eibl: Nicht alle Russen haben Goldzähne, sind immer betrunken, und auch nicht jeder russische Beamte ist korrupt. Ein Tatsachenbericht aus dem Herzen Moskaus. weissbooks.w 190 S., € 19,40

talität seiner Bewohner ablesen, schreibt sie: Gesellschaftliche Pflichten hätten sich im dünn besiedelten Riesenreich stets auf Grenzsicherung und Tribut konzentriert, niemals auf eine Intensivierung und Effektivierung nach innen. „Unter einer dünnen Schicht moderner Zivilisation“, erläutert Eibl, „scheinen überall jahrhundertealte Versatzstücke durch. Russland ist ein konserviertes Land. Es ist verblüffend, wie präsent die Überlebensstrategien aus dem 10. Jahrhundert und wie erfolgreich asiatisch-mongolische Traditionen noch heute sind.“ Über die Beschaffenheit des russischen Wirtschaftslebens räsoniert sie mit ähnlicher Stoßrichtung: „Nach jahrhundertelanger Subordination, Erpressung von Tributleistungen und Verharren im Kontemplativen ist man mehr Objekt als Subjekt. Angewandt auf das wirtschaftliche Leben heißt das: Das Schicksal bestimmte den ökonomischen Output. Unberechenbare Kräfte sind überall am Werk, warum dann schöpferisch und zielgerichtet tätig werden?“ Das sind besagte Beschreibungen, bei deren Abfassung professionelle Schreiber wohl befürchten würden, ins Ressentimenteck abgestellt zu werden. Wer Russland allerdings ein wenig kennt, weiß um die Absurditäten seiner Gesellschaft, dass sie sich im Gegensatz zu anderen Staaten Osteuropas nicht allein mit der kommunistischen Vergangenheit erklären lassen – und folgt Eibls Einordnung dessen, was man romantisierend die „russische Seele“ nennt, mit Gewinn. Ihr Buch lässt Erinnerungen an das bislang erhellendste Werk aus deutscher Feder zum Thema Russland wach werden – an die großartige und preisgekrönte Beschreibung der dreimonatigen Fußwanderung des Zeit-Journalisten Wolfgang Büscher aus dem Jahr 2003 mit dem Titel „Berlin–Moskau“. Fast ebenso lohnend ist die Lektüre von Christina Eibl. JOSEPH GEPP

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

s gibt Städte, die ihre Sogwirkung entfalten, sobald man aus dem Haustor tritt. Sie wirbeln, streifen, stoßen, drängen, sie geben keine Sekunde Ruhe. Nach ein paar Stunden flüchtet man sich völlig erschöpft in ein Café. Oder man kehrt erleichtert und atemlos in sein Haustor zurück, obwohl man ja eigentlich „nichts“ gemacht hat die ganze Zeit. Moskau ist so eine Stadt. Zehn Millionen Einwohner, die größte Stadt in Europa, abgesehen von Istanbul, das allerdings zum Teil in Asien liegt.


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Reisen ins Herz des Kalten Krieges Moskau: John Steinbeck und Karl Schlögel beschreiben das Russland der Jahre 1947 und 1984 as Pathos, das der amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger John Steinbeck (1902–1968) an den Anfang seiner Reise nach Russland im Jahre 1947 stellte, war kaum zu überbieten: „Was gibt es in der Welt für einen ehrlichen und liberal denkenden Mann noch zu tun?“ Zur Erinnerung: Die UdSSR, soeben noch Verbündeter im Kampf gegen HitlerDeutschland, war gerade dabei, Osteuropa zu sowjetisieren, die Welt raste auf den Kalten Krieg zu. Man lese ständig über Stalin, die Pläne des russischen Generalstabs, über Experimente mit Atomwaffen – ihn, Steinbeck, interessiere aber, was in Russland wirklich Sache sei, was die Menschen dort essen, denken, wie sie Feste feiern, all das, was „wie bei uns das ganz normale Leben ausmacht“. Die besorgten Ratschläge seiner Freunde, er würde von den „commies“ verschleppt oder gleich gefoltert, schlägt Steinbeck in den Wind, allerdings fürchtet er schon beim Flug Stockholm–Leningrad ob der klapprigen sowjetischen Transportmaschine um sein Leben. Breiten Raum in der Beschreibung des zweimonatigen Aufenthalts mit Abstechern in die Ukraine und nach Georgien nehmen die Schwierigkeiten der Unterbringung ein, bürokratische Schikanen und absurde Verbote – mitunter amüsant, ist das Ganze meist doch eher maßvoll kafkaesk.

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Der Krieg ist noch allgegenwärtig Russlandreisende haben Schlimmeres erlebt, allerdings auch Dümmeres berichtet! Steinbecks Stärke liegt nicht in der politischen Analyse – er muss sogleich einem Kulturbeamten erklären, „Politik außen vor zu lassen“ –, sondern in der Beobachtung kleiner Details, die nicht „vorgesehen“ sind: Im Anflug auf Leningrad sind es die Spuren der 900-tägigen Belagerung, ausgebrannte Kolchosen und aufgewühlte Schützengräben, in Moskau gibt es noch immer amerikanische Konserven und Dosen mit Krabbenfleisch samt japanischer Originalbeschriftung. In der Hauptstadt, die sich auf ihre 800-Jahr-Feier und das 30. Jubiläum der Oktoberrevolution vorbereitet, herrscht noch Selbstversorgung: „Die im Krieg angelegten Nutzgärten existieren immer noch und werden weiterhin gepflegt.“ Die Stalinpropaganda ist überall präsent, zu Gesicht bekommen die beiden Reporter den Generalissimus aber nicht. Bei einer Flugschau ist seine Präsenz immerhin spürbar: „Die Reaktion auf seine Ankunft war kein Jubelschrei, sondern ein Summen wie von Millionen.“ Es folgen die obligatorischen Besuche von Leninmuseum, Mausoleum und Metro, natürlich immer in Begleitung der offiziellen Dolmetscherin „Sweet Lana“, die klassenbewusst mit ihrer Verachtung für die dekadente Kunst des Westens nicht hinter dem Berg hält. In Moskau stellt Steinbeck bedrängenden Ernst fest, in der Ukraine, dem „Brotkorb Europas“, wirkt alles fröhlicher: die Schwimmer im Dnjepr und die Zirkusbesucher, selbst die ehemaligen Piloten und Panzerfahrer, die jetzt als Taxilenker arbeiten; unendlich geduldig sind die Menschen

beim Schlangestehen, auch wenn es einmal zu einem „prächtigen Damenkampf“ kommt. Auch hier ist der Krieg noch allgegenwärtig, Kiew „ein halber Trümmerhaufen“. „Wir sahen in der Sowjetunion nur sehr wenige Prothesen, obwohl hier so viele benötigt werden.“ Fotografieren durfte man das Elend sowieso nicht, ebenso wenig wie die Aufbauarbeiten und jene, die sie leisteten. Umso genauer Steinbecks Beschreibungen: „Und nun marschieren die Gefangenen in ihren deutschen Wehrmachtsuniformen im Gänsemarsch durch die Stadt, um die Zerstörung zu beseitigen, die sie angerichtet haben. Und das ukrainische Volk würdigt sie keines Blickes. Sie wenden sich ab, wenn die Kolonnen durch die Straßen marschieren. Sie schauen durch diese Gefangenen hindurch und über sie hinweg und sehen sie nicht. Und dies ist vielleicht die schlimmste Strafe, die über sie verhängt werden kann.“

Von Erdlöchern auf den Mtazminda Der Besuch einer Kolchose endet in Ratlosigkeit: Auf die Frage, wie eigentlich amerikanische Farmer leben, wissen Steinbeck und der Fotograf Robert Capa, der ihn begleitete, keine Antwort, ebenso wenig auf jene: „Werden die Amerikaner bei uns einfallen mit ihren Atombomben?“ (Stalin sollte seine erste Atombombe erst zwei Jahre später zünden.) Dieselbe Frage auch in Stalingrad, dessen Bewohner in Ruinen und Erdlöchern hausen. Einem Jungen, der täglich den Park aufsucht, in dem sein Vater begraben ist, setzt Steinbeck ein rührendes Denkmal. Höhepunkt der Reise ist ein Georgienbesuch – dem Land eilt ein schmeichelhafter Ruf voraus: Wenn ein guter und gerechter Mensch stirbt, kommt er nicht in den Himmel, sondern nach Georgien. Schon beim Zwischenstopp in Suchumi steht alles im Zeichen der Lebensfreude. Die Flugzeugbesatzung nimmt kurzerhand ein Erfrischungsbad im Schwarzen Meer und lässt die Passagiere warten. Das Essen, Trinken, die Trinksprüche – es gibt alles im Übermaß, maßlos ist die Stalinstatue auf dem Mtazminda, dem Berg über Tiflis, und die Verehrung Stalins, des (damals) größten aller Georgier, in seinem Geburtsort Gori. Ein zufälliges Fußballspiel, die nächtliche Zugfahrt an die georgische Schwarzmeerküste mit ihren Teeplantagen und Sanatorien sind der beste Teil des Berichts. Als Steinbeck dem unentwegt „In the Mood“ spielenden Tiflis Jazz Orchestra endlich den Sinn von Improvisation, Swing und Benny Goodman erklären kann, ist er endlich in seinem Element. „Uns ist klar, dass dieser Bericht weder für die orthodoxe Linke noch die verkommene Rechte besonders befriedigend ist“, erklärt er resümierend am Ende seines um Ausgewogenheit bemühten Berichts einer Reise ins Herz des Kalten Krieges. Der einzige Wermutstropfen: John Steinbecks grandiose „Russian Journey“, die von seinen Zeitgenossen schon als „conducted tour“ kritisiert wurde, hätte ein ausführliches Nachwort verdient. Denn den beiden Yankees und Greenhorns wurde von ihren sowjetischen Gast-

gebern nicht nur vieles aktiv vorenthalten, sie berichten auch über vieles nicht, was sich direkt vor ihren Augen abgespielt haben muss: Hunger, Chauvinismus, Kriegstreiberei.

Geh doch rüber!

John Steinbecks Stärke liegt nicht in der politischen Analyse, sondern in der Beobachtung kleiner Details

Dass das Unternehmen Sowjetunion dem Ende zuging, war 1984 spürbar, dass es dann so rasch gehen sollte, war nicht abzusehen

John Steinbeck: Russische Reise. Mit Fotografien von Robert Capa. Edition Büchergilde, 834 S., € 20,50

Karl Schlögel: Moskau lesen. Verwandlungen einer Metropole. Hanser, 512 S., € 26,70

Von Moskau aus konnten in einem achtstündigen Inlandsflug die meisten Klimazonen dieser Welt erreicht werden, und alle Reisen im Land führten über die Hauptstadt. Dieser Umstand verwunderte John Steinbeck – der deutsche Historiker Karl Schlögel macht ihn in „Moskau lesen“ zum Ausgangspunkt von zwei Dutzend kulturgeschichtlichen Spaziergängen durch die seinerzeitige Hauptstadt des Kommunismus. Moskau ist Teil und Ganzes, Welt und Ziel der Menschheit. Dass das Unternehmen Sowjetunion 1984, als das Buch entstand, in pompöser Monotonie dem Ende zuging, war spürbar, dass es aber dann doch so rasch gehen sollte, war nicht abzusehen. Der Ex-68er Schlögel hat gerade die Fraktionskämpfe der bundesrepublikanischen Linken hinter sich gelassen und beherzigt, was damals altdeutsch hieß: „Geh doch hinüber!“ „Wir mussten klarkommen mit der Frage, was es damit auf sich hatte, dass Abermillionen im Namen einer Idee zermalmt worden waren.“ Also legt Schlögel akribisch die Schichten der Utopie – und woraus sie entstand – frei. Die Rolle des aufstrebenden Moskauer Bürgertums um 1900 wird neu definiert, die Revolutionäre werden in ihren Museen aufgesucht, der Homo sovieticus in seinen Ritualen und Mythen rekapituliert. Die architektonische Avantgarde – der Schlögels besondere Aufmerksamkeit gilt – hatte ihre Vorgänger, und sie hatte ihre Vollender in der stalinistischen Baugeschichte, die nach Schlögel nicht als bloße „Zuckerbäckerarchitektur“ abgetan werden kann. Essayistisch wird das Moskau der Fabriken und Arbeiterklubs, der Hochhäuser (statt Wolkenkratzer), der ungebauten Phantasmagorien inklusive der unterirdischen Welt der Metro zu jenem monumentalen Panorama zusammengefügt, das die Stadt entsprechend dem Generalplan des Jahres 1935 hätte sein sollen.

Moskau liegt wieder in Europa Dass diese Version von „Wsja Moskwa“, „Ganz Moskau“, wie ein seinerzeitiges Adressverzeichnis hieß, nicht antiquarisch verstaubt wirkt, ist den angefügten „Notizen 1988–2010“ gedankt – auch wenn Karl Schlögel einige Peinlichkeiten unterlaufen (z.B. „der männlich elegante General Rutzkoj“) –, dass sich in West und Ost die Dissidenten durchsetzten – ein frommer Wunsch. Aber auch 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion gilt: „Moskau hat 1991 keinen Putsch vereitelt, sondern einen weltgeschichtlichen Ausnahmezustand beendet. Die Bürger Moskaus haben keinen Kommunismus niedergeworfen, sondern die Herrschaft der Vergangenheit über das Leben abgeworfen.“ Eine Pflichtlektüre für alle, die noch nicht wissen, dass Moskau wieder in Europa liegt. ER ICH K LEIN


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Der Säugling huldigt einem sanften Vampirismus Böse Sauger: Zwei neue Bücher beweisen die Attraktivität, um nicht zu sagen Unsterblichkeit des Vampir-Hypes er Boom an Büchern mit, über – und D man ist versucht zu sagen: von Vampiren hält weiterhin an. Das Interesse und die Faszination an diesen irgendwie seltsam zwischen Über- und Untermenschen positionierten Lebewesen scheint noch nicht endgültig ausgereizt zu sein, weswegen praktisch jeder Verlag ein Buch dazu herausbringt, in der Hoffnung, auch am Erfolg dieses Millionenmarkts mitsaugen zu können. Titel im Segment der smarten Businessratgeber wie „Das Vampir-Prinzip. Wie ein Vampir denken und neue Märkte aussaugen“ fehlen noch, aber im kulturwissenschaftlichen Bereich wird dieser einem Prinzip verpflichtete Zugang bereits aufgegriffen. Norbert Borrmann setzt in seinem neuen Buch, „Vampirismus“, gleich bei der Geburt an: „Der Säugling tötet zwar sein Opfer, d.h. seine Mutter nicht, insofern huldigt er einem sanften Vampirismus, doch gleichwohl schwächt er sie, indem er ihr das Lebenselixier entzieht, das er selbst für sein Überleben benötigt.“ Sein durchaus belesener und mit Quellenan-

gaben gut belegter Parforceritt durch die Kulturgeschichte der Vampire wirkt aber manchmal allzu bemüht: „Alles irdische Leben ist im Grund einem Vampirprinzip untergeordnet: Um sich am Leben zu erhalten, muss man sich etwas einsaugen, sich anderes Leben einverleiben.“ Selbst im Kosmos kann er diesen Grundsatz nachweisen,

denn auch die „geheimnisvollen Schwarzen Löcher saugen mit ihrer Schwerkraft fortwährend Materie an, um sie unwiederbringlich in ihren Schlund zu reißen“. Diese allzu platten Analogien sind schade, denn sie lenken von den eigentlichen, durchaus scharfsichtigen Analysen zu diesem popkulturellen Phänomen ab. In Stephenie Meyers erfolgreicher und auch verfilmter „Twilight“-Saga mutieren die gruftigen Untoten des alten Europa zu gesellschaftlich bestens integrierten, moralischen Musterbürgern, deren erschreckendste Eigenschaft nur mehr ihre vollkommene Angepasstheit an den amerikanischen Way of Life ist. Kein Wunder, dass mittlerweile eine Existenz als Vampir für viele Teenager eine attraktive Form des Seins darstellt. Borrmann schreibt über die HighschoolVampire von Stephenie Meyer: „Man mag diese Cullen-Vampire nicht – im nietzscheanischen Sinn – als Übermenschen bezeichnen, da ihnen das Herrische, Aristokratische, geistig Besondere, aber auch das Amoralische, das in diesem Begriff mitschwingt, fremd ist. Edwards Familie ist die Familie Supermann schlechthin, sie überragt ihre Mitbürger von ihren Fähigkeiten weit, ohne allerdings von ihrer inneren Wesensart sonderlich anders geartet zu sein.“ Ein umfassendes Buch, das einen weiten Bogen spannt, von den historischen Wurzeln des Phänomens über die Psychopatho-

logie von menschenfressenden Serienmördern bis zu feministischen Aspekten kein Thema unbeackert lässt und aus der Vielzahl anderer Vampir-Sachbücher hervorragt, sofern man über den für einen Kulturhistoriker wenig eleganten und manchmal zu appellativen Schreibstil hinwegsieht.

Norbert Borrmann: Vampirismus. Der Biss zur Unsterblichkeit. Diederichs, 426 S., € 20,60

Christine Klell, Reinhard Deutsch: Dracula – Mythen und Wahrheiten. Ein Handbuch der Vampire. Styria, 288 S., € 29,95

In Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit und der allgegenwärtigen elektronischen Information im Internet kommt dem Layout, der Ausstattung und der Haptik eines Buchs wieder besondere Bedeutung zu. Die Grafikdesignerin Christine Klell hat mit dem Styria-Verlagslektor Reinhard Deutsch ein Beispiel dafür geliefert, was ein gedrucktes Buch heutzutage im Wettbewerb mit E-Books und freiem OnlineContent bieten kann. Bei der optischen Opulenz bleibt aber der Text etwas auf der Strecke. Die hier zusammengetragenen Facetten des Vampirmythos reichen von Nacherzählungen der klassischen Blutsaugerliteratur über Cocktailrezepte und Songtexte bis zum Ausmal-Zahlenbild. Angesichts dieses Sammelsuriums von Fakten, Mitmachaufgaben („Für Seite 200 bringen Sie bitte ein Messer mit“) und dem zum Scheitern verurteilten enzyklopädischen Anspruch (Auflistung von Webadressen zum Thema Vampire) stellt sich die Frage, wer das anvisierte Zielpublikum sein soll. Schön anzusehen und durchzublättern ist es jedenfalls. PE TER IWANIE WICZ

Es gibt ein richtiges Leben im Fälschen! Kulturgeschichte: Rüdiger Schaper zeigt sich fasziniert von dem Fälscher Konstantin Simonides (1820 oder 24 bis 1867 oder 90) s gibt ein richtiges Leben im Fälschen! E Der deutsche Publizist Rüdiger Schaper widmet der Wirklichkeitsflunkerei ein hübsches Büchlein und begab sich dazu auf die Spuren des Fälschers Konstantin Simonides. Vom biografischen Aspekt her betrachtet ist dies kein leichtes Unterfangen, denn Simonides verstand sich nicht nur bestens darauf, Schriften aus der Antike zu fälschen – genauer gesagt: zu erfinden –, sondern wandte seine fantasievolle Täuschungskunst nur allzu gerne auch auf sein eigenes Leben an. So wurde er an mindestens zwei Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten geboren (1820 in Symi und 1824 in Hydra) und starb einmal 1867 in Alexandrien an der Lepra, ein zweites Mal hingegen 1890 in Albanien. Dazwischen – und dies ist vielleicht die einzige biografische Gewissheit – lag ein abenteuerliches Leben, das einem äußerst kunstvollen Umgang mit Wahrheit und Wirklichkeit verschrieben war. Simonides wurde in das von einer Amour fou

für alles Alte befallene, beginnende 19. Jahrhundert geboren. „Es ist die Energie des technisch-industriellen Fortschritts, der ohne Rückgriff auf die verschütteten Zeiten anscheinend nicht auszuhalten ist“, erläutert Schaper die Antike-Vernarrtheit dieser Epoche. Zum Dreh- und Angelpunkt der Beschäftigung mit der Antike wurden alsbald die Klöster, jene des Balkans und der Levante etwa, in denen uner-

messliche Schätze schlummerten, welche von deutschen oder britischen Forschern nicht nur studiert, sondern gern auch kurzerhand mit nach Hause genommen wurden. Diese Gier nach antiken Artefakten rief zahlreiche Fälscher auf den Plan, die spektakuläre „Funde“ erfanden, um westliche Jäger und Sammler auf lukrative Weise auszunehmen. Einer der berüchtigtsten von ihnen war der Grieche Konstantin Simonides, der früh mit dem Kloster Bekanntschaft schloss. Nach dem (gescheiterten) Versuch, seine Eltern zu vergiften, kam er als schwer erziehbarer Jugendlicher auf die Halbinsel Athos. Von Mönchen unterrichtet, eignete er sich im Laufe der Jahre antike Sprachen und Schriften an und entfaltete daraufhin eine stupende Produktivität: Schaper schätzt, dass Simonides bis zu 3000 Manuskripte erfunden und gefälscht haben könnte – und dies dank seiner hohen kalligrafischen Kunstfertigkeit und fundierter paläografischer Kenntnisse auf höchstem Niveau. Dass zeitgenössische Quellen sogar von mindestens 5000 Schriftstücken berichten, die er in seinem Besitz gehabt haben soll, zeigt den hohen Respekt, den Simonides genoss – „als Wissenschaftler und als Schurke“, so Schaper, der Simonides und dem Fälscherwesen überhaupt äußerst wohlwollend und mit großer Sympathie begegnet. Denn gerade in solchen Fälschergestalten stecken nach Schaper starke ge-

schichtsprägende Kräfte: „Simonides steht für die andere Seite der Geschichtsschreibung, für das nicht in Stein Gemeißelte. Aus seinem Leben und seinem Werk lernt man, wie das gemacht wird – Geschichte.“

Rüdiger Schaper: Die Odyssee des Fälschers. Die abenteuerliche Geschichte des Konstantin Simonides, der Europa zum Narren hielt und nebenbei die Antike erfand. Siedler, 205 S., € 17,50

Dass Simonides zu letztlich verhängnisvollen Übertreibungen neigte, steht auf einem anderen Blatt. Seine vielleicht spektakulärste Fälschung ist ein Matthäus-Evangelium, das angeblich nur 15 Jahre nach der „Himmelfahrt“ von Jesus von Nazareth von einem Diakon namens Nikolaos geschrieben worden sein soll. Obschon im Handwerklichen von überragender Qualität, waren seine Fälschungen oft allzu aufsehenerregend, um nicht den Verdacht des Gefälschtseins auf sich zu ziehen. Simonides war denn auch immer wieder Verfolgungen ausgesetzt und wurde einmal sogar verhaftet. Aber er wäre nicht Simonides gewesen, hätte er nicht auch hierzu eine probate Gegenwehr zur Hand gehabt. Er schlüpfte kurzerhand in die Rolle seines eigenen Biografen, der als kritischer Gutachter darum bemüht war, die Echtheit der Manuskripte des angeblich zu Unrecht als Fälscher titulierten Simonides zu beweisen. Um auf Nummer sicher zu gehen, blieb ihm aber offenbar nur noch der vorgezogene Lepratod, um sich definitiv aus dem Spiel zu nehmen – mit Sicherheit die perfekteste Fälschung des Konstantin Simonides. FRIT Z TRÜMPI


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Die Botschaften des Schneeballs

Gefährtenehe, Amour fou oder serielle Monogamie?

Medientheorie: Douglas Coupland legt zum 100. Geburtstag von Marshall McLuhan eine überzeugende Biografie vor

Kulturgeschichte: Hannelore Schlaffer versucht sich an einer Geschichte und Theorie der intellektuellen Ehe

leich ein wichtiges Argument G für dieses Buch vorweg. Es liefert Pointen und Zitate von dem wohl

as ist die Ehe? Wie hat sie sich W in den letzten 200 Jahren verändert, und was kann sie uns heu-

einflussreichsten und schillerndsten aller Medientheoretiker, Marshall McLuhan (1911–1980), die überall Eindruck machen, vom Uniseminar bis zur Cocktailparty. Ein locker eingestreutes „Kunst ist alles, womit man durchkommt“, ein eloquentes „Wir formen unser Werkzeug, und danach formt unser Werkzeug uns“ oder ein beiläufiges „Der Konsument ist der Inhalt“ lassen garantiert alle Gesprächspartner erblassen und hindern sie daran, mit einem abgelutschten „Das Medium ist die Botschaft“, dem bekanntesten aller McLuhanSätze, daherzukommen. Douglas Coupland, der Anfang der 90er-Jahre gefeierte Autor von „Generation X“, führt in „Marshall McLuhan. Eine Biographie“ haufenweise Zitate dieser Schärfe und Prägnanz an. Jedes für sich öffnet mehr Spielraum für Gedanken als die zwei Kurzgeschichten aus eigener Feder, mit denen Coupland die Thesen Marshall McLuhans zu illustrieren versucht. Coupland drängt sich selbst überhaupt ein wenig zu oft in den Vordergrund. Das ist akzeptabel, wo es um die Frage geht, inwiefern gedruckte, abgeschlossene Biografien im Zeitalter von Wikipedia überhaupt noch sinnvoll sind. (Sie sind es, „weil man eine Landschaft am besten betrachtet, wenn sie von nur einer Quelle beleuchtet wird, sodass alle Schatten und Schlaglichter übereinstimmen“). Das nervt aber eher, wenn er etwa die Stimme McLuhans auf YouTube mit seinem Großvater vergleicht und sich dann in der eigenen Familiengeschichte verliert. Alles in allem ist Coupland dennoch eine sehr lesenswerte Einführung in das Gedankengut von Marshall McLuhan geglückt. Die zentrale Frage lautet: Wie konnte es sein, dass ein konservativer Professor für Renaissance-Rhetorik, der das elektronische Zeitalter verachtete und zu Autismus neigte, zum Techno-Guru der Hippiezeit und zum Propheten des Internet wurde? Coupland findet darauf durchaus schlüssige Antworten. Allen Lesern mit Aufmerksamkeitsdefizit sei die Seite 131 empfohlen, da werden sie im Stakkato zusammengefasst. Nebst anderem lag es am Rhetorikunterricht von McLuhans Mutter, die ein Interesse an Worten und Mustererkennung erweckte, das nicht wieder verschwinden sollte; es lag an gleich zwei Arterien, die sein Gehirn mit Sauerstoff versorgten (so etwas haben üblicherweise nur Katzen), womit er nicht nur extrem leistungsfähig Bücher verschlingen, sondern auch mehrere Schlaganfälle überle-

ben konnte; es lag an seinem Übertritt zum Katholizismus, seinem damit verbundenen Glauben an einen Masterplan, den er im Diesseits mit den Medien verbunden sah; und es lag an seinem Expertentum für Dagwood Bumstead und James Joyce (Ersterer eine Comicfigur, die für McLuhan den verweichlichten amerikanischen Mann der 50er-Jahre repräsentierte, Zweiterer ein Autor, für dessen Wortspiele und Assoziationsorgien er sich begeisterte). Die Biografie erscheint im deutschspra-

chigen Raum wie in den USA, wenige Monate bevor sich der Geburtstag von McLuhan am 21. Juli zum 100. Mal jährt. In Kanada war sie bereits vor zwei Jahren erhältlich. Kanada, „das einzige Land auf der Welt, das keine Identität braucht, um zu leben“, ist auch ein weiterer wichtiger Erklärungsfaktor im Buch des Kanadiers Coupland über den Kanadier McLuhan. In dem riesigen Land mit seiner geringen Bevölkerungsdichte ist Kommunikation zwischen Menschen harte Arbeit, da liegt fundamentales Grübeln nahe. „Wenn man also an einem kalten kanadischen Tag mit einem Schneeball beworfen wird, ist das Medium allerdings Teil der Botschaft“, schreibt Coupland in einem seiner erhellendsten Sätze. Formal unterstrichen wird das Argument mit Auszügen von Online-Routenplanern, die wichtige Reisen McLuhans nachzeichnen und ein Gefühl für die Weite des Landes geben. Überhaupt bemüht sich Coupland stark um „webbige“ Formen auf dem gedruckten Papier seiner Biografie. Er verwendet Kommentare von YouTube, Einträge des Buchhändlers Amazon und ganze Wikipedia-Absätze. Im besten Fall handelt es sich dabei um einen dezenten Hinweis auf eine Botschaft, die das Medium Internet für uns bereithält: Wenn Texte eilig gelesen werden, warum dann nicht auch eilig schreiben? Man kann das auch als Faulheit des Autors bezeichnen, was US-Kritiker Coupland auch bereits vorgeworfen haben. Aber natürlich kann der mit einem weiteren Kalauer von McLuhan entgegnen: „Ich bin nicht unbedingt mit allem einverstanden, was ich sage.“ LUK AS WIESELBERG

Douglas Coupland: Marshall McLuhan. Eine Biographie. Tropen, 222 S., € 19,50. Erscheint am 24.3.

te noch sein? Diesen Fragen geht die deutsche Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer in ihrem Buch „Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar“ nach. Als Ehefrau des deutschen Literaturwissenschaftlers Heinz Schlaffer kennt sie die Problematik der intellektuellen Ehe aus eigener Erfahrung. Wobei der Begriff der intellektuellen Ehe nicht nur die Ehe zwischen Intellektuellen meint, sondern die heute verbreitetste Form der Lebensgemeinschaft, nämlich die, die auf einer geistigen und nicht so sehr auf einer körperlichen oder ökonomischen Übereinkunft der Partner beruht und in der die Kommunikation zwischen den Ehepartnern ein wesentliches Bindeglied darstellt. zieht Schlaffer ihre Erkenntnisse über weite Strecken aus literarischen Texten oder aus den Biografien einschlägiger Intellektueller. Breiten Raum nimmt dabei die Analyse der „Gefährtenehe“ zwischen dem Soziologen Max Weber und seiner Frau Marianne ein, die zuerst seine Schülerin war und dann seine intellektuelle „Gefährtin“ wurde. Um nicht in direkte Konkurrenz zu ihrem Mann zu treten, konzentrierte sie sich in ihren soziologischen Studien vor allem auf die für Frauen typischen Bereiche Liebe und Ehe. Dass die Gefährtenehe der Webers jedoch letztlich eine von sexueller Unbefriedigtheit und moralischer Beschränkung geprägte Zwangsgemeinschaft war, äußerte sich nicht nur in einer lang anhaltenden Nervenkrise des Soziologen, sondern vor allem in der Liebesaffäre mit Else von Jaffé in den letzten Jahren seines Lebens und im Auftreten des Psychoanalytikers und Sexualanarchen Otto Gross im Leben der Webers. Dieser hatte bereits die Münchner Boheme kräftig durchmischt und unter anderem mit Else von Jaffé ein Kind gezeugt, dessen Taufpate Max Weber wurde. Als Schüler Freuds trat Gross für eine völlige sexuelle Befreiung ein, weil er die Neurose aus sexueller Unterdrückung ableitete, zerstörte serienweise die Ehen seiner Patientinnen und endete selbst in geistiger Umnachtung in den winterlich Straßen Berlins. Sein Geist lebte jedoch im wohl berühmtesten Fall der intellektuellen Ehe des 20. Jahrhunderts weiter, jener von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Anders als die Webers hatten sich die beiden als Studenten kennengelernt und waren also zumindest zu Beginn ihrer Beziehung gleichwertige Partner. Was aller Welt als eine von Freiheit und in-

Als Literaturwissenschaftlerin

tellektueller Ebenbürtigkeit gekennzeichnete Partnerschaft vorgeführt wurde, bei gleichzeitiger Revolte gegen die bürgerlichen Formen des Zusammenlebens, war jedoch, dies zeigen die Werke, Briefe und Tagebücher der beiden Paradeintellektuellen, ein Abgrund aus Neid, Eifersucht, Konkurrenzdenken und gegenseitigen Unterwerfungsgesten. Die erotische Libertinage, die sich die beiden Partner zugestanden hatten, führte immer wieder zu schweren emotionalen Krisen auf beiden Seiten. Die Trennung zwischen einem „amour nécessaire“ (einer großen, essenziellen Liebe) und einem „amour contingent“ (einer belanglosen, beiläufigen Liebe) konnte so nicht durchgehalten werden. Die Befürchtung, dass ein „amour contingent“ doch zu einem neuerlichen „amour nécessaire“ werden könnte, führte vor allem Simone de Beauvoir immer wieder in äußerste Bedrängnis. In ihrer monumentalen Studie über „Das andere Geschlecht“ („Le deuxième sexe“) von 1949 schrieb sie der bürgerlichen Ehe dennoch einen Abgesang, als sie formulierte: „Zwei Liebende, die sich ausschließlich einander bestimmen, sind bereits tot: Sie sterben an Langeweile.“ Der Ausblick Schlaffers in das Überleben der Institution Ehe in unserer heutigen Gesellschaft fällt eher bescheiden aus. Immerhin liefert sie deutliche Zahlen: Drei Viertel der jungen Menschen in Deutschland heiraten auch heute noch. Als Grundlage der Ehe gilt „gegenseitige Rücksichtnahme, Verständnis, gemeinsame Interessen, weibliche Bildung und Berufstätigkeit“: Früchte der ehereformerischen Arbeit von zwei Jahrhunderten. Jede zweite Ehe wird geschieden. 80 Prozent der geschiedenen Männer und 72 Prozent der geschiedenen Frauen heiraten jedoch wieder: „Die intellektuelle Ehe ist in die serielle Monogamie übergegangen. Hier zeigt sich erst der wahre Charakter der modernen Ehe: Sie ist wesentlich Experiment, und Experimente sind abschließbar und wiederholbar.“ Die moderne Ehe ist damit wohl ein lebbareres Modell als der ehrgeizige intellektuelle Versuch des „Geschwisterpaars“ Sartre und de Beauvoir. NICOLE STREITLER

Hannelore Schlaffer: Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar. Hanser, 224 S., € 19,50


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Pfauenfedern oder vom Nutzen der Schönheit Biologie: Josef H. Reichholf erklärt, warum Schönheit nicht nur im Auge des Betrachters liegt

on nichts wimmelt unsere Zeit so V sehr“, merkte Jean Paul 1804 in seiner „Vorschule der Ästhetik“ sarkastisch an, „wie von Ästhetikern.“ Das mag vielleicht damals für den Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften gegolten haben, aber die sachorientierten Naturwissenschaftler hüteten sich lange Zeit, an einem scheinbar nur von subjektiver Betrachtung und Bewertung geprägten Thema anzustreifen. Der deutsche Zoologe Ernst Haeckel gab zwar Ende des 19. Jahrhunderts einen Bildband mit dem scheinbar widersprüchlichen Titel „Kunstformen der Natur“ heraus, doch dieses hatte mehr Einfluss auf die Künstler des Jugendstils als auf die Naturforscher dieser Epoche. Erst in den 1980er-Jahren begann sich die humanorientierte Verhaltensforschung mit dem Phänomen der Schönheit von Menschen und den Mechanismen der Attraktivität zu beschäftigen, und auch die Biologie widmete sich dem seit Darwin bekannten Problem der für das reine Überleben eigentlich sinnlosen Prachtkleider, Balzrituale und Pfauenfedern. Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf befasst sich in seinem Buch „Vom Ursprung der Schönheit“ mit der Frage nach den ökologischen Grundlagen von Schönheit und bringt so Licht in „Darwins größtes Dilemma“, wie der Untertitel lautet. Denn obwohl Darwin auf seinen Reisen immer wieder über die Gründe für das Überleben scheinbar nutzlosen tierischen Schmucks – wie zum Beispiel bunte Fellzeichnungen oder ornamentale Federn – nachgedacht hatte, postulierte er in seinem epochalen Werk „Die Entstehung der Arten“ (1859), dass die natürliche Auslese jedes Merkmal zu einem bestimmten Zweck gestalte. Nur welchen Sinn machten dann die hinderlichen, auffälligen Federn eines Pfaus, den Darwin in seinem Garten täglich sehen konnte? Einmal gestand er deswegen seinem Sohn Francis: „Schon vom bloßen Anblick der Schwanzfedern eines Pfauen wird mir übel!“ Erst zwölf Jahre später veröffentlichte er sein zweites zentrales Werk, „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“, in dem er seine Idee einer weiteren Auslese durch sexuelle Selektion vorstellte. Während die These der „natürlichen Se-

lektion“ nur die Fitness eines Lebewesens berücksichtigt, in einer bestimmten Umwelt zu bestehen, bedeutet sexuelle Selektion, dass Weibchen sich ihre Sexualpartner nach bestimmten äußerlichen Merkmalen aktiv aussuchen. Eine unerhörte Theorie für die viktorianische Epoche – und eine völlige Umkehr der bisherigen Sichtweise auf die Geschlechterrollen, nach der ausschließlich der Mann die Wahl hatte und auch tatsächlich traf. Mit ihr ließen sich nun auch die zwar schönen, aber „unnützen“ Pfauenfedern erklären: Bei manchen Arten legen die Weibchen auf äußere Merkmale wert, die in keinem direkten Zusammenhang zur Fähigkeit der

Männchen stehen, überlebens- und fortpflanzungsfähige Nachkommen zu zeugen oder sich erfolgreich an der Aufzucht der Jungen zu beteiligen. Schlüsselreize wie z.B. auffällige Farben, Balzrufe oder energieaufwendige Verhaltensweisen der Männchen signalisieren einen „Luxus“, den sich nur besonders fitte Individuen leisten können. Ein Pfau, der trotz seiner hinderlichen, langen Schwanzfedern überlebt und nicht vorzeitig von Raubtieren gefressen wird, muss über vererbenswerte Eigenschaften verfügen und wird deswegen von den Weibchen ausgewählt. Schönheit – so Reichholfs Zugang – ist keine Einbildung des Menschen, weil die Augen anderer Lebewesen offenbar grundsätzlich ähnlich wie wir Schönheit als Ausdruck eines langen evolutionären Prozesses wahrnehmen. Dies alles führt der Autor dem Leser anhand vieler Beispiele gut lesbar und immer spannend vor Augen. Ausführlich widmet er sich auch dem Thema Schönheit in der Menschenwelt und einem Phänomen, das eng mit dem Aussehen verbunden ist: dem Rassismus. Warum wird ein oft nur geringfügiges Anderssein in Haut- und Haarfarbe oder Gesichtsform als hässlich empfunden? Die Ablehnung des „Andersartigen“

scheint auch eine tiefe Verwurzelung in der fernen Vergangenheit des Menschen zu haben, in der man bestimme äußere Merkmale der Mitglieder einer Gruppe durch sogenannte Vorzugspaarungen erhalten und betonen wollte. Bei einer Partnerwahl nach dem Grundsatz, „gleich und gleich gesellt sich gern“, entwickeln sich bei den Nachkommen über Generationen bestimmte Hautfarben, Kinnformen und Körpergrößen. Ob dies langfristig aber Vor- oder Nachteile hat, wird erst in extremen Situationen wie einer Hungersnot, einem Klimawandel oder Krankheitsepidemien entschieden. Spätestens dann erweist sich weniger das allzu Uniforme einer Gesellschaft als „schön“, sondern eher deren Diversität und genetische Vielfalt. Auch Krankheiten und Parasiten wir-

ken, wie Reichholf darlegt, „als stärkste Triebkräfte der Evolution gleichsam wie bildende Hände am Kunstwerk eines lebendigen Organismus“. Und sind mit ein Grund dafür, dass wir Menschen nicht nur nach uniformer Schönheit suchen, sondern immer wieder auch nach der Abweichung vom „Ideal“. Ein Buch, das man auch der Generation „Topmodel und Superstar“ auf den Schminktisch legen sollte. PE TER IWANIE WICZ

Josef H. Reichholf: Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma. C.H. Beck, 302 S., € 20,60

ILLUSTR ATION: SIMON VITH

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Ruhm, Regenwürmer, Rosinen und der Heilige Gral Naturkunde: Fredrik Sjöbergs hinreißende Hommage an den verschrobenen Sammler und Zoologen Gustaf Eisen ann man mit Regenwürmern, RosiK nen, Glasperlen und Kompostwürmern bezaubern? Fredrik Sjöberg kann. „Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen“ handelt sein neues Buch mit dem Titel „Der Rosinenkönig“. Der schwedische Schriftsteller, Jahrgang 1958, hat sich bereits 2008 mit seinem nicht minder hinreißenden Werk „Die Fliegenfalle“ als Autor empfohlen, der scheinbar abseits liegende Themen aufgrund eines tänzerisch-eleganten, kauzigen und schwebfliegenleichten Stils plötzlich als von brennendem Interesse erscheinen lassen kann – einfach, weil man nicht mehr aufhören kann zu lesen. Ging es in der „Fliegenfalle“ um das Lebensglück, das Sjöberg selbst in seiner Passion für das Sammeln von Schwebfliegen fand, hat er diesmal in der Person des schwedischen Zoologen Gustaf Eisen (1847–1940) ein vergessenes Multitalent der Sammelleidenschaft ausgegraben, an dessen Fersen er sich mit gelassener Hartnäckigkeit heftet. „Einsam, fleißig und ausgestattet mit einem Vermögen zum Verschleudern“ stürmt dieser Gustaf Eisen durch ein prall angefülltes Leben, dessen rudimentären Hinterlassenschaften Fredrik Sjöberg jahrelang nachgeforscht hat. Was er gefunden hat, ist mehr als erstaunlich. Das ist das eine. Das andere ist seine Art, darüber zu schreiben. Denn von Eisens Porträt aus mäandert Sjö-

berg weit hinein in die Welt der Sonderlinge und Verschrobenen, die in aller Seelenruhe herrlich abseitigen Leidenschaften nachgehen – wie Sjöberg selbst, der in diesem Buch erneut mit seiner Schwebfliegensammlung in Erscheinung tritt. Letztere wurde übrigens inzwischen zur Kunst geadelt – fand sie doch Eingang in die Biennale 2009 in Venedig, wo sie als Teil des schwedischen Pavillons über das Sammeln zu sehen war. Die Laufbahn seiner Fliegen, „der ganzen Rasselbande“, als Kunst verfolgt Sjöberg mit erstaunter Ironie, im Widerstreit Natur versus Kunst bekennt sich Sjöberg, der Feldforscher und Naturbeobachter, der mit einem Exhaustor genannten Gerät zum Zwecke der Schwebfliegenjagd blühende Büsche belauert, schlussendlich zu seiner Neigung zur Schönheit. Und schön ist auch der Schatz, den er mit Gustaf Eisens Leben gehoben hat. Schon in jungen Jahren schreibt Eisen ein Standardwerk über Regenwürmer, wendet sich dann – nach Kalifornien ausgewandert – der Landwirtschaft, Spezialgebiet Rosinen, zu, worüber er wieder ein allumfassendes Handbuch verfasst, dem nur kurz danach eines über Feigen folgt. Dazwischen trägt er im Auftrag einer amerikanischen Millionärin Maya-Textilien aus Guatemala zusammen, die bis heute vollständigste Sammlung ihrer Art, schwingt sich auf zum Mammutbaum-Schützer und Begründer des Sequoia National Park, des

zweitältesten Nationalparks der USA nach Yosemite, bildet sich danach zum fundierten Glasperlenexperten weiter, eine Passion, über die er erneut ein Werk mitsamt 40.000 selbst angefertigten Aquarellen vorlegt, um schließlich, mit über 80, einer letzten Obsession zu verfallen, aus der eines der größten und schwersten Bücher überhaupt hervorgeht – ein Werk über einen Kelch, den er für den Heiligen Gral hält.

Fredrik Sjöberg: Der Rosinenkönig oder Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen. Galiani Berlin, 237 S., € 19,50

Daneben pflegt er eine Freundschaft mit August Strindberg, korrespondiert mit Charles Darwin über Regenwürmer und engagiert sich in Helena Blavatskys okkultistischer Bewegung. Am Ende publiziert er noch ein akribisch recherchiertes dreibändiges Werk über Porträts von George Washington. „Sinnlos, natürlich. Aber sagen Sie mir, was ist das nicht?“, fragt sein Wiederentdecker Fredrik Sjöberg in unvergleichlich liebevoller Ironie, denn genau darum geht es ja. Um das Sammeln als weitgehend richtungslose Beschäftigung, die Ehrgeiz, Genauigkeit und Leidenschaft verlangt, aber nicht unbedingt den Sinn für materielle Umsetzbarkeit. Ruhm, ja, Ruhm ist ein Kriterium – vor allem aber das selbstbestimmte Ausleben von Leidenschaften. Kaum einer, der das je so entzückend beschrieben und selbst unter Beweis gestellt hat wie Fredrik Sjöberg in seinem „Rosinenkönig“. JULIA KOSPACH

Warum aus Angela Merkel keine Michelle Obama wird Mode: Die Modeblog-Gründerinnen von Les Mads liefern mit ihrem ersten Buch ein Modeeinmaleins für Teenager, mehr nicht Knolle und Jessica Weiss sind AnJ ulia fang 20 und ihr Studium langweilt sie.

Zu allem Überdruss hat auch der Rest ihres Lebens wenig Glamour zu bieten. Deswegen beschließen die beiden Kölner Studentinnen, einen Modeblog ins Leben zu rufen: Les Mads – eine Abkürzung von Les Mademoiselles. Das war im Frühling 2007. Damals wollten die Bloggerinnen persönliche Eindrücke aus der Welt der Mode mit Stilbegeisterten teilen. Sie posteten Links und Shoppingtipps und führten täglich die eigenen Outfits vor. Zu den ersten Leserinnen gehörten ihre Mütter. Heute, kaum vier Jahre später und mit 650.000

Leserinnen und Lesern pro Monat, ist Les Mads der berühmteste deutschsprachige Modeblog, mit dem Burda Verlag als Geldgeber im Rücken. Bei der Medienpreisverleihung Lead Awards 2010 heimsten die Bloggerinnen eine Goldmedaille ein. Nach solchen Erfolgen war es nur noch eine Frage der Zeit, sich raus aus dem Netz zu wagen und Les Mads ganz „old-fa-

shioned“ auf Papier erscheinen zu lassen. Am 8. Jänner ist „Modestrecke: Unterwegs mit Les Mads“ auf den Buchmarkt gekommen und binnen eines Monats bereits in die 5. Auflage gegangen. Das Buch ist keine bloße Reproduktion des Blogs, sondern besteht aus Anekdoten und Betrachtungen über Modeikonen, denen Knolle und Weiss im Zuge ihrer Blogarbeit begegnet sind, ihre Weltreisen in Sachen Mode sowie ihre Fashion-WeekPlätze in den vorderen Reihen. Es geht um Klassiker wie das weiße T-Shirt, ohne das Julia Knolle selten das Haus verlässt, oder auch um die Liebe zur Punktestrumpfhose von Jessica Weiss. Illustriert werden die Geschichten von Silke Werzinger, die ansonsten für Die Zeit, Nylon oder Neon arbeitet. Ihre Zeichnungen geben dem Buch noch zusätzlich eine jugendliche Note. Seine Stärke sind die leichtfüßig geschriebenen Geschichten, die sich bestens in der U-Bahn konsumieren lassen. Neue modische Erkenntnisse darf man sich von

dieser Lektüre aber nicht erwarten. Der Burda Verlag kündigte das Taschenbuch als „Bildungsroman der Mode“ an. Das mag höchstens für 13- bis 18-Jährige stimmen, die unbedingt erfahren wollen, „Was man beim ersten Date anzieht“ oder „Wie man modisch durch den Winter kommt“.

Julia Knolle, Jessica Weiss: Modestrecke: Unterwegs mit Les Mads. bvt, 222 S., € 10,30

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen.

Auch die ständige Verbeugung vor der britischen TV-Moderatorin Alexa Chung nervt. „Warum aus Angela Merkel nie eine Michelle Obama wird“, liegt auf der Hand, und „Wieso man in Stilfragen besser nicht auf seinen Freund hört“, wissen wahrscheinlich die meisten aus eigener Erfahrung. Im Vintage-Kapitel unterläuft den beiden sogar ein Fehler, der in Zeiten von Google & Co nicht passieren dürfte. Julia Roberts hat bei ihrem Oscar-Gewinn 2001 kein Vintage-Kleid von Valentino von 1982 getragen, sondern von 1992 – was noch nicht als Vintage zählt. Übrigens hat Julia Knolle, die im Buch die amüsanteren Geschichten schreibt, Les Mads bereits verlassen. NATHALIE GROSSSCHÄDL


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Pflanzenlust oder Kochen für die Moral Kochen: Das Frühjahrsangebot an Kochbüchern zeigt nur einen Haupttrend: lustvoll vegetarisch er Trend ist sonnenklar, selten war er so klar wie dieses Jahr: vegetarisch, gesund, vernünftig. Es mischen sich die Motive. Moralische plädieren gegen Tierquälerei und Raubbau an der Natur, aber auch die Sorge um sich selbst lässt viele zu gesunder Nahrung greifen. All das ließ sich an den jüngsten Erfolgsbüchern von Jonathan Safran Foer „Tiere essen“ (2010) und Karen Duve „Anständig essen“ (2011) ablesen – und ebenso am aktuellen Kochbuchangebot. Nicht erst seit heuer bemüht sich im niederösterreichischen Schiltern die (Schau-) Gärtnerei Arche Noah um die Erhaltung seltener Gartenpflanzen; die jährlichen Pflanzentauschbörsen sind zum Volksfest und zum Treffpunkt von Zehntausenden geworden. Wer wissen will, was er mit, sagen wir, der Roten Melde, dem Eiskraut oder dem Knollenziest anfangen soll, dem kommt „Das Arche-Noah-Kochbuch“ mit unprätentiösen Rezepten von Johann Reisinger und schönen Fotos von Stefan Liewehr gerade recht: Es enthält nicht nur Rezepte, sondern auch Informationen über Pflanzen und Gemüse. Strenger und gründlicher nimmt sich das Buch „Obst & Gemüse als Medizin“ aus; neben einem umfangreichen Grundsatzteil erfährt man bei jedem der über 200 Rezepte Genaues über Wirkung und Inhaltsstoffe des Nahrungsmittels. Nachtblinde sollten zum Beispiel Heidelbeeren essen, des Beta-Karotins, des Vitamin C und vor allem des Myrtillins wegen, das für Elastizität der Blutgefäße in Augen und Gehirn sorgt. Pure Freude bereiten die Rezepte des endlich auf Deutsch erschienenen YotamOttolenghi-Kochbuchs „Genussvoll vegetarisch“. Der aus Israel stammende Guardian-Kochautor unterhält in London ein erfolgreiches Restaurant, seine Rezepte sind alle vegetarisch und kulinarisch, obwohl er, wie er betont, selbst kein Vegetarier ist. Wunderbar ausgestattet mit einem weichen Einband, auch für Kocheinsteiger geeignet. Freude kommt immer auf, wenn Manfred Buchinger ein neues Kochbuch vorlegt, selbst wenn dieses den etwas aufdringlichen Titel „So schmeckt die Freude“ trägt. Gemeinsam mit Sonnentor-Gründer Johannes Gutmann trägt der Weinviertler Buchinger (er kocht im Gasthaus Alte Schule bei Wolkersdorf) seine Ideen zum Essen vor (regional, saisonal, gesund); ohne solche Prinzipien geht es an keinem anständigen Herd mehr. Die Rezepte sind fein, die Fotos (Miguel Dieterich) passend.

D

Manfred Buchinger, Johannes Gutmann: So schmeckt die Freude. Residenz, 238 S., € 29,90

Miki Duerinck, Kristin Leybart: Donnerstag ist Veggietag. Südwest, 176 S., € 13,40

„Donnerstag ist Veggietag“ – das bezieht sich

auf die Forderung von prominenten Vegetariern, einmal in der Woche fleischfrei zu essen. Das ist wahrlich nicht zu viel verlangt, umgekehrt wäre es vernünftiger: einmal in der Woche mit Fleisch. Herausgeber des Buchs ist der Deutsche Vegetarierbund, erfreulicherweise hält er die Ideologie knapp und die Rezepte brauchbar. Wer in seiner Küche ein sichtbares Zeichen setzen möchte, dass sich auch hier der Trend wendet, kann die ebenso dekorativen wie informativen Poster von Christian Teubner (Gräfe & Unzer, 15 Euro pro Stück) an die Wand hängen. „Exotengemüse“ oder „Küchenkräuter“ erfreuen das Auge von Köchin, Koch und Gast und stimmen sie auf Kommendes ein. Ob Portulak oder Zitronenverbene – es ist fast alles drauf. „Kochen mit Tee“ erfüllt zwar nicht die strengen Anforderungen des Vegetarismus, bringt aber eine originelle Idee. Mit Tee meinen Tanja und Harry Bischof (Foodstylistin und Foodfotograf) nicht nur das Getränk, sondern den Sud im weiteren Sinn. Das in Kamillenfond geschmorte Kalbsbäckchen oder eine Bouillabaisse mit Anis sind also in diesem Buch durchaus am Platz. Eine schöne Idee, gestalterisch an die schlanken Bände des Christian Verlags angelehnt. Brotbacken gehört im weiteren Rahmen ebenfalls zu unserem Thema. Dorling Kindersley hat „Brot backen“ von Eric Teuille und Ursula Ferrigno wiederaufgelegt; ein Standardwerk für den Hausgebrauch. Einziger und bei einem so gründlichen Buch bedauerlicher Nachteil: Die Mahlgrade (Typen) der benötigten Mehle werden nicht angegeben. Asia-Food-Bücher dürfen im Angebot nie fehlen. Diesmal zwei, sie fallen recht unterschiedlich aus. Der von indonesischchinesischen Eltern stammende Londoner Medienkoch Terry Tan legt in seiner „Asia Kochschule“ hauptsächlich Wert auf die verschiedenen Geräte, die man in asiatischen Küchen verwendet. Eindrucksvoll, was es alles gibt: chinesische Hackbeile, Fächer aus Pandanblättern oder Schaumlöffel aus Kokosholz. Sehr instruktiv. „Asia Food“ von Neil Perry, einem bekannten australischen TV-Koch, legt mehr Wert auf die verwendeten Zutaten und bietet ganze Menüvorschläge. Das Harmoniegerede Perrys wird erträglicher durch die rundum schöne Ausstattung des Buchs, beginnend beim weichen Umschlag im harten Schuber und endend bei der exquisiten

Harry und Tanja Bischof: Köstlich kochen mit Tee, Systemed, 127 S., € 19,50

Eric Treuille, Ursula Ferrigno: Brot backen. Dorling Kindersley, 168 S., € 20,60

Johann Reisinger: Das Arche Noah Kochbuch der geretteten Obst- und Gemüsesorten. Brandstätter, 208 S., € 34,95

Klaus Oberbeil: Obst & Gemüse als Medizin. Südwest, 304 S., € 25,70

Yotam Ottolenghi: Genussvoll vegetarisch. Dorling Kindersley, 287 S., € 25,70

Terry Tan: Asia Kochschule. Dorling Kindersley, 288 S., € 20,60

Illustration. Ursprünglich ist das Buch bei Murdoch erschienen, aber der kann ja auch mal was Ordentliches zusammenbringen. So was wie das „Krone-Kochbuch“ muss es auch geben. Kleinstformat, billig gebunden, bilderlos. Es versammelt die Rezepte der Leserinnen und Leser. So tickt Österreich, machen wir uns keinen vegetarischen Mehrheitstrend vor: 200 Seiten Fleisch, 30 Seiten Fisch, 30 Seiten Gemüse, 90 Seiten Aufläufe, Nudelgerichte und Desserts. Positiv: Pándi kommt drin nicht vor. Aufs Erste käme man nicht auf die Idee, die „So geht das“-Bücher des Moewig Verlags mit Kochen zu verbinden. Mit kleinen Piktogrammen und Illustrationen werden alle möglichen und unmöglichen Dinge erklärt (indianische Perlenmuster sticken, den Arm um mein Date legen, eine Vogelspinne füttern, einen Hai vertreiben und so weiter). Siehe da, es gibt auch ein Kapitel „Kochen und Backen“. Mit durchweg nützlichen Tipps: eine Mango würfeln, Messer schleifen und polieren, ein Kuchengitter flechten. Lustig. Von gewohnter Gründlichkeit ist das „Teubner-Handbuch Fisch & Meeresfrüchte“.

Im Grundsatzteil erleichtern Schritt-fürSchritt-Fotos („einen Fisch durch den Rücken ausnehmen“) dem Laien das Leben. Allein dem Hummer sind vier Doppelseiten gewidmet. Dazu gibt es Informationen zu mehr als 150 essbaren Fischen und Meeresfrüchten und ebenso viele Rezepte. Sehr brauchbar. Gerd W. Sievers lebt im Friaul und legt nach seinem kenntnisreichen VenedigFührer nun ein ebensolches Triest-Buch vor: „Triest genießen“. Sievers ist nicht oberflächlich, er lässt sich auf die Stadt ein, erforscht sie essend und trinkend und lässt uns daran teilhaben, nicht zuletzt durch seine wohlrecherchierten Restauranttipps macht er uns gleich Appetit auf einen Besuch. Auch die Fotos stammen von ihm; nicht immer machen sie so glücklich wie die Texte. Die in London lebende Exilbulgarin Silvena Rowe nimmt sich in „Kulinarisches Osteuropa“ gleich den ganzen Osten Europas vor, Russland inklusive. Mit schönen Fotos, ausreichend Lyrik und überhaupt schön ausgestattet. Die Rezepte sind zum Teil hierorts bekannt, zum Teil durchaus anregend (baltisch gefüllte Erdäpfel zum Beispiel). Ach Gott, schon wieder fleischlos! Aber keine Angst, im Osten wird noch gegrillt und gesotten.

Das TeubnerHandbuch Fisch & Meeresfrüchte. Gräfe & Unzer, 416 S., € 25,70

AR MIN THURNHER

Gerd W. Sievers: Triest genießen. Brandstätter, 160 S., € 19,90

Silvena Rowe: Kulinarisches Osteuropa. Collection Rolf Heyne, 192 S., € 30,80


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