Programmheft »Dialogues des Carmélites«

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DIALOGUES DES CARMÉLITES Francis Poulenc


INHALT

Über dieses Programmbuch 4 Die Handlung 6 Synopsis in English

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Die Geschichte meiner Oper → Francis Poulenc

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»Angst ist in dieser Welt« → Magdalena Fuchsberger im Gespräch mit Nikolaus Stenitzer

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Der Dramatik entgegenreifen → Bertrand de Billy 34 Vom Berg Karmel zur Inneren Burg → Thomas Macho

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Mönch und Strolch → Uwe Schweikert

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Zu Georges Bernanos’ »Die begnadete Angst« → Gertrud von le Fort

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Die Letzte am Schafott → Gertrud von le Fort

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Videostills von Aron Kitzig

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Zwischentöne → Thomas Hellmuth

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Aus der »Ursprünglichen Konstitution« für die Unbeschuhten Karmelitinnen → Teresa von Ávila

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Mein Tod gehört nicht mir → Simone de Beauvoir

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Aus »Die Wohnungen der Inneren Burg« → Teresa von Ávila

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»Dramatisches Leben, das von innen her kommt« → Oliver Láng

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Darauf kam Jesus mit den Jüngern zu einem Grundstück, das man Getsemani nennt, und sagte zu ihnen: Setzt euch und wartet hier, während ich dort bete. Und er nahm Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus mit sich. Da ergriff ihn Angst und Traurigkeit, und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir! Und er ging ein Stück weiter, warf sich zu Boden und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.

Matthäus 26, 36-39


DIALOGUES DES CARMÉLITES → Oper in drei Akten (zwölf Bildern) Musik & Text Francis Poulenc

Libretto nach dem Drama von Georges Bernanos, für die Oper verwendet mit Genehmigung von Emmet Lavery, angeregt durch eine Novelle von Gertrud von le Fort und ein Szenarium von Pater Raymond Bruckberger und Philippe Agostini Orchesterbesetzung Piccolo, 2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott), 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Basstuba, Pauken, Schlagwerk (kleine Trommel, große Trommel, Schellentamburin, Triangel, Becken, Tamtam, Glockenspiel, Crotales, Xylophon, Holzblock, Peitsche, Schellen, Glocken), Celesta, Klavier, 2 Harfen, Streicher Bühnenmusik Glocken, Guillotine Spieldauer 3 Stunden inklusive einer Pause Autograph Bibliotheque de l’Opéra Paris Uraufführung der italienischen Fassung 26. Jänner 1957, Teatro alla Scala, Mailand Uraufführung der französischen Originalfassung 1. Juni 1957, Théâtre National de l’Opéra, Paris Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 14. Februar 1959 (in deutscher Sprache) Erstaufführung der französischen Fassung an der Wiener Staatsoper 21. Mai 2023




ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

»Blanche, c’est moi«, schrieb Francis Poulenc über die Hauptfigur seiner einzigen abendfüllenden Oper Dialogues des Carmélites. »Blanche, das bin ich.« Der Komponist entlehnt hier das Bonmot eines anderen großen französischen Künstlers – »Madame Bovary, c’est moi«, soll Gustave Flaubert über seine Romanfigur gesagt haben –, um zum Ausdruck zu bringen, was ihn an dem Stoff am meisten beschäftigt und bewegt hat: Die Geschichte der fiktiven Blanche de La Force und ihres religiös gewendeten und geführten Kampfes gegen die Todesangst. Die Rahmenhandlung der Oper ist historisch belegt: Am 17. Juli 1794 wurden 16 Nonnen des Karmelitinnenordens von Compiègne nahe Paris auf der Guillotine hingerichtet. Die Anklage lautete – den geltenden Gesetzen gemäß – auf religiöse Konspiration. Die Auseinandersetzungen aber, die Dialogues, die Gespräche also, die das Fundament der Handlung und der Oper bilden, sind sämtlich fiktiv. Die Fragen, die in ihnen verhandelt werden, stellte sich die deutsche Autorin Gertrud von le Fort in ihrer Novelle Die Letzte am Schafott (1931, Auszug ab S. 69), die Georges Bernanos als Vorlage für sein Theaterstück Dialogues des Carmélites diente, nach dem wiederum Francis Poulenc ↑ sein Libretto verfasste. In diesen Texten ist Angst eine Frage für Theologie Vorherige und Philosophie, die in ihrer christlichen Ausprägung die Nähe die Todes- Seiten: Maria Nazarova als Sœur angst zu Christus im Garten Gethsemani verhandelt. Über ihre Inszenierung sagt die Regisseurin Magdalena Fuchsberger: Constance, Monika Bohinec »Angst ist in dieser Welt« (S. 22). Die Regisseurin inszeniert einen Ausnahme- als Mère Jeanne, Neuhaus zustand, der aus der »Inneren Burg« in die Radikalisierung führt. Bertrand de Alma als Sœur Billy, Dirigent der Premierenserie und intimer Poulenc-Kenner, beschreibt in Mathilde, seinem Beitrag (S. 34) Poulencs Komposition dieses Ausnahmezustandes und Maria Motolygina sein persönliches Verhältnis zu Dialogues des Carmélites. Weitere Ausführun- als Madame gen zu den Eigenarten von Poulencs Musik finden sich in Uwe Schweikerts Lidoine, ChorkarmeEssay Mönch und Strolch (ab S. 50), der den »janusköpfigen« Komponisten litinnen* ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH

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ausführlich Francis Poulenc vorstellt. an DerPierre BegriffBernac, der »Inneren 22. August Burg« wiederum, 1953 der in der Neuproduktion auch als Inspiration für Monika Bieglers Bühnenbild diente, geht auf einen der Grundlagentexte der Unbeschuhten Karmelitinnen zurück: Teresa von Ávilas Wohnungen der Inneren Burg (Auszug ab S. 102). In seinem Essay (S. 39) begibt sich der Kulturwissenschaftler Thomas Macho auf die Spur der Ursprünge des Ordens, diskutiert verschiedene Konzepte von Angst und schlägt den Bogen zu einem der irritierendsten Themen in Dialogues des Carmélites: dem Martyrium. Der historische Hintergrund ist in der Oper durch bedrohliche, teils karikaturhafte Darstellungen des als Grande Terreur bekannt gewordenen Regimes in Frankreich (1792–1794) geprägt. Für das Programmbuch hat sich der Historiker Thomas Hellmuth mit der Entwicklung des Verhältnisses von Kirche und Französischer Revolution auseinandergesetzt (ab S. 82). Während sich die besondere Sicht auf den historischen Kontext in der Neuproduktion vor allem in den Kostümen von Valentin Köhler spiegelt, fügen die Videoarbeiten von Aron Kitzig eine irritierende Ebene scheinbar bekannter, dabei künstlicher generierter und sich ständig transformierender Bildwelten hinzu. Eine Auswahl aus den Motiven findet sich ab S. 74. Die Premiere der Neuproduktion ist zugleich die Erstaufführung an der Wiener Staatsoper. In deutscher Sprache wurde das Werk in der Uraufführungsinszenierung von Margarete Wallmann zwischen 1959 und 1964 20 Mal gespielt. Oliver Láng hat für seinen Beitrag (S. 110) Reaktionen in der Presse rund um die Erstaufführung gesammelt. Die Todesangst bezeichnet Magdalena Fuchsberger als »menschliches Urthema«. Die Psalmen, die dieses Programmbuch als roter Faden durchziehen, enthalten Hilferufe, Anklagen, Äußerungen von Hoffnung und Verzweiflung, die sich alle in der einen oder anderen Weise an dieses »Urthema« anschließen. Der Auszug aus Simone de Beauvoirs Roman Les Mandarins (1954, S. 93) blickt aus einer anderen, einer existenzialistischen Perspektive auf den Tod, und endet dort, wo Blanche de la Forces Probleme beginnen: im Leben.

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ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH


DIE HANDLUNG

1. Akt 1. Szene Die Bibliothek des Marquis de la Force, Paris, April 1789 Der junge Chevalier de la Force erkundigt sich besorgt nach seiner Schwester Blanche. Ein Freund der Familie hat beobachtet, wie ihre Kutsche von einer aufgebrachten Menschenmenge umlagert wurde. Der Marquis de la Force, Vater des Chevalier und Blanches, erschrickt aufgrund der Parallelen zu den Umständen, unter denen seine Frau starb. Der Chevalier erklärt, er fürchte nicht um Blanches Sicherheit, sondern um den seelischen Zustand der notorisch ängstlichen Schwester. Kurz darauf überrascht Blanche den Vater mit der Mitteilung, in den Karmelitinnenorden eintreten zu wollen. 2. Szene Sprechzimmer im Karmel von Compiègne, einige Wochen später Im Gespräch mit der Priorin des Karmel, Madame de Croissy, erklärt Blanche, ein »heroisches Leben« führen zu wollen. Die Priorin weist sie zurecht: Alleiniger Zweck des Karmel sei das Gebet. Blanche bleibt bei ihrem DIE H A N DLU NG

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Wunsch. Auf Nachfrage der Priorin nennt sie den Ordensnamen, den sie wählen möchte: Sœur Blanche de l’Agonie du Christ (Schwester Blanche von der Todesangst Christi). 3. Szene Die junge Novizin Sœur Constance verrät Blanche ihren Wunsch, jung zu sterben. Sie glaubt, dass dieses Schicksal sie und Blanche gleichermaßen treffen wird, und auch am selben Tag. 4. Szene Die Priorin liegt im Sterben. Sie nimmt ihrer Stellvertreterin, der Novizenmeisterin Mère Marie de l’Incarnation (Mutter Maria von der Menschwerdung), das Versprechen ab, Blanche in ihre Obhut zu nehmen. Die sterbende Priorin beginnt, mit Gott zu hadern. In einer Vision sieht sie die verwüstete Kapelle des Karmel. Kurz bevor sie stirbt, ruft die Priorin Blanche zu sich und flüstert ihr etwas zu.

2. Akt 1. Szene Blanche und Constance halten die Totenwache. Während Constance die Ablösung holt, bekommt Blanche Angst und verlässt ebenfalls die Kapelle. Sie wird von Mère Marie ertappt und in ihre Zelle geschickt. Erstes Zwischenspiel Blanche und Constance binden ein Kreuz aus Blumen und sinnieren über den schweren Tod der Priorin. Constance überlegt, ob die Priorin nicht einen »falschen« Tod gestorben sei: »Man stirbt nicht für sich allein, sondern die einen für die anderen, oder sogar die einen anstelle der anderen, wer weiß?« 2. Szene Madame Lidoine, die neue Priorin, hält eine bilderreiche Antrittsrede. Sie weist auf die kommenden Herausforderungen hin und warnt vor Hochmut und Eigensinn vor allem mit Blick auf das Martyrium, dessen Verlockung die Schwestern von ihrer eigentlichen Pflicht ablenken könnte, dem Gebet. Auf Aufforderung von Mère Marie beten die Schwestern gemeinsam das Ave Maria.

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Zweites Zwischenspiel Der Chevalier de la Force begehrt Einlass, um seine Schwester zu sehen, ehe er ins Ausland geht. Die neue Priorin ordnet an, dass Mère Marie dem Gespräch beiwohnt. 3. Szene Der Chevalier versucht, Blanche zum Verlassen des Klosters zu überreden. Da sich die Revolution gegen die Religion wendet, sei sie dort nicht sicher. Blanche verteidigt ihre Zugehörigkeit zum Karmel. Entfremdet gehen die Geschwister auseinander. 4. Szene Der Beichtvater des Karmel gibt den Karmelitinnen seine Amtsenthebung bekannt. Mère Marie versucht, eine Äußerung der Priorin als Aufforderung zum Martyrium zu deuten, was diese zurückweist. Nur Gott könne darüber entscheiden. Zwei Kommissare erscheinen und geben die bevorstehende Räumung des Klosters bekannt. Mère Jeanne erklärt, dass die Priorin nach Paris reisen müsse. Um Blanche über ihre Angst hinwegzuhelfen, gibt sie ihr den »Petit Roi«, die Figur des Christuskindes. Als draußen Lärm zu hören ist, lässt Blanche die Figur fallen. Der Kopf bricht ab. Verzweifelt erklärt Blanche, nach diesem »Tod des kleinen Königs« bleibe den Schwestern nur noch das Agnus Dei.

3. Akt 5. Szene In Abwesenheit der Priorin veranlasst Mère Marie eine Abstimmung darüber, ob die Karmelitinnen ein Gelübde über das Martyrium ablegen sollen. Der zurückgekehrte Beichtvater organisiert die geheime Abstimmung. Es gibt eine Gegenstimme. Die Karmelitinnen sehen Blanche an, doch Constance stellt klar, dass es ihre Stimme gewesen sei, die sie nun wieder zurückziehe. Die Schwestern drängen zum Altar, um das Gelübde abzulegen. Im Tumult verschwindet Blanche. Erstes Zwischenspiel Ein Beamter löst den Karmel offiziell auf und erklärt die Schwestern zu Bürgerinnen. Madame Lidoine will den geplanten Besuch des Priesters als zu gefährlich absagen. Während Mère Marie in Zweifel zieht, ob übermäßige Vorsicht dem Geist des Gelübdes angemessen sei, bekennt Madame Lidoine sich zur Verantwortung für die ihr anvertrauten Schwestern.

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10. Szene Die Bibliothek des Marquis de la Force Mère Marie besucht Blanche, die in ihr Vaterhaus in Paris zurückgekehrt ist, wo sie als Dienstmagd der neuen Eigentümer lebt. Mère Marie fordert Blanche auf, mit ihr zu kommen. Diese lehnt ab. Sie beklagt ihr Leben in Angst und Verachtung. Mère Marie gibt ihr eine Adresse, an der sie sie erwarten werde. Zweites Zwischenspiel (Sprechszene) Auf der Straße im Bastille-Viertel hört Blanche, dass die Karmelitinnen zum Tode verurteilt worden sind. Als man sie fragt, ob sie aus der Gegend von Compiègne komme, leugnet sie, den Ort auch nur zu kennen. 11. Szene Im Gefängnis Die Priorin spricht den Schwestern Mut zu. Sie übernimmt die Verantwortung für das Gelübde, obwohl es in ihrer Abwesenheit abgelegt wurde. Als die Rede auf Blanche kommt, versichert Constance, dass diese zurückkehren werde: Sie habe es im Traum gesehen. Der Kerkermeister verliest das Todesurteil. Drittes Zwischenspiel Der Beichtvater bringt Mère Marie die Nachricht vom Todesurteil. Sie will zu den Schwestern, doch er hält sie ab: Gott entscheide, wen er bewahre und wen nicht. Mère Marie ist verzweifelt über den Verlust ihrer Ehre. 12. Szene Die Schwestern steigen auf das Schafott, das Salve Regina singend. Mit jedem Fallen der Guillotine wird ihr Chor um eine Stimme schwächer. Blanche taucht in der Menge auf und wird von Constance erkannt. Blanche stimmt in den Gesang ein. Sie ist die Letzte am Schafott.

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SYNOPSIS

Act 1 Scene 1 April 1789, Paris, the library of the Marquis de la Force The young Chevalier de la Force is asking about his sister Blanche, worried. A friend of the family had seen her coach surrounded by an angry crowd. The Marquis de la Force, father of the Chevalier and Blanche, is horrified by the parallels with the circumstances in which his wife died. The Chevalier explains he isn’t worried about Blanche’s safety, but about the mental state of his notoriously fearful sister. Shortly after this, Blanche surprises her father by telling him she wants to enter the Carmelite convent in Compiègne. SY NOPSIS

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Scene 2 Parlour of the Carmelite convent in Compiègne, several weeks later. Blanche tells the Carmelite mother superior, Madame de Croissy, that she wants to lead a «heroic life«. The mother superior replies bluntly that the sole purpose of the convent was prayer. Blanche still wishes to enter the convent. Asked by the mother superior for her religious name, she replies Sister Blanche of the Agony of Christ. Scene 3 The young novice Sister Constance reveals Blanche her wish to die young. Now, she believes that both she and Blanche will suffer this fate, and on the same day. Scene 4 The mother superior is dying. She obtains a promise from her deputy, the novice mistress Mother Marie of the Incarnation, to take Blanche under her care. With increasing pain, the prioress begins to rail against God. She has a vision, the Carmelite chapel is destroyed. Shortly before she dies, the mother superior calls Blanche to her and whispers something to her.

Act 2 Scene 5 Blanche and Constance are keeping vigil over the body. When Constance goes for their relief, Blanche is afraid, and also leaves the chapel. She is caught by Mother Marie and sent to her cell. First interlude Blanche and Constance weave a cross from flowers and think about the difficult death of the mother superior. Constance wonders if the mother superior had died the »wrong« death, which she explains as, »You don’t die for yourself, but for someone else, or even instead of someone else, who knows?« Scene 6 The new mother superior, Madame Lidoine, gives a vivid sermon on her arrival. She describes the coming challenges, and warns against arrogance and obstinacy, particularly with regard to martyrdom. The temptation of this could divert the sisters from their real duty, which is prayer. On Mother Marie’s instruction the sister say the Hail Mary together.

INTERMISSION

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Second interlude The Chevalier de la Force asks to be admitted to see his sister before he leaves the country. The new mother superior orders Mother Marie to be present at the meeting. Scene 7 The Chevalier tries to persuade Blanche to leave the convent, arguing that the Revolution is turning against religion, so she will not be safe there. Blanche defends her place in the convent. Brother and sister part, estranged. Scene 8 The convent’s chaplain tells the Carmelites that he has been removed from office. Mother Marie tries to interpret a statement by the mother superior as a call to martyrdom, which the mother superior strictly rejects, saying that only God can choose martyrs. Two commissars appear and announce that the convent will be closed. Mother Jeanne of the Infant Jesus claims that the mother superior must go to Paris. To help Blanche overcome her fear, she gives her the »Infant King«, a figurine of the Infant Christ. There is noise outside, and Blanche drops the figure. The head breaks off. In despair, Blanche claims that after the »death« of the Infant King, all that is left to the sisters is the Agnus Dei (Lamb of God).

Act 3 Scene 9 In the mother superior’s absence Mother Marie takes a vote on whether the Carmelites should take a vow committing to martyrdom in the cause of the continuing existence of the Carmelite convent and the salvation of France. The chaplain, who has returned, organizes the secret vote. There is one vote against. The Carmelites look at Blanche, but Constance hurries to explain that it was her vote, and that she is withdrawing it. The sisters rush to the altar to make their vow. Blanche vanishes in the confusion. First interlude An official declares that the convent has been dissolved, and that the nuns are now normal citizens. Madame Lidoine wants to cancel the chaplain’s planned visit as it would put him and the nuns in danger. While Mother Marie questions whether an excess of caution is contrary to the spirit of the vow, Madame Lidoine counters this, noting her responsibility for the sisters entrusted to her care.

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Scene 10 The library of the Marquis de la Force Mother Marie visits Blanche, who has returned to her father’s house in Paris, where she lives as a maid to the new owners. Mother Marie asks Blanche to come with her. Blanche refuses, all that matters to her now is the safety she sought refuge in. She laments her life with fear and contempt. Mother Marie gives Blanche the address where she will expect her. Second interlude (dialogues) On the street in the Bastille district, Blanche hears that the Carmelites have been condemned to death. When they ask her if she comes from the Compiègne area, she denies knowing the place. Scene 11 In prison The mother superior encourages the sisters. She assumes responsibility for the vow, although it was decided in her absence, and she never made it. When Blanche is mentioned in connection with fear, Constance assures them that she will return. She has seen it in a dream. The gaoler reads the death sentence. Third interlude The chaplain brings Mother Marie the news of the death sentence. She wants to go to the sisters, but the chaplain restrains her, saying that God decides who He will preserve, and who not. Mother Marie is desperate at the loss of her honour. Scene 12 The sisters go to the scaffold singing the Salve Regina. The choir is reduced one by one every time the guillotine falls. Blanche appears in the crowd and is recognized by Constance. Blanche joins in the hymn. She is the last one to go to the scaffold.

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Ein Klagelied

Heiß wurde mir das Herz in der Brust, bei meinem Grübeln entbrannte ein Feuer; da musste ich reden: Herr, tu mir mein Ende kund und die Zahl meiner Tage! Lass mich erkennen, wie sehr ich vergänglich bin! Du machtest meine Tage nur eine Spanne lang, meine Lebenszeit ist vor dir wie ein Nichts. Ein Hauch nur ist jeder Mensch. Nur wie ein Schatten geht der Mensch einher, um ein Nichts macht er Lärm.

Psalm 39 (Auszug)


Francis Poulenc

DIE GESCHICHTE MEINER OPER

Sie verlangen von mir das Schwierigste, was es gibt: Ihren Lesern etwas über die Dialogues des Carmélites zu sagen. Bei derlei Unterfangen bedroht einen gleichermaßen Eigendünkel wie falsche Bescheidenheit. Mir scheint die einzige Art, dem zu entgegnen: dass ich ganz einfach die Geschichte dieser Oper erzähle. Gesang ist immer ein Höchstes für mich gewesen, und meine ersten großen Eindrücke verdanke ich Don Juan, Pelléas, Boris und Rigoletto. So ist es ganz natürlich, dass die Namen Debussy, Mussorgski, Verdi auf dem Widmungsblatt der Carmélites stehen. Wenn der Name Mozart dabei fehlt, so, weil man Gott-Vater nicht gut etwas widmen kann. FR A NCIS POU LENC

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Schon sehr jung wurde ich von meinen Eltern in die Opéra und in die Opéra Comique mitgenommen. Ich bin sozusagen aufgewachsen auf den Knien des Tenors Edmond Clément, und als ich zehn Jahre war, hatten Carmen, La Bohème, Manon kein Geheimnis mehr für mich. Seit ich zu komponieren anfing, war es mein Traum, eine Oper zu schreiben. Aber ach, immer erhob sich die furchtbare Textbuch-Frage! Und nun nehmen Sie hinzu, dass ich in literarischer Sicht toll verwöhnt bin. Wenn auf dem Gebiet der Melodie mich Eluard, Max Jacob, Aragon, Louise de Vilmorin, Apollinaire inspiriert haben, wenn ich dank dem Letztgenannten die Mamelles de Tirésias schreiben konnte, die ich so schwach bin besonders hoch zu schätzen, da war schon ein Glücksfall, ein seltsames Zusammentreffen vonnöten, damit ich das Libretto entdeckte, das mir seit Jahren vorgeschwebt hatte. Um 1953 herum sollte ich ein Ballett für die Mailänder Scala schreiben. Ich hatte von fern an einen halb profanen, halb geistlichen Stoff gedacht – St. Margareta von Cortona –, war aber nicht dazu gekommen, dem Plan Gestalt zu geben (ich habe die Handlung meiner Ballette immer selbst verfasst). So stand es mit mir, als ich, während einer Tournee mit dem Cellisten Pierre Fournier, im März 1953 auch nach Mailand kam. Ich setzte Herrn Valcarenghi, dem Direktor des Verlagshauses Ricordi, der das Ballett bei mir bestellt hatte, auseinander, wie wenig begeistert ich für das Projekt war. »Ach«, fügte ich beim gemütlichen Mittagessen hinzu, »warum verlangen Sie keine Oper von mir?« – »Wenn es daran liegt – dann bestelle ich sie gleich«, erwiderte mein Gastgeber. »Und das Textbuch?« – »Da Sie ja einen mystischen Stoff suchen, warum machen Sie nicht eine Oper aus den Dialogues des Carmélites von Bernanos?« Ich war verblüfft über diesen Vorschlag. Was würde man sagen zu einer Oper ohne Liebeshandlung? Weil ich aber stets auf den angeborenen Bühnensinn der Italiener vertraut habe, ließ ich diesen Einwand beiseite, verlangte jedoch Bedenkzeit … Oh, wie viel! Ich kannte selbstverständlich das Stück von Bernanos, hatte es gelesen, wieder gelesen und zweimal gesehen, aber ich hatte keinen Begriff von seinem Sprachrhythmus, einem für mich wesentlichen Punkt. Ich war entschlossen, die Sache später zu prüfen, wenn ich wieder in Paris wäre, als ich, am übernächsten Tag, mitten im Schaufenster eines Buchhändlers in Rom, die Dialogues entdeckte, die dort auf mich zu warten schienen. Ich hatte das Hotel schon früh verlassen, um von Kirche zu Kirche zu wandern, wie ich es gerne tue, wenn ich in Rom bin. Es war so schönes Wetter, dass ich nichts weiter im Sinn hatte, als den Zauber eines Frühlingsmorgens zu genießen, und da sah ich mich nun, wider Willen, abermals vor das große Abenteuer gestellt, das mir drei Jahre lang zu schaffen machen sollte. Ich kaufte das Buch und entschloss mich, es wieder zu lesen. Zu diesem Zweck ließ ich mich auf der Piazza Navona nieder, auf der Terrasse des Cafés 17

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der Tre scallini. Es war zehn Uhr morgens; um zwölf war ich immer noch dort. Um halb eins war ich begeisterungstrunken, doch noch stand die entscheidende Prüfung aus: Würde ich die Musik finden zu einem solchen Text? Ich schlug auf gut Glück das Buch auf und zwang mich, augenblicklich die ersten Sätze, die ich las, musikalisch zu übertragen. Das »gute Glück« ersparte mir nichts. Urteilen Sie selbst: La Prieure: N’allez pas croire que ce fauteuil soit. Un privilège de ma charge comme le tabouret des duchesses! Hélas, par charité pour mes chères filles qui en prennent si grand soin, je voudrais m’y sentir à mon aise mais il n’est pas facile de retrouver d’anciennes habitudes depuis trop longtemps perdues et je vois bien que ce qui devait être un agrément ne sera jamais plus pour moi qu’une humilitante nécessité. (Die Priorin: Glauben Sie nicht, dieser Lehnstuhl sei das Vorrecht meines Amtes wie die Fußschemel der Herzoginnen! Wie gern würde ich mich darin wohl fühlen, schon aus Liebe zu meinen teuren, mich treu umsorgenden Töchtern. Aber es ist schwer, sich in alte, längst verlorene Gewohnheiten wieder hineinzufinden, und ich sehe wohl: Was Annehmlichkeit sein sollte, vermag für mich nichts anderes mehr zu sein als demütigender Zwang.) So unglaublich es scheinen mag, ich fand unmittelbar den Melodiebogen für diese lange Reihe. Nun war’s entschieden. Um zwei Uhr telegrafierte ich Herrn Valcarenghi, diesem wahren Quellensprüher, dass ich die Dialogues schreiben würde. Mit der Einrichtung des Librettos schlug ich mich lange herum, dann, im Juli 1953, zwischen Paris und Brive, führte ich sie auf einen Hieb aus. Die Partitur, im August 1953 begonnen, wurde Ende Juni 1956 abgeschlossen. Viele waren von dieser Stoffwahl überrascht. Allerdings ist es weit von den Mamelles zu den Carmélites, aber der kennt mich schlecht, der sich über meine Zusammenarbeit mit Bernanos verwundert. Seine geistliche Anschauung ist genau die meine, und seine Heftigkeit entspricht vollkommen einem aufs Ganze gerichteten Zug in meinem Wesen – ob es sich nun um Vergnügen oder Askese handelt. Ich habe als Motto auf die erste Seite der Orchesterpartitur das flammende Wort der Heiligen Therese gesetzt: »Gott halte mich fern von den düsteren Heiligen.« Damit ist klar der Ton angegeben, den ich in dem Werk durchzuhalten suchte. Gefühle von schrecklich menschlicher Art: Furcht, Hochmut, liegen dieser tragischen und wahrhaften Geschichte zugrunde. Von diesem Ursprung her hat Bernanos den genialen Gedanken gehabt, zwischen der ersten Priorin und Blanche, der Heldin, jenen Austausch der Gnade herzustellen, jene Gemeinschaft der Heiligen, welche plötzlich die Handlung so hoch hinaufhebt. Die große technische Schwierigkeit bestand darin, die Einheit des Tons zu wahren und dabei nicht eintönig zu werden. Daher sind meine fünf großen weiblichen Rollen für jeweils klar umrissene Fächer geschrieben. Neben-

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einander stehen, wenn man will: Amneris, Desdemona, Kundry, Thaïs und Zerlina. Mit Ausnahme von Blanches Bruder, einem Mozart-Tenor, sind die Männerrollen nur episodisch, doch in sehr kräftigen Farben gehalten. Chöre kommen nur im letzten Bild vor (Hinrichtung der Karmelitinnen). Da Bernanos der Volksmenge keinen Text gegeben hat, habe ich die Chormasse auf ganz instrumentale Weise behandelt. Über dem ungeheuren Lärm erhebt sich das Salve Regina der Karmelitinnen, die aufs Schafott steigen. Dieses Salve ist original und nicht das liturgische Salve. Die Orchestrierung, durchaus normal, ist die einer Verdi-Oper. Fast kein Schlagzeug, keine Spezialinstrumente. Das wäre alles, was ich Ihnen zu sagen hätte. Beim Publikum liegt es nun, das Übrige herauszufinden.

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» ANGST IST IN DIESER WELT «

Magdalena Fuchsberger im Gespräch mit Nikolaus Stenitzer


Was fällt dir als erstes ein, wenn du an Angst denkst? Angst ist Gelähmt-Sein. Angst ist, wenn nichts mehr fließt. Es bedeutet, sich selbst im Weg zu stehen. Angst ist vielleicht eine der größten Blockaden, aber eben auch: Eine der größten Emotionen in der Welt.

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Dialogues des Carmélites ist ein Angst-Stück. Ideengeschichtlich hat Søren Kierkegaard eine Unterscheidung eingeführt, die uns heute vielleicht nicht mehr so geläufig ist: Furcht bezieht sich auf eine konkrete Bedrohung, während Angst allgemeiner ist: uneindeutiger, allumfassender, allgegenwärtiger. Dialogues des Carmélites verhandelt diese Angst an der Hauptfigur: Blanche de la Force, dem einzigen wirklich fiktiven Charakter in diesem Werk. Blanche repräsentiert diese größtmögliche Emotion. Ihre Größe besteht darin, dass hinter der Unbestimmtheit eben das Allumfassende steht: Die Angst vor dem Tod. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass die Angst vor dem Tod letztlich alles in der Welt antreibt. Was die Angst von Blanche betrifft, so ist sie uns allen irgendwo geläufig. Ich erinnere mich selbst an eine Phase in meiner Kindheit, nachdem mein Großvater gestorben ist. Ich hatte zwei oder drei Jahre lang Schlafstörungen, weil ich solche Angst vor dem Tod hatte: Angst vor dem Nicht-mehr-Sein. Das ich mir natürlich nicht vorstellen konnte, wie wir uns das alle nicht vorstellen können. Ich habe auf diese Weise wirkliche Existenznöte erlebt. Und ich denke, dass sehr viele Menschen solche Erfahrungen machen, was Dialogues des Carmélites letztlich unheimlich zugänglich macht.

MF

↑ Vorige Seiten: Eve-Maud Hubeaux als Mère Marie, Michaela Schuster als Madame de Croissy, Panajotis Pratsos als Javelinot, Maria Nazarova als Sœur Constance, Chorkarmelitinnen*, Statisterie der Wiener Staatsoper

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Das bringt uns zu den unterschiedlichen Perspektiven, die man auf das Werk haben kann. Dialogues des Carmélites hat mit Die Letzte am Schafott von Gertrud von le Fort und Georges Bernanos’ Theaterstück Dialogues des Carmélites zwei Vorlagen, die die Todesangst aus dezidiert christlicher Perspektive als die Angst vor der Begegnung mit Gott, mit dem Absoluten verstehen. Du hast gerade Angst aus existenzialistischer Perspektive beschrieben, Angst vor dem Nicht-Mehr-Sein. Denkst du bei Blanche auch an diese Art von Angst? Je mehr ich mich mit dem Stück beschäftigt habe und je mehr wir auch geprobt haben, umso mehr bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass Blanches Angst nichts Außergewöhnliches ist. Ich würde ihre Angst nicht pathologisieren oder sie als lebensunfähig zeichnen. Für mich ist aber auch entscheidend, dass jeder in diesem Stück Angst hat, und die Angst

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ist in jedem. Ich sage immer: Angst ist in dieser Welt. Wirklich jeder Charakter in diesem Stück agiert aus Angst. Die stärkere Sensibilität von Blanche, bedingt durch die Umstände ihrer Geburt, bei der die Mutter gestorben ist, und dann das Aufwachsen ohne Mutter – all das potenziert diese Angst. Im Stück wird die Angst aber auch instrumentalisiert, wird in verschiedene Richtungen überhöht. Einerseits soll sie soldatisch überwunden werden, andererseits wird sie von Figuren wie Madame de Croissy oder Madame Lidoine, der neuen Priorin, als das größte Gottesgeschenk stilisiert, als die Weise, Gott oder Christus am nächsten zu sein. Blanche wird auch zum Spielball der Interessen der beiden Kontrahentinnen Madame Lidoine und Mère Marie. Blanche beschreibt im Gespräch mit der alten Priorin Madame de Croissy auch einen eigenen Antrieb, in den Karmel zu gehen: Sie will ein »heroisches Leben« führen. Diesen Anspruch, den Blanche ja tatsächlich so formuliert, kann man in verschiedene Richtungen interpretieren. Wir sprechen ja alle immer sehr uneindeutig, auch wenn uns das häufig nicht bewusst ist. Wir dürfen in Bezug auf Blanche zunächst nicht vergessen, dass sie sehr jung ist. Sie ist ein Teenager. Ein heroisches Leben zu führen ist auch verwandt mit »Ich will Popstar werden«, »Ich will unsterblich werden«, mit einer gewissen jugendlichen Selbstüberschätzung …

MF

… die sich vielleicht auch auf etwas anderes hätte richten können? Vielleicht. Andererseits hat Blanche auch gelernt, das zu sagen, was man von ihr erwartet. Sie ist ein sehr anpassungsfähiger Mensch. Sie möchte nicht auffallen, sie möchte aber auch gefallen. Das ist ein gewisser Schutzmechanismus, und sie sagt darum im Aufnahmegespräch auch die Sätze, von denen sie denkt, dass die Priorin sie hören möchte. Madame de Croissy ist aber so klug und erkennt das, und sie versucht, diese Gefallsucht zu stören und zu unterbrechen.

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Die Figuren sind im Stück sehr deutlich charakterisiert, auch durch die Komposition Francis Poulencs. Hast du für deine Inszenierung in Text und Partitur für dich schon differenzierte Charaktere vorgefunden, oder hattest du auch manchmal das Gefühl, dass gewisse Figuren zu holzschnittartig gezeichnet sind und du gewissermaßen noch weitere Facetten aus ihnen herausholen möchtest? Für mich sind die Figuren schon von Poulenc differenziert angelegt. Ich habe mich sehr intensiv mit dem Stück und dem Stoff auseinandergesetzt und viel dazu gelesen, die Novelle von Gertrud von le Fort hat sehr

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geholfen, noch zusätzliche Facetten mitzunehmen. Dann spielen natürlich die eigenen Interpretationen eine große Rolle, aber ich empfinde die Figuren auch von Poulenc als vielschichtig und nicht als holzschnittartig gezeichnet. Es gibt überall Freiraum, etwa, um auch eine Mère Marie einmal zu brechen, Schwäche zeigen zu lassen. Dieses Ringen aller Protagonistinnen mit sich selbst ist enorm. Grundsätzlich gehört es zum Interessantesten an dieser Oper, mit so unglaublich unterschiedlich gezeichneten Frauenfiguren zu tun zu haben, die alle miteinander in diesem Kloster leben. In diesem engen, geschützten Raum. Es ist sehr wichtig, dass sie sich auch nicht aus dem Weg gehen können. Man ist eine Schicksalsgemeinschaft und man muss sich miteinander auseinandersetzen, ob man will oder nicht. Man kann nicht flüchten. Das ist beinhart. Die Gemeinschaft machst du in deinen Überlegungen besonders stark – du hast dich für sie als eine Gemeinschaft aus Individuen interessiert. Abgesehen von der Unausweichlichkeit und dem Einander-ausgeliefert-Sein: Was ist noch interessant an der Gemeinschaft, wie sie in dem Stück dargestellt wird? Ich habe oft gesagt, dass man sich nicht vorstellen darf, dass die Schwestern alle gleichermaßen ins Kloster eingetreten sind, weil sie nur noch Gott dienen wollten. Jede von ihnen hat ihren individuellen Grund, wie jede ihre eigene Biographie hat. An der Gemeinschaft in dieser speziellen Situation ist aber auch etwas interessant, das sich schon im Titel des Stücks erzählt: Dialogues des Carmélites. Eigentlich ist es im Kloster üblich, zu schweigen. Aber hier geht es um Streitgespräche, um Diskussionen, darum, einander von etwas überzeugen zu wollen. Der Zweifel ist eingekehrt. Ich habe es für mich so definiert, dass der Karmel nur im Gebet wirklich vereint ist. Wenn es abstrakt, aber auch ekstatisch wird, dann agiert der Karmel als eine Gemeinschaft, als ein Körper. Sonst geht es um Einzelkämpfe. Jede kämpft, um ihre Wahrheit zu leben. Es geht um Richtungskämpfe, um die Treue zu sich selbst, um die eigene Bedeutung. Was hat mein Leben in diesen neuen Umständen noch für einen Sinn? Wie habe ich mich zu entscheiden, was kann ich der Welt geben? Das sind ja alles die Gedanken, die Tag und Nacht in jeder einzelnen arbeiten. Es ist von Anfang an ein unheimliches Ringen, eine totale Verzweiflung. Darum erleben wir das Kloster nie schweigend.

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Die Voraussetzung für die Handlung ist ein Ausnahmezustand. Stellen sich durch ihn erst die Fragen, die auch für uns als Publikum interessant und nachvollziehbar sind? Durch den Ausnahmezustand spitzen sich Fragen zu, deshalb war es mir auch wichtig, ihn in der Inszenierung deutlich ins Bild zu setzen. Es gibt aber etwa auch große und allgemeine Themen im Auf-

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nahmegespräch zwischen Blanche und Madame de Croissy, in der zweiten Szene des ersten Aktes, die uns heute noch genauso ansprechen. Die alte Priorin spricht etwa davon, dass man sich nur selbst der eigenen Illusionen entledigen kann, dass das niemand für einen übernehmen kann. Oder die Beschreibung des Versuchs, sich »von sich selbst zu lösen«, über die äußere Entsagung hinauszugehen. Diese Worte haben für uns heute noch allergrößte Bedeutung, ob jemand religiös ist oder nicht. Man hat dann das Gefühl, dass mit dieser Figur auch die Spiritualität im Kloster stirbt. In dem extremen Ausnahmezustand gibt es kaum mehr Raum dafür. Gott wird dann gewissermaßen herbeizitiert, um jemanden von etwas zu überzeugen, einzuschüchtern oder zu manipulieren. Es wird politisch. Es ist nur noch politisch. Die Sterbeszene von Madame de Croissy markiert die Zäsur, und was sie sagt, ist programmatisch: Gott hat mich verlassen. Es ist im Kloster dann gewissermaßen kein Platz mehr für Frieden, Gott und Liebe. Sondern nur noch für Krieg, Hass und Zwist.

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Nachdem wir schon vom Ausnahmezustand gesprochen haben, müssen wir auch noch über den Grund dafür reden: Die Französische Revolution. Du hast häufig darauf hingewiesen, dass die moderne Demokratie dieser Revolution viel verdankt, hier aber der Schwerpunkt auf der Schreckensherrschaft, der Grande Terreur an ihrem Ende liegt. Im Stück ist die Differenzierung aber vage, der Vorlage folgend werden die Aufstände am Beginn wie als Botenbericht vom Chevalier de La Force geschildert, als bedrohlicher Aufstand der »Foule«, der »Masse«. Von der konservativen Autorin Gertrud von le Fort könnte die Ineinssetzung von Revolution und Terreur durchaus beabsichtigt gewesen sein. Wir haben darüber gesprochen, dass man ihren Text auch als eine Propagandaschrift verstehen kann. Das habe ich für die Inszenierung stark mitgedacht.

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In Dialogues des Carmélites tritt die Revolution oder dann die Terreur einerseits als eine unheimliche Masse in Gestalt des Chors auf, andererseits in Gestalt der Kommissare und des Kerkermeisters, die bedrohlich oder auch karikaturhaft gezeichnet werden, auch musikalisch. Die Inszenierung verstärkt dieses Element, auch im Kostüm. Was waren die Überlegungen dahinter?

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↑ Vorherige Seiten: Monika Bohinec als Mère Jeanne, Alma Neuhaus als Sœur Mathilde, Maria Nazarova als Sœur Constance, Chorkarmelitinnen*, Statisterie der Wiener Staatsoper

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Für uns war entscheidend, auf der einen Seite die Individualität der Karmelitinnen hervorzuheben – und wir setzen auch als Behauptung, dass sich diese Karmelitinnen von der Revolution viel erwartet haben. Vielleicht auch eine gewisse Emanzipation, einen Fortschritt, mehr Gleichberechtigung. Wir haben darum entschieden, in den Kostümen die individuelle Frau sichtbar zu machen. Das Kloster ist auch ein Frauenhaus, und Frauen haben viel Hoffnung in die Revolution gelegt. Und richtig, die Revolution wird dann auch von einer Art Mob repräsentiert, im Gegensatz zu vielen anderen Stücken, wo sie sehr positiv besetzt wird, was ja auch richtig ist. Hier tritt sie in der Zeit der Terreur auf – pervertiert. Wir haben uns dann entschlossen, die entsprechenden Figuren gesichtslos auftreten zu lassen. Sie verstecken sich hinter Masken – das kann man auch ganz modern sehen, wie auf Social Media, sobald man im übertragenen Sinn eine Maske trägt, das Gesicht nicht zu sehen ist, der Name nicht erkennbar ist, fallen die Schranken und die Hemmungen. Auch die entsprechenden Figuren im Stück haben keine Namen, sie heißen nur »Der Kerkermeister« oder »Der Kommissar«. Und vor diesem Hintergrund genießen diese Figuren auch in sadistischer Weise die Erniedrigung anderer. Im weiteren Verlauf ist aber die Entwicklung entscheidend.

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Inwiefern? Ich werde immer wieder gefragt, was uns das Stück heute noch sagen soll. Ich antworte: es geht darin auch um Radikalisierung. Terror produziert Terror, und die Antwort ist die Radikalisierung der Karmelitinnen als Märtyrerinnen. Wenn es am Ende auf das Schafott geht, dann ist es der Karmel, der hier steht. Nicht mehr die individuellen Frauen, die ihr persönliches Schicksal durchkämpfen wollen, sondern eine gesichtslose Karmel-Masse, die sich radikalisiert hat und dann stellvertretend für die Sünden der Menschheit in den Tod geht, zur Errettung Frankreichs, des Christentums und der Monarchie. Ich wünsche mir darum auch gar kein so großes Mitleid mit dieser Gruppe am Schluss – auch wenn einige manipuliert worden sind. Aber wir sollten nicht unbedingt mit Märtyrerinnen Mitleid empfinden. Wir sollten mit einer Blanche Mitleid empfinden, die eigentlich übersehen worden ist. Hier hätte man ansetzen können – Stichwort Barmherzigkeit. Am Schluss siegt ja eigentlich die Ideologie und der Fanatismus. Die Entindividualisierung, die Idee. Der Mensch wird niedergestreckt. Der Mensch verblutet.

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Beim Aufnahmegespräch mit der Priorin sagt Blanche, die »Strenge der Regel«, der Glaubens- und Lebensvorschriften für die Karmelitinnen, ziehe sie an. Kannst du das nachvollziehen?

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Ganz unabhängig von Religion und rein psychologisch gesprochen kann es etwas sehr Anziehendes sein, diszipliniert zu leben. Disziplin hilft in Krisenfällen, und ich denke, als Künstlerin und Künstler weiß man auch, was Disziplin bedeuten kann. Eine gewisse Kontrolle, eine gewisse Beherrschung – das empfinde ich nicht als negativ, sondern als stark.

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Das Wesen der Disziplin, mit der wir es hier zu tun haben, ist aber Unhinterfragbarkeit. Und die ist natürlich gefährlich, weil sie Manipulation ermöglicht und in den Fanatismus führt. Das blinde Vertrauen, das genaue Gegenteil des Zweifels, den Voltaire stark gemacht hat. Zweifel statt blindem Optimismus. Und Voltaire, der mir persönlich näher wäre, war zu der Zeit, in der wir uns mit dem Stück bewegen, einer der stärksten Kirchenkritiker. Ich glaube, uns fasziniert trotzdem dieses beherrschte, rituelle Leben mit der Ordnung, die vorgegeben ist. Mich hat das immer schon fasziniert. Ich finde es anziehend, so wie Blanche das auch sagt. Allerdings ist das auch wiederum von bestimmten Religionen unabhängig. Viele junge Menschen sind fasziniert von der Beherrschtheit, die im Buddhismus herrscht, das Meditieren, den Atem kontrollieren. Sich nicht mit sich selbst identifizieren. Das sind Themen, die heute unheimlich präsent sind.

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Und die vielleicht auch wieder dahin zurückführen, dass du darauf hingewiesen hast, dass Blanche noch sehr jung ist. Wenn man sehr jung ist, ist Disziplin als Extrem oft genauso faszinierend wie Exzess. Ich glaube, dass das ein urmenschliches Thema ist. Letztlich ist das Dionysos und Apoll, der Rausch und die Askese. Vielleicht ist das alles einfach Kulturgeschichte – aber es ist unglaublich faszinierend.

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Das Publikum wird in deiner Inszenierung eine sehr vielfältige Welt sehen: Der Bühnenbau von Monika Biegler besteht aus zahlreichen Räumen, ist durchlässig und lässt so parallele Szenen zu, eine Gleichzeitigkeit auf der Bühne. Mehr Erzählung als Illustration ist auch die Videoarbeit von Aron Kitzing. Und die Kostüme von Valentin Köhler verbinden realistische und surrealistische Elemente. Das heißt: Es gibt vieles gleichzeitig zu sehen, die Inszenierung ist multiperspektivisch, wenn man so will, was immer eine Herausforderung ist. Wie würdest du selbst als Zuschauerin in dieses Erlebnis hineingehen?

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Intuitiv. Das muss man auf sich wirken lassen. Ich finde an dem, was du als multiperspektivisch bezeichnest, das Schöne und Gewinnbringende, dass oft nicht das eine das andere bedingt. Das Ursacheund-Wirkung-Prinzip auf der Bühne interessiert mich schon lange nicht mehr. Auch dann, wenn ich nur einen Strang erzähle. Weil ich glaube, dass das Irrationale das Interessante ist. Ich sage auch immer, der Körper ist viel schneller als der Kopf. Das wissen wir aus unserem alltäglichen Leben, wir handeln ja tausendmal am Tag völlig irrational. Und ich finde oft sehr spannend, was nebeneinander alles passiert. Nicht im Sinn von Parallelwelten, aber es liegen so viele Welten direkt nebeneinander – manchmal berühren sie sich kurz, dann entfernen sie sich wieder voneinander und gehen andere Wege. Das ist ein Thema in meiner Arbeit, und ich denke, man sollte sich einfach zurücklehnen und es auf sich wirken lassen. Ich gebe gar nicht so gerne eine Blickrichtung vor, ich arbeite lieber mit einer sinnlichen Fülle, und in diesem Fall ist dafür auch das Thema, der Katholizismus mit seiner überreichen Bilderwelt, ein Geschenk für mich. Ich bin generell ein Mensch, der viel in Bildern denkt, und Bilder sind bekanntlich immer interpretierbar. Bestimmt sehen verschiedene Zuschauerinnen und Zuschauer dann auch Verschiedenes, und damit habe ich auch kein Problem, im Gegenteil. Die Rezeption muss Freiheit haben. Mir selbst passiert es häufig, dass ich im Lauf der Arbeit Details entdecke und denke: Oh, das passt aber gut zusammen. Das ist ein schöner Zufall. Und das sind eigentlich meine Lieblingsmomente. Da passiert dann plötzlich Magie.

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Bertrand de Billy

DER DRAMATIK ENTGEGENREIFEN Bei manchen Werken zögert man, sie anzufassen. Bei anderen weiß man, man wird sie nur einmal erarbeiten und dann gibt es die Stücke, bei denen einem sofort klar ist: Das ist etwas, das einen ein Leben lang begleiten wird. So ein Meisterwerk ist für mich Dialogues des Carmélites. Diese Partitur sehe ich als Poulencs musikalisches Testament, und mit jeder neuen Beschäftigung offenbaren sich neue Facetten ihres Reichtums. Dieser Reichtum zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich das Stück keinem ↑ Genre exklusiv zuordnen lässt. Es erlaubt die unterschiedlichsten Zugänge. Vorherige Dialogues des Carmélites ist keinesfalls nur eine politische, nur eine histori- Seiten: Eve-Maud sche, nur eine psychologische oder religiöse Oper. Alleine die faszinieren- Hubeaux als Marie, de Rätselhaftigkeit des zentralen Charakters der Blanche unterstreicht die Mère Nicole Car als Komplexität des Werks. Es daher wäre es meines Erachtens völlig falsch, Blanche, Nazarova zu versuchen, diese junge Frau auf mit dem banalen Besteck der Analyse Maria als Sœur zu dechiffrieren. Man kann ihr Leben teilweise begleiten, man kann ihrem Constance BERT R A N D DE BILLY

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Denken, ihren Gefühlen nachspüren, dennoch wird sie einen immer neu überraschen. Poulenc hat ja übrigens nicht zufällig gesagt »Blanche, das bin ich.« Es geht also über die Fgur des Dramas weit hinaus. Aber auch die übrigen Charaktere, wie die alte Priorin, Madame Lidoine, Mère Marie oder Sœur Constance enthüllen ihr Inneres nur peu à peu und ebenfalls nie vollständig. Sehr oft wird das Wesentliche, die Wahrheit gar nicht ausgesprochen, sondern nur vom Orchester erzählt, manchmal sind es nur ein, zwei Takte, ein angerissenes Motiv, das uns hinter den Kulissen in die Seelen blicken lässt, und gelegentlich kann ein wunderschönes, innig-süßes Aufwallen im bewussten Kontrapunkt zum Drohenden, zum Traurigen, zum Schrecklichen stehen, das hereinzubrechen droht – einem verzweifelten Versuch gleich, das Dunkle übertönen zu wollen, gegen das die Sängerinnen anzusingen haben. Schon der fröhliche Beginn der Oper, dieses fast operettenhaft-persiflierende Giocoso scheint die sich anbahnende Tragödie negieren zu wollen, die sich dann mit dem plötzlichen, ersten orchestralen Guillotine-Schlag in Takt 10 umso brutaler und unbarmherziger Raum verschafft. Ein Topos, den Dialoges des Carmélites mit Bizets Carmen gemeinsam hat, ist die Präsenz einer abwesenden Mutter. In Poulencs Werk wird der Tod der Mutter gleich in der ersten Szene thematisiert, und mit ihm der Zusammenhang mit Blanches Geburt. Ein Kind, das weiß: Die Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater hat seine Frau durch meine Geburt verloren. Mein Bruder hat seine Mutter durch meine Geburt verloren. Diese Belastung vom ersten Tag an, die muss man mitbedenken. Wirklich verstehen kann man sie nicht. Versucht man, Blanche zu analysieren, so reduziert man diese komplexe Persönlichkeit leicht. Es gibt Momente, in denen kann man nicht rational nachvollziehen, wo sie gerade ist. Wie bei ihrem ersten Auftritt, als ihr Vater ihren Namen sagt. An dieser Stelle zeigt uns die doppelte Harmonie, die Poulenc in seine Partitur setzt: auch er kann sie nicht einordnen, obwohl er sie sehr liebt. Die Figur der Blanche könnte man mit den unregelmäßigen Perlen vergleichen, die man als »Barocco« bezeichnet oder mit der japanische Kintsugi-Technik: Man repariert eine zerbrochene Schale mit Gold, danach ist sie wertvoller. So ist es auch bei Menschen: Menschen, die gelitten haben und sich »repariert« haben, wissen, was Leben ist. Blanche, obwohl sie noch jung ist, macht diese Erfahrungen. Man kann sehen, wie sie kämpft, wie sie heroisch ist in dem Sinn, etwas zu tun, etwas zu verändern. Die alten Koffer hinter sich zu lassen. Die Angst. Diesen ersten Schritt zu machen, der der schwerste ist. Das ist unglaublich mutig. Es wäre schade, würde man Dialogues des Carmélites sehen, indem man nur dem spektakulären Schluss entgegenfiebert. Die regelmäßigen Ruhepunkte davor, die vielen berührenden kleinen Sequenzen, die wunderschö 35

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nen kammermusikalischen Passagen, kurzum: der gesamte dramaturgische Verlauf dieser Dialoge sollte vom Publikum bewusst erlebt werden, damit es emotional der letzten dramatischen Viertelstunde gleichsam entgegenreifen kann, umso mehr, als das Todesmarschthema des Schlusses vom Beginn an immer wieder auftaucht respektive angedeutet wird. Es ist somit im Unbewussten stets präsent, ehe es am Ende der Oper als Hauptthema in den Vordergrund tritt. Die Herausforderung für die Interpretinnen besteht darin, den Weg zum Schafott in seiner Bedeutungstiefe erlebbar zu machen. Das Stück ist in seinem Aufbau äußerst heikel, insofern, als es allen Beteiligten gleichermaßen auferlegt ist, die vielen kleinen, kostbaren Momente, die jeweils wichtige Facetten aufzeigen, unter einen Bogen zu bringen. Die Carmélites sind nicht durchkomponiert, sondern leben auch von den essenziellen, sinnerfüllten Pausen – wir haben im wahrsten Sinn des Wortes Dialoge vor uns. Wenn man die Seele dieser Oper aus den Augen verliert, zersplittert das Ganze in viele Einzelteile. Es gibt in der Werbung eine Technik, mit der man eine Sequenz in einen Film einfügt, die so kurz ist, dass sie nur unbewusst wahrgenommen wird. Genau das finden wir in Dialogues des Carmélites. Wenn etwa am Ende der Todesmarsch kommt, dann ist das Thema nicht neu. Wir finden diese Sequenz in a-Moll schon früher, etwa, wenn Constance im dritten Bild mit Blanche spricht, ganz subtil. Immer wieder kommt dieses Thema im Lauf des Abends ins Spiel. Am Ende wird man sich aber nicht daran erinnern als an das Thema aus dem dritten Bild. Man wird vielmehr unbewusst die Stimmung erinnern und Unbehagen empfinden. Poulenc beherrscht diese Technik meisterhaft, er bereitet das Ende so vor, dass es völlig erschüttert. Die musikalischen Themen, die Poulenc komponiert hat, bringen uns die Figuren nahe, etwa das Vaterthema, das uns auch die Wärme dieses Mannes zeigt. »Leitmotiv« ist dabei womöglich nicht der richtige Begriff für die thematische Arbeit Poulencs. Ein Leitmotiv ist an eine Figur gebunden, hier werden Motive mit Figuren verbunden, dann eignen sie sich andere Figuren an – Madame Lidoine nimmt das Thema von Blanche auf, Constance ebenso. Mère Marie hat dieselbe Musik wie Madame de Croissy, wenn sie streng zu Blanche ist. Jeder verwendet gewissermaßen die Waffen der anderen. Besonders interessant ist die Figur des Priesters, des Beichtvaters: Er verwendet immer die Musik der Figur, mit der er spricht, ganz wie ein Chamäleon. Was die Orchestrierung betrifft, so geschieht auf den ersten Blick nichts Revolutionäres, Poulenc bringt keine neuen Instrumente ins Spiel, aber er entwickelt Klangbildungen, die einzigartig und fantastisch sind, bis hin zur Bitonalität. Gelegentlich findet er sogar zu einer Art Geräuschmusik, die das Drohen und die Schrecken der Terreur unmittelbar veranschaulicht. Auf der anderen Seite arbeitet Poulenc zum Beispiel mit traditionellen ZuBERT R A N D DE BILLY

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ordnungen von Instrumenten – so symbolisiert etwa das Englischhorn die Sehnsucht, das Blech imitiert Orgelklänge. Geniale Komponisten, Maler, Schriftsteller, aber auch Interpretinnen und Interpreten zeichnen sich durch ihre Unverwechselbarkeit aus. Poulenc besaß einen solch ganz eindeutigen Personalstil, innerhalb dessen er zuweilen Anleihen aus der Musikgeschichte nahm: Manchmal blitzt Puccinis Tosca auf, dann Wagners Tristan, Johann Sebastian Bach, Verdi, Gregorianik oder Gershwin und natürlich Debussy und Ravel. Poulenc hatte keine Angst davor, Einflüsse zuzugeben. Es gibt in den Carmélites sogar Querverbindungen zu seinem eigenen Schaffen: Poulencs ungefähr zur selben Zeit entstandene Flötensonate finden wir etwa in Ansätzen im Zusammenhang mit der neuen Priorin des Klosters, Madame Lidoine, wieder. Die Zwölftontechnik, die serielle Musik hat Poulenc hingegen tatsächlich weniger interessiert. Poulencs Angaben in der Partitur sind sehr genau. Für eine zeitgemäße Aufführung sind allerdings immer wieder sanfte Korrekturen nötig, vor allem, wenn es um Tempovorschriften und dynamische Bezeichnungen geht. Den von Poulenc stammenden Metronomzahlen folge ich beispielsweise stellenweise ganz vorsätzlich nicht. Warum? Weil die auf Georges Bernanos fußende poetische Sprache des Librettos den eigentlichen Fluss der Musik vorgibt. Nun haben wir uns von der ursprünglichen, damals üblichen pathetischen Deklamation à la Sarah Bernhardt, die diesen Metronomangaben zugrunde liegt, mittlerweile weit entfernt. Das Sprachtempo hat sich beschleunigt, und das bedingt die Beschleunigung des Gesangstempos. Der zweite Aspekt betrifft die Dynamik. Poulenc hat zwar nicht viel für das Musiktheater geschrieben, dafür aber viel Konzertliteratur für befreundete Sänger. Mit der menschlichen Stimme kannte er sich also gut aus, weniger bewandert war er in Hinblick auf die Balance Orchestergraben-Bühne. Ohne an der Instrumentierung etwas zu verändern, muss der Dirigent – abhängig von der jeweiligen Akustik des Aufführungsortes – in den Carmélites doch an einigen Schrauben drehen und darauf achten, dass die Sänger nicht schonungslos vom Orchesterklang überdeckt werden. So wird aus einem Fortissimo beispielsweise ein Mezzoforte oder aus einem Mezzoforte ein Piano. Die Neuproduktion enthält übrigens auch eine Passage, die ich selbst trotz meiner langjährigen Erfahrung mit dem Werk noch nie zuvor zur Aufführung gebracht habe. Es handelt sich um eine kleine Sprechszene, einen Dialog dreier Passanten, die essenziellen Aspekte über die Situation der zum Tod verurteilten Nonnen zur Sprache bringt, die nur an dieser Stelle eine Erwähnung finden. Darüber hinaus bringen wir auch noch die zusätzlichen Zwischenspiele zur Aufführung, die Poulenc für die Pariser Erstaufführung nachgereicht hat. Wir präsentieren dieses Meisterwerk also in seiner vollständigen Gestalt – so, wie es vom Komponisten gedacht war.

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Klage und Vertrauen in großer Not

Wie lange noch, Herr, vergisst du mich ganz? Wie lange noch verbirgst du dein Gesicht vor mir? Wie lange noch muss ich Schmerzen ertragen in meiner Seele, in meinem Herzen Kummer Tag für Tag? Wie lange noch darf mein Feind über mich triumphieren?

Psalm 13 (Auszug)


Thomas Macho

VOM BERG KARMEL ZUR INNEREN BURG

1. Carmen ist ein gebräuchlicher weiblicher Vorname in Spanien; abgeleitet wird er von der »Virgen del Carmen«, der heiligen Jungfrau vom Berge Karmel. Dieser Berg liegt im Norden Israels, nahe der Hafenstadt Haifa. Er bildete einst – nach den Erzählungen im ersten Buch der Könige (17,20–30,41) – den Ort eines religionspolitischen Streits zwischen König Ahab und dem Propheten Elias, als den konkurrierenden Vertretern der Baals- und der Jahwe-Religion. Baal und seine Gemahlin Aschera – verwandt mit der Astarte – wurden 39

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häufig in Stiergestalt verehrt; Stieropfer wurden ihnen dargebracht. Und eben ein Stieropfer sollte auch auf dem Berge Karmel zur Entscheidung zwischen den beiden Göttern und Religionen führen: Elias schlug vor, jeweils einen Stier zu töten, zu zerteilen und auf einen Altar zu legen. Wessen Gottheit das Opferfeuer entfachen konnte, dessen Kult sollte in Israel praktiziert werden. Elias gewann das Opferduell auf dem Berg Karmel und ließ anschließend sofort alle Baals- und Aschera-Priester hinrichten. Viele Jahrhunderte später erinnerten sich die Protagonisten eines anderen religionspolitischen Konflikts – die Kreuzfahrer – an die Elias-Legende und gründeten nach der Eroberung Jerusalems im Jahre 1099 auf dem Berg Karmel, dessen Name wörtlich übersetzt »Baumgarten« bedeutet, eine Gemeinschaft von Einsiedlern. Aus dieser Gemeinschaft entwickelte sich der marianisch orientierte Karmeliterorden, Ordo Fratrum Beatae Virginae Mariae de Monte Carmelo, der 1226 von Papst Honorius III. genehmigt und 1253 in die Bettelorden eingereiht wurde. Nach der Rückeroberung Palästinas durch die Sarazenen mussten die Ordensbrüder nach Europa zurückkehren. Dort fand die Geschichte eine bemerkenswerte Fortsetzung. Wie die meisten Bettelorden wurden die Karmeliter heftig angegriffen; und bereits wenige Jahrzehnte nach der päpstlichen Anerkennung wurde ein Verbot des Ordens erwogen. In dieser prekären Situation soll die Gottesmutter selbst dem Papst erschienen sein, um ihn aufzufordern, den Orden zu schützen. Zur selben Zeit sei sie auch dem damaligen Ordensgeneral Simon Stock erschienen und habe ihm am 16. Juli 1251 ein Skapulier, ein Schultertuch, überreicht, das ihren Schutz – wie ein Stück des Marienmantels – verkörpern sollte. Am 3. März 1322 verkündete Papst Johannes XXII. in seiner Bulle Sabbatina, die Gottesmutter habe ihm versprochen, wer das Skapulier trage, die standesgemäße Keuschheit beachte, täglich mehrmals zu Maria bete und an jedem Mittwoch, Freitag und Samstag zu ihren Ehren faste, den werde sie am ersten Samstag nach seinem Tod aus dem Fegefeuer befreien. Noch in einer Generalaudienz am 12. September 2001 gedachte Papst Johannes Paul II. nicht nur der Opfer der Terroranschläge von New York, sondern auch (und kaum weniger ausführlich) des 750. Jahrestags der Übergabe des Skapuliers. Am 16. Juli, dem Tag der himmlischen Intervention beim Papst und der Überreichung des Skapuliers, wird bis heute das Fest der »Virgen del Carmen« begangen, insbesondere in Spanien und Lateinamerika mit großem Aufwand. Da die »Virgen del Carmen« als Schutzpatronin der Fischer und Seeleute angesehen wird, finden in allen Küstenorten Meeresprozessionen statt, bei denen – zur Freude des Tourismus – ein Bildnis der Virgen in reich geschmückten Booten gezeigt wird. An manchen Orten werden sogar die traditionellen Stierläufe mit dem Festtag der »Virgen del Carmen« verbunden, so beispielsweise in Grazalema (nahe bei Ronda, im Bergland von Cádiz), wo die Karmeliter schon im 18. Jahrhundert ihrer Patronin das nötige Ansehen zu verschaffen wussten, indem sie schlicht den Stier bezahlten. T HOM AS M ACHO

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Die Popularität der »Virgen del Carmen« in Spanien verdankte sich auch den Reformen des Karmeliterordens, die gerade durch die spanische Mystik – durch Teresa de Ávila und Juan de la Cruz – vollzogen wurden. Gemeinsam erneuerten sie die strenge Ordensregel freiwilliger Armut, weshalb die Karmeliter in der Bevölkerung bald die »Beschaulichen«, die »Barfüßer« oder die »Unbeschuhten« genannt wurden. In den Gedichten und Traktaten der beiden Heiligen – beispielsweise in der 1618 erstmals gedruckten Subida al Monte Carmelo von Juan de la Cruz – kam eine poetisch-ekstatische Liebesmystik zum Ausdruck, die an ältere Traditionen anschloss; ein paar Jahrhunderte zuvor hatte die Geschichte der Mystik in Spanien begonnen. Unter muslimischer Herrschaft erlebte Spanien im Hoch- und Spätmittelalter eine kulturelle und wissenschaftliche Blütezeit, die von Toleranz und intellektuellem Austausch geprägte »convivencia« zwischen den Buchreligionen des Judentums, des Christentums und des Islams. Spanien befand sich damals in einer kulturellen Sonderlage, die erst durch die Berberkriege, die Pestseuchen des späten 15. Jahrhunderts und schließlich das Edikt von Granada (1492) beendet wurde, das die Vertreibung der Juden und Moslems besiegelte. Das hoch- und spätmittelalterliche Spanien vermittelte der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zahlreiche Impulse: die Übersetzungen der aristotelischen Philosophie, die indisch-arabische Zahlenschrift sowie eine Vielzahl wissenschaftlich-technischer Neuerungen in der Optik, Astronomie oder Medizin. Als wesentliche Protagonisten dieses erfolgreichen Wissenstransfers können Gelehrte aus allen drei Hochreligionen genannt werden, die regelmäßig auch den Dialog zwischen den Religionen förderten: die Ärzte Ibn Ruschd, genannt Averroës, Moses Maimonides oder der »Doctor illuminatus« und Erfinder der »ars generalis«, Raimundus Lullus. In Spanien entstanden die ersten Übersetzungsschulen, und fast zur selben Zeit in allen drei Hochreligionen die Ausdrucksformen der Mystik. So entwickelte sich im 13. Jahrhundert die spanische Kabbala: als ekstatische Mystik bei Abraham Abulafia aus Saragossa, aber auch als philosophisch-spekulative Disziplin. Der Sufismus, die islamische Mystik, gewann im Werk von Ibn al-ʿArabĪ aus Murcia einen wachsenden Einfluss; und selbst ein gelehrter Logiker wie Raimundus Lullus verfasste mystische Texte, die ihn gelegentlich nahezu als Ketzer erscheinen ließen.

2. Das Stichwort der »Liebesmystik« wird – insbesondere mit Blick auf Teresa de Ávila – häufig mit einer rund 350 cm hohen Skulptur aus weißem CarraraMarmor assoziiert, die Giovanni Lorenzo Bernini in den Jahren zwischen 1647 und 1652, also knapp siebzig Jahre nach dem Tod Teresas, geschaffen hat.

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Diese Skulptur der »L’Estasi di Santa Teresa« steht heute im linken Querflügel der Barockkirche Santa Maria della Vittoria in Rom, und zwar in der sogenannten Cornaro-Kapelle. Sie zeigt die Heilige, versunken in ihren Visionen, während ein junger, schöner und lächelnder Engel mit einem Liebespfeil auf ihr Herz zielt. Der Vergleich mit Eros und Amor zwingt sich auf, ebenso wie die verbreitete Deutung der Ekstase Teresas als erotische Erfahrung. Doch Michel de Certeau hat schon 1982, genau vierhundert Jahre nach Teresas Tod, die Szene mit dem Liebespfeil auf Teresas Schreiben bezogen. Der Pfeil ist eigentlich ein Schreibgerät: »Der erste Pol betrifft die Arbeit des Schreibens. […] Diese ›Arbeit‹ besteht darin, etwas von ihrem eigenen Körper preiszugeben, damit ein Text entstehen kann – ein Körper für einen anderen.« Teresas Körper sei ihre »erste Schrift: Hier ist mein auf deinen Wunsch geschriebener/ verwundeter Körper.« Der Pfeil ist ein Stift; und der Engel ist eine Stimme, die einen Auftrag zum Schreiben erteilt. Teresa hat diesen Auftrag treu erfüllt: Sie hat eine Vielzahl von Briefen, Abhandlungen und eine ausführliche Darstellung ihres Lebens hinterlassen, trotz der Kopfschmerzen und Anfälle, die sie häufig quälten. In ihrem Werk zum »Castillo Interior« (von 1577), zur »inneren Burg« mit den sieben Wohnungen, schildert sie die Erfahrungen ihres seelischen Lebens, die Praktiken des inneren Betens, die als Pforte zu dieser Burg dienen. Und sie gesteht: »Es sind diese inneren Dinge so dunkel für den Verstand, dass eine, die so wenig davon versteht wie ich, notgedrungen viel Überflüssiges und sogar Ungereimtes wird sagen müssen, um hin und wieder auch das Richtige zu treffen. Wer es liest, muss Geduld haben, denn ich habe sie ja auch, um zu schreiben, was ich nicht verstehe. Tatsächlich nehme ich das Papier manchmal wie ein Ding ohne Verstand zur Hand, und weiß nicht, was ich sagen, noch wo ich beginnen soll.« Die innere Burg ist keine Leiter, kein Stufenweg zur Erleuchtung, auch wenn die siebente Wohnung, die Teresa zum Ende beschreibt, als Erfüllung, als temporäre Vereinigung und Vermählung mit Gott dargestellt wird. Das Bild der inneren Burg lässt sich auf verschiedene Kontexte beziehen: Sie reichen von der stoischen Philosophie, den Evangelien, dem Korintherbrief und den Confessiones des Augustinus bis zur islamischen Mystik, die in der Einführung zur Neuedition mehrfach als bedeutende Inspirationsquelle genannt wird: »So hat Abū al-Sarrāy in seinem Kitāb ai-Lumá (Buch der Aufstrahlungen) die sieben Wohnungen seiner Seele beschrieben, ähnlich auch Mullā Sadrā im 16. Jahrhundert in seinen Asfār oder Reisen. Es ↑ geht dabei – ähnlich wie bei Teresa – um einen Prozess der Verinnerlichung, Vorherige dargestellt am Gang durch verschiedene Wohnungen, die bei Mullā Sadrā so Seiten: Eve-Maud aussehen: Aus der ersten Wohnung, der nafs (Sinnesseele), geht der Mensch Hubeaux als Marie, weiter zur zweiten Wohnung, qalb (Herzen), von da aus zur aql (Intellekt), Mère Nicole Car als dann zur rūh (Geist), dann zur sirr (Geheimnis) und zur jafī (Verborgenen), Blanche, bis er schließlich in die siebte Wohnung, al-aifā, dem ganz verborgenen Statisterie der Wiener geistlichen Leben kommt. Hier kommt der Glaubende zu seinem wahren Staatsoper T HOM AS M ACHO

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Sein, d. h. er vereint sich mit der Gottheit, wie das ähnlich auch in den Siebten Wohnungen Teresas der Fall ist.« Die innere Burg, Vorbild auch des Bühnenmodells zur Neuinszenierung der Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc, erinnert also an die mittelalterliche »convivencia« in Spanien; sie kann aber auch – wie Poulencs Oper – mit einem Ereignis im Zuge der Französischen Revolution während des Grande Terreur (vom 14. Juni bis zu Robespierres Sturz am 27. Juli 1794) verknüpft werden: der Hinrichtung von sechzehn Karmelitinnen des KarmelKlosters von Compiègne, ausgerechnet am 17. Juli 1794, also einen Tag nach dem bereits erwähnten Festtag der »Virgen del Carmen«. Damals wurden die Nonnen, die sich geweigert hatten, ihr Ordensgelübde zu brechen, zum Schafott auf der Place de Grève geführt, wobei sie gemeinsam, bis zur letzten Stimme, das »Veni creator spiritus« sangen. Die persönlichen Namen der – inzwischen durch Papst Pius X. am 27. Mai 1906 seliggesprochenen – Schwestern sind bis heute ebenso bekannt wie ihre Klosternamen; immerhin trugen vier Schwestern, darunter auch die Priorin, den Namen Thérèse: Mère Thérèse de Saint Augustin, Sœur Thérèse de Saint Ignace, Sœur Thérèse du Cœur de Marie und die außerhalb des Klosters dienende Schwester Thérèse Soiron. Die toten Frauen wurden nach ihrer Hinrichtung – wie viele andere Opfer der Grande Terreur – in einem Massengrab auf dem Pariser Cimetière de Picpus beigesetzt.

3. Die toten Karmelitinnen wurden nicht vergessen; schon vor mehreren Jahren wurde im Karmel-Kloster von Jonquières, einem Nachbardorf von Compiègne, eine Gedenkstätte für die sechzehn Schwestern errichtet. Zur Erinnerung trug auch spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der »Renouveau catholique« bei, eine von Frankreich ausgehende katholische Erneuerungsbewegung, vorrangig in Literatur und Philosophie. Zu den prominenten Vertreterinnen und Vertretern des »Renouveau catholique« zählten in Frankreich Georges Bernanos, Léon Bloy, Paul Claudel, Julien Green, JorisKarl Huysmans, François Mauriac oder Charles Péguy, im deutschen Sprachraum Stefan Andres, Werner Bergengruen, Gertrud Fussenegger, Elisabeth Langgässer, Gertrud von le Fort, Edzard Schaper oder Franz Werfel, in Großbritannien Gilbert Keith Chesterton, T. S. Eliot, Graham Greene oder Evelyn Waugh. Im Jahr 1931 publizierte Gertrud von le Fort ihre Novelle Die Letzte am Schafott; wenige Monate vor seinem eigenen Tod am 5. Juli 1948 verfasste Georges Bernanos auf Grundlage dieser Novelle ein Drehbuch unter dem Titel Dialogues des Carmélites, in deutscher Übersetzung Die begnadete Angst. Der Text wurde von Marcelle Tassencourt und Albert Béguin für die Bühne

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bearbeitet und 1952 im Pariser Théâtre Hébertot uraufgeführt. 1956 komponierte Francis Poulenc die dreiaktige Oper Dialogues des Carmélites, die am 26. Januar 1957 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde; 1959 drehte dann Philippe Agostini gemeinsam mit dem französischen Dominikanerpriester Raymond Léopold Bruckberger den Film Le Dialogue des Carmélites, erneut auf der Basis der bearbeiteten Texte von Gertrud von le Fort und Georges Bernanos, der am 10. Juni 1960 in Paris uraufgeführt wurde. Die deutsche Erstaufführung – unter dem Titel Opfergang einer Nonne – fand wenig später am 22. Juli 1960 statt. Die Rollen der Karmelitinnen spielten u. a. Jeanne Moreau, Alida Valli, Pascale Audret und Madeleine Renaud; der Pantomime und Regisseur Jean-Louis Barrault wirkte ebenfalls mit. Im Mittelpunkt der Novelle le Forts steht neben den historisch bezeugten Karmelitinnen die fiktionale Gestalt der Blanche de la Force, der jungen Tochter des Marquis de la Force. Ihr Name verweist natürlich auf die Autorin; und er steht in Kontrast zu Blanches Lebensthema – der Angst. Ihre Mutter ist bei der Geburt des Mädchens in einer Kutsche gestorben: »Blanche, sozusagen vom Entsetzen ihrer Mutter vorzeitig ins Licht der Welt gestoßen, schien keine andere Mitgift empfangen zu haben als eben dieses Entsetzen. Von früh auf zeigte sie eine Ängstlichkeit, welche über die bei Kindern häufig beobachtete weit hinausging.« 1844 hatte der dänische Philosoph Søren Kierkegaard die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht eingeführt, einflussreich ebenso für den Existentialismus wie für die Psychoanalyse. Die Furcht, so argumentierte Kierkegaard, beziehe sich auf konkrete Umstände und Objekte; die Angst dagegen sei unbestimmt, diffus, unheimlich. Sie richte sich auf keine bestimmten Anlässe und Gegenstände, sondern eigentlich auf nichts; als Existenz- und Todesangst sei sie aber auch ein Element aller Freiheitserfahrungen. Sigmund Freud hat diese Unterscheidung auf Trauer und Melancholie angewendet: Die Trauer verarbeitet den Verlust eines geliebten Objekts, während die Melancholie gleichsam objektlos bleibt: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.« Angst ist einerseits Todesangst; darum erhält Blanche nach ihrer Einkleidung im Karmel den Schwesternamen »Blanche de Jésus au jardin de l’Agonie«, zur Erinnerung an die Todesangst Christi im Garten Gethsemane. Angst ist andererseits nicht nur Mut, sondern auch Todessehnsucht, und diese Todessehnsucht verkörpert sich im Wunsch, das Martyrium zu erleiden. Doch dieser Wunsch ist nicht leicht zu unterscheiden von der Sehnsucht nach der Beendung des eigenen Lebens. Martyrium oder Suizid? Mit dieser Frage mussten sich bereits die frühen Kirchenlehrer befassen. Nicht umsonst bemerkt Athanasius, Bischof von Alexandria, in seiner Schutzschrift an Kaiser Constantius, es sei »Selbstmord, wenn man sich seinen Feinden zur Ermordung preisgibt«. Denn »nach der Ermahnung des Heilandes fliehen heißt so viel, als die Zeit erkennen und in Wahrheit für seine Verfolger Sorge tragen, damit sie sich nicht zum Blutvergießen hinreißen lassen und gegen T HOM AS M ACHO

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das Gebot sündigen: ›Du sollst nicht töten‹.« Das Argument ist plausibel, aber ein wenig riskant: Hat nicht auch Jesus die Flucht vor seinen Feinden verweigert? In seinen 2015 erschienenen Notes on Suicide hat Simon Critchley das Dilemma klar formuliert: »Die christlichen Märtyrer entschieden sich in den Tod zu gehen aus Liebe zu Gott und Hass auf den Staat und alle Formen diesseitig paganer Autorität. Wenn die Kreuzigung Christi selbst als ein quasi-suizidaler Akt betrachtet werden kann, vollzogen aus Liebe, dann ist das a fortiori der Fall bei den Toden der Heiligen und Märtyrer, die das Opfer Christi nachahmen.« Von solcher Todessehnsucht hat auch Teresa von Ávila in ihrem Buch über die innere Burg und die sieben Wohnungen häufig geschrieben; so bemerkt sie im Kapitel über die sechsten Wohnungen: »Durch diese großen Gnaden verharrt die Seele in solcher Sehnsucht, um den, der sie ihr erweist, ganz zu genießen, dass sie in großer, wenn auch köstlicher Qual lebt. Heftigste Anstürme von Todesverlangen, und so fleht sie unter Tränen unablässig zu Gott, sie aus dieser Verbannung herauszuholen.« Todesangst und Todessehnsucht bilden gleichsam nah verwandte Affekte auf dem Weg zur Vereinigung mit Gott.

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Uwe Schweikert

MÖNCH UND STROLCH

Die musikalischen Gesichter von Francis Poulenc


Nicole Car als Blanche, Maria Nazarova als Sœur Constance

»Moine et voyou«, »Mönch und Strolch« – mit diesem Bonmot hat der französische Musikkritiker Claude Rostand die gegensätzlichen Züge im Wesen des Menschen wie des Komponisten Francis Poulenc griffig charakterisiert. Rostand staunte über die Leichtigkeit, mit der Poulenc die gemessene Tradition des höfischen Versailles mit der Umtriebigkeit des multikulturellen Pariser Vororts Belleville, die der aristokratischen Barockmusik mit den trivialen Klängen der »bals musettes« zu versöhnen wusste. Das Banale und das Ernsthafte, Vorstadtatmosphäre und Religiosität stellten für Poulenc keine Gegensätze dar. Er sprach von sich selbst als »Poulenc-Janus« und spielte damit auf die zwei Gesichter des römischen Gottes Janus an, die wie Türen in entgegengesetzte Richtungen zeigten. Man darf dies als Aufforderung verstehen, seiner Musik entweder meditativ ins Innere oder, Purzelbäume schlagend, auf die Gasse zu folgen. Und oft genug erweist er sich als echter Janus, wie im fröhlichen »Laudamus te« des 1959 komponierten »Gloria«, zu dem er nach eigener Aussage durch fußballspielende Benediktinermönche und die Erinnerung an die frech ihre Zunge herausstreckenden Engel auf einem Renaissance-Gemälde angeregt wurde. Ironie und Schwermut, Trivialität und Poesie, schräger Humor und Ernst, Spiel und Bekenntnis bedingen sich bei Poulenc stets gegenseitig. Hinter allen Masken aber, die seine Musik sich aufsetzt, verbirgt sich als Muse seiner Kunst die Melancholie. Dieselbe Mischung aus Fröhlichkeit und Schwermut, Tiefsinn und Oberflächlichkeit, Trivialität und Würde – so beschreibt es sein langjähriger musikalischer Partner Pierre Bernac – zeichnete auch den Menschen Poulenc aus: »Er konnte das Muster eines ›bon vivant‹ sein, der das Leben liebt und all das Schöne, das es bietet, aber er konnte auch in schweren Depressionen versinken. Seine Stimmung wechselte von einem Tag auf den andern, ja sogar von einem Augenblick auf den nächsten, denn er war äußerst empfindsam und seelisch erregbar. Im Innersten war er ein ängstlicher Mensch.« Poulenc wuchs in einer politisch erregten, ja revolutionären Zeit auf. Die Umwälzung aller Verhältnisse und Werte machte auch vor den Künsten nicht halt. Das Paris der Kriegs- wie der Nachkriegsjahre war ein Schmelztiegel, in dem Genies und Talente, Mitläufer und Scharlatane das Unterste zuoberst kehrten. Kubismus, Surrealismus und Neoklassizismus – der Expressionismus spielte in Frankreich keine Rolle – waren die Schlagworte der Stunde und Picasso, der früh verstorbene Apollinaire und Strawinski ihre Geburtshelfer in Malerei, Dichtung und Musik. Man wandte sich gegen alles, was mit Akademismus, Romantizismus und dem auch in Frankreich übermächtigen Einfluss Wagners zu tun hatte. »Wir brauchen eine Musik für die Erde, EINE MUSIK FÜR ALLE TAGE« – so Jean Cocteau 1918 in Hahn und Harlekin. Cocteau fordert hier eine Ars gallica, eine französische Kunst, deren Stilideal er mit Schlichtheit, Klarheit, Maß und Geist umschreibt und im Schaffen des Außenseiters Erik Satie verkörpert sieht – »Musik, auf der man geht«. Saties Musik mit ihrer Kürze, Lakonie, sarkastischen Selbstironie und satz-

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technischen Ausdünnung war von größtem Einfluss auf den jungen Poulenc. Seinen Erstling, die 1917 uraufgeführte Rapsodie nègre, hat er Satie gewidmet. Mit seiner Plakativität und Motorik ist das für Klavier, Streichquartett, Flöte und Klarinette gesetzte Stück charakteristisch für die frühen Werke des Autodidakten, dem Satie daraufhin riet, bei Charles Koechlin Kompositionsunterricht zu nehmen. Auch der »Janus« Poulenc zeigt hier schon seine beiden Gesichter – das farcenhaft-clowneske im Mittelsatz, einem gesungenen Intermezzo, dessen dadaistischen Nonsens-Text er einer Sammlung pseudo-afrikanischer Poesie entnahm, sowie das poetisch-verhaltene der anschließenden Pastorale mit ihrem schnörkellosen, jede Emotion verweigernden Post-Impressionismus. Ähnlich provokant sind die Chansons populaires des 1919 entstandenen Zyklus Cocardes, in dem sich zum Gesang die wohl ausgefallenste Besetzung gesellt, die je eine Singstimme begleitet hat – Violine, Klappenhorn, Posaune, Kesselpauke und Triangel. Gewidmet sind die Lieder Raymonde Linossier, »die wie ich Pommes frites, mechanische Klaviere, Drehorgeln, Kitschdrucke, mit Muscheln besetzte Köfferchen und Paris liebt«. Verständlich, dass die Zeitgenossen Poulenc für einen komponierenden Clown hielten! Der junge Poulenc hat gierig aufgegriffen, was ihm unter die Finger geriet. Seine Kenntnis an Musik, Malerei und Literatur war einschüchternd. Vor allem aber – und das gibt seinen Kompositionen ihre besondere Farbe, die sie von Vorbildern, Zeitgenossen und selbst Freunden wie den Mitstreitern Honegger und Milhaud aus der Groupe des Six unterscheidet – war er ein begeisterter Besucher der Cafés-concerts, der Music Hall, der Revuen und des Jahrmarkts. Er genoss die dort herrschende Frechheit, Freizügigkeit und Sinnlichkeit. Der leichtfertige, eingängige Tonfall des Chansons schlägt in seinen Liedern immer wieder durch. Er hat später damit kokettiert, dass er gerne ein Maurice Chevalier geworden wäre. In dieser Liebe zum Amüsement und zur volkstümlichen Pariser Unterhaltungskunst folgte ihm unter den Six nur Georges Auric, während sein Interesse am Jazz und am Tango auch von Darius Milhaud und andern geteilt wurde. Gerade dort, wo die Einflüsse der Rummelplatzmusik und des Chansons am prägendsten sind, in den Cocardes oder den Chansons gaillardes (1925/26) mit ihren obszönen Texten, besteht er auf einem Vortrag, der auf jede Ironie verzichtet, mehr noch: »Meine Musik muss gesungen werden wie die von Schumann oder Fauré.« Nur ein einziges Mal unter den mehr als 150 Liedern, in den »Fêtes galantes« (1942), findet sich die Vortragsbezeichnung »dans le style des chansons-scies de café-concert«. Prägend für seine musikalische Sozialisation war, wie für viele seiner Zeitgenossen, aber auch die Begegnung mit der seit 1909 in Paris ansässigen Balletttruppe des russischen Impresario Serge Diagilew. In den Ballets russes erlebte er 1913 den Schock von Strawinskis Sacre du printemps und 1917 den Triumph von Parade, des in Zusammenarbeit von Cocteau, Picasso und Satie entstandenen Manifests der französischen Avantgarde, in dem die instrumenU W E SCH W EIK ERT

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Francis Poulenc an Pierre Bernac, 22. August 1953

» Ich habe die Carmélites begonnen und kann wortwörtlich nicht mehr schlafen. Ich denke, es wird gehen, aber es gibt so viele Probleme … Wenn mir dieses Werk gelingen sollte, dann nur durch die völlige Identifikation der Musik mit dem Geist Bernanos’. «


tale Klangwelt um Geräusche von Schreibmaschinen, Schiffshupen, Sirenen und Pistolen erweitert wurde. Poulenc hat in allen Gattungen seine Spuren hinterlassen. Der Zahl nach halten Instrumental- und Vokalkompositionen sich die Waage. Dem Gewicht nach freilich dominiert das Vokalwerk. Poulenc war in erster Linie Lyriker – Melodiker und nicht Harmoniker. Bezeichnend, dass er nach eigener Aussage die Klavierbegleitung der Lieder für seine beste Klaviermusik hielt. Seine über 150 Mélodies haben das französische Lied auf einen letzten Höhe- und End- punkt geführt. Wer das 1964 aus dem Nachlass erschienene Journal des mes mélodies liest, in dem er in der Art eines Tagebuchs über seine Liedkompositionen Rechenschaft gibt, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Was sich für den Hörer oft wie leicht hingeworfen, ja geradezu absichtslos ausnimmt, verdankt sich intensivster Arbeit und präziser Kalkulation. Poulencs Kunst ist eine Kunst der Andeutung, die zur Vollendung bringt, was er bei Vorgängern wie Duparc, Chabrier, Fauré, Debussy und Ravel lernen konnte. Wie Debussy suchte und fand er seine Texte in den Werken großer Dichter. Und wie Debussy war er ein Meister der französischen Deklamation. Seine eigenen Aufzeichnungen, vor allem aber die Schallplattenaufnahmen mit seinem bevorzugten Interpreten und Partner Pierre Bernac, machen deutlich, dass die Sprachgestaltung für ihn die Voraussetzung des Komponierens wie des Singens gewesen ist. Die Melodik folgt der Prosodie der Sprache und der Artikulation der Vokale und Konsonanten in einer Weise, für die es in der deutschen Musik außer dem Solitär Hugo Wolf kein Pendant gibt. Während die Schönberg-Schule die Deklamation der Texte dem musikalischen Material unterwirft, geht Poulenc genau umgekehrt vor. Bei ihm folgt der musikalische Gestus, wie im Chanson oder in den Songs von Kurt Weill, unmittelbar aus dem Wort: »Wenn man auf meinen Grabstein schriebe Hier ruht Francis Poulenc, der Musiker von Apollinaire und Éluard, so wäre das wohl mein schönster Ehrentitel.« Guillaume Apollinaire (1880–1918) und Paul Éluard (1895–1952) waren kaum zufällig die bevorzugten Lyriker. Bereits mit seinem ersten Liedzyklus, dem 1919 entstandenen Bestiaire ou Cortège d’Orphée (Bestiarium oder Orpheus’ Gefolge) auf Verse Apollinaires, findet Poulenc mit traumwandlerischer Sicherheit jenen Tonfall emotionsloser Magie, ja nüchterner Trance, der wesentlich zur Wirkung seiner Musik beiträgt. Im Unterschied zu Milhauds Machines agricoles (1919) oder Catalogue de fleurs (1920) – Lieder auf Werbetexte einer Landwirtschaftsausstellung bzw. den Katalog eines Blumengeschäfts – allerdings verbirgt sich bei Poulenc hinter der Ironie Zärtlichkeit, hinter dem Spott Nostalgie. Darum seine Warnung: »Le Bestiaire mit Ironie zu singen wäre ein völliges Missverständnis.« Es macht den Reiz dieser und anderer Apollinaire-Vertonungen im Œuvre Poulencs aus, dass sie auf dem schmalen Grat zwischen Trivialität und Magie balancieren. Bei aller bewussten Banalität sind sie immer auch geheimnisvoll. U W E SCH W EIK ERT

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Auch Éluards Lyrik ist, wie die Apollinaires, Interpretation der Wirklichkeit durch die Poesie, benützt kühne Bildassoziationen und Metaphern. Ihr zentrales Thema ist die sinnliche, sich über alle Konventionen hinwegsetzende Liebe. Das berührt den bekennenden Homosexuellen Poulenc auf besondere Weise. Persönlicher, intimer, direkter als auf die Gedichte Éluards hat er nie mit Musik geantwortet. »Die Hand wird vom Herzen beherrscht« – diese Zeilen aus einem Gedicht Éluards trifft auch auf den Zyklus Telle jour, telle nuit (1936) zu. Die Verbindung zwischen Wort und Musik ist hier so vollkommen, dass man nicht mehr weiß, »ob das Gedicht für die mélodie geschrieben wurde oder die mélodie für das Gedicht« (Henri Hell). Die hier vom Dichter wie vom Komponisten verherrlichte Liebe reicht in solche Tiefen, dass man in ihr auch eine Art Andacht finden kann. Während des Zweiten Weltkriegs schloss Éluard sich der Résistance an. Beispiele seiner politischen Lyrik, darunter das berühmteste Résistance-Gedicht Liberté, hat Poulenc in seiner 1943 entstandenen und im Untergrund verbreiteten Kantate Figure humaine zusammengefasst – in einer »halb religiösen Stimmung«, wie er selbst betont. Die Erotisierung des Freiheitsgedankens manifestiert sich in der mitreißenden doppelchörigen Vertonung auf überwältigende Weise, wobei sich das Tempo zunehmend beschleunigt, um in der triumphalen Schlussstrophe wieder zum Ausgangstempo zurückzukehren: »Und durch die Macht eines Wortes / Beginn ich mein Leben neu / Ich ward geboren dich zu wissen / Dich auszusagen // Freiheit.« Die neue Ernsthaftigkeit, die Telle jour, telle nuit auszeichnet, bestimmt nach seiner Rückkehr zum katholischen Glauben Geist und Stil seiner Musik. Als erstes geistliches Werk entsteht noch unter dem unmittelbaren Eindruck des Bekehrungserlebnisses in Rocamadour im August 1936 die Litanies à la Vierge Noire für Frauenchor und Orgel. Die prononcierte Hinwendung zum Katholizismus war in Frankreich, wo die Erneuerungsbewegung des »renouveau catholique« prominente Anhänger wie Paul Claudel und Georges Bernanos unter den Schriftstellern fand, nichts Ungewöhnliches, hat aber den Argwohn der Nachkriegsavantgarde gegenüber dem Konservativismus Poulencs noch verstärkt. Auslöser war der Tod eines Freundes. Bis an sein Lebensende nimmt die geistliche Musik nun einen zentralen Platz in Poulencs Schaffen ein – einerseits schmucklose, für den Gottesdienst als einfache Gebets- und Andachtsmusik bestimmte und damit auch Laienchören zugängliche A-cappella-Kompositionen wie die kleine Messe (1937), das choralartig ausgesetzte Salve Regina (1941), das Ave verum corpus (1952) oder die Quatre petites prières de Saint François d’Assise (1948); andererseits anspruchsvolle, mehr für den Konzertsaal als die Kirche bestimmte Werke wie das populäre, im Stil Vivaldis geschriebene Gloria (1959), das verinnerlichte, nach Art einer Grand motet im Stil Lullys oder Charpentiers gehaltene Stabat mater (1950), nicht zuletzt die aufwühlenden, ja erschütternden Kar-Responsorien (Sept Répons des Ténèbres, 1962), in denen Poulenc sich zum einzigen Mal komponierend mit der Zwölftontechnik auseinandersetzt. 55

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Mit den geistlichen Werken klärt sich auch der Stil Poulencs. Vorbild für die kraftvolle Linearität und die weitgehend ungebrochene Dur-Moll-Harmonik seiner Musik ist ihm die romanische Kunst: »Ich mag es, wenn der Geist der Religion in der Sonne genauso klar und realistisch zum Ausdruck kommt, wie wir ihn an den romanischen Kapitellen sehen.« Unter den zeitgenössischen Künstlern verehrt er Picasso (dem er die Figure humaine gewidmet hat), die zeichnerische Klarheit seiner Stimmführung aber erinnert eher an Matisse oder Dufy. Von den Alten verehrt er Mantegna mit seiner kristallinen Askese, während er als Schutzpatron seiner mystischen Versenkung den spanischen Barockmaler Zurbarán nennt. Anders als der ständig sich häutende Strawinski besitzt Poulenc einen konsistenten, von den Anfängen am Ende des Ersten Weltkriegs bis zu seinem Tod im Jahre 1963 nur geringfügig sich wandelnden Personalstil, mit einer Vorliebe für die Holzblasinstrumente und für die menschliche Stimme – Musik, für die man sich vielleicht nicht immer und auch nicht in allen Fällen begeistern kann, von der aber eine ganz eigene, ja einzigartige Faszination ausgeht. Der Grund liegt, ähnlich wie bei dem sonst allerdings ganz anders gearteten Leoš Janáček, in der additiven Form. Kurze Phrasen werden, durch Wiederholung oder Sequenzierung, aber unter Ausnutzung scharfer Kontraste auf engstem Raum, wie Satzbausteine mosaikartig aneinandergefügt. Der Satz selbst ist von kompromissloser Sachlichkeit. Nach anfänglichen Experimenten mit der Polytonalität favorisiert Poulenc einen geradlinigen, diatonischen Neoklassizismus, wie ihn auch Strawinski in den Zwanzigerjahren vertritt. Seit ↑ Mitte der Dreißigerjahre greift er vor allem in seinen Chorwerken zunehmend Vorherige Seiten: A-cappella-Techniken der Renaissance auf. Selbst dort, wo er in seinen Instru- Eve-Maud als mentalwerken die Sonatenform übernimmt, geht er der thematischen Arbeit Hubeaux Mère Marie, Maria aus dem Wege. Die Organisation des musikalischen Materials im Sinne des Serialismus Motolygina als Madame hat er spöttisch als »dodécaca« bezeichnet. Selbst Kontrapunktik begegnet in Lidoine, Nazarova seinen Chorwerken nur selten. Auch hier herrscht eine akkordische Homo- Maria als Sœur phonie vor. Kaum zufällig huldigt er Bach mit einer tänzerischen Valse-Im- Constance, Car als provisation sur le nom de Bach, so wie einst sein Vorbild Chabrier – »Ich liebe Nicole Blanche, ihn, wie man einen Vater liebt« – die Wagner-Begeisterung just mit einer Monika Bohinec Mère Jeanne, vierhändigen Quadrille Souvenirs de Munich über Themen aus Tristan und als Alma Neuhaus als Sœur Isolde unter Beweis stellte. Zur Oper ist Poulenc erst spät gekommen. Die Bühne war ihm zwar von Mathilde, ChorkarmeJugend an vertraut, wie seine Ballette und zahlreichen Bühnenmusiken do- litinnen* kumentieren. Nachdem erste Opernpläne – unter anderem nach Rabelais Eve-Maud (Gargantua), Shakespeare (The Tempest, Perikles) und Apollinaire (Casanova) Hubeaux als Marie, – unrealisiert blieben, vertonte er 1944 Apollinaires surrealistisches Schau- Mère Bernard Richter spiel Les Mamelles de Tirésias (Die Brüste des Tiresias) als Opéra bouffe. Der als Chevalier de Force, hier eingeschlagene clowneske Stil – er selbst vergleicht ihn mit vulgären la Nicole Car als Schundheften – findet sich bereits in der 1932 entstandenen weltlichen Kan- Blanche U W E SCH W EIK ERT

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tate Le Bal masqué auf Gedichte von Max Jacob – ein Werk, das seinerseits an Strawinskis burleske Kurzopern Renard und Mawra anknüpft. Konträr zu diesem Meisterwerk des »Strolchs« Poulenc steht – wenn auch nicht unvereinbar – das Chef-d’œuvre des »Mönchs« Poulenc, die Dialogues des Carmélites (Gespräche der Karmelitinnen). Auf den sardonischen Spaß folgt die Tragödie. Im Programmheft zur französischen Erstaufführung an der Pariser Opéra hat Poulenc selbst die Geschichte seiner Oper beschrieben: wie es zu dieser Stoffwahl kam, welche Gefühle ihn dabei bewegten, welche ästhetischen Prämissen ihn leiteten. Eine Interpretation hat er nicht gegeben, sondern sie uns – dem Publikum – überlassen. Die Dialogues sind Poulencs bei Weitem umfangreichstes Werk – Les Mamelles de Tirésias und La Voix humaine dauern beide weniger als eine Stunde – und eine vollgültige Oper. Mit großer Souveränität hat der als Librettist bislang gänzlich unerfahrene Komponist seine Vorlage zu einem dramaturgisch stimmigen Textbuch komprimiert, das – ganz im Sinne der von ihm bewunderten Verdi-Opern – aus den wortreichen Dialogen von Bernanos psychologisch klar umrissene Figuren herausfiltert, zu musizierbaren Situationen führt und, gerade bei diesem Stoff wichtig, für dramatische Abwechslung sorgt. Bernanosʼ aus dem Plan eines Filmdrehbuchs entstandene Dialogues sind in der Tat Gespräche – Bekenntnisse, in denen die weiblichen Hauptfiguren unablässig um den Tod und seine Überwindung im Heilsversprechen der göttlichen Gnade kreisen. Das meint Sœur Constance, die Jüngste, wenn sie sagt: »Man stirbt nicht für sich allein, sondern die einen für die anderen; oder sogar die einen anstelle der anderen, wer weiß?« Poulenc belässt den Dialogen die Schwere von Bekenntnissen, löst sie aber auf in dramatische Handlung. Auf diese Weise schafft er zugleich Raum für die Musik – vom fast veristisch ausagierten Tod Madame de Croissys bis zur kindlich naiven Geschwätzigkeit Constances. Poulenc hatte zwei Vorurteile auszuräumen, die zumindest die Aufnahme und Wirkung des Werkes hätten behindern können: zum einen, dass der Stoff keine Liebeshandlung aufweist; zum andern, dass ihm, da im Kloster spielend, mit seiner starken Dominanz von Frauenstimmen, das dramatische Gleichgewicht fehlt. Ob Poulenc Puccinis ebenfalls im Kloster spielenden Einakter Suor Angelica gekannt hat, lässt sich nicht belegen, aber man möchte es vermuten. Wie Puccini findet Poulenc einen einheitlichen Tonfall, geht in der musikalischen Differenzierung der Schwestern aber sehr viel weiter, weil bei ihm nicht das Schicksal einer Einzigen, sondern das eines ganzen Konvents im Zentrum steht. Seine Dramatik spielt zwar auch ins Weltliche hinein – vor allem durch das von der revolutionären Gewalt der Geschichte gesetzte Ende –, wird aber nicht ausschließlich von individuellen Voraussetzungen bestimmt wie das der ihrer Schande wegen ins Kloster gesteckten Angelica. Der Märtyrertod der sechzehn Karmelitinnen von Compiègne auf dem Schafott ist ein Exemplum und reicht damit in eine Dimension, die die von Puccini gestaltete individuelle Tragödie Angelicas nicht einmal berührt. 59

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Poulenc gibt dem Rituellen in seiner Musik von Anfang an großen Raum – etwa in den harten, markanten Orchesterschlägen oder im schwermütig lastenden Sarabandenrhythmus – und bereitet so das oratorische Ende mit dem »Salve Regina« der singend in den Tod gehenden Schwestern vor. Die Ausdünnung des Gesangs durch das unerbittlich niedersausende Fallbeil der Guillotine, bis am Schluss nur noch die Stimme Blanches übrig bleibt, ist von großer theatralischer Wirkung. Anders als Bernanos in seinem Lesedrama hat Poulenc keineswegs am Theater vorbeikomponiert. Theatralisch gedacht ist auch die stimmliche Auffächerung der fünf weiblichen Hauptrollen, die er nicht nur im Hinblick auf fünf klar umrissene Vorbilder (Amneris, Desdemona, Kundry, Thaïs und Zerlina), sondern auch auf fünf Sängerinnen der Pariser Opéra (darunter Denise Duval als Blanche) vornahm. Dialogues des Carmélites sind eine Gesangsoper; die Stimmen dominieren stets über das Orchester. Dabei ist es Poulenc gelungen, einen einheitlichen lyrischen Tonfall für das Ganze zu finden, zugleich aber die einzelnen Figuren musikalisch individuell zu charakterisieren, ja die Prosodie mit der Genauigkeit des Liedkomponisten zu beachten. Das geht noch über die vokale Diktion von Debussys Pelléas et Mélisande hinaus, mit der ihn manches verbindet – nicht zuletzt die diaphane Schwermut, die in beiden Partituren vorherrscht. Die stärksten Kontraste bestehen, wie schon angedeutet, zwischen Madame de Croissy und der jungen Novizin Constance. Die alte Priorin, die ihre Todesangst nicht überwinden kann, stirbt einen schweren Tod – in Gertrud von le Forts Novelle ist er nur angedeutet. Bei Poulenc, der hier Bernanos folgt, wird er zum zentralen, auch musikalisch deutlich herausgehobenen Ereignis des ersten Aktes. Ihre Nachfolgerin, Madame Lidoine, ist dagegen von nüchterner Geradlinigkeit auch im gesanglichen Duktus, wie ihre Ansprache im zweiten Bild des zweiten Aktes zeigt. Von ihr hebt sich die herbe Strenge der aus dem Hochadel stammenden Mère Marie ab. Stolz, ja Hochmut kann sie nicht verbergen. Sie ist es, die ihren Mitschwestern in der Abwesenheit Madame Lidoines das Bekenntnis zum Martyrium abpresst, dem sie dann allerdings selbst nicht folgt. Die lebenslustige junge Constance schließlich lockert den lastenden Ernst der Musik und ihre düstere Grundierung immer wieder ins Helle, ja Fröhliche auf. »Blanche, das bin ich«, so Poulenc in Anspielung auf Flauberts »Madame Bovary, cʼest moi!«. Diese Aussage gibt dem Glaubensbekenntnis Blanches die Würde eines künstlerischen Credos. Zwischen der Figur und ihrem Schöpfer findet eine durch die Musik bewirkte Osmose statt. Erst im Angesicht des freiwillig gewählten Todes überwindet Blanche ihre sie seit der Kindheit quälende Daseinsangst und erweist sich mit diesem Schritt würdig, den von ihr gewählten Klosternamen »de l’Agonie du Christ«, »von der Todesangst Christi« in der Gethsemane-Nacht, zu tragen. Dass sich Poulenc mit seiner Heroine identifiziert, wird sich noch ein weiteres Mal wiederholen – mit der namenlosen »Elle«, der jungen Frau U W E SCH W EIK ERT

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seines Monodrams La Voix humaine (1959). In diesem Einakter gestaltet er den beklemmenden Monolog einer Frau, die, von ihrem Geliebten verlassen, einen Selbstmordversuch unternommen hat und nun ein letztes Mal über Telefon mit ihm spricht. Poulenc hat selbst geschrieben (in einem Brief an Louis Aragon), dass die spirituelle, ja metaphysische Angst der Dialogues die Voraussetzung gewesen sei, um die kreatürliche Angst von Cocteaus Tragödie zu gestalten. Die überwältigende musikalische Umsetzung dieses Dialogs mit dem abwesenden Partner, dessen Äußerungen und Verhalten wir nur an den Reaktionen der telefonierenden Frau ablesen, zeigt nicht nur, wie vollkommen Poulenc inzwischen die Nuancen und Übergänge zwischen Rezitativ und Arioso beherrscht, sondern, wie intensiv er sich in die weibliche Psyche einzufühlen weiß. Während Britten in seinen Opern, von Peter Grimes bis zu Aschenbach in Death in Venice, Masken des Männlichen umkreist, gilt Poulencs Interesse Facetten des Weiblichen. Schon mit Les Biches und Aubade hatte er Ballette für Frauen komponiert, Mamelles des Tirésias kreist um den Geschlechtertausch, in den Dialogues steht eine Gruppe von Frauen und in La Voix humaine eine Einzelne im Zentrum des Interesses – als wäre es ihm in den Bühnenwerken darum gegangen, seinen eigenen Anteil an Weiblichkeit musikalisch zu imaginieren und auszuagieren. Wie anders soll man es verstehen, wenn er seiner Freundin Rose Dercourt-Plaut nach der Vollendung von La Voix humaine schreibt: »Ich sende Dir die Musik dieser qualvollen Tragödie (meine eigene). Es ist eine musikalische Konfession« – Worte, die das Bekenntnis von Blanche und Elle, die spirituelle Todesangst der Dialogues des Carmélites und die menschliche Verzweiflung von La Voix humaine auf eine gemeinsame kreatürliche Wurzel zurückführen: die Verlassenheit des Einzelnen im Angesicht des eigenen Todes. Ein letztes Mal zeigt Poulenc uns hier das Antlitz des Janus.

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Bußgebet in Todesnot

Ich bin erschöpft vom Seufzen, jede Nacht benetzen Ströme von Tränen mein Bett, ich überschwemme mein Lager mit Tränen. Mein Auge ist getrübt vor Kummer, ich bin gealtert wegen all meiner Gegner. Weicht zurück von mir, all ihr Frevler; denn der Herr hat mein lautes Weinen gehört. Gehört hat der Herr mein Flehen, der Herr nimmt mein Beten an. In Schmach und Verstörung geraten all meine Feinde, sie müssen weichen und gehen plötzlich zugrunde.

Psalm 6 (Auszug)



Gertrud von le Fort

ZU GEORGES BERNANOS’ » DIE BEGNADETE ANGST «

Der Ausgangspunkt meiner eigenen Dichtung war nicht in erster Linie das Schicksal der 16 Karmeliterinnen von Compiègne, sondern die Gestalt der kleinen Blanche. Sie hat im historischen Sinn niemals gelebt, sondern sie empfing den Atem ihres zitternden Daseins ausschließlich aus meinem eige­nen Innern und kann niemals von dieser ihrer Herkunft gelöst werden. ↑ Geboren aus dem tiefen Grauen einer Zeit, die in Deutschland überschattet Vorherige Seite: wurde von den vorauseilenden Ahnungen kommender Geschicke, stieg diese Eve-Maud als Gestalt vor mir auf gleichsam als »Verkörperung der Todesangst einer gan- Hubeaux Mère Marie, zen zu Ende gehenden Epoche«. Das beständig bangende Kind, das von der Michaela als Dienerschaft des Hauses »Häschen« genannt wird, das junge Mädchen, das Schuster Madame de aus Weltangst in ein Kloster tritt und sein religiöses Leben dort in der mys- Croissy GERT RU D VON LE FORT

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tischen Verbindung mit der Agonie Christi zu gestalten sucht, lebte bereits in meinen dichterischen Entwürfen vor der Einbettung seines Schicksals in das der 16 Karmeliterinnen von Compiègne. Durch einen Zufall wurde ich mit diesem bekannt. Eine kleine Notiz – die Fußnote eines den katholischen Orden gewidmeten Buches – über die singend zum Schafott ziehenden Karmeliterinnen löste den Entschluss aus, den Schauplatz für das Auftreten meiner kleinen Blanche aus der Gegenwart in die Französische Revolution zu verlegen. Ich folgte damit einer meiner Dichtung auch sonst naheliegenden Neigung, aktuelle Probleme und Gestalten in die Vergangenheit zurückzuspiegeln, um sie, von der allzu bedrängenden Nähe gelöst, reiner und ruhiger formen zu können. Durch die Vermittlung der Münchner Staatsbibliothek gelang es mir dann, zu den spärlichen Quellen vor­zudringen, durch die zwar die Namen der 16 Märtyrerinnen und die großen Umrisse ihres Schicksals, nicht aber ihre Persönlichkeiten sichtbar sind. Einen gewissen Anhaltspunkt zur Gestaltung einer solchen bot mir nur die wahrscheinlich aus königlichem Blute stammende Marie de lʼIncarnation. Auch die einzelnen Klosterfrauen, soweit sie bei mir erscheinen, sind also Geschöpfe meiner Dichtung, ebenso wie die Gestalt der Rose Ducor und der Petit Roi de Gloire. Mein Buch erschien in Deutschland im Jahre 1932 und wurde in verschiedene Sprachen übersetzt. Als französisches Buch kam es 1937 im Verlag von Desclée de Brouwer heraus. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg trat eine französische Gesellschaft mit dem Wunsch an mich heran, mein Werk zu ver­filmen, und zwar sollte Bernanos das Textbuch schreiben. Es wurde ein Vertrag unterzeichnet, in dem mir ausdrücklich eine mitarbeitende Einflussnahme auf den beabsichtigten Filmtext zugestanden war. Längere Zeit hörte ich nichts weiter über das Projekt, als dass die Ausführung einigen Aufschub erleide. Erst nach dem Tode des Dichters Bernanos legt mir der Verwalter seines Nachlasses ein entstandenes Manuskript vor, das aber kaum einen für den Film geeigneten Text darstellte. Alle bildhaften Möglichkeiten einer starken äußeren Handlung waren entfallen, fortgespült durch die Innerlichkeit eines Dialogs, der von vornherein mehr auf eine Buchausgabe oder auf die Bühne abgestimmt schien. Im übrigen verharrt das Werk weithin in Abhängigkeit von den meinen: es hat die Gestalt der Blanche de la Force übernommen und die ironische Umkeh­r ung ihres Namen de la Faiblesse, ihren religiösen Namen nach der Agonie des Herrn, vor allem das Grundmotiv des Ganzen, das Motiv der Angst und das »Getreusein der Angst«, endlich die große, frei von mir erfundene Schlussszene, das Einstimmen Blanches in das »Veni Creator« ihrer auf dem Schafott sterbenden Schwestern. Es hat endlich auch den schweren Tod der Priorin übernommen, wenn auch in ausgestalteter Form und selbständiger Bedeutung. In beiden Werken nämlich geht es nicht um den Sieg des Menschen über die Todesangst, sondern um den Sieg der Gnade über diese, nur ist de­ren Weg ein verschiedener. Bei Bernanos stellt der schwere Tod der Priorin das stellvertretende Opfer für Blanches späteren 65

Z U GEORGE S BER NA NOS’ »DIE BEGNA DET E A NGST«


Sieg dar, während bei mir die reine, fast unbegreifliche Gnade Gottes eingreift. Denn von einer Blanche, die denselben furchtbaren Kelch leeren musste wie das berühmte Fräulein von Sombreul ist nichts mehr zu verlangen als eben das gehorsame Aufsichnehmen der Todesangst – sie ist eine bis ins Letzte zerstörte Persönlichkeit. Bei Bernanos aber bewahrt Blanche bis zuletzt die Klarheit der Verantwortlichkeit. Und hier glaube ich nun auf den Grund zu stoßen, weshalb die Hand dieses großen Dichters nach der Gestalt einer fremden Dichtung griff – er ergriff sie als ein selbst vom Tode Gezeichneter. Es ist mir schon ein erschütternder Gedanke, dass sie ihn bei den letzten Stationen seines Dichterweges begleiten durfte, ich blicke mit Ehrfurcht auf das abschiednehmende Wort, das er ihrem Schicksal widmete. Ich wünsche diesem Wort einen tiefen, seelenergreifenden Widerhall. Aber ich muss allerdings hin­zusetzen: ich wehre mich gegen einige befremdende Interpretationen. Über die Karmeliterinnen von Compiègne konnte jeder Autor ein Werk schreiben, das ihm – wie es in jenen Interpretationen heißt – selbst angehörte, über eine Blanche de la Force nicht. Ich bin überzeugt, der Dichter Bernanos, lebte er noch, würde dies bestätigen.

Z U GEORGE S BER NA NOS’ »DIE BEGNA DET E A NGST«

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Francis Poulenc an Pierre Bernac, 19. Dezember 1953

» ›Sie‹ hat gestern Abend um sieben Uhr ihren letzten Atemzug getan, und nach was für einem schrecklichen Todeskampf! Mère Marie, ehrgeiziger denn je, war von unglaublicher Härte, die arme Blanche völlig durchgedreht und dieser Tölpel von einem Arzt vollkommen stumm. Was mich betrifft, so bin ich erledigt, aber sehr erleichtert, dass dieses Bild endlich fertig ist. Es ist mit Sicherheit das schönste. «



Gertrud von le Fort

DIE LETZTE AM SCHAFOTT

← Nicole Car als Blanche

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Sie heben, teuerste Freundin, in Ihrem Schreiben an mich mit Recht die außerordentliche Stärke hervor, welche in diesen Schreckenstagen das sogenannte ›schwache Geschlecht‹ täglich angesichts des Todes beweist. Bewundernd gedenken Sie der Haltung der ›edlen‹ Madame Roland, der ›königlichen‹ Marie-Antoinette, der ›herrlichen‹ Charlotte Corday und des ›heldenmütigen‹ Fräuleins von Sombreul (ich bediene mich Ihrer Adjektive). Sie schließen mit dem ›ergreifenden‹ Opfer der sechzehn Karmeliterinnen von Compiègne, die das »Veni Creator« singend zur Guillotine emporstiegen, und vergessen nicht die rührende Stimme der jungen Blanche de la Force, welche die vom Beil des Henkers zerrissene Hymne jener zu Ende sang. ›Wie verehrungswürdig‹, so schließt Ihr beschwingtes Schreiben, ›behauptet sich doch in all diesen Märtyrerinnen des Königtums, der Gironde und der verfolgten Kirche gemeinsam die Würde der menschlichen Natur gegenüber den Wogen eines grauenvollen Chaos!‹ Geliebte Schülerin Rousseaus! Ich bewundere wie immer die heitere und edle Haltung Ihres Geistes, die es Ihnen gestattet, selbst in den nächtlichsten Zusammenbrüchen des menschlichen Geschlechtes noch an den unzerstörbaren Adel unserer Natur zu glauben. Indessen, meine Freundin, auch das Chaos ist Natur, auch die Henker Ihrer Heldinnen sind es, auch die Bestie im Menschen und auch – Furcht und Entsetzen! Lassen Sie mich, der ich den GERT RU D VON LE FORT


Pariser Ereignissen viel schauervoller, weil unmittelbarer nah bin als Sie, teure Emigrantin, freimütig, gestehen, dass ich geneigt bin, in der erschütternden Gefasstheit unserer täglichen Todesopfer weniger die Würde der Natur als das letzte Aufgebot einer zusammenbrechenden Kultur zu erblicken (dieser von Ihnen so tief verachteten – ah, meine Liebe, wir haben gelernt, sie wiederum zu achten!): die strenge Etikette, die sie selbst dem Entsetzen noch vorschreibt, oder auch bei einigen wenigen – etwas ganz anderes. Sie nannten als letzte der erlauchten Reihe die junge Blanche de la Force. Indessen diese war keine Heldin in Ihrem Sinne. Nicht die Hoheit der menschlichen Natur war in diese zarte Hand gegeben, sondern vielmehr die Erweisung der unendlichen Gebrechlichkeit all unserer Kraft und Würde. Auch Schwester Marie de lʼIncarnation, die einzige überlebende Klosterfrau aus dem Karmel von Compiègne hat mir dies bestätigt. Allein, Sie wissen vielleicht noch gar nicht, dass Blanche de la Force eine abgefallene Klosterfrau des Karmel von Compiègne war, dem sie eine Zeitlang als Novizin angehörte. Lassen Sie mich daher einen Augenblick von dieser kurzen, aber überaus wichtigen Episode ihres Lebens sprechen, denn hier – so scheint mir – beginnt die berühmte Hymne zu Füßen des Schafotts. Sie kennen den Marquis de la Force, den Vater der jungen Blanche. Ich brauche Ihnen weder von seiner Verehrung für die skeptischen Schriften Voltaires noch für diejenigen Diderots zu sprechen. Auch seine Neigung zu gewissen liberalen Patrioten des Palais Royal ist Ihnen bekannt. Sie war von ihm selbst völlig konsequenzlos gemeint. Dieser feinsinnige Aristokrat dachte natürlich niemals daran, dass die schmackhaften Gewürze seiner Unterhaltungen auch einmal in die grobe Küche des Volkes gelangen könnten. Aber rechten wir nicht mit den verhängnisvollen Irrtümern unseres armen Freundes, er hat sie, wie so viele seinesgleichen, gebüßt. (Ah, meine Liebe, im Grunde haben wir alle sehr ähnlich gedacht!) In unserem Zusammenhang handelt es sich nur um die Frage, was einen Mann wie den Marquis de la Force bewegen konnte, seine Tochter dem Kloster anzuvertrauen. Ich habe während der Zeit, da Blanche in Compiègne weilte, manchmal Gelegenheit gehabt, mit ihrem Vater zu sprechen, wenn er in den Kaffeestuben des Palais Royal mit seinen Freunden über Freiheit und Gleichheit deklamierte. Jedesmal, wenn man ihn nach seiner Tochter fragte, erwiderte er mit betrübter Miene, dass er die ›Gefängnisse der Religion‹ – so liebte er die Klöster zu nennen – nicht weniger bedenklich finde als diejenigen des Staates; gleichwohl aber müsse er zugeben, seine junge Tochter fühle sich in dem ihren glücklich und – so glaubte er – vor allem geborgen. ›Armes, ängstliches Kind‹, so pflegte er zu schließen, ›die traurigen Umstände seiner Geburt bestimmen offenbar seine ganze Haltung zum Leben‹. Und in der Tat, dies war die allgemeine Ansicht. Doch ich darf kaum hoffen, dass Sie, teure Freundin, diesen letzten Hinweis des Marquis de la Force verstehen, waren Sie doch zu der Zeit, auf die er GERT RU D VON LE FORT

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sich bezieht, selbst noch Kind. Es handelt sich also um die bekannte Feuerwerk-Katastrophe bei der Vermählung Ludwigs XVI., d. h. des damaligen Dauphin mit der österreichischen Kaisertochter. Man hat später in dieser Katastrophe ein Fanal sehen wollen: das düstere Vorzeichen für das Schick­sal des fürstlichen Brautpaars. Nun, sie war vielleicht nicht nur das Vorzeichen des Schicksals, son­dern auch zugleich dessen Symbol (Meine Liebe, Revolutionen werden ja immer nur bedingt durch Misswirtschaft und Fehler des Systems verursacht, diese lösen sie vielmehr nur aus: ihr eigentliches Wesen ist der Ausbruch der Todesangst einer zu Ende gehenden Epoche. Und hierin liegt auch das Symbolhafte, von dem ich spreche). Es ist nämlich durchaus nicht richtig, dass die Nachlässigkeit der Ordnungsbehörden jenes beklagenswerte Unglück auf der Place Louis XV. verschuldet hat, sondern diese Meinung ist damals nur verbreitet worden, weil man sich gerne über die Rätselhaftigkeit jenes plötzlichen Angstausbruches der Massen hinwegtäuschen wollte. (Bekanntlich ist Rätselhaftigkeit für aufgeklärte Zeiten wie die unsere das Allerunerträglichste.) In Wirklichkeit waren die Ordnungsbehörden durchaus auf dem Posten gewesen, ja man hatte alle bei ähnlichen Anlässen üblichen Vorsichtsmaßregeln in geradezu mustergültiger Weise getroffen. Die Kutschen des Adels, respektvoll von der Menge begrüßt, darunter auch die der jungen, damals kurz vor ihrer Niederkunft stehenden Marquise de la Force, hielten außerhalb des Gedränges der Fußgänger, ebenso wie die schweren Wasserwagen der Pompiers, die man – gleichfalls in musterhafter Gewissenhaftigkeit – auf alle Fälle bereitgestellt hatte. An den Kreuzungen der Straßen, die auf die Place Louis XV. mündeten, standen Beamte der öffentlichen Ordnung, welche das Publikum leiteten. Dieses selbst war trotz der damals schon sprichwörtlichen ›Not der Zeit‹ noch sehr gut gekleidet und genährt. Jeder einzelne darinnen stell­te sozusagen einen wohlhabenden Bürger vor mit der anständigen Gesinnung eines solchen. In der freudigen Erwartung des Festes und in der Wohlerzogenheit gegenüber den Winken der Ordnungs­beamten schienen diese Menschen alles andere eher zu sein als die Bestandteile jenes anarchischen Chaos, das sie eine halbe Stunde später bilden sollten. Kurz, der Hereinbruch des Unglücks war wirklich ebenso plötzlich wie unbegreiflich, denn er war eben ein Fanal. Ein an sich unendlich harmloser kleiner Brand in der Vorratskammer der Feuerwerkskörper, durch den niemand gefährdet war, und eine blitzartig ausbrechende Panik warfen alles durcheinander. Die Ordnungsbeamten an den Straßenecken konnten plötzlich die Arme nicht mehr heben, denn sie waren nicht mehr da; die frohen loyalen Bürger und Bürgerinnen waren nicht mehr da; es war niemand mehr da wie ein einziges, wildes, von seiner eigenen Todesangst erdrücktes, massenhaftes menschliches Ungeheuer: das unter der scheinbar so festen Decke der gesitteten Gewohnheit hervorgebrochene, ewig im Untergrund der Dinge schlummernde Chaos. 71

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Die Marquise de la Force in ihrer Staatskarosse, in das schreckliche Gedränge eingekeilt, sah durch die Scheiben das grausige Schauspiel. Sie hörte die Hilferufe der zu Boden Gerissenen und das Stöhnen der Zertretenen, war aber selbst, im Innern ihrer geräumigen Kutsche geborgen, gleichsam wie in einem Schiff. Ganz unwillkürlich schob sie mit ihrer zierlichen Aristokratenhand den Riegel am Wagenschlag vor; er war ein wenig verrostet, denn die Karosse stammte noch aus den unruhigen Zeiten der Fronde. Damals hatte man solche Riegel an den Wagentüren angebracht, weil man ja nie wissen konnte, ob man nicht einmal in seiner Kutsche würde fliehen müssen. Seither waren diese Riegel überflüssig geworden. Nun fühlte sich die Marquise ganz sicher, wiewohl ein wenig erregt. Kein Wunder, denn der Anblick der Masse ist für den einzelnen stets etwas Peinliches. Aber sei es nun, dass die Pferde, durch die allgemeine Verwirrung und das Geschrei beunruhigt, von selber anzogen, sei es, dass der Kutscher, den Kopf verlierend, mit dem Wagen aus dem Gedränge entkommen wollte, kurz, dieser setzte sich plötzlich in Bewegung und raste in die vor Wut und Verzweiflung aufschreiende Menge hinein. Im Umsehen waren die Pferde zum Stehen gebracht, der Schlag der Kutsche aufgesprengt, und das brodelnde Chaos stürzte nach. Und nun erhob sich einen Augenblick lang tatsächlich so etwas wie der deutliche Vorspuk der Revolution. »Madame«, schrie die wilde Stimme eines Mannes, der ein blutüberströmtes Kind in den Armen hielt, »Sie sitzen hier im sicheren Gewahrsam Ihrer Kut­sche, während das Volk unter den Hufen Ihrer Pferde stirbt! Wahrlich, in Bälde werden Ihresgleichen sterben und wir in Ihren Kutschen sitzen!« Gleichzeitig sah die Marquise wie in hundertfacher Spiegelung das Gesicht des schreckenerfüllten und schreckeneinflößenden Ungeheuers; in der nächsten Sekunde war sie bereits aus ihrer Kutsche herausgezerrt und ihr eigenes Antlitz zu einer dieser bloßen Spiegelungen der Masse geworden. Man hat später wissen wollen, Blanche de la Force sei auf dem Heimweg ihrer Mutter von der Place Louis XV. in der halbzertrümmerten Kutsche geboren worden. Dies ist etwas zugespitzt erzählt. Die Wahrheit ist, dass die Marquise mit zerrissenen Kleidern und dem Gesicht einer Meduse zu Fuß in ihrem Palais anlangte, infolge des ausgestandenen Schreckens zu früh niederkam und bald darauf im Wochenbett verschied. Nun, ich stehe nicht an, wie Monsieur de la Force die Veranlagung ihres armen Kindes mit diesen Umständen seiner Geburt in Verbindung zu bringen. Nicht nur der Aberglaube des Volkes, sondern auch die Erfahrung unserer Ärzte hält solche Zusammenhänge durchaus für möglich. Blanche, sozusagen vom Entsetzen ihrer Mutter vorzeitig ins Licht der Welt gestoßen, schien keine andere Mitgift emp­fangen zu haben als eben dieses Entsetzen. Von früh auf zeigte sie eine Ängstlichkeit, welche über die bei Kindern häufig beobachtete weit hinausging. (Kinder pflegen sich ja vor allem möglichen zu ängstigen, man hält das gewöhnlich für Unverstand.) Ein plötzliches Bellen ihres eigenen Hündchens ließ sie erbeben, das fremde Gesicht eines neuen GERT RU D VON LE FORT

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Dieners wie vor einem Gespenst zurückweichen. Es war unmöglich, ihr das Grauen vor einer dunklen Nische des Ganges zu nehmen, an der die Hand ihrer Wärterin sie täglich vorüberführte. Man sah sie vor einem sterbenden Vögelchen oder einer toten Schnecke im Garten zur kleinen Statue erstarren. Es war, als schwebe dieses bedauernswerte kleine Leben in der beständigen Erwartung irgendeines grauenvollen Ereignisses, dem es, ähnlich jenen kleinen, kranken Tieren, die mit offenen Augen schlafen, nur durch unausgesetzte Wachsamkeit entgehen könne, oder als reiche sein großer, erschrockener Kinderblick durch das feste Gefüge des gesicherten Daseins überall in eine entsetzliche Zerbrechlichkeit hinab. »Rutscht die Treppe auch nicht aus?«, fragte Blanche, wenn man sie auf den festen Turm von Chateau la Force, dem Stammsitze ihres Geschlechtes, führte, wo der Marquis den Sommer verlebte. Dieser Turm hatte sieben Jahrhunderten getrotzt, und jedermann sah, dass er fähig war, noch weitere sieben auf sich zu nehmen. »Fällt die Wand auch nicht um? Geht die Gondel auch nicht unter? Werden die Menschen auch nicht böse?« Das alles waren Fragen, welche die kleine Blanche beständig im Munde führte. Dabei war es völlig gleichgültig, wenn man ihr dartat, dass kein Grund zur Angst vorliege. Sie hörte dann mit aufmerksamem Gesicht zu, sah alles an – denn sie war keineswegs unbegabt –, fürchtete sich aber trotzdem. Weder Zärtlichkeit noch Strenge noch der gute Wille des armen Kindes selbst, an dem nicht zu zweifeln war, vermochten an dieser unglücklichen Anlage irgend etwas zu bessern. Ja, dieser gute Wille verschlimmerte schließlich fast noch die Lage, denn Blanche wurde durch die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen derart niedergedrückt, dass sie, beständig zum Mut ermahnt, in dessen Fehlen einen geradezu schimpflichen Makel sah. Man war versucht, zu sagen, sie ängstige sich nun zu allem anderen auch noch vor ihrer eigenen Angst. Mit der Zeit freilich – denn, wie gesagt, Blanche war nicht unbegabt, sondern von gutem Verstand – fand sie kleine Auskunftsmittel, um wenigstens die Sache zu maskieren: Es hieß jetzt bei ihr nicht mehr: Rutscht auch die Treppe nicht aus? oder: Geht auch die Gondel nicht unter?, sondern Blanche wurde plötzlich müde oder unwohl, hatte dies oder jenes vergessen zu holen oder zu lernen, kurz, es fand sich irgendein Grund, dass sie die Gondel oder die Treppe nicht zu besteigen brauchte. Die Dienstboten lachten und nannten sie ›Häschen‹, aber es besserte sich nichts, ja Blanche litt wahrscheinlich noch mehr als früher unter ihrer Schwäche, weil sie jetzt danach trachtete, sie zu verbergen. Man sah ihr dies zuweilen geradezu qualvoll an. Nie gab es ein an sich wohlgebildetes Kind von Adel, das sich so scheu bewegte und so unglücklich errötete wie Blanche de la Force. Der große Titel ihres Geschlechtes schien wie ein Plakat, das man ihr zu Unrecht angeheftet hatte, der stolze Name La Force geradezu wie ein Hohn. Nur Blanche traute man sich zuversichtlich sie zu rufen, wenn man nämlich an ihr erblassendes Gesichtchen dachte. Aber ›Häschen‹ blieb doch der passendste Name. 73

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VIDEOSTILLS VON ARON KITZIG

Aron Kitzigs Videoarbeiten für die Neuproduktion von Dialogues des Carmélites erscheinen vertraut. Motive aus der langen europäischen Kunst- und Kulturgeschichte kommen bei der Betrachtung in den Sinn, Namen wie Tintoretto oder Breughel. Auf den zweiten Blick wird der Eindruck zweifelhaft: Aron Kitzigs Videos rufen die entsprechenden visuellen Erinnerungen ab, ohne mit ihnen identisch zu werden. Diesen Effekt erreicht der Künstler durch die Arbeit mit »Generative Adversarial Networks«, die er so beschreibt: »Ein Generative Adversarial Network, kurz GAN, ist ein Machine-Learning-Modell, das in der Lage ist, Daten zu generieren. Es besteht aus zwei konkurrierenden Künstlichen Neuronalen Netzwerken (KNN). Eines hat die Aufgabe, echt wirkende Daten zu erzeugen, das andere klassifiziert die Daten als echt oder künstlich. So können GANs Unbestimmtheit generieren, indem sie plausible Kompositionen und Texturen erstellen, die sich dennoch einer kohärenten Erklärung entziehen. Die visuellen Unbestimmtheiten können als Wahrnehmungsprozess verstanden werden. GANs bieten ein Werkzeug für eine Kunst, die auf der Modellierung von Wahrnehmungsunsicherheit basiert.« Im Sinne von Gustav Mahlers Anspruch, »mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen«, beschreibt Aron Kitzig die Intentionen und Möglichkeiten dieser Arbeitsweise: »Das GAN hebt unsere Erinnerungssplitter an die Oberfläche und knüpft sie zu einem neuen Narrativ zusammen. Nicht die Ästhetisierung der von GANs geschaffenen Objekte, sondern die Aisthesis, das Erkennen mit den Sinnen und die erweiterte Wahrnehmung durch Interaktion mit den Videoobjekten stellen hier den interessanten Aspekt dar.« V IDEOST ILLS VON A RON K ITZIG

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Thomas Hellmuth

ZWISCHENTÖNE

Französische Revolution, Religion und Kirche


Im Zentrum der Darstellung stehen in Dialogues des Carmélites theologische Auseinandersetzungen, die damit enden, dass die Karmelitinnen den bevorstehenden Tod singend empfangen, gestärkt durch einen geradezu erschreckenden religiösen Fanatismus. Die Auseinandersetzungen zwischen den Nonnen sind fiktiv, auch die Auseinandersetzung mit der Todesangst beruht nicht auf historischen Figuren, sondern auf theologisch-philosophischen Überlegungen. Den historischen Rahmen dazu bietet allerdings die Französische Revolution sowie die wahre Begebenheit der Hinrichtung von sechzehn Ordensschwestern, den »Märtyrinnen von Compiègne«, am 17. Juli 1794.

Hintergründe Bereits im ersten Akt findet sich eine historische Anspielung. Chevalier de la Force berichtet, die »Masse des Pöbels« werde das »Bildnis von Réveillon« auf der Place de la Grêve verbrennen. Er weist damit auf die »Réveillon-Unruhen« im Vorfeld der Französischen Revolution hin, die am 27. April 1789 tatsächlich stattgefunden haben. Gerüchten zufolge plante damals Jean-Baptiste Réveillon, ein erfolgreicher Tapetenfabrikant, den Lohn seiner Arbeiter zu senken. Angesichts der hohen Preise kam es in der Folge zu heftigen Tumulten, die durch das französische Militär blutig niedergeschlagen wurden. Die Handlung der Oper verdichtet den Verlauf der Revolution auf eine kurze Zeitspanne, insbesondere durch einen Zeitsprung von den Réveillon-Unruhen am Beginn des ersten Aktes zur gesetzlich verordneten Auflösung aller Klöster im Jahr 1792 am Ende des zweiten Aktes. Damit wird die Französische Revolution vereinfachend mit der Grande Terreur, der Schreckensherrschaft, gleichgesetzt. Die Revolution durchlief verschiedene Phasen, deren detaillierte Darstellung die Oper, die einen anderen Schwerpunkt setzt, nicht leisten kann. Gerade das Verhältnis der Revolution zu Kirche und Religion nahm aber eine komplexe Entwicklung, die genauer zu betrachten auch mit Blick auf die Gegenwart lohnt.

Das Christliche in der Revolution Die Französische Revolution war zunächst keineswegs kirchen- und religionsfeindlich. Freilich wussten die Revolutionäre, dass die Gesellschaft nicht einfach von heute auf morgen umgestaltet werden konnte. Sie waren aber auch Kinder ihrer Zeit, christlich sozialisiert und selbst gläubig. Teile des Klerus beteiligten sich sogar an der Revolution. Sie sahen im Christentum eine Religion der Brüderlichkeit und die Revolution daher nicht als Gegensatz zu ihrem Glauben. Letztlich ging es den Revolutionären um die Neustrukturierung der Kirche, die lange Zeit das Ancien Régime legitimiert hatte – war 83

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doch angeblich der König von Gott eingesetzt. Nun wurde versucht, eine National- bzw. Staatskirche einzuführen: Die Kirche sollte für die christliche Lehre, der Staat für die notwendige kirchliche Struktur zuständig sein. Eine Trennung von Kirche und Staat war noch keineswegs vorgesehen. Bereits am 4. August 1789 hob die Nationalversammlung mit Zustimmung des Klerus die feudalen Privilegien auf. Dazu gehörte auch die Abschaffung des Zehent, womit die Kirche einen großen Teil ihrer Einkünfte verlor. Am 2. November 1789 wurde – allerdings gegen die Zustimmung der Mehrheit des Klerus in der Nationalversammlung – die Verstaatlichung der Kirchengüter beschlossen. Deren Verkauf sollte die Staatskasse füllen. Am 13. Februar 1790 folgte die Aufhebung jener Klöster, die im Armenwesen und in der Bildung engagiert waren. Um klösterlichen Nachwuchs zu verhindern, wurde auch das Ablegen des Gelübdes verboten. Allerding übernahm der Staat mit der »Zivilverfassung des Klerus« vom 12. Juli 1790 mehrere Aufgaben, die bislang der Kirche vorbehalten waren: Die Pfarrer erhielten einen staatlichen Mindestgehalt, der mit 1.200 Livres um vieles höher war als der bisherige. Ebenso kam der Staat für die Kosten der Gottesdienste auf und erklärte sich bereit, für die Armenpflege zu sorgen. Die Bildung sollte ohnehin staatliche Angelegenheit sein.

Schisma und Radikalisierung Im Gegenzug mussten Bischöfe und Pfarrer nun wie Beamte einen Eid auf den Staat und die Verfassung leisten. Wer den Schwur verweigerte, war gezwungen, sein Amt zurückzulegen. Damit kam gleichsam Sand ins Getriebe der Nationalkirche. Die meisten Bischöfe, die alle aus adeligen Kreisen stammten, verweigerten den Eid, und nur rund die Hälfte der Pfarrer legten ihn ab. Als Papst Pius VI. im März 1791 schließlich die Zivilverfassung verurteilte, fielen manche der Pfarrer, die zunächst den Eid geleistet hatten, wieder davon ab. Ein Schisma, eine Glaubensspaltung, die von den Revolutionären keineswegs gewollt gewesen war, wurde damit eingeleitet: auf der einen Seite die Nationalkirche, auf der anderen die Eidverweigerer, die von den Gegnern der Revolution vereinnahmt werden konnten. Im dritten Akt von Dialogues des Carmélites wird darauf angespielt, wenn ein Beamter die Karmelitinnen dazu beglückwünscht, sich »des Glücks der Freiheit unter dem Auge des Gesetzes zu erfreuen«, und ihnen den »Kontakt zu Feinden der Republik« untersagt, zu »Priestern, die Helfer des Papstes und der Tyrannei sind«. Seit Ende 1791 kam es schließlich zur Radikalisierung der Revolution. Die konterrevolutionären Kräfte, unterstützt durch die eidverweigernden Priester, gewannen an Boden. Durch die vergebliche Flucht des Königs Ludwig XVI. nach Varennes im Juni 1791 ging das Vertrauen der Bevölkerung in die Monarchie verloren. Da half es auch nicht, dass sie am 30. September T HOM AS HELLMU T H

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1791 in eine konstitutionelle umgewandelt wurde und der König den Eid auf die Verfassung leistete. Frankreich erklärte zudem den äußeren Feinden den Krieg, die Bedrohung der Revolution von außen wurde damit gegenwärtig. Als die preußische Armee im August 1792 die französische Grenze überschritt, erhitzte sich die ohnehin schon angespannte Stimmung. Zudem sorgten Arbeitslosigkeit sowie unzureichende Löhne bei gleichzeitiger Verteuerung der Lebensmittel in der Bevölkerung für Unmut. Die Sans-Culotten, eine Aufstandsbewegung von Handwerkern, Tagelöhnern und Armen, gewannen an Bedeutung. Ein erster Höhepunkt der Radikalisierung waren schließlich die Septembermorde von 1792, bei denen rund 1.200 Häftlinge – darunter auch eidverweigernde Priester – getötet wurden. Kurz darauf wurde die Erste Französische Republik ausgerufen, im Jänner 1793 der König zum Schafott geführt.

Säkularreligion In dieser turbulenten Zeit wandte sich die Revolution nun zunehmend gegen die Kirche und den christlichen Glauben. Am 18. August 1792 – in Poulencs Oper wird fälschlicherweise der 17. August genannt – beschloss die Nationalversammlung, die noch verbliebenen Klöster aufzulösen und deren Besitz zu konfiszieren. Bis zum Beginn der Grande Terreur im Juni 1793 emigrierten bis zu 30.000 Priester, viele wurden deportiert oder inhaftiert. In den Dialogues wird durch die Figur des Beichtvaters, der seines Amtes enthoben wurde und sich auf der Flucht befindet, darauf angespielt. Verfassungstreue Priester erhielten keinen Gehalt mehr, die Trennung von Kirche und Staat wurde eingeleitet und Religion zur Privatsache. In diesem Zusammenhang versuchte der Staat, den christlichen Kult durch eine säkularisierte Religion zu ersetzen. An die Stelle religiöser Feierlichkeiten trat eine republikanische Andachtskultur, die die »Märtyrer der Freiheit«, bekannte Revolutionäre, ehrte. Auf »Freiheitsfesten«, die unter anderen in Kirchen veranstaltet wurden, ersetzte die Freiheitsallegorie Marianne die Jungfrau Maria. Am 7. Mai 1794 wurde zudem der »Kult des Höchsten Wesens« per Dekret verordnet, einen Monat später fand dieser im »Fest des Höchsten Wesens« auf dem Pariser Marsfeld seinen Ausdruck. So einfach war aber die christliche Tradition nicht auszulöschen. Vielmehr ließ diese Radikalität nicht wenige Revolutionäre zweifeln.

Grande Terreur Zur Zeit des »Festes des Höchsten Wesens« begann auch die Grande Terreur, die Schreckensherrschaft. Diese sollte bis zum Juli 1794 dauern. Ein Revolutionstribunal wurde eingerichtet, das über Schuld oder Unschuld jener 85

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zu entscheiden hatten, die der Opposition gegenüber der Revolution verdächtigt wurden. Die Verteidigung der Angeklagten wurde abgeschafft, die Geschworenen urteilten in deren Abwesenheit. Das Tribunal hatte nur die Wahl zwischen Freispruch und Tod, den die Karmelitinnen in Poulencs Oper im Glauben an ihre Erlösung durch einen christlichen Märtyrertod in Kauf nehmen. Wie ihre historischen Vorbilder, die »Märtyrinnen von Compiègne«, weigern sie sich, ihr Ordensgelübde zu brechen, und stellen sich im Schisma auf die Seite des Papstes und der Revolutionsgegner. Die Schreckensherrschaft war zunächst als politisches Instrument gedacht, um die Republik angesichts der Bedrohung durch die inneren und äußeren Feinde zu verteidigen. Letztlich spiegelt sie aber die Paranoia, die von den Ängsten und dem Misstrauen der Revolutionäre genährt wurde. Die Schreckensherrschaft entzog sich zunehmend jeglicher rationalen Kontrolle. »Die Köpfe fielen wie Dachziegel«, meinte etwa Antoine Fouquier-Tinville, der öffentliche Ankläger des Revolutionstribunals, der schließlich ebenfalls dem Schafott zum Opfer fallen sollte. Maximilien Robespierre, ursprünglich Gegner der Todesstrafte und später der bedeutendste Verfechter der Schreckensherrschaft, war ihm bereits vorausgegangen. Rund 16.500 Todesurteile wurden durch die Guillotine vollstreckt. Die gesamten Opferzahlen können nur geschätzt werden und variieren zwischen 25.000 und 40.000.

Widersprüche? Hatte sich die Revolution durch die Schreckensherrschaft nun desavouiert oder hatte diese dazu beigetragen, die Errungenschaften der Revolution zu sichern? Unbestritten ist, dass die Französische Revolution nicht – wie in den Dialogues des Carmélites – auf Unmenschlichkeit und Blutrausch reduziert werden kann. So proklamierten etwa die Revolutionäre die Menschen- und Bürgerrechte, noch zu Beginn der Schreckensherrschaft wurde die erste republikanische Verfassung entworfen. Diese sah unter anderem das allgemeine Wahlrecht – wenn auch nur für Männer – vor, und auch die Menschen- und Bürgerrechte sowie soziale Rechte wurden in ihr verankert. Aufgrund des Krieges trat sie aber nie in Kraft. Unbestritten ist auch, dass die katholische Kirche ihre Bedeutung nicht völlig verloren hatte. Sie konnte ihre Strukturen neuerlich aufbauen, ab 1795 wurden wieder allgemeine Gottesdienste gestattet, das Läuten der Glocken und religiöse Veranstaltungen in der Öffentlichkeit blieben aber verboten. Die Trennung von Kirche und Staat, die während der Revolution eingeleitet wurde, fand im Übrigen 1905 ihre gesetzliche Verankerung. Die Kirche erhielt den Status eines Vereines, der katholische Glaube wurde mit anderen Glaubensrichtungen gleichgestellt und die freie Ausübung der Religion zur Privatsache erklärt. Dialogues des Carmélites beschreibt sehr private, intime Kämpfe der Protagonistinnen um Glaube, Angst und Zweifel. Die Identifikation von Revolution T HOM AS HELLMU T H

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und Grande Terreur hat aber eine politische Dimension, die von der Autorin und dem Autor der beiden Vorlagen, Gertrud von le Fort und Georges Bernanos, durchaus intendiert gewesen sein dürfte. Bernanos war zwischen 1909 und 1918 Mitglied der rechtsextremen Action Française und aktiver Monarchist. Le Fort ist wiederum vom politischen Katholizismus beeinflusst und wird dem Renouveau catholique zugerechnet, einer im frühen 19. Jahrhundert gegründeten philosophischen und literarischen Bewegung, die sich gegen die Aufklärung sowie gegen die Trennung von Kirche und Staat wandte. Von den totalitären Regimen, die sie erlebten, distanzierten sich beide – le Fort zog sich in der Zeit des Nationalsozialismus ins Allgäu zurück und publizierte weiter christliche Literatur, Bernanos engagierte sich in der Résistance gegen das Vichy-Regime. Dass beiden die Monarchie von Gottes Gnaden näher blieb als die Demokratie, darf aus ihrer Darstellung der Französischen Revolution, die diese Demokratie vorbereitete, geschlossen werden. Diese Revolution ist ohne Zweifel in ihrer dialektischen Entwicklung zu betrachten. Sie war durch die Grande Terreur gekennzeichnet, lässt sich aber nicht allein auf die Guillotine, ursprünglich als humane, weil schnelle Hinrichtungsmethode erfunden, reduzieren. Sie basierte auf Ideen der Aufklärung und zielte – auch wenn sie zum Teil auf Irrwege geriet – auf eine bessere, gerechtere Welt. Im Sinne der Verteidigung und Stärkung der Demokratie lohnt es sich, all diese Aspekte im Blick zu behalten und auch Poulencs Oper Dialogues des Carmélites die Zwischentöne hinzuzufügen.

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» ES IST NICHT DIE REGEL, DIE UNS BEHÜTET. WIR HÜTEN DIE REGEL. «

Aus der » Ursprünglichen Konstitution « der hl. Teresa von Jesus für die Unbeschuhten Karmelitinnen (1567-1568)


Von der Ordnung, die bei den geistlichen Übungen zu beachten ist Im Sommer sollen sie um 5 Uhr aufstehen und bis um 6 Uhr im inneren Gebet verweilen. Im Winter sollen sie um 6 Uhr aufstehen und bis um 7 Uhr im inneren Gebet verweilen; unmittelbar nach diesem inneren Beten werden die Horen gebetet, außer es besteht der Wunsch, an einem hohen Festtag oder am Gedächtnistag eines Heiligen, zu dem die Schwestern eine besondere Andacht haben, die Non noch zu lassen, um sie unmittelbar vor der Messe zu singen. An Sonntagen und Festtagen sollen Messe und Vesper gesungen werden, die Matutin an den ersten beiden Ostertagen. An anderen hohen Festen kann auch die Laudes gesungen werden, besonders am Fest des glorreichen heiligen Josef. Der Gesang sei niemals moduliert, sondern auf einem Ton. Gewöhnlich werde alles rezitiert, einschließlich der Messe. Der Herr wird es dann schon so fügen, daß uns noch etwas Zeit zum Erwerb des notwendigen Lebensunterhaltes bleibt. Jede Schwester soll sich in der Zelle oder Einsiedelei aufhalten, die ihr von der Priorin angewiesen wurde, solange sie nicht in der Gemeinschaft weilt oder in den Ämtern beschäftigt ist. Denn dies ist der Ort ihrer Zurückgezogenheit, wo sie mit einer Arbeit beschäftigt sein sollen, außer an den Festtagen. So wird das Gebot der Regel erfüllt, daß jede für sich allein sein soll. Keine Schwester kann ohne Erlaubnis der Priorin die Zelle einer anderen betreten; dies verpflichtet unter schwerer Strafe. Nie soll ein gemeinsamer Arbeitsraum vorhanden sein.

Von der Klausur Um weltliche Angelegenheiten sollen sich die Schwestern nicht kümmern und auch nicht darüber reden, es sei denn, dies könnte denen, die mit ihnen darüber sprechen, eine Hilfe bedeuten, sie zur Erkenntnis der Wahrheit führen oder sie in einem Leid trösten. Wird aber kein fruchtbringendes Gespräch beabsichtigt, so soll man es, wie gesagt, bald beenden; denn es ist wichtig, daß unsere Besucher einen Gewinn mitnehmen und nicht Zeit vertan haben, und dass auch uns noch Zeit bleibt. Keine Schwester umarme eine andere oder berühre ihr Gesicht oder ihre Hände, noch sollen sie Partikularfreundschaften pflegen; vielmehr sollen sich alle in gleicher Weise lieben, wie Christus es seinen Aposteln oft gebietet. Denn da sie so wenige sind, wird ihnen das leicht möglich sein, indem sie sich bemühen, ihren Bräutigam nachzuahmen, der für uns alle sein Leben. hingegeben hat. Diese gegenseitige Liebe, die sich auf alle und nicht nur auf einzelne Schwestern erstreckt, ist sehr wichtig. 89

AUS DER »U RSPRÜ NGLICHEN KONST IT U T ION« DER HL . T ER E SA VON J E SUS


Weder die Priorin noch eine der andern Schwestern darf sich mit »Frau« betiteln lassen.

Von den Pflichten der einzelnen in ihrem Amt Aufgabe der Mutter Priorin ist es, sorgfältig darüber zu wachen, daß die Regel und die Konstitutionen in allem beobachtet werden und der gute Ruf des Hauses und die Klausur bewahrt werden. Auch schaue sie darauf, wie die Schwestern ihre Ämter erfüllen. Mit der Liebe einer Mutter kümmere sie sich um ihre geistlichen wie ihre zeitlichen Bedürfnisse. Sie bemühe sich, geliebt zu werden, damit ihr gehorcht wird. Aufgabe der Mutter Subpriorin ist es, für den Chor zu sorgen, damit das Beten und Singen in rechter Weise und mit Pausen geschehe, worauf sehr zu achten ist. In Abwesenheit der Priorin führe sie an ihrer Stelle den Vorsitz; sie soll immer bei der Kommunität sein und die Fehler im Chor und im Refektorium korrigieren, sofern die Priorin abwesend ist. Die Novizenmeisterin verfüge über große Klugheit, Gebetsgeist und Erfahrung im geistlichen Leben. […] Wer dieses Amt innehat, darf in keiner Weise nachlässig sein, denn es handelt sich darum, Menschen heranzubilden, in denen der Herr wohnen möchte. Sie begegne ihnen mit Wohlwollen und Liebe, ohne sich über ihre Fehler zu wundern, denn jede einzelne muß von ihr Schritt für Schritt abgetötet werden, entsprechend der geistigen Kraft, die sie wahrnimmt. Dabei achte sie mehr darauf, daß sie in den Tugenden nicht fehlen als auf die Härte der Buße.

Von den Verstorbenen Die Sakramente sollen gespendet werden, wie es das Ordinarium vorschreibt. Für die Verstorbenen sollen die Exequien mit Vigil und gesungener Messe gehalten werden und am Jahrestag finde ebenso eine Vigil mit gesungener Messe statt. Und wenn es möglich ist, lasse man die Gregorianischen Messen lesen; wenn nicht, so tue man, was man kann. Der ganze Konvent soll für die Verstorbenen des eigenen Konventes ein Totenoffizium beten, für die anderen, das heißt, für alle Schwestern nach der ursprünglichen Regel, sollen sie ein Totenoffizium beten, und, wenn möglich, eine gesungene Messe für sie feiern. Für die nach der gemilderten Regel werde ein Totenoffizium gebetet. → Maria Motolygina als Madame Lidoine

AUS DER »U RSPRÜ NGLICHEN KONST IT U T ION« DER HL . T ER E SA VON J E SUS

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Klage eines Alleingelassenen

Der Tod soll sie überfallen, lebend sollen sie hinabfahren ins Totenreich. Denn ihre Häuser und Herzen sind voller Bosheit. Ich aber, zu Gott will ich rufen, der Herr wird mir helfen. Am Abend, am Morgen, am Mittag seufze ich und stöhne; er hört mein Klagen. Er befreit mich, bringt mein Leben in Sicherheit vor denen, die gegen mich kämpfen, auch wenn es viele sind, die gegen mich angehen.

Psalm 55 (Auszug)


Simone de Beauvoir

MEIN TOD GEHÖRT NICHT MIR

Ahnte ich es schon, dass ich so weit kommen würde? Als ich das kleine Fläschchen aus Paules Beutel genommen hatte, wollte ich es wegwerfen: und verbarg es unten in meinem Handschuhkasten. Ich brauchte nur auf mein Zimmer zu gehen, eine kurze Bewegung, und ich bin am Ende. Dieser Gedanke beruhigt mich. Ich lege meine Wange an das warme Gras und sage leise: »Ich will sterben«; meine Kehle entspannt sich, ich fühle mich plötzlich sehr ruhig. Lewis hat nichts damit zu tun. Es sind nun vierzehn Tage her, seit die üppige Orchidee verwelkt ist und ich sie weggeworfen habe, diese Sache ist geregelt. Bereits in Chicago hat meine Heilung eingesetzt: ich werde genesen, ich komme nicht darum herum. Auch die Menschen haben nichts damit zu tun, die man beinahe überall mordet, auch nicht der drohende Krieg: ob man getötet wird oder stirbt, macht keinen so großen Unterschied, und alle Welt stirbt so ziemlich im gleichen Alter, etwa mit vierzig Jahren. Nein. Das berührt mich alles nicht; wenn die Dinge mich berühr­ten, fühlte ich mich lebendig, wünschte ich nicht, dem Leben ein Ende zu bereiten. Aber von neuem wie 93

SIMON E DE BEAU VOIR


damals, als ich fünfzehn war und vor Furcht schrie, verfolgt mich der Tod. Ich bin keine fünfzehn mehr. Ich habe nicht mehr die Kraft zur Flucht. Wegen einiger Tage des Wartens hängt sich der Todeskandidat in seiner Zelle auf: und ich soll jahrelang geduldig ausharren! Wozu denn? Ich bin müde. Der Tod verliert viel von seinem Schrecken, wenn man müde ist. Wenn ich vor Sehnsucht nach ihm sterben kann, nehmen wir doch die Gelegenheit wahr. So geht es nun vierzehn Tage, seit meiner Überfahrt nach Paris. Robert holte mich an der Gare des Invalides ab. Er sah mich nicht gleich. Er ging am Bahnsteig auf und ab, mit greisenhaften Trippelschritten, und blitzschnell dachte ich: »Er ist alt!« Er lächelte mir zu, sein Blick war immer noch gleich jung: aber sein Gesicht hat begonnen, sich aufzulösen, und es wird sich weiter auflösen, bis es sich zersetzen wird. Seitdem höre ich nicht auf zu denken: »Er hat noch zehn oder fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre vor sich: zwanzig Jahre sind kurz! Dann stirbt er: Er wird vor mir sterben.« Nachts fahre ich aus dem Schlaf hoch und sage mir: »Er wird vor mir sterben.« Heute morgen sprach er mit Henri, sie sagten, man müsse wieder von vorne anfangen, man fange immer wieder von vorne an, es gehe nicht anders; sie holten Pläne hervor und diskutierten. Und ich betrachtete seine Zähne; nur die Zähne, in denen sich das Knochengerüst zu erkennen gibt, sind aufrichtig in einem Körper. Ich betrachtete Roberts Knochengerüst und sagte mir: »Er wartete auf seine Stunde.« Die Stunde wird kommen. Man läßt uns mehr oder weniger lange dahinschleichen, aber eine Begnadigung gibt es nicht. Ich werde Robert mit wächserner Haut, mit falschem Lächeln auf den Lippen auf einem Bett aufgebahrt sehen und werde allein vor seiner Leiche stehen. Welch eine Lüge, die Grabgestalten aus Stein, die ruhig in den Grüften nebeneinander liegen, die Ehegatten, die sich auf ihren Graburrien innig umschlingen! Unsere Aschen mag man vermengen: als Tote wird man uns nicht vereinen. Zwanzig Jahre lang glaubte ich, wir lebten zusammen; aber nein! Jeder ist allein, eingeschlossen in seinen Körper, mit seinen Arterien, die unter seiner eintrocknenden Haut verhärten, mit seiner Leber, seinen Nieren, die sich verbrauchen, und seinem verblassen­den Blut, mit seinem Tod, der dumpf in ihm reift und ihn von allen andern trennt. Ich weiß, was Robert mir sagen würde – er hat es mir bereits gesagt: »Ich bin kein Toter mit Bewährungsfrist, ich bin ein Lebendiger.« Er hatte mich überzeugt. Aber damals sprach er zu einer Lebenden, und das Leben ist die Wahrheit der Lebenden. Ich spielte mit dem Begriff des Todes: nur mit dem Begriff; ich war noch von dieser Welt. Heute ist es anders. Ich spiele nicht mehr. Der Tod ist da; er verdeckt das Blau des Himmels, er hat die Vergangenheit in sich hineingeschlungen und die Zukunft verzehrt; die Erde ist eisig, das Nichts hat wieder von ihr Besitz ergriffen. Ein Albtraum schwebt noch durch die Ewigkeit: eine Blase, die ich zum Platzen bringe. Ich stütze mich auf einen Ellbogen: ich betrachte das Haus, die Linde, die Wiege, in der Maria schläft; es ist ein Tag wie alle andern, der Himmel scheint SIMON E DE BEAU VOIR

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blau. Aber welche Einöde! Alles schweigt. Vielleicht ist dieses Schweigen nur das Schweigen meines Herzens. In mir ist keine Liebe, zu niemand, zu nichts. Früher dachte ich: »Die Welt ist weit, unerschöpflich, eine Existenz allein reicht nicht hin, sich an ihr zu berauschen!« Und nun betrachte ich sie gleichgültig, sie ist nichts weiter als ein riesiger Verbannungsort. Was liegt mir an fernen Milchstraßen und Milliarden Menschen, die mich nie kennenlernen werden. Ich habe einzig mein Leben, es allein zählt, und nun zählt es gerade nicht mehr. Ich sehe keine Betätigung mehr auf Erden. Mein Beruf, welch ein Witz! Wie sollte ich wagen, eine Frau vom Weinen abzuhalten, einem Mann zum Schlaf zu verhelfen? Nadine liebt Henri, ich bedeute ihr nichts mehr. Robert ist mit mir glücklich gewesen, wie er es mit einer andern Frau oder für sich allein gewesen wäre. »Gib ihm Papier und Zeit, das ist alles, was er braucht.« Er wird um mich trauern, gewiß; er hat aber keine Begabung zur Reue, und im Übrigen wird auch er bald unter dem Rasen liegen. Lewis brauchte mich; ich dachte: »Es ist zu spät zum Anfangen, zu spät zum Wiederanfangen«, ich habe mir Gründe zurechtgelegt, alle Gründe haben mich verlassen; er braucht mich nicht mehr. Ich lausche: kein Anruf, nirgendsher. Nichts hilft mir gegen dieses kleine Fläschchen, das unten in meinem Handschuhkasten auf mich wartet. Ich richte mich auf und betrachte Maria. Auf ihrem verschlossenen Gesichtchen erschaue ich wiederum meinen Tod. Eines Tages wird sie mein Alter erreicht haben, und ich werde nicht mehr da sein. Sie schläft, sie atmet, sie ist ganz wirklich: sie ist die Wirklichkeit der Zukunft und des Vergessens. Es wird Herbst werden, dann läuft sie vielleicht im Garten oder sonstwo herum; wenn sie zufällig meinen Namen ausspricht, wird ihr niemand antworten: und mein Schweigen wird sich im Schweigen des Universums verlieren. Aber sie wird ihn überhaupt nicht aussprechen; ich werde so völlig abwesend sein, dass niemand es bemerkt. Diese Leere macht mich schwindeln. Und doch erinnere ich mich: das Leben war manchmal schön wie ein Jahrmarkt, und der Schlaf süß wie ein Lächeln. In Gao schliefen wir auf der Hotelterrasse, am Morgen fing sich der Seewind im Mückennetz, und das Bett schaukelte wie eine Barke, es war auf dem Dach eines Schiffes, das nach Teer roch, ein riesiger orangeroter Mond ging hinter Ägina auf; Himmel und Erde flossen in den Wassern des Mississippi wieder ineinander, die Hängematte schaukelte im Hof, in dem die Kröten rumorten, und ich sah die Sternbilder zu meinem Haupte kopfstehen. Ich schlief im Sand der Dünen, im Heu der Scheunen, auf Moos, auf Kiefernnadeln, in Zelten, im Stadion von Delphi und im Theater von Epidauros mit dem Himmel als Dach, auf dem Boden von Wartesälen, auf Holzbänken, in alten Baldachinbetten, in ländlichen Bauernbetten mit hochgetürmten Daunenbetten, auf Balkonen, auf Sitzbänken und auf Dächern. Ich schlief auch in Menschenarmen. Genug! Jede Erinnerung ruft einen Todeskampf wach. Wie viele Tote trage ich in mir: Tot ist das kleine Kind, das ans Paradies glaubte, tot das junge 95

MEIN TOD GEHÖRT N ICH T MIR



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Mädchen, das Bücher, Ideen und den Mann, den es liebte, für unsterblich hielt, tot die junge Frau, die sich überglücklich in einer verheißungsvollen Welt erging, tot die Lie­bende, die lachend in Lewisʼ Armen erwachte. Sie sind ebenso tot wie Diego und Lewisʼ Liebe; auch sie haben kein Grab: darum bleibt ihnen der Frieden der Hölle versagt; sie erinnern sich noch schwach, und sie rufen seufzend den Schlaf. Habt Erbarmen mit ihnen. Lasst uns sie alle auf einmal begraben. Ich ging zum Haus, lautlos kam ich vor Roberts Fenster. Er sitzt an seinem Tisch und arbeitet; wie nahe er ist, wie fern! Ich brauchte ihn nur zu rufen, er würde mir zulächeln: und dann? Er würde mir aus weiter Ferne, einer unüberwindlichen Ferne zulächeln. Von seinem Leben zu meinem Tod ist kein Übergang. Ich ging auf mein Zimmer, ich öffnete den Handschuhkasten: ich nahm das Fläsch­chen heraus. Der Tod, der in mir ist, ich halte ihn in meiner Hand: nur eben eine kleine braune Phiole. Plötzlich schreckt er mich nicht mehr, ich hab ihn in meiner Gewalt. Ich legte mich auf das Bett, das Fläschchen fest in der Hand, und schloß die Augen. Ich fror und war doch schweißgebadet; ich hatte Angst. Jemand wollte mich vergiften. Ich war es, ich war es nicht mehr, es war dunkle Nacht, alles war weit weg. Ich hielt das Fläschchen fest. Ich hatte Angst. Aber mit ganzer Seelenkraft wollte ich die Angst überwinden. Ich werde sie überwinden. Ich werde trinken. Sonst beginnt alles wieder neu. Ich will nicht. Alles wird neu beginnen; ich werde meine Ideen wohlgeordnet wiederfinden, alles in der rechten Reihenfolge, auch die Dinge, die Menschen, Maria in ihrer Wiege, Diego verschwunden, Robert friedlich unterwegs zum Sterben, Lewis zum Vergessen, ich zur Vernunft, der ordnenden Vernunft: die Vergangenheit im Rücken, die Zukunft voraus, unsichtbar, Licht und Finsternis voneinander geschieden, diese Welt glorreich aus dem Nichts auftauchend, und mein Herz genau da, wo es schlägt, nicht in Chicago, nicht bei Roberts Leiche, sondern in seinem Brustkorb, unter meinen Rippen. Alles wird neu beginnen. Ich werde mir sagen: »Ich habe eine depressive Krise durchgemacht.« Die Einsicht, die mich an dieses Bett fesselt, werde ich einer Depression zuschreiben. Nein! Ich habe sattsam geleugnet, vergessen, ich bin sattsam geflüchtet, habe sattsam gelogen; einmal, ein einziges Mal und für immer will ich der Wahrheit zum Sieg verhelfen. Der Tod hat gesiegt: nun ist er wahr. Eine Geste genügt, und diese Wahrheit wird sich verewigen. Ich schlug die Augen auf. Es war licht; aber die Nacht schied sich nicht mehr vom Tag. Ich schwamm im Schweigen, einem tiefen, religiösen Schweigen, wie damals, als ich mich auf mein Deckbett legte und wartete, dass ein Engel mich mitnehme. Der Garten, das Zimmer schwiegen. Auch ich. Ich hatte keine Angst mehr. Alles willigte in meinen Tod. Ich willigte in ihn. Mein Herz schlägt für niemand mehr; es ist, als schlage es überhaupt nicht mehr, als seien alle andern Menschen bereits wieder zu Staub zerfallen. Aus dem Garten drangen Geräusche, Schritte, Stimmen herauf, aber sie MEIN TOD GEHÖRT N ICH T MIR


störten das Schweigen nicht. Ich sah und war blind, ich hörte und war taub. Nadine rief laut mit ärgerlicher Stimme: »Mama hätte Maria nicht allein lassen sollen.« Die Worte strichen über meinen Kopf hinweg, ohne mich zu berühren: ihre Worte konnten mich nicht mehr erreichen. Plötzlich wurde in mir ein schwaches Echo, ein feines nagendes Geräusch vernehmbar: »Ist etwas vorgefallen?« Maria war allein auf dem Rasen: eine Katze konnte sie kratzen, ein Hund sie beißen. Nein: sie lachten im Garten; aber das Schweigen schloss sich nicht wieder. Das Echo wiederholte: »Ich hätte es nicht tun sollen.« Und ich stellte mir Nadines Stimme überlaut und entrüstet vor: »Du hättest es nicht tun sollen. Du hattest kein Recht dazu!« Das Blut stieg mir ins Gesicht, und etwas Lebendiges brannte mir im Herzen: »Ich habe kein Recht dazu!« Das Brennen weckte mich auf. Ich richtete mich auf, schaute verdutzt die Wände an; in meiner Hand hielt ich das Fläschchen, das Zimmer war leer, aber ich war nicht mehr allein. Sie werden auf das Zimmer kommen; ich werde nichts sehen, aber sie werden mich sehen. Wie konnte ich es nur vergessen? Ich kann ihnen meine Leiche nicht zumuten samt allem, was in ihren eigenen Herzen damit zusammenhängt: Robert, der sich über dieses Bett beugt, Lewis im Haus von Parker mit Worten, die vor seinen Augen tanzen, Nadines wütendes Schluchzen. Ich kann nicht. Ich stand auf, machte einige Schritte und ließ mich auf den Frisierschemel fallen. Wie seltsam. Ich sterbe allein; und doch erleben die andern meinen Tod. Lange blieb ich vor dem Spiegel sitzen und betrachtete an mir die Züge einer aus den Fluten Erretteten. Die Lippen wären blau gewesen, die Nasenflügel zusammengepresst; aber nicht für mich, sondern für sie. Mein Tod gehört nicht mir. Das Fläschchen ist noch da, in Reichweite, der Tod ist immer noch gegenwärtig: aber die Lebenden sind es noch mehr. Solange Robert wenigstens am Leben ist, kann ich ihnen nicht entgehen. Ich bringe das Fläschchen wieder an seinen Platz. Zum Tod verurteilt; doch auch zum Leben verurteilt; auf wie lange? Auf zehn, auf zwanzig Jahre? Ich sagte: zwanzig Jahre sind kurz, nun kommen mir zehn Jahre unendlich, wie ein langer, dunkler Tunnel vor. »Kommst du nicht herunter?« Nadine hat angeklopft, sie ist hereingekommen und steht neben mir. Ich fühle, wie ich erbleiche. Sie wäre hereingekommen, hätte mich auf dem Bett mit zuckendem Körper liegen sehen: wie entsetzlich! »Was hast du? Bist du krank?«, fragte sie mit besorgter Stimme. »Ich hatte Kopfschmerzen. Ich bin nach oben gegangen, Aspirin zu nehmen.« Mühelos kommt die Stimme aus meinem Mund, sie scheint ganz normal. »Und Maria hast du ganz allein gelassen«, sagte Nadine vorwurfsvoll. »Ich wäre gleich wieder hinuntergegangen, aber ich hörte deine Stimme. Da bin ich oben geblieben, um mich einen Augenblick auszuruhen.« Ich fuhr fort: »Es ist mir schon besser.« Nadine sieht mich argwöhnisch an: sie vermutet aber nur, dass ich Herzbeschwerden habe. SIMON E DE BEAU VOIR

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»Wirklich? Du fühlst dich besser?« »Das Aspirin hat mir gut getan.« Ich erhebe mich, um ihrem forschenden Blick zu entgehen: »Komm! Wir gehen nach unten.« Henri reichte mir ein Glas Whisky. Er schaute Papiere mit Robert durch, der mit munterer Miene den Sachverhalt erklärte. Ich frage mich verblüfft: »Wie habe ich nur so unbesonnen sein können? Wie konnte ich die endlose Reue vergessen, die ich ihm bereitet hätte?« Nein, es war keine Unbesonnenheit. Einen Augenblick war ich wirklich auf die andere Seite hinübergewechselt, auf der alles bedeutungslos wird, alles gleich nichts ist. »Hörst du mir zu?«, sagte Robert. Er lächelte mich an: »Wo bist du denn?« »Hier«, sagte ich. Ich bin hier. Sie leben, sie sprechen mit mir, ich bin lebendig. Mit beiden Beinen bin ich wieder ins Leben hineingesprungen. Die Worte dringen in mein Ohr, nach und nach gewinnen sie einen Sinn. Da sind die Voranschläge für die Wochenzeitung und Henris Entwürfe. Ob ich keine Idee für einen Titel hätte? Keiner von denen, die sie sich bisher ausgedacht hatten, befriedigte sie. Ich suche nach einem Titel. Ich sage mir: nachdem sie stark genug sind, mich dem Tod zu entreißen, wissen sie mir vielleicht zu neuem Leben zu verhelfen. Bestimmt könnten sie das. Entweder versinkst du in Gleichgültigkeit, oder die Erde bevölkert sich neu; ich bin nicht versunken. Da mein Herz weiterschlägt, muss es wohl für etwas, für jemanden schlagen. Da ich nicht taub bin, werde ich neue Anrufe vernehmen. Wer weiß? Vielleicht werde ich eines Tages von Neuem glücklich. Wer weiß? → Aus: Die Mandarins von Paris (Les Mandarins, 1954)

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MEIN TOD GEHÖRT N ICH T MIR




Teresa von Ávila

AUS » DIE WOHNUNGEN DER INNEREN BURG «

Die Ersten Wohnungen Als ich heute unseren Herrn anflehte, er möge durch mich reden – weil mir nicht so richtig einfiel, was ich sagen, noch wie ich mit der Erfüllung dieses Gehorsamsauftrags beginnen sollte, bot sich mir an, was ich jetzt sagen will, sozusagen als eine Art Ausgangspunkt, nämlich unsere Seele als eine gänzlich aus einem einzigen Diamanten oder sehr klaren Kristall bestehende ↑ Burg zu betrachten, in der es viele Gemächer gibt, so wie es im Himmel viele Vorherige Wohnungen gibt ( Joh 14,2). Denn wenn wir es recht bedenken, Schwestern, Seiten: Bernard Richter so ist die Seele des Gerechten nichts anderes als ein Paradies, in dem er, wie als Chevalier de la Force, er selbst sagt, seine Freuden erlebt (Spr. 8,31). Nicole Car als Soviel ich verstehen kann, ist das Eingangstor zu dieser Burg das innere Blanche, Kraus Beten und die Betrachtung, und damit meine ich das mündliche nicht we- Michael als Marquis de la niger als das betrachtende; um nämlich Gebet zu sein, muss es immer mit Force, Betrachtung einhergehen. Denn ein Beten, das nicht darauf achtet, mit wem Maria Motolygina man spricht und was man erbittet, wer der Bittsteller ist und von wem er es als Madame erbittet, das nenne ich kein Gebet, auch wenn man dabei noch so sehr die Lidoine, Tänzerin: Sofiia Stepura Lippen bewegt. T ER E SA VON ÁV ILA

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Gott, unsere Burg

Der Herr der Heerscharen ist mit uns, der Gott Jakobs ist unsre Burg. Die Wasser eines Stromes erquicken die Gottesstadt, des Höchsten heilige Wohnung. Gott ist in ihrer Mitte, darum wird sie niemals wanken; Gott hilft ihr, wenn der Morgen anbricht. Völker toben, Reiche wanken, es dröhnt sein Donner, da zerschmilzt die Erde. Der Herr der Heerscharen ist mit uns, der Gott Jakobs ist unsre Burg.

Psalm 46 (Auszug)


Ihr dürft euch diese Wohnungen nicht wie aufgereiht, eine hinter der anderen, vorstellen, sondern richtet eure Augen auf die Mitte, die der Raum oder Palast ist, wo der König weilt, und denkt euch das wie eine Zwergpalme, die viele Schalen hat, die all das Köstliche umgeben, um an das, was essbar ist, heranzukommen. So gibt es auch hier um diesen Raum herum viele weitere und genauso über ihm, denn die Dinge der Seele muss man sich immer in Fülle und Weite und Größe vorstellen, was sie nicht aufbauscht, weil sie viel mehr fasst als wir uns vorzustellen vermögen, wobei sich diese Sonne, die in jenem Palast wohnt, überall hin mitteilt. Ihr müsst beachten, dass in diese Ersten Wohnungen noch beinahe nichts von dem Licht eindringt, das vom Palast ausgeht, wo der König weilt. Auch wenn sie nicht so düster und schwarz sind wie bei einer Seele, die in Sünde lebt, ist das Licht doch ziemlich verdunkelt, so dass er, ich meine, wer darin weilt, es nicht sehen kann, was aber nicht zu Lasten des Raumes geht, ich weiß nicht, wie ich mich verständlich machen soll, sondern weil ihn die vielen Schlangen, Vipern und giftigen Wesen, die zusammen mit ihm hineingekommen sind, das Licht nicht wahrnehmen lassen. Es ist, wie wenn jemand irgendwo hineinkommt, wo viel Sonne einfällt, er aber seine Augen mit Lehm verschmiert hätte, so dass er sie kaum aufmachen kann. Der Raum ist zwar hell, aber er genießt das nicht wegen des Hindernisses oder dieses Getümmels von wilden Tieren und Vieh, die ihn dazu bringen, die Augen zuzumachen, sodass er außer ihnen nichts sieht. So muss meines Erachtens eine Seele dran sein, die zwar nicht in einem üblen Zustand, aber doch so tief in weltliche Dinge verstrickt und, wie ich gesagt habe, von Besitzstreben, Prestigesucht und Geschäften durchdrungen ist, dass diese sie ihre Schönheit weder sehen noch genießen lassen, obwohl sie das eigentlich gern wollte, und es auch nicht so aussieht, als könne sie so vielen Hindernissen entkommen. Und doch ist es sehr wichtig, um in die Zweiten Wohnungen eintreten zu können, sich zu bemühen, von unnötigen Dingen und Geschäften abzulassen, jeder so, wie es seinem Lebensstand entspricht. Das ist, um in die Hauptwohnung zu gelangen, für ihn etwas so Wichtiges, dass ich das für unmöglich halte, wenn man nicht damit den Anfang macht, ja es ist sogar wichtig, um ohne große Gefahr in der zu verweilen, in der man ist, selbst wenn man schon in die Burg eingetreten wäre. Denn bei so viel giftigem Zeug lässt es sich unmöglich vermeiden, dass man hin und wieder gebissen wird.

Die Vierten Wohnungen Da diese Wohnungen schon näher an den Ort herankommen, an dem der König weilt, sind sie von großer Schönheit, und es gibt dort so köstliche Dinge zu sehen und zu verstehen, dass der Verstand außerstande ist, auch nur einen Umriss zu geben, wie man sie wenigstens in etwa so zutreffend beschreiben T ER E SA VON ÁV ILA

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könnte, dass es für die, die keine Erfahrung davon haben, nicht sehr dunkel bleibt; doch wer diese hat, wird es sehr gut verstehen, vor allem, wenn diese schon groß ist. In diese Wohnungen schleichen sich die giftigen Viecher nur selten hinein, und wenn sie sich einschleichen, richten sie keinen Schaden an, vielmehr lassen sie Gewinn zurück. Ich halte es sogar für viel besser, wenn sie in dieses Stadium des inneren Betens hineinkommen und Krieg anzetteln; denn wenn es keine Versuchungen gibt, könnte der Böse die von Gott geschenkten Wonnen täuschend vorspielen und viel mehr Schaden anrichten, als wenn sie da sind, und die Seele könnte nicht so viel Gewinn haben, zumindest dadurch, dass er alle Dinge, durch die sie zu Verdiensten käme, von ihr fernhält und sie gewohnheitsmäßig in Versenkung weilen lässt. Während ich das so niederschreibe, denke ich darüber nach, was in meinem Kopf passiert, dieses Dröhnen, das ich anfangs erwähnt habe, und das es mir fast unmöglich machte, den mir erteilten Auftrag zum Schreiben ausführen zu können. Es klingt so, als gäbe es in ihm viele gewaltige Flüsse und als stürzten sich diese Wassermassen in die Tiefe, dazu viele Vögelchen und Gezwitscher, allerdings nicht in den Ohren, sondern im oberen Teil des Kopfes, wo der obere Teil der Seele weilt, wie es heißt. Ich habe mich lange dabei aufgehalten, weil ich den Eindruck hatte, dass die gewaltige Aufwärtsbewegung des Geistes schnell nach oben drang. Gebe Gott, dass ich in den nächsten Wohnungen daran denke, die Ursache dafür anzugeben, denn hier passt das nicht gut hin, doch wäre es leicht möglich, dass mir der Herr dieses Kopfweh hat geben wollen, damit ich es besser verstehe. Denn bei all diesem Getöse in ihm stört es mich weder beim inneren Beten, noch bei dem, was ich gerade sage, sondern die Seele bleibt ganz ungeteilt in ihrer Ruhe und ihrer Liebe, in ihren Wünschen und ihrer klaren Erkenntnis.

Die Sechsten Wohnungen Kommen wir also nun mit der Hilfe des Heiligen Geistes auf die Sechsten Wohnungen zu sprechen, in denen die Seele von der Liebe ihres Bräutigams bereits verwundet und mehr und mehr darauf aus ist, allein zu sein und, ihrem Lebensstand entsprechend, möglichst alles zu beseitigen, was sie an diesem Alleinsein hindert. Es ist der Seele dieser Anblick so tief eingemeißelt, dass sie sich nur noch danach sehnt, sich seiner von Neuem zu erfreuen. Ich habe aber schon gesagt, dass man in diesem Gebet nichts so sieht, dass man von »Sehen« sprechen könnte, nicht einmal in der Fantasie; »Anblick« sage ich nur wegen des Vergleichs, den ich herangezogen hatte. Die Seele ist bereits fest entschlossen, keinen anderen Bräutigam zu nehmen. Doch schaut der Bräutigam nicht auf die heißen Wünsche, die sie hat, damit die Verlobung schon jetzt stattfinde, da er möchte, dass sie es sich noch sehnlicher wünsche 105

AUS » DIE WOHN U NGEN DER IN N ER EN BU RG «


und es sie etwas koste: Auch wenn es das höchste aller Güter und das Ganze bei einem so riesigen Gewinn unbedeutend ist, sage ich euch, Töchter, dass es des Beweises oder des Zeichens für das, was sie schon hat, bedarf, um es aushalten zu können. Ach, mein Gott, was für innere und äußere Prüfungen erleidet sie, bis sie in die Siebte Wohnung eintritt!

Die Siebten Wohnungen Sobald es unserem Herrn gefällt, Erbarmen zu haben mit dem, was diese Seele, die er sich geistlich bereits zur Braut genommen hat, aus Sehnsucht nach ihm erleidet und schon erlitten hat, versetzt er sie, bevor er die geistliche Vermählung mit ihr vollzieht, in seine eigene Wohnung, was diese siebte ist. Denn wie er im Himmel eine Bleibe hat, so muss er auch in der Seele eine haben, in der nur Seine Majestät wohnt, sagen wir einen zweiten Himmel. Deshalb ist es ganz wichtig für uns, Schwestern, nicht zu meinen, dass die Seele etwas Dunkles sei, da es uns, weil wir sie nicht sehen, gemeinhin wohl so vorkommen muss, als gäbe es kein weiteres inneres Licht, sondern nur dieses hier, das wir sehen, und als herrsche im Innern unserer Seele so etwas wie Dunkelheit. Da weilt ein König in seinem Palast, und obwohl es in seinem Reich viel Krieg und Leid gibt, harrt er deswegen dennoch an seinem Platz aus. So ist es auch hier: Auch wenn sich in jenen anderen Wohnungen ein großer Wirrwarr und giftige Viecher ausbreiten und man den Lärm hört, dringt in diese keiner ein, der sie daraus vertreiben könnte. Selbst wenn ihr das, was sie hört, ein bisschen zusetzte, so ist das doch nicht so stark, dass es sie aufwühlte und ihr den Frieden nähme, da die Leidenschaften bereits überwunden sind, so dass sie Angst haben, dort einzudringen, da sie unterjochter herauskämen. Da mag uns unser ganzer Leib wehtun, aber wenn der Kopf gesund ist, wird uns deshalb, weil der ganze Leib wehtut, dennoch der Kopf nicht wehtun. Ich komme ins Lachen über diese Vergleiche, die mich nicht befriedigen, aber ich weiß keine anderen. Haltet davon, was ihr wollt; was ich gesagt habe, ist die Wahrheit.

AUS » DIE WOHN U NGEN DER IN N ER EN BU RG «

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Francis Poulenc an Henri Hell, 14. Februar 1954

» Ohne Zweifel war dieses Klima der Angst nötig für meine Damen. Sie werden sehen, es ist eine furchtbare Atmosphäre, und ich glaube, dass es den Leuten in der Pause kalt den Rücken hinunterläuft. Ich habe die Stimmung im Duett zwischen Bruder und Schwester genau getroffen. Eine Mischung aus Ängstlichkeit und Zärtlichkeit. Ich hätte nie geglaubt, dass ich ein Werk in diesem Ton schreiben könnte. Ich danke Gott dafür, trotz der Leiden, die es bedeutet. Und danach wird man wieder vom ›charmanten Poulenc‹ sprechen. «




Oliver Láng

» DRAMATISCHES LEBEN, DAS VON INNEN HER KOMMT « Zur Erstaufführung von Dialogues des Carmélites an der Wiener Staatsoper


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Als Poulencs Oper am 14. Februar 1959 an der Wiener Staatsoper erstmals erklang, war das Sujet in seiner dramatisierten Fassung etlichen Wiener Theaterbesucherinnen und -besuchern womöglich nicht mehr gänzlich unbekannt. Denn bereits 1952 kam die Opern-Vorlage, Georges Bernanosʼ Die begnadete Angst, zur Burgtheater-Premiere, die Produktion wurde bis 1963 24mal gespielt, unter anderem waren in der Premiere Annemarie Düringer (Blanche), Helene Thimig (Maria) und Maria Eis (Erste Priorin) zu erleben. Die Schauspiel-Inszenierung besorgte in einem Teo Otto-Bühnenbild Oskar Wälterlins, der auch die Regie der deutschsprachigen Erstaufführung in dem von ihm sehr erfolgreich geleiteten Zürcher Schauspielhaus übernommen hatte. In den Nachhall der Wiener Premiere mischten sich differierende Rezensionstöne, die ihre Motivation auch in politisch-ideologischen Grundlegungen hatten. War für die Oberösterreichischen Nachrichten die Vorstellung »eine der gewaltigsten Burgtheater-Abende seit langem. Auch für die Ungläubigen«, so stieß sich die Rezension in der Österreichischen Zeitung, dem Organ der sowjetischen Besatzungsmacht, unter anderem heftig an der nicht glorifizierenden Darstellung der Französischen Revolution und sprach von einer dramaturgisch »unüberbietbaren Primitivität«. Ja, mehr noch: Sogar »die Trikolore wird von der Regie als schmutziger Fetzen gezeigt«. Es ist anzunehmen, dass der Kritiker oder die Kritikerin sieben Jahre später auch mit der Umsetzung der Erstaufführung von Poulencs Oper an der Wiener Staatsoper keine große Freude gehabt hätte. Denn in den Bühnenbildentwürfen von Georges Wakhewitsch sind im letzten Bild großformatige, zerfetzte Trikoloren zu sehen, die in einer räumlichen Balance zur Guillotine stehen und deren Rot dasselbe ist wie jenes des skizzierten Blutes. Wakhewitsch, der für das Haus am Ring über zwanzig Arbeiten schuf, war einer der führenden Bühnen- und Kostümbildner seiner Zeit, im Sprech- wie im Musiktheater gefragt, im Film wie auch als Illustrator tätig, gerade von Karajan gerne herangezogen. In seinen Carmélites-Entwürfen, die heute im Wiener Theatermuseum gelagert sind, sieht Rudi Risatti, Fachmann des Museums für Bühnenbildmodelle und Handzeichnungen, eine »Spannung zwischen den düsteren und abgeschlossenen Innenräumen, die sich im Laufe des Abends öffnen, und dem Gefühl der Befreiung: Man blickt durch die Kirchenfassade in den Himmel im Hintergrund. Im letzten Bild, am Ende, wenn man das Schafott sieht, geht der Himmel schließlich gänzlich auf – man ist mit dem Tod konfrontiert, aber eben auch mit einer Befreiung.« Und gerade dieses letzte Blatt erinnert Risatti »stilistisch ein wenig an eine Mischung aus Dalí und Magritte: denn auch wenn sehr konkrete Elemente wie etwa die Guillotine und bauliche Strukturen zu sehen sind, geht es doch stark ins Surrealistische.« Die Regie der Wiener Erstaufführung übernahm die Choreographin und Regisseurin Margarethe Wallmann, die 1934 an die Wiener Staatsoper als Ballettmeisterin engagiert, 1938 von den Nationalsozialisten vertrieben wurde und aus ihrem Exil zurückgekehrt in den 1950er und 1960er Jahren OLI V ER LÁ NG


etliche Inszenierungen für die Staatsoper geschaffen hatte – ihre Tosca steht bis heute am Spielplan. Wallmann entwickelte die Produktion ursprünglich gemeinsam mit Wakhewitsch für die Uraufführung an der Mailänder Scala 1957 und brachte die Inszenierung zwei Jahre später – nach Rom, Lissabon und London – auch im Haus am Ring heraus. Es folgten noch Neapel und Catania. Wie präzise sie arbeitete, belegen Details aus Schriftwechseln der Operndirektion: So legte die Regisseurin Wert darauf, die elf Choristinnen (und ihre Covers), die Ordensschwestern darstellten, persönlich auszuwählen, um die Intentionen ihrer Regiearbeit möglichst verlustlos verwirklichen zu können. Gesungen wurde übrigens, trotz Karajan, auf Deutsch. Dass Poulenc und seine Oper zu dieser Zeit vielleicht bekannt, aber dennoch auch erklärungswürdig waren, kann man heute noch aus den Premierenrezensionen herauslesen. Denn wie in einem Rückgriff auf Schreibtechniken des 19. Jahrhunderts, die dem Inhalt einer Oper besonders viel Platz in Besprechungen einräumten, wurde auch in den Wiener Kritiken anno 1959 das Was ausführlich besprochen. »So ist diese Musik, äußerlich betrachtet, von größter Einfachheit. Es liegt nahe zu sagen: Sie ist von klösterlicher Strenge. Sie verwendet ein Minimum an Kunstmitteln und verfährt damit äußerst sparsam, sowohl in der Zeichnung wie in der Farbengebung. Ihrer Beschaffenheit nach ist sie durchaus tonal. Ohne jedoch reaktionär zu sein. Auch dort, wo sie Sakrales oder Altertümliches nachbildet, trägt sie das Signum der Gegenwart. Hört man aber näher hin, so findet sich eine Fülle feiner, kluger, geistreicher Züge«, las man in der Presse, und im Neuen Österreich: »Im Ganzen vielleicht kein Werk von stürmischer Originalität, aber einfallsreich, gekonnt, und von demselben hohen Ethos erfüllt, das schon Bernanosʼ Dichtung kennzeichnete: es besitzt Kraft, Geist und Einfall. Was will man in unserer sterilen Zeit mehr?« Besonderes Lob wurde der Inszenierung gezollt, wie etwa wieder in der Presse: »Man sieht die Karmeliterinnen in ihrer Ordensgebundenheit und gleichzeitig tritt eine jede in individueller Profilierung hervor. Im Gesamtschicksal zeichnen sich gleichzeitig die Einzelschicksale ab. Wann haben wir in unserem Operntheater in der Regie etwas ähnlich Starkes, Einheitliches und zugleich Opernhaftes gesehen? Man muss weit zurückdenken. Vielleicht gar bis an jene unvergessene Aufführung, als Margarethe Wallmann zum ersten Male Opernregie führte und mit Bruno Walter den Orpheus inszenierte.« Sehr ähnlich auch andere, wie die Wiener Zeitung: »Frau Wallmann ist es gelungen, aus den Sängern vollgültige Schauspieler zu machen. Jede Gestalt hat dramatisches Leben, das von innen her kommt und das auch in einer statischen Haltung spürbar ist, indem der Bewegungsrhythmus und der Geist der Inszenierung zwischen Mysterienspiel und Aktionsdrama ausgewogen schwebt.« Gelobt wurde in hohem Maße auch das Dirigat (Neues Österreich: »Heinrich Hollreiser meisterte die schwierige Partitur vollendet und brachte den Willen Poulencs sicher zur Geltung.«) wie auch die Sängerinnen und Sänger, deren Namen bis heute klingende sind: OLI V ER LÁ NG

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Irmgard Seefried (Blanche), Elisabeth Höngen (Madame de Croissy), Hilde Zadek (Lidoine), Christel Goltz (Mère Marie), Rosette Anday (Mère Jeanne), Anneliese Rothenberger (Constance), Anton Dermota (Beichtvater). Doch auch Negatives las man: So war in den Salzburger Nachrichten von musikalisch »schlechtem Geschmack« die Rede, die Rezension kulminiert ihre Aussage im Titel »Gute Gespräche machen noch keine gute Oper«. Angetan, wenn auch nicht von der Aufführung, zeigte sich übrigens auch der Komponist, der in einem Brief an Claude Rostand im Juni 1959 notierte: »Die Aufführung in Wien war auch für mich sehr ermutigend. Seit Februar zum 9. Mal aufgeführt (14 Aufführungen für ʼ59-ʼ60 geplant!!), zwischen Siegfried und Wozzeck, stelle ich fest, dass sich die Oper behaupten kann. Aber was am meisten zählt, ist, dass die Leute wiederkommen, um sie zwei- oder dreimal zu sehen. In Italien hingegen hatte man aufgrund des Mangels an Aufführungen das Gefühl, es handle sich um eine Eintagsfliege. Natürlich, die Wiener Aufführung war in ihrer Perfektion fast kalt, während in Catania viel lustvolle Leidenschaft in der Luft lag, ganz zu schweigen von jener unter den Kostümen. In Sizilien war es viel mehr »ich«, aber Wien repräsentiert eine postmortale Glorie, die sicherlich beruhigend ist. Die Aufführung des Wozzeck war UNGLAUBLICH! Natürlich ist [Christel] Goltz mehr Marie als Mère Marie. [Rita] Gorr ist ihr weit überlegen, oder dieses Monster von einer [Magda] Olivero. Ich fand die Stadt bezaubernd, die Menschen auch. Was für herrliche Aussichten rund um die Oper!!!!!! Ganz anders als dieses pompöse, pedantische Deutschland. Das habe ich laufend gedacht, als ich Berg wieder hörte. Bei ihm fühle ich mich nicht im Feindesland.« Dem euphorischen Schlusssatz der Premieren-Kritik im Neuen Österreich »Wir gratulieren der Staatsoper und glauben an einen dauernden Erfolg« folgte bald die Ernüchterung: Die Carmélites-Begeisterung ebbte schnell ab, war die Produktion im Jahr 1959 im Haus am Ring zehnmal zu hören, so waren es 1960 nur noch vier Vorstellungen, 1961 drei, 1962 zwei und 1964 eine – die letzte für fast 60 Jahre. Denn erst mit der Neuproduktion 2023 – dirigiert von Bertrand de Billy und inszeniert von Magdalena Fuchsberger – kehrten die Carmélites wieder zurück an die Staatsoper – diesmal erstmals auf Französisch.

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UNSERE ENERGIE FÜR DAS, WAS UNS BEWEGT. Das erste Haus am Ring zählt seit jeher zu den bedeutendsten Opernhäusern der Welt. Als österreichisches und international tätiges Unternehmen sind wir stolz, Generalsponsorin der Wiener Staatsoper zu sein. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf: omv.com/sponsoring


KATTUS GRANDE CUVÉE Offizieller Sekt der Wiener Staatsoper

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Impressum Francis Poulenc DIALOGUES DES CARMÉLITES Saison 2022/23 (Premiere der Produktion: 21. Mai 2023) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Nikolaus Stenitzer Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Robert Kainzmayer Lektorat: Martina Paul Hersteller: PRINT ALLIANCE TEXTNACHWEISE

BILDNACHWEISE

ORIGINALBEITRÄGE Nikolaus Stenitzer: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith) – Nikolaus Stenitzer: Über dieses Programmbuch – »Angst ist in dieser Welt«: Nikolaus Stenitzer im Gespräch mit Magdalena Fuchsberger – Bertrand de Billy: Der Dramatik entgegenreifen – Thomas Macho: Vom Karmel zur Inneren Burg – Nikolaus Stenitzer: Videostills von Aron Kitzig – Thomas Hellmuth: Zwischentöne – Oliver Láng: »Dramatisches Leben, das von innen her kommt«

COVERBILD Noell Oszvald Untitled #2, 2014 © Noell Oszvald / Courtesy The Hulett Collection Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin

ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Francis Poulenc: Über meine Oper, zitiert nach: Dialogues des Carmélites. Programmheft zur Neuinszenierung, Staatsoper Stuttgart 2011 – Uwe Schweikert: Mönch und Strolch, aus: Ders.: Erfahrungsraum Oper. Porträts und Perspektiven. Stuttgart: J. B. Metzler 2018. In Zusammenarbeit mit dem Autor gekürzte Fassung. – Gertrud von le Fort: Zu Georges Bernanos’ Die begnadete Angst, in: Georges Bernanos: Die begnadete Angst. Zürich: Die Arche 1975 – Gertrud von le Fort: Die Letzte am Schafott. München: Ehrenwirth 1959, S. 7–18 – Aus der Ursprünglichen Konstitution der hl. Teresa von Jesus für die Unbeschuhten Karmelitinnen (1567–1568), in: Regel und Konstitutionen der Unbeschuhten Schwestern des Ordens der Allerseligsten Jungfrau Maria vom Berge Karmel erneuert nach den Richtlinien des Zweiten Vatikanischen Konzils und den geltenden Bestimmungen des Kirchenrechts approbiert vom Hl. Stuhl im Jahre 1991, zitiert nach http://www.karmeliten-muenchen.de/ Konstitutionen_Schwestern.pdf – Teresa von Ávila: Die Wohnungen der Inneren Burg, zitiert nach: Werke und Briefe Gesamtausgabe I, herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Ulrich Dobhan OCD und Elisabeth Peeters OCD. Copyright © Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2015 – Simone de Beauvoir: Mein Tod gehört mir, Auszug aus: Die Mandarins von Paris, aus dem Französischen von Ruth Ücker-Lutz und Fritz Montfort. Reinbek: Rowohlt 2002, S. 790–796. Copyright © 1955 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg – das Zitat aus dem Matthäusevangelium und die Zitate aus dem Buch der Psalmen sind wiedergegeben in der Einheitsübersetzung 1980 © 1980 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart – Die Zitate aus den Briefen von Francis Poulenc sind entnommen aus Myriam Chimènes (Hg.): Francis Poulenc: Correspondence 1910–1963. Paris: Fayard 1994, aus dem Französischen von Nikolaus Stenitzer

SZENENBILDER S. 2–3, 14, 20–21, 26–27, 42–43, 48, 57, 63, 68, 91, 100–101, 108, 114–115: Michael Pöhn, S. 32–33, 49, 56, 96, 109: Ashley Taylor / Wiener Staatsoper GmbH VIDEOSTILLS S. 75–81: © Aron Kitzig *CHORKARMELITINNEN Piia Rytkönnen als Mère Gérald Davidona Pittock als Sœur Félicité Maria Isabel Segarra als Sœur Alice Daliborka Lühn-Skibinski als Sœur Anne de la Croix Zsuzsanna Szabó als Sœur Claire Barbara Reiter als Sœur Catherine Irina Peros als Sœur Saint Charles Sabine Kogler als Sœur Antoine Kristina Agur als Sœur Gertrude Arina Holecek als Sœur Valentine Dymfna Meijts als Sœur Marthe AUTORINNEN UND AUTOREN Magdalena Fuchsberger ist Regisseurin der Neuproduktion Bertrand de Billy ist Dirigent und Musikalischer Leiter der Premierenserie Nikolaus Stenitzer ist Dramaturg an der Wiener Staatsoper Thomas Macho ist Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist. Seit 2016 leitet er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Thomas Hellmuth ist Professor für Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte und am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien Oliver Láng ist Dramaturg an der Wiener Staatsoper Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


→ wiener-staatsoper.at

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