ZEITmagazin Design 42/2023

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N 0 42 Eine Woche verbrachte unser Redakteur Johannes Dudziak in Mumbai, um den indischen Architekten Bijoy Jain zu porträtieren (S. 14). Wer die Kultur des Landes verstehen wolle, müsse die Ellora-Höhlen sehen, sagte Jain. Also reiste Dudziak zu dem etwa 300 Kilometer entfernten Gebiet mit seinen Höhlentempeln. Was Jain gemeint hatte, zeigte sich dem Autor schon auf dem Weg, als er die unzähligen liebevoll gebauten Hütten, Höfe und Marktstände passierte: In Indien wimmelt es

RATTLE DER RING BRSO

in jedem Dorf von Designern und Architekten, weil das Gestalten zum Alltag gehört. Vielleicht greift etwas von dieser Kultur ja auch auf Sie über, wenn Sie unser Design-Heft lesen. Ihre ZEITmagazin-Redaktion

Beverly-Hills-Style Die Interior-Designerin Kelly Wearstler hat uns in ihrer filmreifen Villa empfangen

Titelillustrationen LEON LOTHSCHÜTZ

Inhalt AMANDA HAKAN, RITA LINO, HOUSTON COFIELD, EMANUELE CAMERINI

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Der neue Chefdirigent und sein Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks setzen ihre Aufnahme von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ mit dem „Siegfried“ fort.

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Nicht ohne meine Katze 16 Geschichten über hässliche Objekte mit unwiderstehlichem Charme

Simon O´Neill · Peter Hoare Michael Volle · Georg Nigl Franz-Josef Selig · Danae Kontora Gerhild Romberger · Anja Kampe

EBENFALLS ERHÄLTLICH

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Vom Dealer zum Retter Wie Jelly Roll das neue Gesicht der Country-Musik wurde

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»Ich habe eine innere Kriegerin« Die Kinderbuchautorin Cornelia Funke im Gespräch

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HARALD MARTENSTEIN

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Vor einer längeren Reise habe ich meine Mutter im Heim besucht. Vor einigen Monaten wurde sie 90. Sie hatte sich lange und verzweifelt gegen das Heim gewehrt, nun ist das Heim ihre Welt geworden. Im Sommer des letzten Jahres konnte ich sie noch mit ihrem Rollstuhl nach draußen fahren, einmal sogar in den großen Park, er ist nur ein paar Meter vom Heim entfernt. Seit diesem Sommer hat sie Angst vorm Draußen, auch vor dem Aufzug. Sie beginnt zu schreien, wenn sie merkt, dass sie ihre Welt verlassen soll, diese paar Quadratmeter: ein Zimmer, ein Flur, der Aufenthaltsraum für alle Bewohner ihrer Station, der einzige Ort der Welt, an dem sie sich noch halbwegs zurechtfindet und sicher fühlt. Sie kann immer noch sprechen, im Gegensatz zu einigen anderen im Heim. Ein Gespräch ist nicht mehr möglich. Immer, wenn ich komme, sitzt sie bei den anderen im Aufenthaltsraum, immer am selben Platz, allein auf einem Zweiersofa neben dem Fenster. Dort hat man den besten Überblick. Fast immer läuft mit halblautem Ton ein Fernseher, den niemand beachtet. Die meisten im Aufenthaltsraum schauen ins Nirgendwo. Manche wirken, als ob sie mit offenen Augen schliefen. Sie haben sich

ins Innere zurückgezogen, wie Schnecken in ihr Haus. Ich frage mich jedes Mal, wie es da drinnen aussieht. Durchströmen sie ihre Erinnerungen, gibt es Träume, haben sie Hoffnungen und Wünsche? Oder ist es, in ihnen drin, schon so stumm, so leer und so schwarz wie der Tod? Vielleicht ist es etwas dazwischen. Nach einer ganzen Weile sagte sie meinen Namen, seltsamerweise auch den Nachnamen. Dann lächelte sie. Ich legte meine Hand auf ihre Hand und den anderen Arm um ihre Schulter. Sie mag Körperkontakt, glaube ich. Ich betrachtete unsere Hände, sie sehen jetzt ähnlich aus. Wir sind nur zwanzig Jahre auseinander und beide alt geworden, ein altes Kind mit einer alten Mutter, von der Natur nicht vorgesehen, die Medizin hat das möglich gemacht. Ich erinnere mich an ein Gemälde oder Foto, das ich vor Jahren gesehen habe, ein weißhaariger Mann, der in der kauernden Haltung eines Kindes auf dem Schoß seiner jungen, schönen Mutter sitzt, ich glaube, er lutschte am Daumen. Von wem war das Bild? Vergessen. Ich habe ihr ein Kleinkinderbuch mitgebracht mit Zwergen, Pilzen und Katzen­zum Ausmalen, dazu Buntstifte und Schokolade.­

Illustration Martin Fengel

Die Tafel isst sie komplett auf, an den Ausmalbildern verliert sie schnell das In­ teresse. Eine Stunde später stellt der Pfleger Essen und ein gefülltes Saftglas vor sie auf den Tisch. Sie versucht, den Saft mit dem Suppenlöffel zu essen. Den Pfleger strahlt sie an, mit ihrem Flirtgesicht, das ich gut kenne. Als ich Kind war, hatte sie viele Liebhaber. Sogar einen echten Matrosen, mit Seesack, er war nett, aber ich hasste ihn. Ich spüre, wie die alte Kindereifersucht auf ihre Liebhaber wieder in mir aufsteigt. Warum himmelt sie den Pfleger so an? Wo ich doch da bin! Hört das nie auf? Dann sagt sie zu mir, mit angestrengter, genauer Artikulation, wie schon bei meinem Namen: »Ich habe Angst.« Ihre Augen werden groß, Panik ist in ihnen zu lesen. Jedes Mal, wenn ich da bin, sagt sie das, manchmal folgt der Satz: »Hilf mir.« Ich sage jedes Mal: »Du bist in Sicherheit«, »Alles wird gut«, »Ich regele das« oder welche andere Lüge mir gerade einfällt, und streichle ihr über den Kopf, bis sie sich allmählich beruhigt. Ich glaube, ich weiß, wovor sie Angst hat. Aber niemand kann ihr helfen. Das Licht wird schwächer, sie spürt schon die Dunkelheit. Alle müssen da durch.

Zu hören unter www.zeit.de/audio

Über das Abschiednehmen


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WOCHENMARKT

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BESSER ALS KLASSISCH

Gerösteter Stangenbrokkoli mit Äpfeln Zutaten für zwei Personen: 340 g geputzter Stangenbrokkoli (Bimi oder Wilder Brokkoli), 3 EL Olivenöl, 2 säuerliche Äpfel, 1 Bio-Zitrone, Meersalzflocken, schwarzer Pfeffer; für das Dressing: 2 EL Olivenöl, 1 EL Zitronensaft, 1 TL Dijon-Senf

Seit einiger Zeit findet man im Herbst immer häufiger Wilden Brokkoli im Gemüseregal. Auf den ersten Blick sehen die länglichen Stangen mit eher kleinen Röschen aus wie der ungekämmte kleine Bruder der bekannten grünen Strünke. Tatsächlich aber sind sie das Produkt einer Züchtung, bei der klassischer Brokkoli mit der chinesischen Kohlsorte Kai-lan gekreuzt wurde. Dieser Baby-Brokkoli wird unter Namen wie Bimi oder Brokkolini angeboten. Egal ob Baby oder wild, die zarten Pflänzchen schmecken viel aromatischer und nussiger als ihre klassischen Vorfahren. Und weil praktisch

Von Margit Stoffels

kein Verschnitt anfällt, genügt es, sie einfach abzuwaschen und das Stangenende abzuschneiden. Die Autorin Meike Peters beschreibt in ihrem neuen Mittags-Kochbuch Noon ­(Prestel) eine besonders schnelle ­Variante für den Ofen – so kommt man auch pünktlich zum nächsten Videocall. Die Brokkolistangen auf einem Backblech ausbreiten, mit zwei Esslöffel Olivenöl ­beträufeln und vermengen. Die Äpfel entkernen und vierteln, mit einem Esslöffel

Das aktuelle ZEITmagazin WOCHENMARKT ist am Kiosk oder als Abo unter zeit.de/wm-kochen erhältlich

­ livenöl in einer Schüssel vermengen. ZitroO ne heiß abwaschen, in sechs Spalten schneiden und zusammen mit den Apfelspalten zwischen dem Brokkoli verteilen. Alles mit ein wenig Salz und Pfeffer würzen und circa 10 bis 15 Minuten ohne Wenden im Ofen bei 200 Grad (Ober-/Unterhitze) rösten, bis der Brokkoli goldbraun und zart ist. Für das Dressing Olivenöl mit Zitronensaft und Senf in einer Schale verrühren und über Brokkoli und Äpfeln träufeln. Auf Teller verteilen und alles mit etwas Saft aus den gerösteten Zitronenspalten bespritzen. Dazu passt als Beilage Butterreis.

Foto Silvio Knezevic


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photography by Andrea Ferrari


TAGEBUCH AUS KIEW

In Lwiw wird bald eine öffentliche KunstBibliothek eröffnet, die Räume sind zuvor frisch renoviert worden. Dabei fand man an Wänden und Decken viele Farbschichten aus der Sowjetzeit, außerdem entdeckte man Ornamente, die um das Jahr 1900 herum ent-

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standen sein müssen. Die Stadt unterstützt die Bibliothek mit ein wenig Geld. Der Staat gibt hier aber nur grünes Licht und vertraut dann darauf, dass die Bürger das Beste daraus machen. Die Arbeit wird daher größtenteils von Freiwilligen geleistet; ich selbst habe

DIE BIBLIOTHEK

mich um die Exlibris-Stempel für die Bücher gekümmert. Vom Staat Geld zum Kauf von Büchern zu bekommen ist allerdings derzeit utopisch. Die Bibliothek sucht noch Kunstbände, auch über Fotografie und Architektur. Spenden-Infos über lmblviv@gmail.com

Der Illustrator Sergiy Maidukov, 43, ist in Donezk geboren und aufgewachsen, seit 2006 wohnt er in Kiew. Für uns zeichnet er, wie er sein Land derzeit sieht und erlebt


ENTDECKEN SIE SAIL, SCHIEBEWÄNDE. DESIGN GIUSEPPE BAVUSO


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Bijoy Jain, 58, benutzt als Architekt und als Künstler natürliche Materialien. Rechts: Ein Farbtest in seinem Studio in Mumbai


König des Handwerks Wenn der indische ­ Architekt Bijoy Jain baut, ist fast alles manuell ­ gefertigt – seine Häuser sind die radikalen Gegen­entwürfe zu unserer ­automatisierten Zeit

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Fotos Marlon Rüberg, Pretika Menon, Jeroen Verrecht


Von Johannes Dudziak Bijoy Jain steht in seinem Atelier und zeigt auf ein Bild, auf dem in feinen roten Linien die Umrisse eines Turms gemalt sind: »Wissen Sie, woraus die Leinwand besteht? Aus Kuhdung!« Tatsächlich weht ein leichter Düngergeruch durch das Atelier. Es sind 31 Grad, die Luftfeuchtigkeit ist hoch, der Monsun wird bald kommen: Sommer in Mumbai. Die Leinwand aus Kuhdung ist Teil der Ausstellung, die der indische Künstler, Architekt und Möbeldesigner Bijoy Jain für die Fondation Cartier, ein Museum für zeitgenössische Kunst in Paris, vorbereitet, im Dezember soll sie eröffnet werden. »Diese Ausstellung hätten wir auch vor der industriellen Revolution auf die Beine stellen können«, sagt Jain. »Wir brauchen keine Elektrizität, wir brauchen auch weder Klebstoff noch Metall.« Dann macht er eine kurze Pause und sagt mit ernster Miene: »Das ist kein Blabla.« Er meint: Das ist kein künstlerischer Stunt oder eine spontane esoterische Eingebung. Vielmehr gehe es hier um die Essenz seiner Arbeit. Wir befinden uns mitten in Mumbai, der Kultur- und Handelsmetropole, in deren Einzugsgebiet knapp 30 Millionen Menschen leben. In der Rangliste der Städte, in denen die meisten Mil­liar­dä­re wohnen, steht Mumbai an siebter Stelle. Gerade war Apple-CEO Tim Cook zu Besuch, um den ersten Apple-­Store Indiens zu eröffnen – der Markt des 1,4-Milliarden-Einwohner-Landes ist für das Unternehmen strategisch entscheidend, jetzt, da sich die USA wirtschaftspolitisch von China ab- und Indien zuwenden. In Wohnvierteln wie Byculla im Süden Mumbais entstehen Luxusquartiere und Wolkenkratzer im internationalen Architekturstil, diese Viertel unterscheiden sich also kaum von anderen Metropolen der Welt. Eine gigantische neue Stadtautobahn entlang des Ufers wird gerade geplant, in der Hafenstadt ist eigentlich immer Rushhour. Doch in vielen Ecken und Gassen Mumbais ist nichts von der Technologie- und Finanzmetropole zu bemerken. Auf jedem Quadratmeter laufen, stehen oder sitzen Menschen dicht an dicht. Man bekommt hier für umgerechnet zwei Euro eine Massage und für fünf Euro eine maßgeschneiderte Hose, die Mieten und Wohnungspreise aber sind mit Berlin vergleichbar, deshalb leben viele Menschen in Slums, Dörfern in der Stadt, in denen es oft weder Strom noch Trinkwasser gibt. Gleichzeitig sind Fleiß und handwerkliches Können allgegenwärtig. An den Straßen hocken Arbeiter und flechten Tische, andere fertigen Baugerüste aus Bambus, bereiten frisch gebrannte Zementblöcke für den Transport vor oder schneiden Zuckerrohr, das zu Saft verarbeitet wird. Unzählige Autos bahnen sich schnell ihren Weg durch die verstopften Straßen wie Wasser durch ein steiniges Flussbett. Zwischen den Autos sieht man Arbeiter, die riesige Wassertanks auf Holzkarren ziehen. In Byculla, wo die neuen Wolkenkratzer entstehen, leben Parsen, Hindus, Muslime, Juden und Christen traditionell zusammen. Nur fünf Minuten von der neuen Stadt aus Beton und Glas entfernt stehen Schafe auf dem Bürgersteig herum, sie werden vor dem muslimischen Schlachtfest

16 gemästet. Ein Schneider sitzt auf dem Boden seines Ladens und näht, es riecht nach gegrilltem Fleisch. In Byculla West liegt auch das Studio Mumbai, Bijoy Jains Atelier. Jain ist der vielleicht wichtigste Architekt Indiens und international renommiert, aber er steht für das Mumbai jenseits der Wolkenkratzer, für die haptische, sinnliche und menschliche Stadt. »Für mich liegt der Reichtum unseres Landes in den Traditionen der Handwerkskunst und den vielen begabten Kunsthandwerkern«, sagt er. Im Studio Mumbai hat Bijoy Jain seine Utopie verwirklicht, hier werden viele dieser Handwerkstraditionen gepflegt. Jain hat zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten, darunter die Grande Me­ ­ daille d’Or der Académie d’Architecture in Frankreich und die ­Ehrendoktorwürde der Universität Hasselt in Belgien. Im Gegensatz zu den meisten anderen großen Architekten ­arbeitet er jedoch immer nur an wenigen, ausgewählten Projekten gleichzeitig. Stattdessen widmet er viel Zeit der Lehre. Er hat an der Königlich Dänischen Kunstakademie und in ­Yale Architektur gelehrt, seit zehn Jahren doziert er an der renommierten Architekturakademie der Università della Svizzera Italiana in Mendrisio. Jain hat auf der Biennale in Venedig und in Mel­bourne ausgestellt, das Victoria & Albert Museum in London zeigte seine Arbeiten. Zu alledem baut er gerade auch noch ein Weingut in Südfrankreich. Aber um sein Werk wirklich zu verstehen, muss man ihn in seinem Atelier besuchen. Jain bietet einen radikalen Gegenentwurf zum digitalisierten und automatisierten Leben, in dem sich viele Menschen der westlichen Welt – und zunehmend auch Indiens – mit ein paar Klicks bei Ikea und Amazon einrichten. In einer von ihm gerade entworfenen Wohnung in Mumbai wurden die meisten Baumaterialien mit Händen geformt oder behandelt. Ein Fußboden wird aus Tausenden von kleinen Ziegelsteinen verlegt. Bei Jain gibt es keine scharfen Kanten, die Ecken sind weich, alles ist präzise geschliffen und bearbeitet. Das Waschbecken ist konkav geformt und

Zum Straßenbild von Mumbai gehört auch dieser Tempel der Parsen


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Handwerk findet man an jeder Ecke. Hier wird Zuckerrohr geschnitten. Rechts: Korbflechter präsentieren ihre Waren


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In seinem Studio hat Jain seine künstlerischen und architektonischen Arbeiten archiviert

somit Teil der Wand, sodass keine Ritze entsteht, in die Wasser laufen kann. Eine deutsch-schweizerische Studentin, die in den Semesterferien im Atelier arbeitet und beeindruckt von der Perfektion ist, sagt: »Mein Bruder, der alte Gebäude restauriert, hat mir vor der Reise nach Mumbai gesagt, es sei traurig, dass wir bis ans Ende der Welt reisen müssen, um zu unseren Wurzeln zurückzufinden.« Das ursprüngliche Handwerk ist in Deutschland fast ausgestorben. Waren noch vor hundert Jahren Steinmetze, Schreiner und Zimmerleute beim Bau von Kirchen, Bahnhöfen und Wohnhäusern ständig gefragt, werden diese Handwerksberufe im standardisierten Bauprozess kaum noch benötigt – auch weil sie in Deutschland für die wenigsten zu bezahlen sind. Doch auch im modernen Indien, wo die Lohnkosten für Handwerker oft nur einen Bruchteil dessen betragen, was sie in Deutschland ausmachen, verschwinden die handwerklichen Traditionen. Für Jain bedeutet das einen Verlust an Identität: »Mindestens hundert Millionen Menschen leben in Indien in selbst gebauten Gebäuden aus Rohstoffen, die sie in ihrer unmittelbaren Umgebung finden: Lehm, Kalk, Bambus und Stein. Es sind sehr einfache Materialien, aber es können sehr anspruchsvolle Behausungen sein.« Den Verlust der Tradition findet Jain bedauernswert:

»Letztlich führt das dazu, dass die Beziehung zwischen Mensch und Natur in dem rasanten Urbanisierungsprozess ausgelöscht wird.« Und wer durch die betonierten Neubauviertel so vieler Metropolen auf der Welt geht, in denen sich ein gläserner Wolkenkratzer an den nächsten reiht, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich hier tatsächlich um natur- und menschenfeindliche Orte handelt. Wer das Studio Mumbai durch das unscheinbare Eingangstor betritt, hat das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen. Draußen ist es schmutzig und rau, die Straße, in der das Studio liegt, ist voller Autos und Menschen, dazwischen Schafe und Kühe, doch das Gebäude, in dem auch Jains Atelier untergebracht ist, erinnert an einen Tempel oder ein Kloster. Ein mit Pflanzen und Bäumen gesäumter Weg aus Natursteinen führt zum Studio. Es hat zwei Innenhöfe, in einem stehen Skulpturen von Fröschen,


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22 Löwen, Vögeln und Krebsen, die Steinmetze angefertigt haben. Arbeiterinnen sitzen auf dem Boden und stellen Lehmziegel her, tragen auf dem Kopf Gipssäcke durch das Gebäude, daneben arbeiten Männer mit Zement. Bambusgerüste werden von Arbeitern auf das Dach gereicht. Im anderen Innenhof sitzt ein bärtiger Mann stundenlang auf dem Boden und schnitzt Bambusstäbe. Das Studio Mumbai spiegelt das geschäftige Leben auf den Straßen von Mumbais Innenstadt wider, doch trotz seiner Geschäftigkeit strahlt der Ort eine Ruhe aus, in der sich viele ungestört und ohne große Fragen in ihre Arbeit vertiefen. Es ist Mittwoch, kurz vor sechs am frühen Abend kehrt Bijoy Jain ins Studio zurück. Er hat Besorgungen in der Stadt gemacht und war im Schwimmbad. Bijoy Jain läuft meist langsam und bedächtig, seine Umgebung prüfend. Oft bleibt er auf dem Weg stehen, um ein Detail an einer Hauswand zu betrachten oder Pflanzen und Bäume zu inspizieren. Als er an seinem Haus vorbeikommt, laufen fünf seiner sieben Hunde bellend auf ihn zu, er streichelt und krault sie. Jain, 58 Jahre alt, hat die Aura eines ernsten Aristokraten, aber auch die eines großen Romantikers. Elegant ist er, sein Haar trägt er in einer grau melierten Tolle, er hat meist weite, schwarze Fischerhosen an und dazu ein dunkles oder ein weißes Hemd. Mit seinen rund 1,90 Metern überragt er die meisten seiner Landsleute deutlich. Sein Studio ist zugleich sein Zuhause, er lebt hier mit vier Hausangestellten und den Hunden Peppa, Pepito, Yuki, Panda, Coco, Chucho und Coro. Heute sei er ein bisschen erschöpft, sagt er, eine mehrtägige Europareise stecke ihm noch in den Knochen. »Oft schwimme ich vierzig Bahnen, das ist kein Problem, manchmal sogar achtzig, aber heute hatte ich schon nach zwanzig Bahnen Mühe.« Er wuchs in einem Vorort von Mumbai auf, als Kind eines­ Ärzte-Ehepaars. Er reiste in seiner Kindheit mit seinem Vater häufig durchs Land, wo er schon früh mit den handwerklichen Traditionen in Berührung kam. Als sein späterer Wunsch, Meereswissenschaften zu studieren, in Indien nicht realisierbar schien, schrieb er sich an der Universität für Architektur ein. Als er 18 Jahre alt war – der dramatische Einschnitt in seinem Leben –, ereignete sich eine Tragödie: Sein Bruder beging Suizid, und innerhalb von eineinhalb Jahren starben Jains Eltern beide an einem Herzinfarkt. Mit Anfang 20 verließ Jain Indien und machte seinen Master an der Washington University in St. Louis, USA. Im Architekturstudium habe er gelernt, sich auf die kleinen Dinge zu konzentrieren, zum Beispiel wie das Licht auf eine Treppe fällt, sagt er. »Damals habe ich gelernt, dass diese oft übersehenen Räume und Situationen, die als klein oder nebensächlich gelten, genutzt werden können, um eine große Wirkung zu erzielen.« Er arbeitete dann für den mit dem renommierten PritzkerPreis ausgezeichneten Architekten Richard Meier in Los Angeles, für den er, so erzählt er, »einige Tausend Modelle« baute. Während dieser Zeit studierte er auch das Werk von Künstlern und Bildhauern wie Richard Serra

und ­Donald Judd, die für ihre monumentalen Skulpturen in weiten Landschaften bekannt sind. Später ging er nach New York und London, bevor er 1995 nach Indien zurückkehrte, um sein eigenes Büro zu gründen. Zurück in Indien, stellte er fest, dass viele Arbeiter die Zeichnungen und Pläne für ein Haus, das sie bauen sollten, nicht entschlüsseln konnten. Jain änderte seinen Ansatz. Heute hat Jain keinen Schreibtisch mehr in seiner Werkstatt, er arbeitet selten am Computer, stattdessen spricht er mit den Handwerkern über ihre Arbeit und hockt sich manchmal zu einem Steinmetz auf den Boden, um ihm zu zeigen, wie er den Stein bearbeitet haben möchte. Jain entwirft auch Möbel, zum Beispiel Stühle aus Teakholz, die mit MugaSeidenfäden bezogen sind. Der bärtige Mann, der gerade im Hof Bambus schneidet, hat ihm einen Stuhl aus Bambus gebaut. »Den können Sie aus dem fünften Stock werfen, der geht nicht kaputt«, sagt Jain. Er gerät ins Schwärmen, wenn er von den Handwerkern aus dem Nordosten Indiens erzählt, die in seiner Werkstatt arbeiten und hauchdünne Bambusgestelle, Stühle oder Modelle für ihn fertigen. »Das sind Bauern, deren ganze Familien mit der Serikultur, dem Anbau von Seidenkokons, beschäftigt sind.« Sie könnten eine ganze Stadt versorgen, sagt er. »Ich habe festgestellt, dass ein Mann mit der linken Hand einen Seidenfaden ziehen und mit der rechten einen Ziegelstein legen kann.« In größeren Städten finde man sie meist beim Gerüstbau für Wolkenkratzer oder beim Biegen von Stahl für Betonarbeiten. Bijoy Jain sieht sich selbst als Dirigenten eines Orchesters, die Musiker sind die Handwerker. In seinem Atelier arbeiten je nach Bedarf oft 30 bis 40 von ihnen – Maurer, Steinmetze oder Tischler. In einem Dorf in der Nähe von Pudukkottai, einer Stadt in Südindien, wo Familien seit zwölf Generationen Töpferei betreiben, lässt er Tonwaren herstellen. Er rekrutiert auch immer wieder Arbeiter von der Straße. Fragt man ihn nach einem Schneider, der eine Hose nähen kann, empfiehlt er den, der direkt neben

Aus gebrannten Ziegelsteinchen entstehen Fußböden, eine sehr aufwendige Arbeit



Eine Ladung Ziegelsteine, die auf den Transport wartet. Rechts: Ein Taxifahrer macht Mittagspause



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Das Studio Mumbai mit seinen großen Glas­ fronten ist um begrünte Innenhöfe angelegt

dem Atelier arbeitet. Die Botschaft: Einen guten Schneider findet man in Mumbai an jeder Straßenecke. Jain hat das gesamte Gebäude, die alten Lagerhallen, in insgesamt fünf Wohnhäuser umgebaut, jede Einheit gruppiert sich um einen eigenen Innenhof, der nicht überdacht ist. So gelangen Licht, Luft und Regen herein, der in den nicht versiegelten durchlässigen Boden versickert. Seine Philosophie beschreibt er folgendermaßen: »Für mich sind die drei zentralen Materialien meiner Arbeit Wasser, Luft und Licht. Das ist die Grundlage, das ist das, was der menschliche Körper braucht. Es geht für mich darum, wie nah wir die Dinge, die wir bewohnen, dem menschlichen Selbst bringen können.« Die Materialien, die er benutzt, wie zum Beispiel Lehm, Holz oder Kuhdung, betrachtet er als Haut, die ständig gepflegt werden muss. »Ich möchte Licht und Schatten als Energie verwenden.« Jain spricht oft in abstrakten, teils rätselhaften Sätzen. Manchmal sagt er, wenn man ihn zitiert und auf etwas festnageln will: »Das habe ich nie gesagt.« Er kann sein Gegenüber mit einem strengen Blick ins Visier nehmen. Aber Jain hat auch eine sanfte, zuvorkommende und großzügige Art. Wir sitzen barfuß in einem überdachten Raum im Erdgeschoss, der Blick geht auf den begrünten Hof. Vor Jain liegt ein Sandwich auf dem Teller,

von dem er dem Gast sofort ein Stück anbietet. Alle Fenster sind geöffnet, eine Klimaanlage benutzt Jain nicht, man hört das Surren der Ventilatoren und das Pfeifen der Züge, neben dem Studio liegen Bahngleise. Für ihn war es selbstverständlich, das Haus mit offenen Dächern und Fenstern nach außen zu öffnen und sich nicht von der Umwelt abzuschotten. Für Bijoy Jain ist ein Haus kein Betonklotz oder eine Ansammlung von Steinen, sondern ein lebendiger Organismus. Der Kunstsammler Udit Bhambri, dem Jain gerade dabei hilft, ein Apartment zu bauen, sagt: »Man spürt etwas in seinen Räumlichkeiten. Ich frage ihn immer: Was ist das für ein Gefühl? Und wie erreichst du es? Es kommt nicht aus dem Auge. Es kommt nicht von der Ästhetik.« Vielleicht ist es die Nostalgie, die man in seiner Arbeit spüren kann. Wenn er vom Mumbai vor dem Terroranschlag 1993 erzählt, bei dem 257 Menschen


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28 ums Leben kamen und 1400 Menschen verletzt wurden, kommt ein Hauch von Wehmut auf. »Davor gab es keine Sperrstunde, es war eine Stadt, die niemals schlief, mit großartigen Jazz-Bars«, sagt er. Wenn er über Indien und Mumbai spricht, gerät er ins Schwärmen: »Die Polizisten tragen hier keine Waffen, und das Land hat nie einen Krieg angefangen.« Die ­indisch-pakistanischen Kriege bezeichnet er als »Kämpfe zwischen Brüdern«. Den Kolonialismus der Briten nennt er eine Zeit der »Plünderung und Zerstörung«, dennoch bringt er seine Gäste oft im R ­ oyal Bombay Yacht Club unter, einem kolonialen Privatclub von 1846 nach englischem Vorbild, in dem man zum Abendessen keine offenen Schuhe tragen darf. Während unseres Treffens schlägt er dem Gast mehrmals vor, die Ellora-Höhlen zu besuchen, die buddhistische, hinduistische und Jain-Höhlenskulpturen beherbergen und von der multikulturellen Vergangenheit des Landes zeugen. Trotz aller Nostalgie ist Jains Werk sehr modern, er baut in klaren Linien, seine Architektur ist schnörkellos, aber seine Projekte scheinen nie abgeschlossen zu sein. Vergleicht man sein Haus heute mit Fotos aus Architekturbüchern von vor ein paar Jahren, merkt man, dass er hier immer weiter gebaut und einiges verändert hat: Das Geländer auf der Galerie im ersten Stock bestand früher aus Holzplatten, jetzt gibt es an der Stelle der Platten nur noch einzelne Holzstangen, die an wenigen Stellen mit Bambusstäben befestigt sind. »Ich möchte immer leichter werden, mit noch weniger leben«, sagt Jain. Obwohl sein Leben als Architekt offensichtlich luxuriös ist, ist dies nicht jene Art von Luxus, bei der man sich mit teuren Dingen umgibt. Jain verkörpert den Luxus, weniger haben zu können, den Luxus des offenen Raumes. Und der sinnlichen Freuden. Zwei Tage später kommt eine Delegation der Fondation Cartier zu Besuch ins Studio. Jains Gäste werden mit ­feinen indischen Linsengerichten, Currys und Rote-BeteSalat bewirtet. Zum Dessert gibt es Alphonso-Mangos aus Goa und Butternut-Scotch-Eiscreme, von der Jain auch einem seiner Hunde etwas gibt. Kurz davor hat der Architekt seine kommende Ausstellung in Paris erklärt. Er wird die Wände eines alten Hauses zeigen und ein Kunstwerk in Form eines Halbmondes aus Kuhdung, es soll das Sonnenlicht darstellen, das die Erde zum Mond reflektiert. »Man nennt das earth­shine!«, sagt Jain. Ebenfalls Teil der Ausstellung ist eine Steinschildkröte, die eine riesige Erdkugel trägt, für Jain symbolisiert das die Aufforderung, dass wir die Dinge etwas langsamer angehen sollten. Die Ausstellung soll »Der Atem des Architekten« heißen. Alles Haptische, also alles Materielle, hat einen Atem, erklärt er: »Ein Stein hat diesen schönen, süßen Klang, wenn er bricht. Krk, Krk. Wenn man nur auf das Geräusch hört, das der Stein macht, wenn er bricht, kann man die Qualität des Steinmetzes und des Steins bestimmen.« Bei der Präsentation, bei der er vor einem Modell der Ausstellungsräume steht, kommt Jain in Fahrt: Auch der

Klang des Studios, die Geräusche, wenn Steine zerkleinert werden oder Bambus geschnitten wird, sollen zu hören sein. Jain sagt: »Jeder in diesem Raum kann diese Ausstellung machen.« Weil hier alles von Hand gemacht sei. Aber kann man das wirklich? Seine Bauweise mit offenen Höfen, in die es hineinregnet, aus Materialien wie Lehm oder Bambus, ist beispielsweise in Deutschland schwer zu kopieren. Dennoch ist die Frage interessant: Was können wir von Bijoy Jains Philosophie und Herangehensweise lernen? Einige Wochen zuvor haben wir uns schon einmal getroffen, in Mendrisio, einer kleinen Stadt im Tessin. Die Sonne brennt durch eine riesige Glaswand in das Universitätsgebäude. Jain ist am Tag zuvor aus Mumbai angereist, um die Abschlussarbeiten seiner zwei Klassen zu besprechen. An der Hand hat er einen etwas improvisiert wirkenden Verband: Unter einem violetten Tuch sind ein paar Pflaster zu sehen. »Vor meiner Abreise waren meine Hunde in Aufruhr, sie sind auf­ein­an­der losgegangen, ich ging dazwischen.« Er tut so, als sei das eine Kleinigkeit. Einen Arzt habe er nicht aufgesucht. »Meine Hunde sind geimpft!« Die Klasse, die heute ihre Arbeiten vorstellt, ist noch mitten im Studium. Solche Studentinnen und Studenten sind ihm lieber als die Abschlussjahrgänge. »Im letzten Jahr fangen sie an, Architekten zu werden.« Er meint: Sie denken daran, was ein potenzieller Kunde von ihnen verlangt, und hören auf, frei zu schaffen. Seine Pädagogik ziele aber genau auf diese Kreativität ab, er möchte nicht, dass sie nachahmen, was die Lehrer machen. Seine Mitarbeiterin Celine Bianchi, die selbst einmal Studentin in seinem Kurs war, sagt: »Er hat damals buchstäblich alles zerlegt, was ich gemacht habe. Er ist in einen Schredder gegangen und hat dir jeden einzelnen Knochen im Körper gebrochen und ihn komplett neu aufgebaut. Das Endergebnis war immer erstaunlich, aber der Prozess war extrem schmerzhaft.« Die Kriterien, nach denen er seine Studenten beurteilt? »Volles Eintauchen, keine Angst«, sagt Jain.

Recycling aus Tradition: Im Stadtzentrum werden alte Balken gelagert, um wieder­verwendet zu werden



Ein Verkäufer von Tongefäßen auf dem Lalbaug-Markt. Rechts: Eine Baustelle in der Innenstadt, hier findet Bambus Verwendung



Bijoy Jain bereitet nun eine Ausstellung in Paris vor. Auf der Biennale in Venedig hat er seine Arbeiten bereits gezeigt

Die Studenten sollten sich für ihre Abschlussarbeit einen von sechs Orten aussuchen, an dem sie etwas bauen, umbauen oder vielleicht einfach nur die Funktionalität eines Raumes umdenken. Unter den Orten befinden sich Marmorsteinbrüche, eine Wüste auf Korsika und eine Insel in der venezianischen Lagune. Unter Studierenden und Praktikanten hat Jain den Ruf, hart zu sein, aber heute ist er positiv gestimmt. Die Studenten haben ihrer Fantasie freien Lauf gelassen, aufwendige Modelle wurden von Hand aus Holz und Gips, aber auch aus Erde, Sand und Moos gebaut; die Umgebung wurde teilweise sehr detailgetreu nachempfunden. Ein Schüler hat an einem Flussufer in der Agriates-Wüste auf Korsika Zelte für Kajakfahrer aufgestellt. Eine Studentin verwandelte ein ehemaliges Kloster in eine Austernfarm. Ein italienischer Student hat einen Staudamm in der Agriates-Wüste entworfen, damit die dort lebenden Tiere und Menschen etwas zu trinken haben. Die Studentin, die kurze Zeit später für das Studio Mumbai arbeiten wird, hat sich die Insel Sant’Angelo della Polvere in der venezianischen Lagune vorgenommen. Darauf stand einst ein Kloster, später eine Schießpulverfabrik und eine Militärkaserne. Inzwischen sind die vier Gebäude auf der Insel verfallen. Die Studentin hat die Insel

in eine begehbare Skulptur umgedeutet und Hunderte von Zeichnungen angefertigt, aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen Lichtstimmungen. Die Zeichnungen erwecken die Insel zum Leben. Jain ist begeistert. »Man sieht der Arbeit an, dass Sie dabei Freude hatten. Es ist, als hätten Sie ein Storyboard für einen Film geschrieben«, sagt er über die Zeichnungen, die teilweise an einen Cartoon erinnern. Die Studenten haben sich von Jain dazu inspirieren lassen, mit Empathie auf die Umgebung einzugehen und nur so viel zu bauen, wie nötig ist. Kaum jemand hat den Computer benutzt, sondern alle haben sich der Materialien aus der Umgebung bedient. Und obwohl sie sich von den I­deen des Professors frei machen sollten, ähneln einige Projekte Jains Orten: Durch die natürlichen Materialien haben sie etwas Lebendiges und strahlen gleichzeitig eine innere Ruhe aus. Bijoy Jain ist zufrieden.

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Fotos S. 14, 15, 32 Marlon Rüberg für PIN–UP; S. 17, 17-19, 24, 25, 29-31 Pretika Menon; S. 20, 23, 26 Jeroen Verrecht

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Heiter bis glücklich

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»›Wie geht’s?‹, fragt ein Gujarati einen anderen. ›Prächtig‹ lautet die Standardantwort, ganz gleich ob gerade ein Erdbeben stattgefunden hat oder man bankrottgegangen ist.«

In Toto’s Garage tragen die Barkeeper orangefarbene Latzhosen, an der Wand hängt ein Nummernschild aus Mülheim – und probieren sollte man das Cheese Garlic Naan (Pali Hill, 30th Road in Bandra West)

Durch den Monsun geht man in Mumbai mit opulent bedruckten Regen­ schirmen. Besondere Modelle gibt es im 163 Jahre alten Geschäft Ebrahim Currim & Sons in der Princess Street in Kalbadevi

Im Kaufhaus Fabindia (Tilak Road im Dadar) bekommt man feine Vasen, moderne Kleidung, Stoffservietten und Teppiche von Kunsthand­ werkern aus dem ganzen Land

Grüße aus Mumbai verschickt man auf dem mit Elefanten, Kamelen oder Pfauen bedruckten Briefpapier, das das Schreib­ warengeschäft Chimanlals Pvt. Ltd. verkauft (Wallace Street in Fort)

Der Autor Suketa Mehta hat mit seiner Reisereportage »Bombay: Maximum City« seiner Heimatstadt und den 2,5 Millionen dort lebenden Gujarati ein Denkmal gesetzt

In einer Stadt, in der Copy­shops das Straßenbild stärker prägen als Cafés – zum Loungen fehlt den meisten die Zeit –, werden die kiosk­ähnlichen Kopier­ läden zu Treffpunkten in den kurzen Arbeitspausen

Sechs Autostunden von Mumbai entfernt liegen die Ellora-Höhlen, wo die Buddhisten, Hinduisten und Jainisten vor 1500 Jahren reich verzierte Räume in den Fels schlugen

Entdeckungen aus Mumbai von Johannes Dudziak

Fotos JSW Group; Kala Ghoda Café; Rashi Arora / Instagram; Fabindia; privat; Lal Haveli Store; privat; Dinodia Photos / Getty Images

Die David Sassoon Library in der Mahatma Gandhi Road, 1870 im neogotischen Stil gebaut und kürzlich aufwendig renoviert, wäre ein guter Schauplatz für einen Liebesfilm

Das Kala Ghoda Café liegt im gleichnamigen Viertel: Tagsüber trifft man sich hier zu Kaffee und diesem saftigen Mandelkuchen, abends zum Cocktailtrinken (Rope Walk Lane)



Rück mal! Die Sessel der Saison sind zu besonders, um allein darauf zu sitzen. Wir haben in Mailand Paare, Familien, Freunde und Haustiere eingeladen, es sich gemeinsam auf ihnen gemütlich zu machen

Fotos Piotr Niepsuj




Von Amelie Apel

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Hier haben sich die Brüder Gio, 34, Martino, 28, und Elia Pastori, 31, ihren Platz auf dem »Le Bambole«-Sessel von Mario Bellini für B&B Italia erkämpft. Er steht in dem Studio, in dem Gio als Illustrator arbeitet. Elia ist Schlagzeuger, Martino Grafiker. Vorige Seite: Giulia Bortoli, 33, und Jessica Bagnall, 31, sind ein Paar und hier das erste Mal in Giulias frisch renovierter Wohnung. Bis auf den für das Shooting einbestellten »So Good«-Sessel von Studiopepe für Baxter ist sie noch leer. Jessica ist Modedesignerin, und Giulia arbeitet als Produktentwicklerin für Strickwaren.


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Unter dem Alias »Cabinet Milano« arbeiten und leben Francesco Valtolina, 45, und Rossana Passalacqua, 41, als kreatives Paar. Im Bild entspannen sie auf dem Kaminsessel »Oscar« von Andrea Parisio für Meridiani. Rossana ist Stylistin, Francesco Grafikdesigner.




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Charlotte Bräuer, 37, William Bagnoli, 37, und Ava Bagnoli, 6, machen es sich in Mailand noch einmal auf dem grünen Sessel »Cinnamon« von Naoto Fukasawa für Molteni gemütlich, bevor es auf Reisen geht. Charlotte arbeitet für den Berliner Magazin-Laden »Do you read me?!«, William ist Ausstellungskurator und betreibt das Kreativbüro Quei Studio; die Familie pendelt zwischen Italien und Deutschland.


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Leila Bencharnia, 30, und ihr Hund Rufus haben ein letztes Mal im Garten ihrer Mailänder Wohnung Platz genommen, und zwar auf dem Armlehnstuhl »Esosoft« von Antonio Citterio für Cassina. Am Tag danach sind sie ausgezogen. Leila stammt aus El-Kelâa M’Gouna in Marokko und ist Klangkünstlerin und Musikerin.



Casting und Produktion IRENE TAMAGNONE

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Giovanni Murolo, 34, Pietro Amoruoso, 33, und Federico Sargentone, 30, sind langjährige Freunde und Bürokollegen. Pietro und Giovanni arbeiten unter dem Namen Countersubject als Grafikdesigner, Federico ist Journalist. Hier sitzen sie auf dem Sessel »Sally«, designt von Rodolfo Dordoni für Minotti.

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bruehl.com

ALL TOGETH ER D E S I G N K A TI M E Y E R- B R Ü H L

P A S S I O N

F O R

D E S I G N

·

E C O - C E R T I F I E D

·

H A N D C R A F T E D

F O R

Y O U


Der Badschrank von String schaut auch noch gut aus, wenn Handtücher, Stirnbänder und anderer Kram an ihm hängt

Wie ein schwarzes Loch verschluckt der Kleiderschrank »Braux« von Jotex jegliche Materie

Oben hui, unten pfui – sieht aber keiner dank der schönen Türen dieses Regals von Irion

Aus dem Auge Klar, man müsste mal wieder die Wohnung aufräumen – oder sich erst mal Möbel anschaffen, mit denen das Aufräumen auch Spaß macht


In das TV-Lowboard von HKliving passen Die Kisten »Colour Crates« auf Rollen von Hay können immer dahin geschoben

etwa 190 DVDs oder andere Relikte vergangener Zeiten

werden, wo gerade Stauraum benötigt wird

Mit den Schubladen »Teorema« von Molteni&C lässt sich alles stapeln: Kugelschreiber, Haar­ klammern, Ladekabel ...

Das wandhohe Regal »Deep« von Roche Bobois hat 34 Fächer, also auch 34 Versteckmöglichkeiten

Von Amelie Apel


Weil Unordnung meist nicht am Ende einer Wand haltmacht, reicht das Regal »Infinity« von Flexform um die Ecke

Flugs aufgeräumt: Die Rollcontainer von VanDeBord sind aus recycelten Flugzeugboxen und -trolleys gefertigt

Die Küchenzeile »Match« von Reform lenkt elegant Vorhang zu für Krimskrams – mit diesem Modell namens »Hamaca« von Am.Pm

vom Geschirrberg im Waschbecken ab


51 Der Schreibtisch von Müller Möbelfabrikation bietet viel Raum für Papierstau

Erst wenn der Deckel nicht mehr auf diesen Korb von Yaadu passt, wird es Zeit, die Waschmaschine anzuwerfen Ordnung ist das halbe Leben. Die andere Hälfte kann sich im geräumigen Sideboard »Credenza« von Knoll ausbreiten

Hier kann das Chaos einziehen: Die Wandschränke »Agon« und »Cadmo« von Marktex erinnern an Hochhäuser


Die Leuchte »Luna« von Occhio stellt unliebsame Dinge in den Schatten

Gelegentlich kann man auch mal was unter den Teppich kehren – zum Beispiel unter diesen von Jan Kath

Im Schrank »Hayama« von Cassina kann man Schnickschnack verstecken und den Lippenstift nachziehen – er hat innen einen Spiegel

Herumfliegender Plunder landet in der Box »Omnioffre« von Hachiman


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Sorgt in der Mitte des Raums für Ruhe: Die Kommode »Altair« von Rimadesio

Die Stapel ungelesener Bücher können sich in diesen Nachttisch von USM verziehen Schritt 1: Unordentliche Ecke lokalisieren Schritt 2: Den Paravent »Plot« von Poltrona Frau davorstellen

Krempel-Ablage und -Container zugleich: Das TV-Sideboard »Superquadra« von Minotti ist viel­­seitig zu bestücken


Zeitungen und Magazine, die bisher

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auf dem Fußboden herumlagen, finden im Halter »String« von Hübsch Platz an der Wand

Im akuten Chaosnotfall hilft der Medizinschrank »Cross« von Cappellini

Bei dem Sofa »Easy Pieces Forever« von Brühl wurde eine Ablage für Snacks, Fernbedienung, Taschentücher und Kaffee­tasse gleich mitgedacht

Mit zwei Handgriffen verschwindet der Nippes im Nu hinter den drei Türen des Sideboards »Canaletto« von Ligne Roset


Die Retter der Tafelrunde.

In diesem Stuhlsessel von Jehs + Laub lässt es sich ewig am Tisch ausharren. Denn das kuschelige Polsterkissen, ein sanft federnder Rücken und seitliche Einschnitte sorgen für den perfekten Sitz. Eingebettet sind die weichen Polster in einer filigranen Kunststoffschale mit eleganten Kurven, die auf dem in vier Varianten erhältlichen Fußgestell fast zu schweben scheint. Wer steht da schon freiwillig auf?

C O R . D E / A LV O


Der Schreibtisch »Workshop« von Montana schwebt über den Dingen

Im Flur schafft das Regal »Folded Shelves« von Muuto einen geordneten Ablauf

Dieser Vintage-Schrank versteckt jeden Fehlkauf – seit 1822 (über pamono.de)

Die Tischleuchte »Ceramique« von Flos strahlt punktgenau – zum Beispiel dahin, wo es gerade ordentlich ist

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Spieglein, Spieglein Ist Opulenz völlig aus der Zeit gefallen? Ganz im Gegenteil. Das zeigt der Erfolg der Innenarchitektin Kelly Wearstler In Wearstlers Haus in Beverly Hills wohnten schon Filmstar William Powell und James-Bond-Produzent Albert R. Broccoli



Von Claire Beermann

Fotos Amanda Hakan

Kelly Wearstler sitzt an einem Tisch aus kunstvoll gesplittertem Glas vor einem riesigen Eukalyptusstrauß und lässt sich die Haare machen. Sie trägt ein Tanktop, Jeans-Hotpants und AdidasSchlappen, eine Frau von 55 Jahren im straffen, athletischen Körper einer 20-Jährigen, die Haut leicht gebräunt. Im Hintergrund läuft BossanovaJazz, und obwohl es erst 9.30 Uhr ist an diesem Mittwoch Ende August, herrscht in Wearstlers Villa in Los Angeles bereits ein Trubel wie an einem Filmset, das auf den Auftritt seiner Diva wartet: Eine Presseagentin, Wearstlers Assistentin, ihre Social-Media-Managerin und eine Floristin schwirren durch die Räume, Männer tragen Ledersessel durch den Eingangsflur, zwei Haushälterinnen sind in der Küche zugange, auf der Kochinsel hat jemand Glasflaschen mit ProteinSmoothies neben einem fast bis zur Decke reichenden Blumenstrauß aufgereiht, und draußen, zwischen Palmen, Zypressen und weißen Rosen, schnippelt ein Gärtner an der Buchsbaumhecke herum: Guten Morgen aus Beverly Hills! Drei Tage zuvor ist ein tropischer Sturm über Südkalifornien gefegt – alles gut überstanden? »Das war doch total übertrieben«, sagt Kelly Wearstler, inzwischen fertig hergerichtet für das heutige Fotoshooting mit dem ZEITmagazin. Sie spricht mit gedehntem, leicht schnarrendem Südstaatenakzent. »Wir waren in unserem Strandhaus in Malibu. Der Sturm hat nicht mal meine Haare zerzaust!« Ein Satz, wie man ihn nur sagen kann, wenn man in Los Angeles ganz oben angekommen ist. In der Welthauptstadt des Glamours hat sich Wearst­ler in den vergangenen 20 Jahren als Expertin des glamourösen Wohnens etabliert. In ihren Einrichtungen schimmern Glas, Metall, Silber und Gold, fast jede Wand dekoriert sie mit Spiegeln, sie mag harte Kontraste und abstrakte Skulpturen, schwarz-weiß gekachelte Couchtische, lachsfarbenen Marmor, deckenhohe Palmen, gezackte Teppiche. Zu den Kreationen ihres eigenen Studios zählen Skulpturen in Form zerfließender Discokugeln, ein Kronleuchter mit goldenen Stacheln und der Tisch aus gesplittertem Glas. Ein Kritiker verglich Wearstlers Stil einst mit einem überdrehten Kind, ihre Fans sagen es anders: Die Schauspielerin Cameron Diaz etwa, deren Apartment Wearstler mit Onyx und Messing im Bad, einer Küche in Smaragdgrün, Spiegelwänden und Muranoglas-Leuchtern gestaltet hat, bezeichnete ihre Wohnung mal als »seidengefütterte Schmuckschatulle«. Die Filmproduzentin Stacey Snider bestellte bei Wearstler eine Einrichtung, die sich »wie von einer exzentrischen Tante geerbt« anfühlen sollte.

Wearstler hat ihren Mehr-ist-mehr-Stil erfolgreich in alle Welt exportiert: Sie hat zahlreiche Luxushotels (das Santa Monica Proper in Los Angeles, das Four Seasons im karibischen Anguilla) sowie die Villa der Sängerin Gwen Stefani eingerichtet, eine Farbkollektion für den britischen Wandfarbenhersteller Farrow & Ball und eine Geschirrserie für die belgische Designmarke Serax entworfen. Vor Kurzem erschien auf der Online-Plattform MasterClass, auf der Leute wie Martin Scorsese und Alicia Keys in Videokursen die Geheimnisse ihrer Kunst erklären, der erste Kurs für Inneneinrichtung – mit Kelly Wearstler als Dozentin. Ausgerechnet jetzt scheint Wearstler mit ihrer absurden Opulenz einen Nerv zu treffen. Noch mal die Korken knallen lassen, noch mal richtig Spaß haben, das ist die Essenz ihres Designs, und das passt wohl in eine Zeit, in der das Gefühl, dass der Spaß bald vorbei sein könnte, so stark ist wie schon lange nicht mehr. Man stelle sich vor, morgen wird Trump wiedergewählt, die AfD kommt an die Macht, die Wälder brennen, die Welt geht unter – will man die Nacht davor in beigefarbenen Knitterleinen schlafen oder in einem Lederbett mit schneckenförmigen Pfosten, wie Kelly Wearst­ler es aussuchen würde? Ihre­

Noch mal die Korken knallen lassen, richtig Spaß haben, das ist die Essenz von Wearstlers Design Häuser, schimmernd, schillernd, endlos spiegelnd, sind eine einzige Ablenkung vom schwarzen Loch, in das wir alle irgendwann fallen. Was Wearstler aber auch geschafft hat, ist, aus sich selbst mehr als eine Hinter-den-Kulissen-Dekorateurin zu machen. Sie war mal Jurorin einer Castingshow namens Top Design und sorgte dort vor allem mit ihren Outfits für Aufsehen (in einer Sendung trug sie einen grünen Seidenturban). Vor ein paar Jahren machte ein Interview mit ihr in der US-Zeitschrift Bon Appetit die Runde, in dem sie von ihrem völlig geistesgestörten Fitnessprogramm erzählte: An sieben Tagen die Woche gehe sie morgens um halb sechs zum Zirkeltraining bei Barry’s Bootcamp (Wearstler: »In dem Kurs sind nur ich und ein paar hohe Tiere aus Hollywood. Angeblich verbrennen wir 800 Kalorien«); tagsüber ernähre sie sich hauptsächlich von Säften, nachts schlafe sie in Lingerie. Es war die Art von Interview, die sonst eher Schauspielerinnen oder Popstars geben, nicht Innenarchitektinnen. Und dann ist da natürlich ihre filmreife Villa in Beverly Hills, in der wir heute zu Besuch sind: 1926 im spanischen Kolonialstil gebaut, wurde sie Anfang der Dreißigerjahre für den Schauspieler William Powell (Der dünne Mann) umgestaltet und war ab 1969 mehr als drei Jahrzehnte lang der Wohnsitz von Albert »Cubby« Broccoli, dem Produzenten der James-Bond-Filmreihe. Im über ein Hektar großen Garten wachsen Eukalyptusbäume, Magnolien, Agaven. Es gibt ein Gästehaus und einen Tennisplatz, acht Schlafzimmer, zehn Bäder, weiß lackierten Holzstuck mit

Kelly Wearstler posiert auf einem Midcentury-Ledersofa von Børge Mogensen und vor einer Magnolie im Garten

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Mäander- und Blumenornamenten. Wearstler wohnt hier mit ihrem Mann und dem jüngsten ihrer drei Söhne, es ist aber auch ihr »Labor«, wie sie es nennt: der Ort, an dem sie ständig mit neuen Ideen herumexperimentiert, Möbelkombinationen ausprobiert, Kunst von hier nach da umhängt. Und wenn man durch die Räume läuft, dann merkt man, dass Wearstlers Stil tatsächlich viel raffinierter ist als Maximalismus. Inzwischen sitzen wir in einem der Wohnzimmer, die sich um den quadratischen, bewachsenen Innenhof gruppieren, durch bodentiefe Fenster fällt ein angenehm waldiges Licht. Zwei gemusterte Patchworksessel aus den Siebzigerjahren stehen neben einem Samtsofa mit schwarz-braun-beigen Diagonalstreifen (Wearstlers eigenes Design) und zwei cappuccinofarbenen Cordsesseln, dazwischen: zwei ockerfarbene Marmortischchen. Neben den Sesseln stehen wiederum zwei Lederhocker im gleichen Schwarzbraun wie der Teppich darunter, man sieht sie nicht gleich und fällt fast darüber. An der Decke schwebt eine Leuchte aus Metallrohren; in einer Ecke thront eine kubistische schwarze Skulptur, in einer anderen eine weiße Kugellampe in einem Gitterzylinder. Eine

Treppe mit Messinggeländer führt in den ersten Stock, das Treppenhaus ist mit einer gefleckten Spiegelwand ausgekleidet. »Design bedeutet, eine Geschichte zu erzählen«, lernt man in Wearst­lers MasterClass-Kurs, und die Geschichte von diesem Haus ist offenbar, dass sie niemals endet. Man kann ziemlich lange in das Wohnzimmer starren und entdeckt doch immer wieder etwas, was einem vorher nicht aufgefallen ist (unter anderem einen braun gescheckten Hund, der farblich passend neben einem Sessel liegt). »Es gefällt mir, wenn die Dinge ein bisschen kompliziert sind«, sagt Wearstler dazu und zieht ein Bein im Sessel hoch, »weil ich es mag, wenn die Leute ein bisschen über das nachdenken, was sie sehen. Mir gefällt das Entdecken und die Reise, die man antritt, wenn man in einen Raum kommt. Man will ja nicht gleich alles verraten, oder?« Sie guckt vergnügt, so, als sie sei kurz davor, einen guten Witz zu erzählen. »Es ist, wie wenn man jemanden kennenlernt. Man schüttet nicht gleich sein ganzes Herz aus! Man zeigt sich der Person langsam, nach und nach.« Kelly Wearstler wurde in einem vollgestopften Haus groß. 1967 in Myrtle Beach in South Carolina geboren, wuchsen sie und ihre ältere Schwester nach der Trennung der Eltern bei ihrer Mutter auf, einer Antiquitätenhändlerin und leidenschaftlichen Sammlerin. »Wir hatten so viel Zeug«, Wearstler schüttelt den Kopf, »oh, my god. Meine Mutter mag Sachen im Country-Stil, überall waren Körbe, Quilts, solche Sachen. Im Badezimmer wusste man nicht, wo man seine Zahnbürste hinlegen sollte.« Ihre M ­ utter

Ein gekachelter Couchtisch von Nima Abili steht vor Wearstlers Lieblingsfenster, dahinter liegt die Poolterrasse


DER NEUE

VOLLELEKTRISCHE MINI COOPER. NICE TO

ME ET YO U

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BIG LOVE. MINI Cooper SE: Stromverbrauch (NEFZ) in kWh/100km: – ; Stromverbrauch (WLTP) in kWh/100km: 14,8 - 14,1; Elektrische Reichweite (WLTP) in km: 385 – 402. Offizielle Angaben zu Stromverbrauch und elektrischer Reichweite wurden nach dem vorgeschriebenen Messverfahren ermittelt und entsprechen der VO (EU) 715/2007 in der jeweils geltenden Fassung. WLTP-Angaben berücksichtigen bei Spannbreiten jegliche Sonderausstattung. Für seit 01.01.2021 neu typgeprüfte Fahrzeuge existieren die offiziellen Angaben nur noch nach WLTP. Zudem entfallen laut EU-Verordnung 2022/195 ab 01.01.2023 in den EG-Übereinstimmungs- bescheinigungen die NEFZ-Werte. Weitere Informationen zu den Messverfahren NEFZ und WLTP finden Sie unter www.mini.de/wltp


In den Innenhof schaut man von fast jedem Zimmer, er schafft eine grüne Oase mitten im Haus




67 nahm sie auch oft mit auf Flohmärkte und in Vintageläden, und so entwickelte sie ein Auge für ausgefallene Dinge. Nach der Schule studierte Wearst­ler Grafikdesign am Massachusetts College of Art and Design in Boston und belegte nebenbei Kurse im Fach Architektur, ihren Abschluss machte sie schließlich in Interior Design. Außerdem ging sie in New York für ein halbes Jahr bei dem Grafiker Milton Glaser in die Lehre – dem Erfinder des berühmten »I   New York«-Logos, aber auch Gestalter einiger Restaurants. Mit Mitte 20 zog Wearstler dann nach Los Angeles, fing als Kellnerin in einem Restaurant in Beverly Hills an und versuchte nebenher, Arbeit bei einer Innenarchitekturfirma zu finden. Ihr erster Job außerhalb des Restaurants führte aber woanders hin: zum Playboy. »Müssen wir darüber reden?«, fragt sie mit gequältem Lachen und windet sich ein bisschen in ihrem Patchworksessel, aber dann erzählt sie es doch: Das Büro des Playboy lag um die Ecke des Restaurants, in dem sie arbeitete, und eine Redakteurin sei wieder und wieder vorbeigekommen, um Wearstler zu überreden, sich für das Magazin fotografieren zu lassen. »Sie meinte, oh my god, du siehst so toll aus, du wärst perfekt! Ich habe erst abgelehnt.« Als sie allerdings hörte,

»Es muss etwas zu entdecken geben«, sagt Kelly Wearstler. »Das ist sehr wichtig!« wie viel sie verdienen würde – »ungefähr 75.000 Dollar« – nahm sie das Angebot doch an und ließ sich in blauer Spitzenunterwäsche in neoklassizistischem Boudoir-Interieur fotografieren. »Ich hab’s wirklich für das Geld gemacht«, sagt Wearstler schulterzuckend. »Außerdem ist der menschliche Körper doch etwas Schönes. Es ist ja nicht so, dass ich etwas Verbotenes getan hätte.« Die Fotos von »Kelly Gallagher«, wie sie sich in der Strecke nennen ließ, erschienen im September 1994 im Playboy. Von ihrem Honorar, sagt Wearstler, habe sie ihre damalige Wohnung eingerichtet und KWID gegründet, Kelly Wearstler Interior Design, ihr erstes eigenes Studio. Kurz vor dem Playboy-Shooting hatte sie im Restaurant außerdem eine Frau kennengelernt, deren Eltern kreative Unterstützung bei der Einrichtung ihres Bungalows in Venice Beach brauchten; Wearstler gestaltete schließlich das ganze Haus. Und sie traf über eine Kollegin den Immobilienentwickler Brad Korzen. Der hatte während des großen Immobilienabschwungs der Neunzigerjahre und mit Geld seines Vaters, eines Bowlingbahnbesitzers aus Illinois, damit begonnen, historische Wohngebäude in Los Angeles aufzukaufen, zu renovieren und mit Gewinn weiterzuverkaufen. Wearstler und Korzen begannen, für die Umgestaltung dieser Häuser zusammenzuarbeiten, zudem engagierte er sie für die Einrichtung seines Hauses in den Hollywood Hills, und er gab schließlich nach, als sie wieder und wieder darum bat, seine neueste Anschaffung umdekorieren zu dürfen: das Avalon Hotel, in dem schon Marilyn Monroe

abgestiegen war. Als das Hotel 1999 frisch renoviert wiedereröffnete, waren Wearstler und Korzen ein Paar geworden. Und im Jahr 2005 kauften sie der Broccoli-Familie dann das Anwesen in Beverly Hills ab. Dunkel und etwas muffig sei das Haus gewesen, erinnert sich Wearstler. Der Hausherr war bereits verstorben, die Villa wurde von seinen ehemaligen Pflegerinnen instand gehalten. Wearstler ließ die holzvertäfelten Wände in einem glänzenden Weiß streichen und bodentiefe Fenster an einer zuvor geschlossenen Wand zum Innenhof einsetzen. Die wichtigste Tat, nachdem sie die Villa erstanden hatten: erst mal unter Denkmalschutz stellen. »Stellen Sie sich vor, irgendwann kommt jemand und will das Haus abreißen«, sagt Wearstler und weitet entsetzt die Augen. »Oh my god!« Ein Haus auszustatten ist ein bisschen so, wie eine Ehe einzugehen: Man trifft eine Entscheidung für viele Jahre, vielleicht fürs Leben, in der Hoffnung, dass es einen nicht allzu schnell anödet. Wearstlers Haus hingegen wirkt in seiner Vielschichtigkeit erstaunlich dynamisch. Allein wegen der vielen Spiegel, aber auch wegen der Kombinationen von Dingen, die scheinbar nicht zusammenpassen, aber dann irgendwie doch: In einem Salon etwa steht ein Keramiktisch, der aussieht wie aus weiß lackierter Baumrinde gefertigt, an der Wand hängt ein dekonstruierter Spiegel, gegenüber steht ein ebenfalls verspiegelter, sanduhr­förmiger Schrank aus schwarzem Flechtwerk, durchs Fenster geht der Blick auf die riesigen, krallenhaften Baumwurzeln einer Magnolie. Im Eingangs­ bereich wiederum, mit der muschelförmigen Wandnische über der Tür und dem schwarz-grün gekachelten Marmorboden eigentlich ein Raum von eher altmodischer Opulenz, hängt an der ­einen Wand ein Spiegel mit einem Rahmen wie aus schwarzem Kaugummi, an der anderen eine Lampe in Form eines verbogenen Abgasrohrs. Sie wolle sich in ihrer Arbeit »immer wieder neu verlieben«, sagt Wearstler. Den schwarz-grünen Marmorboden in der Eingangshalle zum Beispiel will sie demnächst austauschen, »den kann ich nicht mehr sehen«, außerdem habe sie den Verdacht, dass er dem bepflanzten Innenhof die Show stehle. Auch die Auffahrt wird bald verändert, danach das Esszimmer umgestaltet, außerdem habe sie gerade einen Platz für Padel-Tennis im Garten installiert, »das ist ein cooler Sport aus Mexiko«, erklärt Wearstler. Eine Lieblingsfarbe hat sie nicht, das Einzige, wovon sie abrät, ist Oberlicht: »Schon mal in einem Fahrstuhl gestanden? Es gibt einen Grund, warum man da immer beschissen aussieht.« Sie liebt Spiegel, weil

Spiegelnde Oberflächen zählen zu Wearstlers Markenzeichen. Das Becken in diesem Bad ist aus gehämmertem Messing



Wearstler mixt oft Stile und Perioden – hier steht ein Vintage-Schrank neben einem zeitgenössischen Hocker von Studio ilio


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man »die Architektur damit öffnen«, einen Raum also größer machen kann. Sie hasst Wiederholung jeglicher Art, in jedem Projekt suche sie sich eine neue Herausforderung. Und: »Überraschend« müsse es sein. Sie mag »überraschende Kombinationen unterschiedlicher Perioden und Stile«, sie mag, wenn neben einem riesigen Sofa »überraschend« ein winziger Stuhl steht, und sie findet es »überraschend«, einen Innenhof mit Zypressen und Formschnitt zu füllen anstatt mit Gartenmöbeln. »Es muss etwas zu entdecken geben«, sagt Wearstler noch einmal. »Das ist sehr wichtig!« Aus der Küche hört man jetzt das Quaken eines Babys, und dann kommt auch schon eine Nanny herbei, um ein Kind im Ringelhemdchen und mit Kulleraugen ins Bild zu reichen, Wearstler streckt die Arme nach ihm aus und nimmt ihren dritten Sohn auf den Arm: »Sag hallo!«, sagt sie und schnuppert an seiner Wange. »Am Wochenende wird er ein Jahr alt.« Sie werden den Geburtstag in Austin, Texas, feiern, wo Wearstlers ältere Söhne, 19 und 20 Jahre alt, zur Universität gehen. Wie ist sie in ihrem Alter eigentlich noch mal Mutter geworden? »Eingefrorene Eizellen«, sagt Wearstler in einem Ton, als verrate sie die Spezial-

zutat ihres Apfelkuchenrezepts, »und wir hatten eine Leihmutter.« Das Baby krabbelt auf den Couchtisch. Nach ihren älteren Söhnen habe sie immer noch mehr Kinder gewollt, erzählt Wearstler, während sie das Baby davon abhält, nach den Gläsern auf dem Tisch zu greifen. Weil sie sich in ihren beiden Schwangerschaften fast durchgehend übergeben habe, sei das Thema aber zunächst abgehakt gewesen. »Aber als meine Jungs älter wurden, sah ich all die Eltern, die sich scheiden ließen, und die Männer, die sich dann eine jüngere Frau suchten und mit der noch mal Kinder bekamen«, sagt Wearstler. »Ich habe zu meinem Mann gesagt: Wieso machen wir das nicht auch?« Seitdem das Baby da sei, sagt sie, halte sie viele Meetings daheim ab. »Ich will die Zeit mit ihm so gut wie möglich nutzen. Es geht alles so schnell vorbei. Wir gehen auch viel mit ihm in den Pool.« Ist es nicht so, dass Leute mit Swimmingpool nie schwimmen gehen? Wearstler schüttelt den Kopf, strahlt: »Wir gehen jeden Tag schwimmen! Wir nutzen das ganze Haus.« Es klingt natürlich ein bisschen verrückt, was sie hier erzählt: wie sie anscheinend nicht nur ihr Haus für eine never-ending story gestaltet hat, sondern auch sich selbst. Man kann darüber den Kopf schütteln – wer braucht ein drittes Baby mit Mitte 50? Gibt es nicht Wichtigeres als schillernde Tischplatten und einen fitten Körper? Ist es nicht viel besser, sich möglichst schnell mit der Tatsache zu arrangieren, dass das Altern unaufhaltsam ist? Aber tatsächlich steckt in Wearstlers Mentalität – und Einrichtungsstil – doch ein sehr alter Menschheitstraum, der in Hollywood bloß

Die skulpturale Bank aus Travertin (rechts im Bild) im Gartenzimmer hat Wearstler selbst entworfen


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DAS WHO-IS-WHO DER GEGENWART IM GESPRÄCH

schon immer etwas offensiver verfolgt wurde als anderswo: Was, wenn man sich noch mal so fühlen könnte wie am Anfang der Reise? Man denkt an Sunset Boulevard, Billy Wilders Film über die in die Jahre gekommene Schauspieldiva Norma Desmond, die ihre Rückkehr auf die Leinwand plant. »Sie waren doch mal groß«, sagt der Drehbuchautor Joe Gillis zu ihr, und Desmond faucht zurück: »Ich bin groß! Es sind die Filme, die klein geworden sind.« Was ist so falsch daran, in einer Fantasie leben zu wollen? Kelly Wearstler sagt, wenn sie morgens aufwache, schaue sie vom Bett durch die Schlafzimmerfenster auf das Schwimmbecken und denke daran, wie »Cubby«, der Bond-Produzent, und seine Frau über Jahrzehnte an diesem Ort mit dem gleichen Blick aufwachten, wie sie ihr großes Leben lebten in diesem verwunschenen Haus, in dem auch alle drei Broccoli-Kinder getraut wurden. Man kann sich das alles gut vorstellen, das Haus wäre überhaupt ein perfekter Ort für so viele Geschichten, ein Familiendrama oder einen Thriller vielleicht, mit den Spinnweben, die zwischen den Blättern der Agaven im Sonnenlicht schimmern, den sieben Türen oberhalb der gewundenen Treppe, dem Poolhaus mit den schwarzen Skulpturen in weißen Wandnischen. »Abends werfen die Palmen und Zypressen so schöne Schatten auf den Pool«, sagt Wearstler. »Ich kneife mich wirklich jeden Tag, dass ich hier wohne. Ich bin so nicht aufgewachsen.« Dann will sie wissen, wie lange das Interview noch dauert. »Ich habe in ungefähr einer Minute ein Workout«, sagt sie und streckt die Beine von sich. Wie, jetzt ein Workout? Mitten am Tag? »Ja«, sagt Wearstler und guckt wieder so vergnügt, »das ist mein afternoon delight.« Warum macht sie eigentlich so viel Sport? »Manche Leute gehen mittags ins Restaurant, ich bewege meinen Körper«, sagt Wearstler. »Das lädt dich wieder auf. Es ist großartig!« Der Workout-Termin drängt dann aber offenbar doch nicht so sehr, denn Wearstler gerät nun ins Schwärmen darüber, wie man den Körper ewig jung hält: Am besten esse man eine irre Menge an Proteinen, »weil die Muskeln verfallen, wenn man älter wird«, wie sie sagt. »Und Saunieren ist wunderbar. Wir nehmen danach ein Eisbad – das ist einfach gut für alles, die Haut, den Körper.« Okay, und wie viele Stunden schläft sie? »Acht«, sagt Wearstler triumphierend. »Ich stehe um halb sechs auf für mein erstes Workout. Abends schlafe ich ein, sobald mein Kopf das Kissen berührt. Und ich habe den Aura-Ring – haben Sie den Aura-Ring?« Nein, was bitte ist ein Aura-Ring? »Den trägt man durchgehend«, erklärt Wearstler, »und misst damit, wie lange man gebraucht hat, um einzuschlafen, wie lang die Tiefschlafphase war, die Herzfrequenz, den Sauerstoffgehalt im Blut, alles.« Wozu macht man das? »Na, um sicherzugehen, dass man auch richtig schläft«, sagt Wearst­ler. Gibt es denn im Haus auch einen Ort, an dem sie einfach mal nur rumsitzt? »Ich sitze nie rum«, sagt Wearstler fröhlich. Sie habe immer was zu tun, sagt sie, sei immer in Bewegung, immer dabei, Möbel zu verrücken. Okay, und was passiert, wenn sie doch mal sitzt? »Ich stehe auf!«

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Leerauftrag Die Nöte von zu wenig Wohnraum kennen viele. Was aber passiert, wenn man plötzlich ein Zimmer zu viel hat? Überall in meinem Bekanntenkreis werden Menschen Experten für Raumtrennung. Es ist ja nicht mehr so, dass eine Familie in einer deutschen Großstadt einfach so umziehen kann, wenn sie mehr Platz benötigt. Denn in vielen Städten ist Wohnraum knapp. Kinder sind zwar zunächst klein und lassen sich bestens gemeinsam in einem Raum unterbringen. Später aber gehen sich die Geschwister gegenseitig auf die Nerven und brauchen eigene Wände um sich herum. Dann beginnt die große Zeit der Trockenbau-Trennwände. Als sich in unserer sechsköpfigen Familie zwei Geschwister nicht mehr ein großes Zimmer teilen wollten, haben wir daraus zwei kleine Zimmer mit einem noch kleineren Vorraum gemacht. Ein Freund von mir fand keine bezahlbare Alternative zur Dreizimmerwohnung seiner vierköpfigen Familie und behilft sich jetzt so: Die Kinder haben je ein Kinderzimmer, der dritte Raum ist das Schlaf-, Wohnund Arbeitszimmer der Eltern. Wenn die Eltern ins Bett gehen wollen, klappen sie ein Schrankbett herunter. Es ist wie Van-­ Life, nur ohne Van. Es gibt freilich auch die andere Variante: Der ehemalige Direktor des Berlin-­Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Reiner Klingholz, weist darauf hin, dass der Verdichtung des Wohnraumes auf der einen Seite der Gesellschaft eine Expansion auf der anderen Seite gegenübersteht. Die erleben jene Menschen, die vor langer Zeit eine günstige, riesige Altbauwohnung kaufen konnten, aus der die Kinder längst aus­ gezogen sind. Oder auch jene, die vom Bausparkredit im Neubaugebiet wohnen. Daraus, warnt Klingholz, könne ein ein Haus mit Giebeldach für ihre Streitpunkt zwischen den Generationen entsteFamilie errichtet haben und hen: Was passiert mit all dem frei gewordenen Raum? nun alleine unter Ich erinnere mich selbst noch daran, wie das war, als wir Giebel und Dach drei Kinder aus dem Haus meiner Eltern ausgezogen waren.

Die drei Kinderzimmer fungierten zunächst als eine Art Kinder-Museum. Später diente mein ehemaliges Zimmer meinem Vater als »Musikzimmer«, wo er ungestört Gitarre übte. Dann wurde es eines von drei Gästezimmern. Es blieb


bedeutet, dass dieser Raum oft leer bleibt, weil man gar kein richtiges Hobby hat). Wenn so ein Raum da ist, der nicht den unmittelbaren menschlichen Bedürfnissen dient (essen, duschen, schlafen, seine Ruhe von den Eltern haben), dann setzt er einen sofort unter Stress: Der leere Raum ist wie ein Vakuum, das Themen in sich hineinsaugt – und dabei leider oft auf das Vakuum im Kopf des Raumbesitzers trifft. Denn plötzlich muss alles her: Musik, Hobby oder private Schreibtischarbeit fürs Arbeitszimmer. So ein zusätzlicher Raum scheint ständig zu fragen: Warum nutzt du mich nicht? So gibt es keinen besseren Weg, sich wie ein Schlappi vorzukommen, als sich einen Fitnessraum einzurichten, der dann ungenutzt bleibt. Denn eigentlich schafft sich jedes echte En­gage­ment Raum. Wer für sein Leben gern Gitarre spielt, kann das auch in der Küche tun. Wer gern Sport macht, rennt draußen herum oder tritt in einer Turnhalle gegen den Ball. Umgekehrt schafft ein Raum aber noch kein En­gage­ment. Was in unserem Leben ist schon so wichtig, dass es ein eigenes Zimmer braucht? Und dazu stellt sich die Frage: Wem soll ein solches Zimmer eigentlich zugutekommen? Wer aus der Familie oder der Partnerschaft ist wichtiger? Wer hat die raumgreifenderen Interessen? Wer soll sich in dem zusätzlichen Zimmer aus­leben dürfen? Sprich: Wer ist der wichtigere Mensch? Wer hat das Sagen? Denn Raum ist in seltsam archaischer Weise mit Macht verbunden: je mehr Quadratmeter, desto wichtiger. Auch deswegen kaufen reiche Menschen große Häuser. Ich bewundere manchmal all die Hollywood-Prominenten, die riesige Villen bewohnen. A ­ dele hat eine Villa mit acht Schlafzimmern, einem Kunstatelier und einem Fitnessstudio. Wie soll sie das nur ausfüllen? Da strengt man sich an, um groß und berühmt zu werden, und hat sich dann ein Haus zu kaufen, in dessen Korridorschluchten man sich klein und nichtig fühlen muss. Bei uns zu Hause ist nun ein Kind nach dem Abi für ein Freiwilliges Soziales Jahr im Ausland ausgezogen. Jetzt sind zehn Quadratmeter frei. Zehn Quadratmeter! Gerade wollten wir anfangen, darüber zu streiten, wer den Leerstand wie fülsehzimmer war, ist heute der »Medienlen darf, da hatten es die Geschwisraum«. Da stehen normalerweise ein Beamer ter schon besetzt. Es ist nun ihr und ein Sofa, daneben noch eine Videokonsole. »Abhängzimmer«. Und sie Nicht mehr so oft gibt es die Bibliothek, aber immer füllen es damit auch noch das Arbeitszimmer und den Hobbyraum (was allerdings sehr gut aus.

Von Tillmann Prüfer

also nicht einfach nur das leere Zimmer, in dem kein Tillmann mehr vor sich hindünstet. Denn ein Zimmer kann offenbar nicht einfach nur ein Zimmer sein, es muss mit irgendeiner Funktion gefüllt werden: Was früher das Fern-


Eigentlich mag die Fotografin Rita Lino keine Deko-Objekte, aber diese Porzellankatze verbindet sie mit ihrer Großmutter


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Schön hässlich Haben Sie auch Dinge in Ihrer Wohnung, die irgendwie schaurig sind, von denen Sie sich aber nicht trennen können? Wir haben 16 Bekenntnisse gesammelt Zusammengetragen von Amelie Apel, Johannes Dudziak, Anaïs Kaluza und Oskar Paul


Rita Lino

Robert Seethaler

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Weil ich mein Leben damit verbringe, durch verschiedene Länder zu ziehen und in verschiedenen Städten zu leben, habe ich mich immer so minimalistisch wie möglich eingerichtet. Ich bin kein Objektmensch. Doch zu dieser Porzellankatze aus Olhão in Portugal, wo ich herkomme, habe ich eine emotionale Verbindung: Sie begleitet mich schon die vergangenen 15 Jahre, seit ich von zu Hause ausgezogen bin. Ursprünglich gehörte sie meiner Großmutter, zu der ich eine ganz besondere Beziehung hatte. Sie liebte Katzen. Und ich liebe Katzen auch. Als ich aus Portugal wegging, schnappte ich mir etwas aus ihrem Regal, das ich leicht in meinem kleinen Gepäck verstauen konnte. Ich bin froh und stolz, dass die Katze nie kaputtgegangen ist. Heute ist sie schamlos auf meinem Bücherregal ausgestellt. Und jedes Mal, wenn ich eine weiße Porzellankatze finde, auf der Straße oder auf dem Flohmarkt zum Beispiel, nehme ich sie mit. Mittlerweile habe ich circa sieben weitere Porzellankatzen,

Diese trockene Zitrone ist sehr hässlich. Aber sie ist ein Geschenk meiner französischen Verlegerin. Außerdem ist sie federleicht und führt ein Eigenleben, über das ich nicht sprechen darf.

die aber in einer Schachtel aufbewahrt werden. Nur die von meiner Oma darf aufs Regal. Es beruhigt mich, zu wissen, dass sie da sind und ich die Sammlung meiner Großmutter fortführe.

Rita Lino, 36, ist Fotografin. In Portugal geboren, lebt sie heute

Der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler, 57, lebt in Berlin und Wien.

in Berlin und Mailand

Kürzlich ist sein Roman »Das Café ohne Namen« erschienen


Leander Haußmann Sigurd Larsen

77

Die Truhe ist fies. Ganz im Stillen wartet sie, bis sich endlich ein nackter Fuß findet, der gegen sie stößt. Wer einmal mit nacktem Fuß gegen eine Eisentruhe aus dem Dreißigjährigen Krieg stieß, die vier starke Männer gemeinsam kaum anheben können, weiß den nachlassenden Schmerz zu schätzen. Mein Großvater väterlicherseits war wahnsinnig stolz auf die Truhe, und in der Fantasie unserer Familie entwickelte sie in all den Jahren eine enorme Wertigkeit. Sollte es einem mal schlecht gehen, könnte man sie ja verkaufen, und alle Probleme wären gelöst. Als Mitglied jener heimlichen Community von Intellektuellen, die »Bares für Rares« schauen, bin ich leider enttäuscht worden: Ein ähnliches Stück kam auf 3000 Euro. Man sollte diese Sendung nicht schauen, wenn man Dinge besitzt, von denen einem ein ganzes Leben lang gesagt wurde, sie seien eine stabile Wertanlage. Ich habe die Truhe jetzt direkt am Bücherregal platziert, wo selten Kinder zu finden sind und sie wenig Schaden anrichten kann. Dort lauert sie nun und wartet.

Als mein Mann und ich zusammenzogen, tauchten bei beiden von uns Plastikobjekte aus der Kindheit auf, darunter Playmobilfiguren, Lego, ein Pokal von einem Dart-Turnier, Spielzeugkameras, eine Rakete – alles Dinge, mit denen wir nichts mehr anfangen können, die wir aber witzig finden. Deswegen bilden sie auf einem Bücherregal zusammen einen bunten Haufen. Sie ziehen unsere Gäste an, besonders die Kleinen. Eigentlich bin ich pragmatisch und mag spärliche Einrichtungen – ich bin Däne und in der Hinsicht sehr skandinavisch veranlagt. Objekte haben für mich keinen emotionalen Wert, aber diese haben über 30 Jahre bei mir überlebt. Der Moment

Leander Haußmann, 64, ist Filmund Theaterregisseur. Bekannt

ist vorbei, in dem ich sie wegschmeißen könnte.

wurde er mit »Sonnenallee« und

Sigurd Larsen, 42, ist Architekt und Interiordesigner. Er stammt aus Dänemark

»Herr Lehmann«

und lebt in Berlin


Dustin Hanke

Alice Hasters

Ich bin nach einer Trennung in meine Wohnung gezogen. Dort wohnte zuvor eine gute Bekannte, und sie hinterließ mir gegen eine Abschlagszahlung ein paar Möbel, darunter diesen unschönen Plastikstuhl Plastikstuhl. Ich war nach der Trennung emotional leer, aber der Stuhl strahlte etwas

Das ist eine Boudoir-Puppe von 1920, ich habe sie

Fürsorgliches aus, ich hatte das Ge-

letztes Jahr in Amsterdam entdeckt. Früher haben die

fühl: Darauf kann ich etwas aufbau-

Ladys darin angeblich ihre getragene Unterwäsche

verreise, steige ich auf den Stuhl,

verstaut. Ich bin etwas spirituell und kann nicht genau

um Koffer von Schränken zu hieven,

erklären, was passiert ist – aber die Puppe schien zu

und wenn Besuch da ist und ich­

sagen: Du musst mich mitnehmen. Ich habe ver-

einen Stuhl brauche, kann man auf

gleichsweise viel Geld dafür bezahlt, ungefähr 100

Mensch: Solange man auf dem Stuhl

Euro. Sie hängt an einer Garderobe in meinem Schlaf-

sitzen kann, ist es egal, wie er aus-

zimmer, und ich habe das Gefühl, sie wacht über mich.

Gewissen, wenn ich ihn rausschmei-

en. Und er ist praktisch. Wenn ich

ich kann Klamotten darauf ablegen,

ihm sitzen. Ich bin ein genügsamer

sieht. Ich hätte auch ein schlechtes ßen würde, denn schließlich war er vor mir hier.

Alice Hasters, 34, ist Autorin und Moderatorin. In Kürze erscheint ihr Dustin Hanke, 29, ist Influencer und Model. Er lebt in Berlin

neues Buch »Identitätskrise«


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Bonnie Strange

Alondra de la Parra

81

Ich habe vergangenes Jahr so ein gelb-grün gemustertes Vintage-Sofa gekauft, es passte in meiner Wohnung aber nirgendwo rein, und ich fand es dann doch voll hässlich. Weil ich es nicht wegschmeißen wollte, habe ich es ein Jahr im Regen und in der Sonne stehen lassen, draußen im Garten. Jetzt ist es komplett ausgeblichen, überall zerrissen, es bricht auseinander. Aber auf einmal finde ich es voll schön. Es steht nun auf meiner Terrasse.

In den letzten 20 Jahren bin ich 17-mal umgezogen, diese Fotografie und die hässliche Taube kamen immer mit. Das Foto zeigt meinen Vater, als er sieben Jahre alt war. Meine Großmutter schrieb früher Fotoromane, und ihre Kinder mussten als Models her­ halten. Fantasie und Wirklichkeit gehen bei meiner Familie durcheinander, das ist Teil meiner DNA. I­ mmer wenn etwas Bedeutendes in meinem Leben passiert, schaut mich eine Taube an. Ich bin sicher, es ist­ meine Großmutter. Deshalb wurde mir die goldene Taube, eine Spardose, geschenkt. Ich kann sie nicht wegschmeißen, weil ... na ja, irgendwie ist sie meine­ Großmutter. Bonnie Strange, 37, ist eine deutsche Influencerin und Moderatorin. Sie lebt auf Ibiza

Alondra de la Parra, 42, ist Dirigentin. Sie kommt aus Mexiko und lebt in Berlin


Dorothee Bär

Diandra Donecker

82

Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit das Gleiche: Unsere Kinder machen sich über mich und meine Liebe zu meinem wichtigsten Dekorations­ objekt lustig: mein tönerner, etwa 40 Zentimeter großer Christbaum mit vielen bunten Plastiklichtern. Von Außenstehenden höre ich: Kitsch. Mein Mann dachte, er könne mir den

Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, schenkte mir meine

Spleen, ihn an der prominentesten

Mutter, die ein Geschäft für Inneneinrichtung hatte,

Stelle in unserem Haus aufzustellen, irgendwann ausreden. Aber schon

diesen Fußschemel Fußschemel. Es war der liebevolle Versuch,

als kleines Kind stand ich staunend

mir ihren Stil mit auf den Weg zu geben. Eigentlich

im Haus meiner Großeltern und habe meiner Oma erklärt, dass ich nie im

mochte ich es schon immer reduzierter, helle Räume

Leben etwas anderes von ihr möch-

mit viel Platz, doch der Fußschemel gefiel mir. Da-

te als diesen Baum, den sie in den 1950er-Jahren von ihrer Schwester,

mals wurde aus meinem Kinderzimmer ein Jugend-

die in die USA emigriert war, ge-

zimmer, und er verlieh dem Raum etwas Salonhaftes.

schenkt bekam. Und irgendwann war ich dieses Geschenks würdig.

Als ich auszog, nahm ich ihn mit in meine erste WG, und heute steht er in meiner Wohnung. Ich mag es, am Sonntag die Füße hochzulegen, ausgedehnt zu frühstücken und Zeitung zu lesen. Ihn wegzugeben käme mir wie Verrat an meiner Mutter vor.

Die CSU-Politikerin Dorothee Bär, 45, ist stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Diandra Donecker, 34, ist Kunsthistorikerin und Geschäftsführerin des Auktions-

für Familie und Kultur

und Ausstellungshauses Villa Grisebach in Berlin


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Anika Decker

Ayelet Gundar-Goshen

Der einzige Grund, warum ich im ZEITmagazin über diesen Teppich schreibe, ist, dass die Person, die ihn geknüpft hat, kein Deutsch spricht. Dieser Text darf nie auf Hebräisch erscheinen – das ist die Bedingung. Den Teppich schenkte uns meine Tante. Wann genau, weiß ich

Auf meinem Schreibtisch steht ein Skelett Skelett. Ich habe

nicht, es war zu einem Geburtstag

gegoogelt, und vielleicht irre ich mich, aber bei diesen

meiner Kinder. Ich glaube, ihr war es

Skeletten scheint es sich um Figuren zu handeln, die

und damit ihre Liebe zu mir und mei-

von japanischen Knopfschnitzern gefertigt wurden,

nen Kindern auszudrücken. Anfangs

wenn sie keine Lust mehr hatten, Knöpfe zu schnitzen.

holen, wenn sie zu Besuch kommt.

Und das passt ja: Ich drückte mich vor der Arbeit, als

Aber in Israel klopfen die Menschen

ich das Skelett fand. In einem Antiquitätenhandel in

nicht immer behaupten, der Teppich

Überlingen am Bodensee, während ich eigentlich an

sei in der Wäsche. Erst hasste ich

meinem Roman schreiben sollte. Ich habe viele sol-

Symbol für meine Unaufrichtigkeit

cher Objekte in der Wohnung. Dinge, die meinen Blick

zu sein. Doch heute ist er auf seine

festhalten. Es hilft mir dabei, kreativ zu sein. Vielleicht

Denn mit den Jahren ist er zu einem

gebe ich das Skelett irgendwann weg. Denn wenn sich

Symbol dafür geworden, dass die

wichtig, etwas selbst zu machen

wollte ich den Teppich nur hervor-

plötzlich an deine Tür, und ich ­konnte

den Teppich. Er schien mir ein­

Art das Schönste, was ich besitze.

Liebe größer als die Wahrheit ist.

Besuch in meiner Wohnung in einen Gegenstand verliebt, dann verschenke ich ihn gern.

Die Schriftstellerin Ayelet

Anika Decker, 48, hatte ihren Durchbruch als Drehbuchautorin mit »Keinohr-

anderem den Roman »Löwen

hasen«. Bei der Erfolgskomödie »Traumfrauen« führte sie zudem Regie

wecken« (2014). Sie lebt in Tel Aviv

Gundar-Goshen, 41, schrieb unter


Ayan Yuruk

Maren Kroymann

Hier ist mein kleiner Eiertopf – kalkig, verhärmt, siebzigerjahremäßig. Das ist ein schon jahrzehntelanger Kampf mit mir selbst, weil ich ­eigent­ lich denke, ich müsste ihn wirklich mal durch einen cooleren ersetzen. Aber gleichzeitig hänge ich an ihm, denn er stammt aus meiner WG-Zeit vor mehr als 40 Jahren und erinnert mich immer daran: Da hab ich ja auch schon gelebt. Außerdem kann

Bücher müssen bei mir Kante auf Kante gestapelt sein, Label nach vorne zeigen und so weiter. Alles, was nicht ins Konzept passt, kommt weg. Doch auf der Suche

ich nur ganz schwer etwas weg­ werfen, das noch funktioniert. Und Eier kocht der kleine Eiertopf nach wie vor ganz prima.

nach einem hässlichen Gegenstand fand ich ganz oben auf meinem Bücherregal diesen Porzellanapfel Porzellanapfel. Ich habe ihn selbst geformt, als ich kreativer Leiter der Tischkultur-Abteilung bei Villeroy & Boch wurde. Ich kam aus der Modebranche und verstand nicht viel von Porzellan, also wollte ich mit den eigenen Händen etwas modellieren, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Auch wenn aus dem Apfel – zum Glück – nie eine Kollektion wurde, denke ich gerne an die Zeit zurück. Es war das erste Mal, dass ich so viel Verantwortung schultern durfte.

Maren Kroymann, 74, ist Schau-

Ayan Yuruk, 38, ist Interiordesigner und bekannt aus der Netflix-Show »Queer

Sie erhielt dieses Jahr einen

Eye Germany«. Er lebt in Berlin und führt die Designbüros Roomz und Showz

Grimme-Preis für ihr Lebenswerk

spielerin, Kabarettistin und Sängerin.


Aline Abboud

Bjarne Mädel

86

Mit 16 war ich als Austausch­schülerin in China, und als meine Austauschpartnerin

ein

Jahr

später

nach

einen

ganzen

Koffer

mit

Alle Fotos privat

Deutschland kam, hatte sie gefühlt Gast­

geschenken dabei – darunter dieses Teeservice, von dem ich mich nicht Teeservice trennen kann. Dabei trinke ich nicht mal daraus, ich habe Angst, die Tas-

Dieser Plastik-Hummer gehörte zum Set des Kurz-

sen kaputt zu machen. Eigentlich bin

films »Entre deux mers«, in dem ich einen meiner­

ich gut darin, Dinge wegzugeben oder wegzuschmeißen, aber bei dem

ersten Auftritte vor der Kamera hatte. Das Ding hing

Tee­service fällt es mir schwer. China

früher in verschiedenen WGs in der Küche und hat

ist ein Land, in das ich wahrscheinlich nie wieder reisen werde, und ich

jetzt den Schritt vom Kochtopf ins Bad geschafft. Ist

möchte die Erinnerung daran behal-

schon sehr hässlich, aber nicht wegzudenken und

ten. Ich habe damals die Schule meiner Austauschpartnerin besucht und

daher immer wieder mit umgezogen und hängt knapp

auch ihre Familie kennengelernt. Bei

unter der Decke an der Wand.

einem Abendessen saßen wir alle um einen Feuertopf herum. Das war sehr lustig und redselig, obwohl niemand Englisch oder ich Chinesisch verstand. Meine Gastschwester konnte nur wenig übersetzen.

Der Schauspieler Bjarne Mädel, 55, ist unter Aline Abboud, 35, ist Journalistin

anderem für seine Rollen in den Comedy-

und moderiert seit 2021 die

Serien »Stromberg« und »Der Tatortreiniger«

»Tagesthemen«

bekannt. Er lebt in Berlin

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Fotos HOUSTON COFIELD

COUNTRY, ABER ANDERS Wie sich der ehemalige Drogendealer und Rapper Jelly Roll in die Herzen Amerikas gesungen hat. Ein Besuch in Nashville

Viele seiner Tätowierungen stammen noch aus Jelly Rolls langen Jahren im Gefängnis

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Von JÜRGEN VON RUTENBERG Das scharfe Kreischen der Leute ringsum, als der Sänger Jelly Roll auf die Bühne der Grand Ole Opry in Nashville schlendert, schmerzt in den Ohren. Und es kommt aus dem Nichts, denn bis eben noch, während des exquisiten Vorprogramms an diesem Abend Ende Juni, wirkte das Publikum recht verhalten. Es sind vor allem Touristen hier, die per Auto, Bus, Flugzeug aus den ganzen USA nach Nashville gereist sind, weil sie einmal im Leben diesen speziellen Konzertsaal erleben wollen – ein Zufallspublikum also. So wichtig ist der Saal für die Country-Welt und damit für die USA, dass hier auf jedem Ortseingangsschild steht: »Nashville – Home of the Grand Ole Opry«. In dieser Institution ist Country seit 1925 über Hank Williams, Johnny Cash, Loretta Lynn und Dolly Parton zu dem geworden, was es heute ist: eine boomende Milliardenindustrie, deren Produkte seriösen Umfragen zufolge von 40 bis 50 Prozent der US-Bevölkerung gehört werden. Aktuell ist Country populärer denn je: Unter den 50 meistgespielten Songs bei Spotify wurden dieses Jahr in den USA mehr als ein Drittel der Streams von Country-Songs generiert. Und zu dem, was Country heute ist, gehört neuerdings auch ein Phänomen namens Jelly Roll: ein Koloss mit Zauselbart, Kreuzund Tränen-Tattoos im Gesicht, der eigentlich Jason DeFord heißt, seinen Spitznamen schon als übergewichtiges Kind von seiner Mutter verpasst bekam, den größten Teil seiner Jugend im Gefängnis verbrachte und sich danach als Gangsta-Rapper ab­ gekämpft hat, bevor er zum Country-Star wurde. Wundersamer-

92 me from myself«. Das gesamte Publikum steht jetzt, aus vereinzelten Smartphone-Lampen wird ein wogendes Lichtermeer, das Zufallspublikum ist zur Gemeinde geworden. »Ich weiß nicht, ob ihr das auch fühlt«, ruft Jelly, »aber irgendwas Besonderes passiert hier gerade!« Der Moderator der Show, der Country-Radio-Star Bobby ­Bones, sagt hinterher, er hätte in der Grand Ole Opry schon Hunderte Shows gesehen, aber »noch nie so eine Intensität erlebt«. Die existenzielle Bedeutung, die Jelly Rolls Songs für viele seiner Hörer und Hörerinnen haben, springt einen auch aus zahllosen YouTube-Kommentaren an, so wie hier unter seinem Lied Save Me: »Ich steckte tief in der Drogensucht und wollte raus. Ich hörte diesen Song, brach zusammen und fing an, Hilfe zu suchen. Ich weiß nicht, ob du das hier liest, aber deine Musik rettet buch­ stäblich Leben. Viel Liebe « »Das war das Lieblingslied meines Sohnes. Es hat mir geholfen, ihn besser zu verstehen. Leider habe ich ihn vorigen Monat verloren. Ich spielte diesen Song bei seiner Beerdigung.« »Die Tränen fallen. Mein Sohn kämpft seit Jahren. Dieser Song gibt den Leuten Liebe und Mitleid für die Süchtigen.« »Dieser Song hat mein Leben schon mehrmals gerettet. Danke,­ Jelly Roll « »Es ist verrückt, aber ich höre solche Geschichten fast jeden Tag«, sagt Jelly Roll, als wir uns zum Interview in Nashville treffen. Verrückt sind auch die Statistiken hinter diesen Geschichten: Pro Tag sterben in den USA mehr als 100 Menschen an einer Opioid-­

Jelly Rolls Ballade »Save Me« ist in den USA zur Hymne von Drogenabhängigen, deren Familien und Hinter­bliebenen geworden weise hat sich dieser inzwischen 38 Jahre alte Underdog in den vergangenen zwei, drei Jahren in die Herzen von zig Millionen Country-Fans gesungen. Sein Erfolg hat viel mit seiner harten ­Lebensgeschichte zu tun. Und mehr noch als alle seine Klick- und Downloadzahlen – Top 3 in diversen Albumcharts, Nummer-einsSingles – zeigen die Gefühlsaufwallungen bei seinen Konzerten und ganz besonders hier im Allerheiligsten der Country-Welt: Jelly Roll hat Amerikas Nerv getroffen. »Das ist heiliger Boden hier!«, erinnert Jelly Roll das Publikum, dessen Kreischen übergegangen ist in Anfeuerungsrufe, wie auf dem Schulhof: »Jelly! Jelly! Jelly!« Die erste Zeile, die er mit seiner rauen Rockstimme singt, nur von einer akustischen Gitarre begleitet, löst die nächste Jubelwelle aus: »I only talk to God when I need a ­favor«. Die Band setzt ein, Jelly Roll schreitet beim Singen bedächtig auf und ab, eine Hand hält das Mikro, die andere unterstreicht, Hip-Hop-Style, die Bedeutung und den Beat der Zeilen, zwischendurch ruht sie auch mal auf seinem imposanten Bauch. Sein erster ­Country-Nummer-eins-Hit, die Ballade Son of a Sinner, bekommt stehende Ovationen, doch der Höhepunkt kommt erst noch: Beim Lied Save Me, das in den USA zur Hymne von Drogenabhängigen und deren Familien geworden ist, erheben viele eine Hand Richtung Himmel, den Blick nach unten gerichtet, wie es in manchen Kirchen beim Empfang des Segens üblich ist: »Somebody save me /

Überdosis. Das Video zu Jelly Rolls Song She erzählt die Geschichte einer solchen Überdosis, und zwar in einem von der Notaufnahme bis zur fröhlichen Party rückwärts ablaufenden Film – ein ziemlich irrer Effekt. Am Ende wird eine Telefonnummer eingeblendet für Menschen in Krisensituationen. Was verrät Jelly Rolls Triumphzug über die heutige Country-Welt? Und damit vielleicht ja auch über die Stimmung in den USA, vor allem im Süden, wo Country traditionell eine besonders wichtige Rolle spielt und wo – Zufall? – auch der Anteil der Trump-Fans besonders hoch ist. Vor allem aber drängt sich die Frage auf: Was ist dieser Jelly Roll eigentlich für einer? Wir sind verabredet mitten in der Music Row, Nashvilles sagenumwobenem Musikindustriegebiet. In den alten Holzhäuschen und brandneuen Bürokomplexen dieser Gegend dürften pro Tag und Quadratmeter mehr Songs entstehen als irgendwo sonst auf der Welt. Große und kleinere Labels sind hier angesiedelt, Tonstudios, Managementfirmen und ein paar Bars. Im Glaspalast der Firma BMG füllt Jelly Roll bei seiner Ankunft den Türrahmen eines Besprechungsraums aus, in Höhe und Breite: Er ist komplett in Schwarz gekleidet, trägt dicke Silberketten um den Hals, am Handgelenk funkelt ein Diamanten-Armband, im Begrüßungslächeln blitzen goldene Eck- und Schneidezähne auf. Dann thront er auch schon auf seinem Sitzhocker wie ein Glücksbuddha.


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Ein Spielchen zum Warmwerden: Wie würde Jelly Roll sich als Musiker definieren? »Ich bin ein Typ aus Nashville, der in seinen Songs Hip-Hop, Country, Rock und das echte Leben vermischt«, sagt er. »Ich mache echte Musik für echte Leute mit echten Problemen.« Und als Person? Er denkt ein paar Sekunden lang nach über diese eigentlich unbeantwortbare Frage und sagt, in dieser Reihenfolge: »Ich bin ein Mensch. Rehabilitiert. Verwandelt. Und begeistert! So verdammt aufgeregt und begeistert wie heutzutage war ich zuletzt als kleines Kind!« Okay, bleiben wir gleich dabei: die früheste Kindheitserinnerung? »Wahrscheinlich das Wellenbad im Opryland, das war ein Vergnügungspark gleich neben der Grand Ole Opry«, sagt er. »Wenn wir da im Sommer schwimmen gehen konnten, dachte ich: Wir sind reich! Opryland wurde leider abgerissen, jetzt steht da so ein bescheuertes Einkaufszentrum.« Wenn er spricht, garniert Jelly Roll seinen melodiösen SüdstaatenAkzent gern mit fucking, fuck und motherfucker. Der Weg ist nicht so weit von Jelly Rolls Art zu reden zu der Art, wie er früher rappte. Sein Gesang kommt heute weitgehend ohne F-Wörter aus. Abgesehen von Highlights wie dem Wellenbad war Jelly Rolls Kindheit im Stadtteil Antioch schwierig, sehr schwierig: »Meine Mutter hatte eine Menge psychische Probleme, sie nahm deswegen Drogen, die alles nur noch schlimmer machten. Mein Vater war Fleischverkäufer, Glücksspieler und Alkoholiker. Ich habe erst

später begriffen, dass nicht jeder Erwachsene drogen- oder alkoholsüchtig ist.« Eine Ausnahme fiel ihm schon als Kind auf: »Ich fühlte mich mehr zu den Dealern hingezogen als zu den Süchtigen. Ich wollte Geld verdienen, auch um meiner Mutter zu helfen. Und die Dealer schienen mehr Spaß zu haben, sie hatten tolle Autos, spendierten uns Kindern Eis, sie waren die Stars unserer Gegend. Scheinbar hatten sie nicht mit den Problemen zu kämpfen, die alle anderen hatten.« Damals habe er den Drogenhandel als »opferlose« Kriminalität betrachtet, als fairen Deal: Der eine braucht etwas, der andere verkauft es und übernimmt das Risiko, erwischt zu werden. »Das war falsch«, sagt Jelly Roll. »Damals hatte ich noch nicht verstanden, wie unkontrollierbar diese Krankheit ist und wie viele Familien sie zerstört.« Als Teenager habe er dann »eine Reihe schlechter Entscheidungen« getroffen: Mit 15 brachte ihn seine Dealer-Laufbahn zum ersten Mal ins Gefängnis, danach kam er immer nur vorübergehend raus und bald wieder rein. Nach einem Raubüberfall mit 16 und diversen anderen Vergehen verbrachte er insgesamt neun der folgenden zwölf Jahre hinter Gittern. Dort lernte er, immerhin, zu rappen. Aber was soll aus einem gesichtstätowierten jungen Mann noch werden nach so einem Start ins Erwachsenendasein? Es gibt ein Ereignis im Leben des Jason DeFord, das er selbst als den Wendepunkt betrachtet. Als er 23 war, kam ein Gefängnis-

Nashvilles Partymeile, der Lower Broadway, wummert täglich rund um die Uhr



95 mitarbeiter mit einer völlig unerwarteten Mitteilung in seine Zelle: »Ich soll dir sagen, dass deine Tochter zur Welt gekommen ist.« Es war das Resultat einer sehr kurzen Beziehung, neun Monate zuvor, draußen. In seiner Überraschung habe er nur noch fragen können: »Wie heißt sie denn?« Antwort: »Woher soll ich das wissen.« Ende des Dialogs. »An dem Tag änderte sich alles für mich«, sagt Jelly Roll. »Ich wusste sofort, dass ich für meine Tochter da sein wollte.« Es klingt so schön und so plausibel: Jelly Roll hatte jetzt einen Lebenszweck, eine Verantwortung und fing neu an. Doch ganz so einfach ist es natürlich nicht. Denn genauso gut hätte ihm dieselbe Information ja auch den Rest geben können: noch eine Komplikation mehr, noch eine unlösbare Aufgabe. »Das stimmt, und ich denke dauernd darüber nach«, sagt Jelly Roll. »Ich kenne Leute, die in so einer Situation in eine Abwärtsspirale geraten sind. Ich habe das Glück, dass ich schon mehrmals etwas anderes erleben durfte, nämlich: aus so einer Abwärtsspirale mit voller Wucht rausgeschleudert zu werden.« Jelly Roll nutzte die verbleibende Zeit im Gefängnis so gut wie möglich, las alle Bücher und Magazine, die er in die Finger kriegen konnte, arbeitete an seiner Rap-Technik, holte seinen Schulabschluss nach, machte eine Friseurlehre, das war sein Plan B. Sein Plan A: Er wollte es nach seiner – hoffentlich letzten – Haftstrafe als Rapper zu etwas bringen. Wieder mal in Freiheit, nahm er Mixtapes auf, wurde Mitglied eines Rap-Trios namens Sno, verdiente ein bisschen Geld mit Auftritten und CD-Verkäufen. Allmählich machte er sich einen Namen in der Welt des weißen SüdstaatenRap, eines schillernden Nebenzweigs der Hip-Hop-Geschichte. Dass Hip-Hop die Stimme der Armen und Benachteiligten sein konnte, hatte Jelly Roll schon im Gefängnis fasziniert: »Zu der Zeit, vor zwanzig Jahren, ging es in den meisten Country-Songs eher um Spaß und das gute Leben. Hip-Hop hat für viele arme Leute ein Vakuum gefüllt.« Und für Millionen weißer Südstaatler waren es weiße Südstaatler, also Leute wie Jelly Roll, die ihnen aus der Seele rappten. »Es ist Country-Rap«, erklärt er, »ein Haufen weißer Typen, die über Country-Zeugs rappen. Wir hatten alle diese Rapper aus New York und Houston gehört und liebten die Art, wie sie ihre Geschichten erzählten. Also fragten wir uns, ob wir so ähnlich nicht auch aus unserem Leben erzählen könnten.« Manche seiner Raps aus jener Zeit tun das in brutaler Deutlichkeit: Mask and Glock benennt schon im Titel zwei Zutaten eines Raubüberfalls, die Maske und die Knarre. Weitere Titel seines Frühwerks: I’m So High, Pop Another Pill, Poor White Trash, Xanax Bar, Fuck You. »Wenn ich diese Tracks heute höre, kann ich kaum glauben, dass ich mal so wütend und so verbittert war«, sagt er. »Meine Musik hat sich verändert, weil ich mich verändert habe. Aber ich kann mich immer noch in so einen wütenden 26-Jährigen hineinversetzen. Wenn ich früher verletzt war, wurde ich wütend; wenn ich mich für etwas schämte, wurde ich wütend; wenn es mir einfach nur schlecht ging, wurde ich wütend. Irgendwann habe ich diese Wut durch Ehrlichkeit ersetzt.« Um seine Tochter Bailee kümmerte er sich in diesen Jahren, so gut es eben ging und so weit es deren Mutter zuließ (mit der ihn außer dieser Tochter nur eine kurze Affäre verband). Allerdings, sagt er, sei er in der Zeit auch immer weiter in Alkohol und Drogen ver-

sunken. An einem weiteren Tiefpunkt angelangt, lernte er 2015 bei einem Auftritt in Las Vegas eine Frau mit dem Künstlernamen Bunnie XO kennen, die ihre berufliche Vergangenheit heute als high level call girl bezeichnet, die also als gut bezahlte Prostituierte arbeitete. Die beiden heirateten im Jahr darauf. »Sie trat in mein Leben, als ich nur noch wenig Energie hatte«, sagt Jelly Roll und klingt dabei wie jemand, dem die Erinnerung an diese Zeit immer noch zu schaffen macht. »Ich hatte nicht die besten Leute um mich herum und war schon so lange diesem Rap-Traum hinterhergejagt. Ich war kaputt. Und ich war so ziemlich komplett süchtig.« Süchtig wonach? »Oh Mann, ich trank Hustensirup, nahm Opioide, Xanax, Codein – die Droge meiner Wahl war: was immer ich gerade kriegen konnte.« Um ihre Heirat im Jahr 2016 herum bot sich die nächste Gelegenheit, in einer Abwärtsspirale zu versinken – oder aus ihr herausgeschleudert zu werden: Die Mutter seiner inzwischen acht Jahre alten Tochter Bailee war dem Heroin verfallen und landete wegen eines Diebstahls im Gefängnis. »Ich hatte damals kein Geld«, sagt Jelly Roll, »aber Bunnie nahm sich der Sache an, sie bezahlte einen Anwalt, damit wir das Sorgerecht für Bailee beantragen konnten. Und sie besorgte ein Bett für sie. Ich hätte Bailee damals nicht mal eine Hello-Kitty-Decke kaufen können.« Bunnie habe außerdem erkannt, dass ein trinkendes, Drogen schluckendes Paar nicht gerade der plausibelste Ersatz für eine drogensüchtige Mutter wäre, und sich daher zu einer Notbremsung entschlossen. »Sie selbst ist inzwischen komplett clean, straight edge«, sagt Jelly Roll, »und sie hat mir geholfen, meine Sucht zu überwinden. Ich rauche immer noch ein bisschen Cannabis und feiere gern auch mal mit ein paar Drinks.« Die beiden bekamen recht schnell das Sorgerecht, seither sind sie eine Familie. Und auch mit Jelly Rolls Musik ging es aufwärts. Die Gitarrenriffs und Mitsing-Melodien, die schon Teil seiner Rap-Tracks gewesen waren, traten auf Jelly Rolls Mixtapes und Alben in den Vordergrund: »Ich sage immer: Der Unterschied zwischen einem Country-Rap und einem Country-Song sind etwa 220 ­Wörter.« Die Wut seiner Hip-Hop-Jahre war weg, und ganz ­andere ­große Gefühle brachen aus ihm hervor – insbesondere Trauer, Selbstzweifel, Empathie mit den Opfern der Opioid-­ Epidemie. Auf Jelly Rolls 2021 veröffentlichtem Album Ballads of the Broken waren erstmals ein paar Rap-freie Country-Songs zu finden, einer davon, Son of a Sinner, landete später auf Platz eins der »Country Airplay«-Charts, im vergangenen Dezember trat er in Nashville in der ausverkauften Bridgestone Arena vor 15.000 Fans auf. Im Juni 2023 erschien Jelly Rolls erstes komplettes Country-­ Album, Whitsitt Chapel. In den einschlägigen Album-, Rock- und ­Country-Charts erreichte es jeweils die Top 3. Von solchen Erfolgen können die allermeisten Leute mit sehr viel günstigeren Startbedingungen nur träumen. Seine waren denkbar schlecht. Woher bloß kamen also all die Fähigkeiten, die Energie? »Mir ist früh klar geworden: Niemand wird auch nur irgendeinen Scheißdreck für Jason tun. Außerhalb meiner lieben Familie hat niemand auch nur ein verdammtes Kaugummi für mich übrig.« Er lacht sein herzliches Goldzahnlachen, wird dann wieder ganz ernst und sagt: »Ich musste alles für mich selber klären und herausfinden.« Und er musste sich selbst ausbilden. »Ich benutze eine Menge Wörter, die ich nicht buchstabieren kann, viele verwende ich

Mit seinem Aussehen steht Jelly Roll in den Country-Charts ziemlich allein da


96 ­ ahrscheinlich auch falsch«, sagt er. »Ich bin kein sehr gebildeter w Mann, aber ich lese viel.« Aha, was denn so? »Ich versuche, jeden Monat ein bis zwei Bücher zu lesen, einige lese ich jedes Jahr wieder.« Er nennt drei Bücher aus der Abteilung »Spirituelles«: Der Alchemist von Paulo Coelho sowie zwei Bücher von Mitch Albom, die Memoiren Tuesdays With Morrie und seinen Roman The Five People You Meet in Heaven. »Und ich bin ein großer Fan von Malcolm Gladwell«, dem New Yorker-Autor. »Ich liebe es, wie ich durch ihn die Dinge aus zwei verschiedenen Perspektiven sehen kann.« Lektion fürs Leben: Auch wenn jemand rein äußerlich wie ein Schwerverbrecher daherkommt, kann man mit ihm möglicher­ weise wunderbar über Literatur plaudern. »Oh ja«, sagt Jelly Roll, »ich könnte ewig über dieses Zeug fachsimpeln.« Gab es einen bestimmten Moment, in dem er wusste: Ich habe es geschafft, mein neues Leben als Country-Star beginnt? »Oh Mann, es gab ein paar. Als mein Song Save Me viral ging, habe ich zum ersten Mal gedacht: Ich werde mir nie einen normalen Job suchen müssen.« Das war 2020, im selben Jahr wurde einer seiner besten Freunde aus früheren Zeiten erschossen – die Vergangenheit holte ihn auch nach dem Durchbruch noch ein. 2023 wurde dann sein Jahr. »Ehrlich gesagt: Dieses Jahr, zwischen April und Juni, hat sich für mich der Himmel geöffnet«, sagt er. Er wurde im Frühjahr mit drei wichtigen Country-Preisen ausgezeichnet, landete auf dem Cover des Billboard-Magazins, im US-Frühstücksfernsehen, beim Mega-Podcaster Joe Rogan und vor

und Instagram mit über den Erfolg. Die Country-Charts sind bevölkert von Männern und Frauen, die auf sehr konventionelle Art enorm fotogen sind. Mit seinem markanten Aussehen steht Jelly Roll ziemlich allein da. Eine Möglichkeit, sich in die aktuelle Country-Klangwelt zu stürzen, ist Spotifys einflussreiche »Hot Country«-Playlist, die von ­einem Expertengremium kuratiert wird. Wer darauf landet, hat entweder schon einen Riesenhit oder sehr gute Aussichten, bald ­einen zu landen. Für Neuankömmlinge klingt vieles davon zunächst wie Popmusik für Leute, denen der heutige MainstreamPop noch zu heftig, zu anstrengend ist. Aus der Ferne klingen ja alle Genres irgendwie immer gleich, aber bei Country-Songs ist Erwartbarkeit offenbar besonders wichtig: Refrains, die man sofort mitsingen kann; Saiteninstrumente aller Art, bloß keine Synthesizer; Texte, die in absoluter Klarheit vom Alltag erzählen. Es dauert eine Weile, aber dann tut sich hinter der Fassade des Gleichklangs, wie in allen Genres, eine unendliche Vielfalt auf. Man fängt an, da­rüber zu staunen, wie kreativ die Songschreiberteams mit den Regeln des Genres umgehen, wie virtuos diese ganzen Gitarristen sind, wie lustig viele der Texte und vor allem: wie effektiv diese Songs immer und immer wieder auf die Tränendrüsen drücken, sogar auf die eigenen. Ein Klischee, das noch aus den Frühzeiten des Rock ’n’ Roll stammt, stimmt übrigens schon lange nicht mehr: Die aktuelle Country-Musik ist keineswegs ein Refugium älterer Herrschaften, eher sind Publikum und Protagonisten auffallend jung.

»Wenn die Leute dir sagen, dass du nicht wirklich ›country‹ bist, bist du kurz vor dem Durchbruch. Historisch betrachtet geht dein Scheiß danach durch die Decke!« allem: mit seinem Album ganz oben in den Country-Charts. Bei den wichtigen Country Music Awards, die Anfang November vergeben werden, ist er in fünf Kategorien nominiert, unter anderem als »Sänger des Jahres«. Er hat das geschafft, obwohl er in einer Stadt mit einer extrem hohen Dichte professioneller Sänger erst sehr spät mit dem Singen angefangen hat. »Niemand in meiner Familie konnte singen, und ich wäre nie darauf gekommen, dass ich mal Sänger werde«, sagt er. Gelegenheit, ihn bei einer Art Stimmtraining zu beobachten, bietet sich während der Fotosession für diese Geschichte. Jelly Roll nutzt die kleinen Pausen zwischen den Aufnahmen dazu, Songs des Country-Musikers Sturgill Simpson, die aus einer Bluetooth-Box kommen, mitzusingen – aber wie! In das Lied Living the Dream wirft er sich so lautstark, als ob er mit Simpson auf der Bühne steht, Silbe für Silbe, bis in jedes Detail, jedes kleine Krächzen hinein: »Ain’t no point getting outta bed when you ain’t living the dream«. Macht er das mit allen Sängern auf seinen Playlists so? »Ja, ich probiere gern verschiedene Singstile aus.« Und wie viele Songs kann er so komplett auswendig mitsingen? »Oh, das müssen Tausende sein!« Wie unwahrscheinlich Jelly Rolls Siegeszug durch die CountryWelt ist, versteht man erst so richtig, wenn man sich eine Weile durch die aktuellen Top-100-Hits dieses Genres hört – und guckt, denn wie in der restlichen Popwelt entscheiden auch hier Videos

Seit es Country gibt, läuft eine Dauerdiskussion unter Fans und Experten darüber, was »echte« Country-Musik ist und wo genau die Grenzen zur Außenwelt verlaufen. In diesen Debatten wird »Country« stets zum Adjektiv, alles ist mal mehr, mal weniger country. »Diese Debatte ist so spießig«, sagt Jelly Roll. »Für manche bin ich ein Paradebeispiel für nicht country: Ich benutze manchmal DrumMachines, ich war im Gefängnis, ich habe diese Gesichtstattoos. Als ob noch nie ein Country-Star im Gefängnis gewesen wäre!« Siehe Johnny Cash, Merle Haggard. Er nennt ein paar Superstars, die anfangs als nicht country genug galten, Waylon Jennings, Garth Brooks. »Was ich mit Sicherheit weiß: Wenn Leute dir sagen, dass du nicht wirklich country bist, bist du kurz vor dem Durchbruch«, sagt er und kichert wie ein kleiner Junge. »Historisch betrachtet geht dein Scheiß danach durch die Decke!« Siehe Elvis, siehe Taylor Swift. Und Jelly Roll fällt fast vom Hocker vor Lachen. Wenn man den Top-50-Country-Songs so zuhört, galt bis vor ein paar Monaten noch: Es gibt eigentlich kein Thema, das in diesen Liedern nicht vorkommt, außer ein ganz großes – Politik. Die unausgesprochene Botschaft der Mainstream-Country-Hits lautete seit Jahrzehnten: Es gibt Wichtigeres als Politik, das Leben ist schon schwer genug und immer wieder so herzzerreißend, dass es einen zu Tränen rührt. Wer hat da noch Zeit für Fox News und CNN, für Trump und Biden, für culture wars und Klimakrise? Diese Botschaft


hat natürlich auch etwas Konservatives, im altmodischen Sinn, aber immerhin geht es in den erfolgreichsten Country-Songs um größtmögliche Gemeinsamkeiten. Zwei spektakuläre Ausnahmen brachten dieses bewährte Geschäftsmodell im vergangenen Sommer ins Wanken: Jason Aldeans Song Try That in a Small Town wurde zu einem Lieblingshit der Rechtspopulisten, vor allem durch sein Video, das sich in Text und Bild gegen die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung zu richten schien und ausgerechnet den Schauplatz eines berüchtigten Falles von Lynchjustiz als Kulisse nutzte. Im August widerfuhr dem Sänger Oliver Anthony Ähnliches mit seinem wütenden Protestsong Rich Men North of Richmond: Beide Country-Songs wurden durch effektive Kampagnen in Trump-freundlichen Medien auf Platz eins der offiziellen Pop-Charts der USA gepusht – wenn auch nicht unbedingt von Country-Fans. Nun fragen sich viele in Nashville: Waren das nur Ausrutscher, oder haut die Polarisierung der US-Politik als Nächstes auch die schöne Country-Konsensmaschine entzwei? Selbst alte Hippies wie Willie Nelson äußern sich traditionell höchstens zu mehr oder weniger überparteilichen Sachthemen (Hilfe für Farmer, Marihuana-Freigabe) und freuen sich, wenn weiterhin auch hartgesottene Rednecks zu ihren Konzerten kommen. Jelly Roll will sich ebenfalls weder parteipolitisch festnageln noch sonstwie einsortieren lassen. »Meine politische Einstellung

ist anders als die von allen anderen in Amerika«, sagt er, »denn meine Rechte als Bürger wurden eingeschränkt, als ich noch ganz jung war. Für mich ist unsere Regierungsform schon seit Ewigkeiten ein gescheitertes System.« Wie er darauf kommt? Als Spätfolge seiner Jugendkriminalität hatte er bis vor Kurzem keinen Pass, und trotz vieler Versuche ist es bis heute für ihn nicht möglich, sich als Wähler zu registrieren – der Staat Tennessee macht das verurteilten Straftätern besonders schwer. »Ich darf nicht wählen, also habe ich keinen Präsidenten«, sagt er. »Das ist meine Art, mich aus der Politik rauszuhalten: Fuck, soll ich dir sagen, wen ich wähle? Ich wähle die Person, die mich wählen lässt. Der Erste, der mich begnadigt, kriegt meine Unterstützung!« Ein Thema, für das er sich leidenschaftlich einsetzt, ist die Reform des Jugendstrafrechts: »Das Strafrecht sollte sich auf Rehabili­tation konzentrieren, besonders bei 15- oder 16-jährigen Kindern. Ich brauchte mit 15 keine Strafe, ich brauchte eine Umarmung!« Die Ausgangsfrage seines aktuellen Albums Whitsitt Chapel formuliert Jelly Roll so: »Wie würden Kirchenlieder für Sünder klingen?« Seine Antwort sind 13 Songs, in denen er heftig mit der Welt und auch mit Gott ringt, vor allem aber mit seinen Gefühlen, mit Hoffnung und Verzweiflung. Er nennt seine Songs »therapeutische Musik«: »Als ich jünger war, hat niemand offen über seine Gefühle geredet, vor allem Männer taten das nicht. Wir haben uns lustig

Die Stadt Nashville boomt, doch Relikte früherer Zeiten sind überall


98 gemacht über die Typen, die ihren Mist nicht einfach runterwürgen konnten wie ich und alle anderen Motherfucker.« Inzwischen sei auch für ihn alles anders. »34 Jahre lang habe ich nie geweint«, sagt er. »In letzter Zeit kann ich kaum noch aufhören zu weinen.« Im Video zu Son of a Sinner, das im Frühjahr mit Auszeich­nungen überhäuft wurde, wird eine Abfolge unterschiedlicher Charaktere ineinander überblendet – Männer, Frauen, Junge, Alte, Weiße, Schwarze –, die auf demselben Platz an der Bar sitzen und die Lippen zum Songtext bewegen, was den Eindruck vermittelt, dass sie bei aller Verschiedenheit übereinstimmende Gedanken und Ge­ fühle haben. Musik sei dazu da, Menschen zusammenzubringen, sagt Jelly Roll: »Das ist mein persönliches Ziel. Ich will die ­Mitte zurückbringen! Die ist in den letzten fünf oder zehn Jahren in Amerika irgendwie verloren gegangen. Ich vermisse sie!« Eine weitere Macht, die die Lager manchmal noch zusammen­ bringen kann, ist der Sport. Jelly Roll ist ein glühender Fan von Nashvilles Eishockeyteam, den Predators, und in deren Arena darf er an einem heißen Juniabend bei einer Gala der Profiliga NHL dem »Rookie of the Year«, dem besten Newcomer, einen Pokal über­ reichen. Für Jelly Roll ist es ein Heimspiel, hier, in der Bridgestone Arena, hatte er seinen ersten ganz großen Auftritt. Auf dem Weg durch unterirdische Flure in den Green Room, wo die Stars auf ihren Auftritt warten, geht er immer wieder auf Hilfskräfte zu, begrüßt sie per fist bump, auch einer Gruppe von Polizisten – früher wären das seine natürlichen Gegner gewesen – zollt er seinen Respekt. Im Green Room hinter der Bühne stehen locker verteilt etablierte und aufstrebende Country-Stars herum und verfolgen bei Häpp­ chen und Getränken die Award-Show. Da ist Trisha Yearwood, mehr als 15 Millionen verkaufte Alben, drei Grammys, Ehefrau von Country-Über-Star Garth Brooks. Und Darius Rucker, einst Sänger der Rockband Hootie & the Blowfish, ebenfalls drei Gram­ mys, inzwischen einer der immer noch sehr wenigen Nichtweißen unter den Country-Stars. Dazu einige Herren mit Cowboyhüten, die mit ihren maßgeschneiderten, reich verzierten Anzügen und ak­ kuraten Vollbärten so perfekt wirken, als wären sie digital generiert worden. Und mittendrin Jelly Roll mit seinen klobigen schwarzen Boots, schwarzen Schlabberhosen, all den Tattoos und diesen lan­ gen Haaren. Wer den Raum betritt, sieht sofort: Der Mann spielt in dieser Welt eine Sonderrolle. Der Moderator kündigt Jelly Roll an, Riesenjubel, als er die Bühne betritt, er reißt die Arme hoch, als hätte er gerade ein Tor für die Predators reingehauen, und ruft: »Was geht ab, Nashville?! Ich liebe euch auch! Ha!« Fehlerfrei sagt er seine Sätze auf, darunter diesen: »Es passt, dass ich den Rookie of the Year auszeichne, denn irgend­ wie bin ich auch ein Rookie of the Year.« Jelly Rolls Heimatstadt boomt sichtbar, etliche neue Bürotürme schießen derzeit in die Höhe. Nashville gehört zu den fünf am schnellsten wachsenden Metropolregionen der USA, insgesamt steigt die Bevölkerungszahl im Süden und Westen der USA deut­ lich, während sie im Norden und Osten stagniert. Inmitten dieser Umwälzungen ist Nashville eine liberale Insel in einem US-Staat, in dem bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen mehr als 60 Prozent Donald Trump gewählt haben. Gut möglich, dass sie das nächstes Jahr wieder tun werden. (In Nashville stimmten zuletzt rund 60 Prozent für Joe Biden.)

Umringt und überragt von den Boom-Hochhäusern wummert ein Musikweltwunder namens Lower Broadway, auch »Honky Tonk Highway« genannt: Es dürfte die lauteste Straße der Welt sein, mit ziemlicher Sicherheit ist es die Gegend mit der höchsten Dichte live spielender Bands auf unserem Planeten. Über einen halben Kilo­ meter reiht sich auf beiden Straßenseiten eine Bar an die andere, in jeder wird auf kleinen Bühnen Country oder Rock oder Country­ rock gespielt, und zwar tagtäglich von zehn Uhr morgens bis drei Uhr morgens. Manche dieser Bars bestehen aus drei oder vier Stock­ werken, dort spielen dann auch mal drei oder vier Bands gleichzeitig, alle in voller Lautstärke und bei gutem Wetter mit weit geöffneten Fenstern, was den Lower Broadway in ein permanentes Straßenfest verwandelt. Straße und Läden sind immer gut besucht, das Publi­ kum wirkt fröhlich, bunt gemischt, in Feierlaune. Auffallend zahl­ reiche Gruppen junger Frauen sind hier unterwegs, viele von ihnen tragen Cowboystiefel und kurz geschnittene Jeans, dazu pinkfarbene oder silbern glitzernde Cowboyhüte und frisch gedruckte Motto-TShirts – Nashville hat sich zu einem Magneten für JunggesellinnenAbschiede entwickelt. Insgesamt wirkt alles wie eine große Coun­ try-Love-Parade. Teil der Vielfalt sind allerdings auch Leute, die mit ihren Stiernacken, Harley-Davidson- und Sternenbanner-T-Shirts genau so aussehen wie jene Trump-Fans, die Diversität generell eher ablehnen. Einer von ihnen brüllt seinen Kumpels zu: »Jede einzelne Person hier auf dieser Straße ist ein verdammter Tourist!« Manche sind allerdings auch Musiker: Immer wieder sieht man junge Leute mit Gitarre und anderem Equipment unterm Arm durch die Menge zum nächsten Gig hetzen, the show must go on. Wie ist das für jemanden, der in Nashville aufgewachsen ist, wie viel Zeit hat Jelly Roll in den Honky Tonks am Lower Broadway verbracht? »Oh, viel mehr, als ich zugeben sollte. Ich habe mich schon in diese Bars reingeschlichen, als ich eigentlich noch zu jung dafür war. Wenn ich am Broadway bin, fühle ich mich immer noch wie ein großes Kind. Viele Einheimische meiden die Gegend, aber für mich repräsentiert sie den Traum, es im Musikbusiness zu schaf­ fen. Der Lower Broadway ist der Traum in Aktion.« Der offenbar unstillbare Hunger der Leute dort nach rauer Livemusik, mit allen Patzern, Verzerrungen, Ecken und Kanten, wirkt zugleich wie eine Rebellion gegen das gängige Musikbusiness. »Ja, da ist vieles ein bisschen schroff, ein bisschen besoffen«, sagt er. »Mit meiner Band rede ich dauernd darüber, ich sage dann: Auch wenn da draußen 30.000 Leute auf uns warten, lasst uns so spielen, als ob wir in einer dieser Bars auftreten. Seid lieber mit Spaß dabei und ein bisschen schludrig als perfekt und steif.« Jelly Rolls Lieder, und überhaupt Country-Songs, gehören zu den letzten Möglichkeiten, in riesige Teile der USA hineinzuhören, die einem vom Norden, vom Osten, von Europa aus oft so unbegreif­ lich erscheinen. Und in das Gefühlsleben von zig Millionen Men­ schen, die häufig ignoriert oder abgehakt werden. Jelly Roll sieht seine Aufgabe so: »Ich will Menschen erreichen, die an irgendetwas zerbrochen sind.« Aus seinem schlichten Schlusswort am Ende unseres Gesprächs könnte in einem der nächsten Jelly-Roll-Songs dann auch ohne Weiteres ein eingängiger Country-Refrain werden: »Ich bin weit entfernt von dem Mann, der ich mal war / Und noch weit entfernt von dem Mann, der ich mal sein will.«

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»SELBSTMITLEID VERGIFTET DICH«

Die Kinderbuchautorin Cornelia Funke über ihre radikale Jugend, den frühen Tod ihres Mannes und die Möglichkeit, das Glück der Kindheit neu zu erschaffen


Funke im Gewächshaus ihres Anwesens in der Toskana, das sie auch als Schreibstube nutzt


Von KATRIN HÖRNLEIN und CHRISTINE MEFFERT

Fotos EMANUELE CAMERINI

Im Spätsommer sind die Hügel der Toskana vertrocknet, die antike Stadt Volterra auf einer Anhöhe fügt sich ein ins erdige Braun. Außerhalb der Stadtmauern hat sich eine der bekanntesten Deutschen niedergelassen: die Autorin und Illustratorin Cornelia Funke. Auf dem Gelände eines ehemaligen kleinen Hotels hat sie ein Atelier und ein Tonstudio eingerichtet. In den vier Apartments unter ihrer Wohnung quartiert sie junge Künstlerinnen und Künstler ein. Zum Gespräch führt uns Funke zu einem langen Holztisch unter einem Feigenbaum mit Blick in die weite Landschaft.

bringen die größten Veränderungen. Man könnte sagen, ich habe mich mit dem Umzug selbst ausgetrickst. Mir allein in einem neuen Land mit einer neuen Sprache ein neues Leben aufzubauen: Ich glaube, das war das Mutigste, was ich bisher getan habe.

Frau Funke, Sie haben 17 Jahre lang in Kalifornien gelebt, vor knapp zwei Jahren sind Sie nach Europa zurückgekehrt. Was dachten Sie, als Sie zum ersten Mal hier gestanden und ins Tal geblickt haben?

Hier kann ich niemals leben! Warum?

Schauen Sie mal, hier sind weit und breit nur Felder, eine reine Kulturlandschaft! Hier fühlte sich anfangs alles falsch an. Aber das lag nicht nur an der Landschaft?

Nein, ich bin mitten in der Pandemie umgezogen, allein mit meinen beiden Hunden. Ich kannte das Haus nur von Bildern aus dem Internet. Ich war vor den Bränden in Kalifornien geflohen, und vier Wochen nach meiner Ankunft stand der Hang, den Sie dort drüben sehen, in Flammen. Es war zum Verzweifeln. Ich hatte das zwar erwartet, und doch habe ich mich oft dabei ertappt, dass ich dachte: Das ist zu schwer. Ich habe mich sehr entwurzelt gefühlt. Sie hätten auch zurück zu Ihren alten Wurzeln, nach Hamburg gehen können ...

Ja, das hätte sogar viel besser zu mir gepasst. Ich bin nämlich eigentlich eine richtige Couch-Potato, die immer nur auf dem Sofa sitzen und ein Buch lesen will. Aber ich habe gelernt, dass ich gegen diese Cornelia etwas tun muss. Wieso?

Für mich geht es im Leben darum, immer wieder etwas Neues zu entdecken, und andere Orte und Kulturen cornelia funke, 64, kam in Dorsten am Rand des Ruhr-

gebiets zur Welt. In Hamburg studierte sie Pädagogik und Buchillustration. 1988 erschien mit »Die große Drachensuche« ihr erster Roman für junge Leser. Sie gilt als die weltweit erfolgreichste deutsche Kinderbuchautorin. Besonders bekannt sind die drei Bücher ihrer »Tintenwelt«-Reihe, deren erster Band »Tintenherz« 2003 erschien; die Hollywood-Verfilmung erreichte ein Millionenpublikum. Der vierte Band, »Die Farbe der Rache«, erscheint am 12. Oktober

Wie haben Sie sich den neuen Ort erschlossen?

Die Kalifornier haben mir beigebracht, ohne Angst auf andere Leute zuzugehen und neue Freunde zu finden. Ich liebe es, wenn hier abends die alten Männer durch die Straßen gehen und sich »Ciao bimbi!«, also »Hallo, ihr kleinen Jungs!« zurufen. Manchmal sagen sie jetzt zu mir: »Ciao bimba!« Inzwischen glaube ich, dass ich meinen Heimatplaneten gefunden habe. Ich habe sogar eine Linde gepflanzt, deutscher geht es wohl nicht. (lacht) Und was macht der Ort mit Ihnen?

Ich entdecke ihn noch. Ich lese, rede und denke immer mehr italienisch. Das ist ein anderes Denken als das deutsche, englische oder amerikanische. Allein durch die Sprache komme ich plötzlich auf andere Ideen, auf sehr viel poetischere. Italiener sind aber auch pragmatisch und prosaisch, sehr leidenschaftlich – ein unglaublicher Kontrast zu den Amerikanern. Inwiefern?

In Amerika definierst du dich über die alte puritanische Idee: Wenn du viel und hart arbeitest, bist du erfolgreich, hast viel Geld und kommst in den Himmel. Ob diese Arbeit irgendeinen Nutzen hat, ist vollkommen egal. In Italien, jedenfalls hier in der Toskana, ist es anders. Wenn du nachmittags zwischen eins und vier arbeitest, weißt du eindeutig nicht zu leben. Seine Freunde sehen, essen gehen, das sind die wichtigen Dinge. Das finde ich fantastisch. Trotzdem scheinen Sie die USA zu vermissen.

Nicht wirklich, obwohl ich Kalifornien sehr liebe. Und ich glaube, dass man über eine Liebe nur hinwegkommt, wenn man eine andere Liebe findet. Wenn die tief gehen soll, dann muss man sich fordern. Für mich bedeutet Liebe – zu einem Ort oder zu einem Menschen –, eine neue Farbe in sein Leben zu lassen: Ich bin gelb, du bist blau, wir machen zusammen grün. Das ist ja gewaltig! Und sicherlich war der Umzug für mich auch so schwer, weil ich meinen Mann unheimlich vermisst habe. Mit ihm und Ihren beiden Kindern sind Sie 2005 von Hamburg nach Los Angeles ausgewandert. Nicht mal ein Jahr später starb Ihr Mann an Darmkrebs.

Ja, und hierher nun ohne ihn zu kommen hat mich natürlich daran erinnert, wie sehr Rolf mir fehlt. Ich hätte all das Neue sehr gern mit ihm erlebt. Andererseits bin ich ihm hier in Europa nun auch wieder näher. Haben Sie denn damals ganz plötzlich von seiner Erkrankung erfahren?

Ja, ich weiß noch genau, wie ich kurz vorher zu ihm gesagt habe: »Baby you’re looking more sexy everyday!«

In ihrem Arbeitszimmer sammelt Cornelia Funke Erinnerungsstücke aus ihrem Leben

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Und dann brach plötzlich alles zusammen. Er hatte den Krebs vermutlich schon viele Jahre in sich. Ein Arzt sagte irgendwann: Ihr Mann kann in zwei Wochen tot sein. Und genau so war’s dann. Waren Sie bei ihm, als er starb?

Ja, ich war bei ihm im Krankenhaus. Ich wollte eigent­ lich die ganze Nacht an seinem Bett sitzen bleiben. Aber ich habe es sofort gefühlt, als er ging. Ich konnte das richtig physisch spüren und dachte: Ah, okay, jetzt ist er fort. Gibt es ein Grab für Ihren Mann?

In Los Angeles, er liegt auf dem Hollywood Forever Cemetery. Für mich sind Gräber nicht wichtig, aber meine Kinder haben sich einen Ort gewünscht, wo sie ihren Vater besuchen können. Auf seinem Grabstein steht: »Wild Thing You Make My Heart Sing«, eine be­ rühmte Songzeile, und unten ist ein kleines Schiff für Hamburg drauf, seine Geburtsstadt. Was hat Ihnen geholfen, mit dem Verlust zu leben?

Meine Kinder. Als Rolf starb, habe ich mir zwei Dinge vorgenommen: Anna und Ben werden nicht unter der Traurigkeit ihrer Mutter leiden. Und sie werden nicht in einem leeren stillen Haus aufwachsen. Ich habe all unse­ ren Freunden gesagt: Ihr müsst mir jetzt helfen, meinen Der Blick von Funkes Anwesen reicht weit über die Toskana

Kindern das Gefühl zu geben, dass sie trotz allem ein erfülltes Leben haben. Sie halfen alle. Haben Sie in dieser Zeit etwas gelernt?

Ja, dass Freunde im Leben das Wichtigste sind. Aber auch dass man sich durch Schmerz weiterentwickelt. Eine furchtbare Erkenntnis. Die müssen Sie erklären!

Nach Rolfs Tod konnte ich besser schreiben als zuvor und dachte: Das ist doch der letzte Dreck! Dieses Leben ist so eingerichtet, dass wir durch Schmerz lernen? Was für eine Gemeinheit! Sind Sie jemand, der sich beklagt?

Selbstmitleid vergiftet dich. Wenn ich mich dabei er­ wische, werde ich sehr streng mit mir: Cornelia, werd wütend, tritt gegen die Wand, schrei die Götter an, verfluch den Himmel – aber bemitleide dich nicht selbst! Es ist das unproduktivste Gefühl auf Erden und sehr gefährlich. Sie sagten vorhin, Sie forderten sich gern selbst heraus. Bereits als Jugendliche haben Sie sich politisch engagiert. Woher kommt der Drang, die Welt mitzugestalten?

Will nicht jeder junge Mensch die Welt verändern? Ich bin jedes Wochenende auf Demos gewesen, war in Brokdorf, habe gegen die Pershing-Raketen protestiert.


M ÜNC HE N • AM ST ERDA M • AN TWE RP EN

M ac h Dic h bere i t f ü r den bes te n H er bs t a l l e r Ze ite n mit M R MARV IS. Bes uch e e in e ne ue Sta dt ode r e nt de c ke d i e Natur. Z ie h Di ch warm an u n d g en i e ß e die bu nt e Ja hres ze i t in un s e re n H os e n, Jeans , He m de n u nd Strickobe rte il e n. Er häl tli ch in De ine n Lie b l ing s fa r ben . S ho ppe j e tzt a uf mr marv is.de


106 Hatten Sie ein politisches Elternhaus?

Ein liberales, würde ich sagen, und mit 12, 13 Jahren war ich noch ein stiller Teenager, der sich in Bücher eingrub. Referate halten oder vor anderen sprechen mochte ich gar nicht. Das änderte sich durch meine Arbeit für Amnesty International. Wie kam es dazu?

Weil ich in der Schule jeden Morgen an einem Amnesty-­ Poster vorbeilief, auf dem ein Mensch in einer Zelle zu sehen war. Dass jemand für seine Ideale ins Gefängnis geht, hat mich sehr berührt. Wer hatte das Poster aufgehängt?

Die »roten Nonnen«, so wurden die Schwestern genannt, die meine Schule leiteten. Unsere Direktorin am Gymnasium war jüdischer Herkunft, ihre ganze Familie war im Lager umgekommen, und sie war zum Katholizismus übergetreten. Sie stellte sogar Lehrer ein, die unter den Radikalenerlass fielen. Diese Schule hat mich geprägt. Unser Politiklehrer sagte einmal: Wisst ihr eigentlich, was in diesem Land und der Welt für Unrecht geschieht? Und ihr wehrt euch nicht! Also haben Sie sich gewehrt?

Ich wollte jedenfalls nicht nichts tun. Aber ich weiß noch genau, wie viel Mut es mich gekostet hat, als 14-Jährige bei uns in Dorsten zu meinem ersten Treffen der Amnesty-Gruppe zu gehen. Allein. Warum nahmen Sie keine Freundin mit?

Vielleicht habe ich mich da schon herausgefordert. Ich schlich jedenfalls zu diesem Treffen, bekam kaum ein Wort raus – und traf dann auf Menschen, die mit mir über die Menschenrechte diskutieren wollten. Ich erlebte zum ersten Mal, dass Erwachsene mich ernst nahmen. Das war sehr berührend und machte stark. Und gleichzeitig hat die Arbeit meinen Blick auf uns Menschen total verändert. Inwiefern?

Wenn du detaillierte Schilderungen von Folter liest, ist es, als würde dir die Welt in Stücke geschlagen. Was Menschen anderen Menschen antun können, ist schwer auszuhalten. Wir leben auf einem Planeten, auf dem Mitgefühl selten ist, und unsere eigene Gattung ist zutiefst aggressiv. Das führt zu vielen Errungenschaften und ist gleichzeitig vielleicht unser Untergang. Sagen Sie das auch mit Blick auf die aktuelle politische Weltlage?

Ja, ich mache mir große Sorgen, dass der Faschismus massiv zurückkehrt. In Amerika habe ich erlebt, wie Trump das Klima des Landes vergiftet hat. Und nun könnte er ernsthaft wieder gewählt werden. Unvorstellbar! Hier in Europa sieht es nicht besser aus. Ich dachte, ich ziehe in ein sozialistisches Land, und nun ist Meloni an der Macht ... ... und in Deutschland steigen die Umfragewerte der AfD ...

... ja, das ist furchtbar. Dabei dachte ich wirklich, wir in Europa, gerade wir in Deutschland hätten durch

unsere Geschichte eine gewisse Faschismus-Immunität entwickelt. Sie sind 1958 geboren. Haben Sie in Ihrer Familie offen über Nationalsozialismus und Holocaust sprechen können?

Ja, und da wurde nichts reingewaschen. Mein Großvater mütterlicherseits zum Beispiel war schon 1923 in der Partei, später war er Blockwart und kam kurz vor Ende des Krieges in einem Bunker ums Leben. Meine Mutter erzählte mir aber auch, dass ein kommunistischer Tischler kostenlos einen Sarg zimmerte – als Dank, weil mein Großvater ihm geholfen hatte, sich zu verstecken. Diese Widersprüche lassen sich nicht auflösen. Ich fand es mit zehn, elf Jahren schrecklich, als Deutsche geboren worden zu sein. Da waren Sie noch sehr jung. Was löste dieses Gefühl aus?

Der Nationalsozialismus war immer wieder Thema in der Schule, wir sahen Filme, uns wurde erzählt, was unsere Großväter getan hatten. Dann war ich auch noch blond, und ein Lehrer sagte mal zu mir: »Dich hätten sie damals auch in die Zuchtstation geschickt!« Die Lebensborn-Heime, in denen Arier gezüchtet werden sollten – war er ein alter Nazi?

Nein, im Gegenteil, er wollte uns klarmachen, wie es noch wenige Jahre vorher zugegangen war. Aber wenn du das als Teenager hörst, wie willst du dich mit so­ einem Land identifizieren? Und heute?

Bin ich froh, als Deutsche geboren worden zu sein. Es hat mich gelehrt, was Nationalismus und Faschismus anrichten. Das klingt sehr pessimistisch.

Ich würde es realistisch nennen. Ich habe meine Diplomarbeit über Adorno und die Erziehung zum autoritären Charakter geschrieben, um zu verstehen, warum man Faschist wird. Als ich in den Achtzigerjahren eine Zeit lang in Hamburg in der offenen Kinder- und Jugendarbeit war, habe ich dort selbst junge Faschisten getroffen. Meine behütete Bildungsbürgerblase ist damals vollständig geplatzt. Ich musste mit türkischen Jungs diskutieren, die immer ein Messer bei sich trugen. »Das kannst du mir nicht wegnehmen«, sagten sie, »da draußen warten die Skinheads!« Und diese Skinheads waren auch arme zerbrochene Jungs. Wir sind alle verführbar. Sie auch?

Natürlich! Das erste Buch, das ich mir von meinem eige­ nen Geld gekauft habe, war eine Biografie von ­Alexander dem Großen. Heute würde ich sagen, das war ein Massenmörder, damals war ich fasziniert von seiner Kriegskunst. Ich habe all seine Schlachten mit kleinen Figuren auf dem Teppich in meinem Zimmer nachgespielt. In meinen vorherigen Leben muss ich eine Kriegerin gewesen sein. Das kann nützlich sein, aber ich muss auch auf sie aufpassen. Wann kommt die raus?

In harmloser Form, wenn ich Fußball gucke.

Funke in ihrem Garten. Die Umweltzerstörung, sagt sie, sei eine ihrer größten Sorgen



108

Sie sind Fußballfan?

Aber wie! Mit meinem Papa hab ich als Kind jeden Samstag die Bundesligakonferenz im Radio gehört. Und später bin ich regelmäßig ins Stadion auf Schalke nach Gelsenkirchen gefahren und stand in der Fan­ kurve. Heute sitze ich nur noch vor dem Fernseher und schrei ständig, wie sie anders spielen sollen, obwohl ich kein Tor treffen würde. Sind Sie jemand, der schnell laut wird?

Ich bin zumindest jemand, der in die Konfrontation geht, und es hat mir sicher auch schon manches Mal geholfen, dass ich so eine innere Kriegerin habe. Aber je älter ich werde, desto mehr betrachte ich diesen Kampfgeist und diese Aggressionen auch als etwas Ge­ fährliches. Denn der gerechte Zorn lässt einen das Den­ ken vergessen und macht schnell selbstgerecht. Also bin ich da auf der Hut. Wovor sollte man sich besonders hüten?

Vor Geld – eine der gefährlichsten Drogen auf Erden. Warum?

Weil Geld zum Selbstzweck wird. Ich habe in den USA beobachten können, wie Menschen dadurch alle Boden­haftung verlieren – und zugleich politische Macht bekommen. Man kann Demokratien nicht am

Leben erhalten, wenn man solchen Reichtum zulässt. Es ist eine der Grundsünden, die wir in den letzten Jahrzehnten begangen haben. Aber Sie sind doch selbst sehr wohlhabend.

Ich versuche, Geld wie einen Treibstoff zu nutzen, mit dessen Hilfe etwas wächst, das die Gesellschaft nährt. Deshalb habe ich zum Beispiel diesen Ort geschaffen, an den ich junge Künstlerinnen und Künstler einlade, Autoren, Maler, Musiker. Zwei, drei von ihnen unter­ stütze ich zusätzlich mit einem einjährigen Stipendium. Kunst ist schön, aber wie nährt sie die Gesellschaft?

O bitte! Es gibt nur Wertschätzung für die Kunst, wenn sie sich als kapitalistisches Projekt umsetzen lässt, man damit ein Heidengeld macht und sie be­ sitzen kann. Kunst ist doch so viel mehr, sie versucht die Welt zu entschlüsseln! Und haben wir nicht alle in der Pandemie gesehen, wie sehr wir Bücher, Bilder, Musik brauchen. Wie sehr die Kunst uns getröstet und getragen hat? Sicher, aber müssen nicht auch Künstler kapitalistisch denken, um satt zu werden?

Ich sage all meinen Gästen hier: Wenn ihr von eurer Leidenschaft leben wollt, müsst ihr große Opfer brin­ gen und in großer sozialer Unsicherheit leben. Ihr stellt

Funke notiert und skizziert viel. Hier zu sehen ist ein Entwurf für das Cover ihres neuen Buches


das System infrage und werdet nie dazugehören. Ihr seid die im bunten Wagen vor der Tür. Und Ihr Haus hier ist der bunte Wagen mit Dauerstellplatz?

Ich gewähre jungen Künstlern jeweils einen Monat, in dem sie kreativ sein können ohne den Zwang, ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen und sich daran zu erinnern, warum sie Kunst machen. Noch wichtiger ist aber die Gemeinschaft; das Gefühl, nicht allein zu sein. Mir war vorher überhaupt nicht klar, wie bedeutsam das ist. Dabei ist es so klar: Menschen brauchen andere Menschen, und die Selbstbezogenheit und Isolation in der wir leben, ist gegen unsere Natur. Deswegen haben wir so viele psychische Probleme. Es ist ja ein Elend: Wir leben in solchem Wohlstand und sind ständig gestresst, unglücklich, überfordert.

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Und was bedeutet Ihnen diese Gemeinschaft?

Eine Freundin, mit der ich aufgewachsen bin und die Psychotherapeutin ist, sagte mir mal, dass wir als Erwachsene versuchen, uns die glücklichsten Momente unserer Kindheit neu zu erschaffen und dass ich genau das vielleicht jetzt mit meinen jungen Künstlerinnen mache. Was für eine Kindheit war das?

Eine mit vielen Freiräumen. Wir hatten ja nur bis mittags Schule, danach spielten alle Kinder aus der Straße zusammen draußen. Ich habe es geliebt, durch wilde Wiesen zu ziehen, Hütten zu bauen und Hinkelkästchen auf der Straße zu zeichnen. Die Welt, die es zu entdecken gab, war so groß! Sind bestimmte Erinnerungen aus dieser Zeit noch besonders lebendig?

Das sind vor allem sinnliche Eindrücke: dass ich mich unter einen Mandelbaum gesetzt habe und die Blüten auf mich herabgefallen sind; dass ich aus Grassamen Suppe kochte; wie blau die Kornblumen waren; das Schaumkraut unten am Bach. Viele Naturerinnerungen. Es war also eine Draußen-Kindheit, die heute nur noch wenige Kinder kennen?

Ja, aber ich habe auch sehr viel ferngesehen, vier, fünf Stunden am Tag, das war für mich genauso wichtig wie Bücherlesen. Daktari, Raumschiff Enterprise, Abenteuerfilme: Und dann hab ich meinen Freunden alles weitererzählt. Und weil die Serien nur einmal in der Woche liefen, musste ich für meine Brüder zig Fortsetzungen erfinden. Wussten Sie schon als Kind, dass Sie eine gute Geschichtenerzählerin sind?

Ich habe zwar immer Geschichten erzählt, aber lange nicht begriffen, dass ich da ein Talent habe. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte das auch, sie erzählte mir abends oft die wildesten Sachen; von Leuten in unterirdischen Häusern und Kindern aus der Steinzeit. Ich dachte, es sei normal, sich so etwas auszudenken. Auch in der Schule bin ich niemandem mit meiner Erzählkunst aufgefallen, im Gegenteil, ich bekam oft den Kommentar: am Thema vorbei.

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110 Und hatten Ihre Lehrer recht?

Vermutlich schon, ich mache beim Schreiben noch heute viele Umwege. Wie das?

Für mich ist eine Geschichte wie ein Labyrinth, ein riesiges lebendiges Ding, durch das ich mir einen Weg bahnen muss. Stückchen für Stückchen arbeite ich mich vor zum Herzen. Laufen Sie auch mal in die falsche Richtung?

Ständig. Woran merken Sie, dass Sie richtig laufen?

Das merkt man manchmal erst, wenn man falsch gelaufen ist. Und dann?

Schreibe ich um. Eins meiner berühmtesten Bücher, Der Herr der Diebe, habe ich 17 Mal überarbeitet. Es war das erste Buch, bei dem ich unheimlich kämpfen musste und schlaflose Nächte hatte. Heute sage ich allen, die so etwas erleben: Das sind eure wichtigsten Bücher, weil man beim Schreiben etwas Neues lernt. Am Anfang Ihrer Karriere war das Schreiben noch eine Notwendigkeit, um Ihre Familie zu ernähren. Haben Sie damals von weltweitem Erfolg geträumt?

Ich hatte irgendwann so eine Ahnung, dass das passieren könnte, als ich spürte, wie sehr Leser meine Geschichten liebten. Warum sollte nicht auch ein Kinderbuch international gelesen werden? Als dann Harry Potter so berühmt wurde, dachte ich: Tja, jetzt passiert es, aber einer anderen. Geht es Ihnen beim Schreiben auch um die Auseinandersetzung mit sich selbst?

Nein, ich glaube, dass viel von unserer Literatur inzwischen zu narzisstisch und zu selbstbezogen ist, genauso wie unsere Gesellschaft. Wir denken permanent über uns selbst nach und darüber, was die Welt mit uns macht. Statt lieber die Welt anzusehen und uns zu fragen, wie wir eigentlich leben. Neulich war ich in Berlin und kam mir vor wie in einer Kunstwelt. Alles ist betoniert, Pflanzen sind nur Dekoration. Es gibt keine Landschaft, keine Horizonte. Ich gehe da durch die Straßen und denke: Das ist doch alles nicht echt! Ihre Geschichten spielen oft in fantastischen Welten – und dort richten Bücher großen Schaden an: Menschen verschwinden darin, Monster tauchen aus ihnen auf. Warum?

Weil Bücher hochgefährlich sind. Sie können furchtbare Ideen in die Welt entlassen. Wenn wir traurig oder einsam sind, können wir uns in Büchern verlieren und vergessen, wie schön die Welt ist. Ein Freund erzählte stolz, dass er mit seinen Söhnen nach Südamerika gefahren ist und die den ganzen Tag lasen. Ich dachte: Meine Güte, die sind zum ersten Mal da und sitzen mit einem Buch im Haus? Ich würde mir Sorgen machen! Zweifeln Sie an Ihrem Können?

Ich überschätze mich nicht. Ich glaube, ich bin ziemlich gut, aber es gibt etliche, die besser sind. Selbstzweifel

entstehen, wenn man immer die Beste sein will und sich ständig mit anderen vergleicht. Ich kann gut damit leben, dass ich Sachen nicht kann. Denken Sie denn manchmal: Was, wenn mir das nächste Buch nicht gelingt?

Das frage ich mich durchaus. Ich werde älter, irgendwann wird das Buch kommen, das schwächer ist. Ich hoffe, dass ich genug Freunde habe, die mir das ehrlich sagen, und ich dann Schluss mache. Jetzt kommt erst einmal ein neues Buch, »Die Farbe der Rache«. Der vierte Band der »Tintenwelt«, was manche überrascht hat. Die Trilogie schien 2007 abgeschlossen. Wie war es, in diese Welt zurückzukehren?

Schön! Zum Reinkommen habe ich alle drei Bände noch einmal als Hörbuch angehört und dachte: Mensch, Cornelia. Das ist aber richtig gut! Und böse!

Ach, das ist der Blick von empfindsamen Erwachsenen. Mit denen muss man vorsichtiger sein als mit Kindern. Ist es nicht umgekehrt?

Nein, Kinder können es leichter wegstecken, wenn ich mit Grausamkeiten und Furcht spiele, weil ihnen die emotionale Erfahrung mit solchen Ängsten und Schmerzen oft noch fehlt. Bei Erwachsenen kommen Erinnerungen hoch, und dann geht eine Geschichte ganz tief. Einigen wir uns darauf, dass im neuen Band ein Bösewicht auf Rache sinnt. Ist Ihnen das Gefühl vertraut?

Ich bilde mir ein, dass ich es nicht kenne. Ich bin wirklich nicht nachtragend. So richtig an jemandem gerächt habe ich mich noch nie. Wie schreibt man über etwas, das man nicht kennt?

Interessant, dass immer alle denken, man müsse sich mit seinen Bösewichten identifizieren. Das Gegenteil ist der Fall. Meine Schurken sind mir nicht sympathisch, ich glorifiziere sie auch nicht. Aber Sie müssen viel Zeit mit ihnen verbringen ...

Ja, und zum Glück sind sie oft sehr amüsant in ihrer Fiesheit. Das macht es mir leichter. Aber es stimmt schon, als ich die ersten drei Tintenwelt-Bände noch einmal anhörte, dachte ich selbst: Himmel, sind die dunkel! Das kannst du in dieser ohnehin schon dunklen Zeit nicht noch mal machen. Das neue Buch muss mehr Licht bekommen. Deswegen gibt es die jungen Figuren, besonders die Lilia. Ich wollte keine Kriegerin, die zerstört, sondern jemanden, der etwas wachsen lässt. Erhoffen Sie sich das gerade auch in der Realität: dass die Jugend wieder Licht bringt?

Das geschieht ja schon. Für meine Lilia wurde ich unbewusst sicher inspiriert von Luisa Neubauer. Bei ihr habe ich das Licht sehr deutlich gesehen. Und so viel Mut. Kennen Sie Luisa Neubauer persönlich?

Ja, über eine befreundete Umweltaktivistin. Wir haben uns in einem Zoom-Meeting kennengelernt, und dann kam Luisa mich besuchen. Ich weiß noch genau, wie sie an einem Abend plötzlich hier im Zimmer stand, übers


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112 ganze Gesicht strahlte und sagte: »Ich hab gerade mein erstes Glühwürmchen gesehen!« Wecken Luisa Neubauer oder die Aktivistinnen der »Letzten Generation« in Ihnen Erinnerungen an Ihre politische Jugend?

Ich bewundere sehr, dass sich wieder etwas regt. Ich fand es zwischendurch sehr erschreckend, so viele absolut unpolitische junge Leute zu sehen. Haben Sie Sympathie für die, die sich auf Straßen festkleben?

Absolut. Ich würde mich selbst nicht irgendwo festkleben, aber ich respektiere es und verstehe die Verzweiflung. Dass ihnen solcher Hass entgegenschlägt, finde ich wirklich verstörend. Ich werde nie wütend auf die sein, die sich anketten oder festkleben, sondern ich werde wütend auf die sein, die gerade dieses Ökosystem zerstören. Glauben Sie, dass wir in der Klimafrage das Ruder noch herumreißen können?

Ich weiß es nicht. Der Homo sapiens veranstaltet unzählige Konferenzen, verabschiedet ein Papier nach dem nächsten. Und was ändert sich? Nichts. Wir haben all die wissenschaftlichen Erkenntnisse, langsam müssten mal Taten folgen. Da heißt es, der Golfstrom könnte vielleicht schon 2025 kollabieren. Und wir machen weiter wie bisher, trallalalala. Es ist geradezu unheimlich. Versuchen Sie selbst einen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel zu leisten?

Ja, aber auch ich scheitere immer wieder an meinen­ eigenen Vorsätzen. Eigentlich hatte ich mir geschworen, innerhalb Europas nicht mehr zu fliegen – und saß gerade gestern doch wieder im Flugzeug, weil ich spontan meine Tochter in Berlin besucht habe. Wo die mit ihrem Mann und Ihrer Enkelin lebt. Sie sind in diesem Frühjahr zum ersten Mal Oma geworden. Ist der Klima­schutz auch dadurch für Sie drängender geworden?

Nein, denn ich habe mich schon vorher gefragt, was für einen Planeten ich meinen Kindern hinterlasse. Da hat meine Generation leider allen Grund, sich zu schämen. Aber ich mag mich in solche Gedanken nicht zu tief reinbegeben. Ich möchte lieber etwas tun – und mit meiner Enkelin Momente schaffen, die kostbar sind. Sie leben weit entfernt von Ihrer Familie: Ihr Sohn ist mit seiner Frau noch in Kalifornien, Ihre Tochter mit Mann und Kind in Berlin. Können Sie gut loslassen?

Überhaupt nicht, ich möchte immer alle um mich haben. Früher habe ich Anna und Ben sogar auf Dienstreisen und zu Arbeitsmeetings mitgenommen. Aber ich weiß, dass ich sie ihre eigenen Orte finden lassen muss. Anna ist sehr früh nach London gegangen. Da habe ich sie alle acht Wochen besucht und bei der Abreise im Taxi immer geheult, aber das hat sie nie gesehen. Wie oft sehen Sie Ihre Kinder heute?

Ben sehe ich einmal im Jahr, aber wir facetimen oft. Anna habe ich versprochen, alle vier bis sechs Wochen zu kommen, auch um meine Enkelin zu sehen. Träumen Sie manchmal noch von einer neuen Liebe?

Ich verliebe mich immer gerne, aber ich habe das Gefühl, ich bin jetzt zu alt. Männer wollen ja immer Frauen, die ungefähr zehn Jahre jünger sind als sie. Da müsste ich mir ein Date im Seniorenheim suchen. Was ich immer vermissen werde, ist ein Gefährte, wie mein Mann es war. Ich mochte den Alltag einer Ehe: morgens zusammen Kaffee trinken, einen Film gucken, sogar die dreckigen Socken auf dem Teppich. Sie werden im Dezember 65 Jahre alt. In vielen Interviews haben Sie erzählt, Sie seien eigentlich immer noch zehn, elf. Was meinen Sie damit?

(denkt eine Weile nach) Ja, das habe ich oft gesagt, aber vermutlich ist es Quatsch. Was ich meine, ist, dass ich mir eine Fähigkeit erhalten habe, die man normalerweise mit der Pubertät verliert. Ich bin noch immer ein guter Gestaltenwandler. Was bedeutet das?

Ich erkläre es mit einem Bild, das mein Kollege Philip Pullman in seinem Buch Der goldene Kompass gefunden hat: Da werden die Menschen mit einem Seelentier auf der Schulter geboren. Solange man Kind ist, wechselt es immer wieder die Gestalt. Im Teenageralter geht diese Fähigkeit verloren, man legt sich auf ein Seelentier fest. Da steckt eine große Wahrheit drin: Irgendwann schaffen wir uns eine Identität. Ich bin irgendwie durchs Netz gerutscht, bei mir verändert sich das Tier immer noch. Fühlen Sie sich denn wie 65?

Nein, aber ich habe nichts dagegen, wie 65 auszusehen. Haben Sie es nun im letzten Lebensdrittel eiliger?

Nein, ich versuche es langsamer angehen zu lassen. Es wäre dumm, die Signale des Körpers zu ignorieren und dann über die eigenen Füße zu stolpern und sich die Hüften zu brechen. So weit ist es bei mir noch nicht, aber natürlich merke ich, dass ich älter werde. Dass ich morgens steif bin, wenn ich aufstehe. Ich versuche, mich fit zu halten, aber ich bin ein Sportmuffel. Wenn Sie noch einmal jung sein könnten, was würden Sie anders machen?

Früh schwimmen lernen. Ich liebe das Meer, aber ich habe furchtbare Angst vor tiefem Wasser. Ich habe erst mit 18 schwimmen gelernt und bin beim ersten Mal im Meer fast ertrunken. Ich werde keine gute Schwimmerin mehr – und ich hasse es, dass ich das nicht kann. Bereuen Sie rückblickend etwas?

Es gibt dieses schöne Zitat von C. G. Jung: Das Gold könne man nur im Dunkeln finden. Es gab tausend Sachen in meinem Leben, die anders waren, als ich sie erwartet und mir erwünscht habe. Aber ich habe immer versucht, mir zu sagen: Oh, das ist aber interessant! Natürlich habe auch ich Tage, da wache ich melancholisch auf und weiß nicht warum. Aber ich versuche mich dem nicht hinzugeben. Ich glaube, mir ist ziemlich viel gegeben worden, vielleicht auch ein Talent zum Glücklichsein. Und ich bin wirklich stolz auf mein Leben.

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Foto: Alexander Fanslau

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Von Tillmann Prüfer

Schleppender Fortschritt: Rucksacktasche von Stone Island

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der Rucksack ist eine der praktischsten Methoden, Dinge mit sich zu führen. Man hat sie einfach auf dem Rücken und ansonsten beide Hände frei. Auch wenn man den Rucksack ordentlich vollpackt, verteilt sich das Gewicht gleichmäßig auf beide Schultern. Bei der Schultertasche ist das ganz anders, da kann der Tragegurt unangenehm einschneiden. Oder gar bei der Handtasche, die einen nicht nur einseitig belastet, sondern dabei auch noch eine Hand komplett blockiert. Die Menschen sind schon früh in der Geschichte auf die Idee gekommen, Dinge auf dem Rücken zu transportieren. Schließlich kamen sie ja nicht als sesshafte Wesen auf die Welt, sondern lebten zunächst nomadisch, mussten ihrer Beute hinterherziehen, also Möglichkeiten finden, viel zu schleppen. Seit Jahrtausenden kennt der Mensch die Kraxe, mit der sich Lasten auf einem Gestell transportieren lassen, das auf den Rücken geschnallt wird. Schon vor 5000 Jahren war die spätere Gletschermumie Ötzi mit so einer Kraxe unterwegs. Heute wird sie vor allem verwendet, wenn man bei einer Wanderung ein Baby mit sich führen muss. Auch die Kiepe, ein auf dem Rücken getragener Korb, gilt als eine Urform des Rucksacks. Der moderne Rucksack jedoch kommt eher aus der Zeit, als das Unterwegssein keine Überlebensnotwendigkeit mehr war, sondern, für manche zumindest, ein Genuss: Das Wandern machte den Rucksack im 19. Jahrhundert populär. Wandern bedeutet, dass man sich zum Vergnügen auf den Weg macht und dabei nur das Nötigste mit sich führt. In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden Rucksäcke dann zu einem Accessoire. Miuccia Prada begann ihre Karriere als Designerin mit einem modischen Nylonrucksack. Ein Grund, warum der Rucksack, nachdem er so lange ein Arbeitsmittel und Ausrüstungsgegenstand gewesen war, sich plötzlich auch als Modeartikel verbreitete, lag wohl gerade darin, dass er einfach schon immer so praktisch war. Doch nach 40 Jahren Mode-Rucksäcken muss man sich fragen, ob es jetzt nicht langsam genug ist. Schließlich haben 5000 Jahre Rucksack-Evolution nicht genügt, um einen Weg zu finden, beim Rucksacktragen gut auszusehen. Noch immer wirkt der Rucksackträger wie eine Schildkröte, die auf zwei Beinen umherläuft. Manche Schulkinder beweisen früh Stilbewusstsein, wenn sie versuchen, ihren Ranzen loszuwerden. Wer später freiwillig wieder mit einem Rucksack durch den Alltag geht, macht ein bisschen den Eindruck, als wäre er sitzengeblieben. Nun gibt es Rucksäcke, etwa von Stone Island, die einen Tragegriff haben, sodass man sie als Handtasche benutzen kann. Das ist immerhin ein Fortschritt: Man kann den Rucksack jetzt auch auf unbequeme Art tragen und dabei besser aussehen.

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Vor einer Weile hörte ich vor meinem Büro immer wieder Lärmen und Toben. Als ich mich auf die Suche nach der Lärmquelle machte, entdeckte ich meine Kollegen am Tisch in der Teeküche: Sie knobelten mit fünf goldenen Würfeln. Woher genau die Würfel ursprünglich kamen, wissen wir nicht, aber sie sehen so aus wie die der Marke SCSpecial. Die Kollegen hatten ein Kneipenspiel mitgebracht namens Sand: Jeder ist einmal mit den fünf Würfeln dran. Die erste Regel: Ein Spieler braucht eine Zwei und eine Vier – andernfalls hat man schon verloren. Zweite Regel: Je höher oder niedriger die gesamte Augenzahl ist, desto besser, je mehr man in der Mitte liegt, ­desto schlechter. Der Verlierer muss Kaffee kochen oder die Pfand­ flaschen wegbringen. Inzwischen werden bei ihnen fast alle diese alltäglichen Entscheidungen so ausgewürfelt. Ich war zunächst skeptisch, ich habe kein Interesse an Glücksspielen. Wenn überhaupt, dann mag ich Spiele in großen Runden an einem entspannten Abend. Ich bin ein guter Verlierer, aber dafür auch ein schlechter Gewinner. Das liegt wohl an meinen Kindern: Mein ältester Sohn und meine jüngste Tochter werden sehr wütend, wenn sie verlieren. Mir macht es Spaß, sie dann zu ärgern. Inzwischen spiele ich auch im Büro mit. Es macht tatsächlich Freude, kleine Entscheidungen zur Glückssache zu machen – erst recht, wenn man danach mit frischem Kaffee belohnt wird. Das geht natürlich mit jedem beliebigen Würfel, aber bei unserer goldglänzenden Variante kommt ein bisschen Las-Vegas-Glamour auf. Dass ich manchmal selbst den Kaffee kochen muss, stört mich nicht, ich bin ja ein guter Verlierer. Den schlechten Gewinner haben meine Kollegen, glaube ich jedenfalls, noch nicht erleben müssen.


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ER SUCHT SIE Berliner Akademiker, 30/1,78, sucht Partnerin passenden Alters, mit der er einen gemeinsamen Lebensplan entwickeln und eine Familie gründen kann. Er: NR, unverheiratet, kinderlos, breites kulturelles Interesse. Sie: NR, unverheiratet, liebevoll, familienorientiert, kinderlos, mit Kinderwunsch. Foto wäre schön. ZA 136026 DIE ZEIT, 20079 Hamburg

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INSTITUTE


LEXIKON DER LIEBE

Wenn Sie uns etwas über die Liebe erzählen wollen, schreiben

*Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt

»Er lädt mich auf eine Spritztour ein«

Sie uns an liebe@zeit.de

Nelia*, 69: »Ein sonniger Septembertag im Jahr 1972. Mit

Frühstück und steckt mir noch zwei Äpfel zu, bevor sich

einem Stadtplan und einem Regenschirm ausgestattet, ma­

unsere Wege trennen.

che ich mich in Kiel, meiner zukünftigen Stu­dien­stadt, auf

Was ich nun weiß: Er ist Ende 20, kurz vor seiner Approba­

die Suche nach einem Zimmer. Ganze drei Angebote sind

tion als Arzt und in den letzten Zügen seiner Dissertation; er

auf meine Zeitungsannonce hin eingegangen. Gegen Mittag

lebt in Hamburg in einer festen Beziehung. Im Wintersemes­

lächelt mich auf der Straße ein dunkelhaariger, sonnen­

ter besucht er mich noch mehrmals in meinem winzigen

gebräunter Mann mit markanten Gesichtszügen an und lädt

Studentenzimmer, danach bricht der Kontakt ab. Es gibt

mich ohne Umschweife auf eine Spritztour in seinem in die

noch keine Handys. Er ruft jedoch einige Jahre lang an den

Jahre gekommenen Kombi ein.

Weihnachtstagen auf dem Festnetzanschluss meiner Eltern

Ich kenne hier niemanden, und das Verhältnis zu meinen

an. Es ist aufregend, seine Stimme zu hören, aber ich kann

Eltern ist zu der Zeit nicht gut. Mit wenigen Fragen erfasst

nicht frei sprechen! Wir sehen uns nicht wieder. Es scheint

er das Prekäre meiner Situation: keine Bude, keine Bleibe,

mir damals aussichtslos, eine Beziehung mit einem zehn

keine Kontakte! Eher zögernd und seinen eigenen Plänen

Jahre älteren Mann anzustreben.

zum Trotz bietet er mir dann gegen Ende der kleinen

Mittlerweile lebe ich wieder in Kiel. Ab und an gehe ich an

Stadtrundfahrt an, bei ihm in seiner Studentenbude zu

dem Haus vorbei, in dem ich damals ›in Obhut genommen‹

übernachten. Es wird eine aufregende und zärtliche Nacht.

wurde. Gern würde ich ihm noch einmal Danke sagen.«

Am Morgen danach versorgt er mich mit einem kleinen­

Aufgezeichnet von Heike Faller

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Der Mensch hat es mitunter trotz vielfältiger Begabungen nicht einfach. Als der polyglotte Jurist Ossip Bernstein, einst einer der stärksten Schachmeister der Welt, eine Auszeichnung der französischen Juristenkammer erhielt, sagte deren Vorsitzender: »Wir schätzen Dr. Bernstein außerordentlich, obgleich er Schachspieler ist!« Und als er umgekehrt bei einem Schachturnier sich nach einem groben Bock einen Dummkopf schalt und Weltmeister Emanuel Lasker dem zustimmte, bat er diesen um eine schriftliche Bestätigung. Worauf Lasker auf einer Postkarte ungerührt notierte: »Ich bestätige Herrn Dr. Bernstein auf seinen Wunsch, daß er ein Schach­idiot ist!« Das lässt mich an den Rechtsanwalt und ehemaligen Bundesligaspieler Ulrich Gass denken, der beim Bamberg-Open drei gewonnene Partien in Zeitnot »vergeigte« und daraufhin seinen Freund, den Neurologieprofessor Peter Krauseneck, um eine Demenzüberprüfung bat. Doch Uli ist nicht nur ein ungemein wacher und eloquenter Zeitgenosse, sondern obendrein auch ein hervorragender Tennisspieler, der im Duathlon aus Schach und Tennis, zusammen mit Boris Spasski, hochüberlegen ein Turnier in Zürich gewann. Seine »Unsterbliche« gelang ihm 1968 bei einem Turnier in Eßlingen, als er seine schwäbische Natur, ja nichts freiwillig herzugeben, völlig verleugnete. Mit welcher prächtigen Kombination setzte er als Weißer dreizügig matt?

Lösung aus Nr. 41: Wie setzte Weiß am Zug in 6 Zügen matt? Auftakt war 1.Dh7+!. Nach 1...Kxg5 2.Dg7+ Kh5 3.g4+! Kh4 4.Dh6+ Kxg4 5.h3+! Kf5 6.Te5 war es mit dem letzten Aufgebot matt

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*Zzgl. Versandkosten | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg; Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser

Impressum EDITORIAL DIRECTOR Christoph Amend CHEFREDAKTION Sascha ­Chaimowicz, Emilia Smechowski STELLVERTRETENDE CHEFREDAKTION Anna Kemper, Tillmann Prüfer CREATIVE DIRECTOR Mirko Borsche ART DIRECTOR Jasmin Müller-Stoy TEXTCHEFINNEN

Christine Meffert, Annabel Wahba BILDCHEFIN Milena Carstens BERATER (BILD) Andreas Wellnitz STYLE DIRECTOR Claire Beermann REDAKTIONELLE KOORDINATION Margit Stoffels REDAKTION Amelie Apel, Jörg Burger, Johannes Dudziak, Alard


LEBENSGESCHICHTE

SCRABBLE

Eine krebskranke Frau hatte sie bereits eindringlich vor der Kamera gegeben. Als dann die Diagnose tatsächlich in ihr reales Leben platzte, reagierte sie wie jene Filmfigur: Sie spürte »unbändige Sehnsucht, leben zu wollen« und bezog daraus die Kraft, die Krankheit zu besiegen. Beistand fand sie auch bei Familie und Freunden, »die einfach für mich da waren«. So wie sie mit ihrem Können für die Menschen da sein möchte, indem »sie ihr zuhören und vielleicht sogar bewegt sind«. Allein mit ihrer Stimme kann sie jede Gefühlsregung ausdrücken und zeigt das an vielen Stätten: am Theater, in Film und Fernsehen, Operette und Musical, auf Hörbuch und Tonträger – stets hoffend, dass sie mit ihrer Leidenschaft das Publikum anstecken kann. »Jede Rolle war immer das Nonplusultra. Ich versuche immer im Jetzt mit ganzem Herzen präsent zu sein.« Drama und Tragödie beherrscht sie perfekt, seit acht Jahren auch in Serie auf der Suche nach Mördern. Noch mehr aber mag sie Leichtigkeit und Humor. Mit ihrem Ausnahmetalent, die Leute zum Lachen zu bringen, reüssierte sie einst auch beim spontanen Vorsprechen an der Schauspielschule – was sie erstaunte wegen der »Berliner Schnauze«, die sie sich danach abtrainiert hat. In ihrer Geburtsstadt, in der sie bis heute fast durchgängig gelebt hat, nennt man sie »Anti-Diva«. Und die steuert jetzt gern auf die Rente zu, dann werde sie mehr Zeit haben für das, was sie neben der Arbeit am meisten liebt: Musik hören, Gedichte lesen und darin völlig abtauchen. Wer ist’s? Lösung aus Nr. 41: Cem Özdemir, geb. 1965 als Sohn türkischer Einwanderer im schwäbischen Bad Urach und dort aufgewachsen, ist Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Bei der Bundestagswahl 2021 errang er für die Grünen das Direktmandat im Wahlkreis Stuttgart I mit 40 Prozent der Erststimmen, das Spitzen­ ergebnis für seine Partei Bündnis 90/Die Grünen. Özdemir ist seit 1981 Mitglied der Grünen. Seine Frau stammt aus Argentinien, das Paar hat zwei Kinder

SPIELE

Doppelter Wortwert Doppelter Buchstabenwert Dreifacher Wortwert Dreifacher Buchstabenwert

Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 28. Auflage, verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. Die Regeln finden Sie im Internet unter www.scrabble-info.de

SUDOKU 3

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»Das Gute ist der Feind des Besten« – dieses Sprichwort gilt selbstverständlich auch für die Scrabbelei. Und vielleicht bringt gerade diese Aussage den feinen Unterschied zwischen guten und exzellenten Scrabblern auf den Punkt. Jemand, der weiß, wie man aus (nahezu) jeder Konstellation das Optimum herausholt, ist Alexander Dings. Der amtierende deutsche Meister platzierte neulich im Rahmen ­einer Partie beim Saarland-Cup einen denkwürdigen Bingo. Ich bin sicher, ich hätte mich in der abgebildeten Situation mit einem AUSDENKT (über das N von HEBELNS) oder Ähnlichem zufriedengegeben. Doppelter Wortwert, doppelt zählendes K, 78 Punkte – alles gut. Passenderweise lautete der Kommentar des Saarländers zu seinem Zug jedoch: »Die offensichtlichen Bingos wie DANKTEST (78 P.) kann man noch um einiges überbieten.« Ich kam mir fast ein wenig geohrfeigt vor, als ich die Zeilen las, auf jeden Fall fühlte ich mich geerdet. Mit welchem Zug der 31-Jährige einen Wert in den 90ern einfuhr, zeugt allerdings auch von ganz großer Klasse.

In jeder Zeile, jeder Spalte und jedem mit stärkeren Linien gekenn­zeichneten 3 × 3-Kasten müssen alle Zah­­len von 1 bis 9 stehen. Nächste Woche an dieser Stelle: die Logelei und die Auflösung aus Nr. 41

Lösung aus Nr. 41: Theo Kardel platzierte die JENAERIN auf A7–A14. Für diesen Zug fiel zwar keine Wortwertprämie an, dank der sich in Querrichtung ergebenden Begriffe JE, NE und AM kamen dennoch solide 76 Punkte zusammen

von Kittlitz, Friederike Milbradt, Lena Niethammer, Khuê Pha.m, Ilka Piepgras, Jürgen von Ruten­berg; Mitarbeit: Klaus Stock­hausen (Contri­­buting Fashion Director) GESTALTUNG Nina Bengtson, Mirko Merkel, Gianna Pfeifer; Mitarbeit: Anna Berge, Leon Lothschütz, Jana Schnell BILD­REDAKTION

Siemienski DRUCK Mohn Media Mohndruck GmbH REPRO Twentyfour Seven Creative Media Services GmbH ANZEIGEN­ PREISE ZEITmagazin-­Preisliste Nr. 17 vom 1. 1. 2023 ANSCHRIFT VERLAG Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Bucerius­straße,

Nora Hollstein AUTOR(INN)EN Heike Faller, Dmitrij Kapitelman, Harald Martenstein, Jana Simon, Matthias Stolz KORREKTORAT Thomas Worthmann (verantw.) DOKUMEN­ TATION ­Mirjam Zimmer (verantw.) ­ HERSTELLUNG Torsten Bastian (verantw.), Oliver Nagel, Frank

Eingang ­Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: DieZeit@zeit.de ANSCHRIFT REDAKTION ZEITmagazin, Schöneberger Str. 21 A, 10963 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 39; E-Mail: zeitmagazin@ zeit.de, www.zeitmagazin.de


UM DIE ECKE GEDACHT NR. 2714

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42 Kreuzworträtsel ECKSTEIN

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5 Sowohl An- als auch Streichinstrument 10 Steinchen im Rechtspuzzle 14 Wohl als Wesenselement, kaum als Kompliment geführt 16 Wer verblendet und grausam ist, kann noch verfolgen; wer ... und menschlich ist, muss tolerant sein (Friedrich der Große) 19 Werden zu Raritäten immer mehr in der Postmoderne 20 Ein Mister Slapstick-Meister 21 Benennt am Ende noch einen Stein am Rhein 22 Sprichwörtlich: ... sind groß, wo die Liebe klein ist 24 Gefürchtet wegen der Beißer, nicht nur als weißer 25 Zwei westeuropäische Artikel im vornämlichen Verbunde 26 Spezialprodukt von der 38 senkrecht, im speziellen 12 senkrecht 28 Anziehungspunkt für die Jadebusenfreunde unter den Küstenurlaubern 29 Ständerat-Standort 31 Trifft man gähnend an, wo keiner weilt 33 Was man mit Mühe hat erworben, kann man mit ... ­genießen (Sprichwort) 34 Schon komisch: wertet weder Sinn noch Lob auf waagerecht

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36 Miteinandererseits nicht nur im Business von Wirksamkeit 38 Der Ewignebenherlinie ornithologischer Mittelabschnitt 40 Jene Mrs. Wilson, die Tom zu Mr. Hanks sagt 41 Beim Rackern auf Zack, beim Rasten nicht dabei 43 Quietschespielzeug aus Flaschenplastik? Gewisse Anliegenformulierer! 44 Habsucht ist der Ursprung aller ... (Claudian) 45 Erdreichbewohner, mag auf Luftraumzukunft hoffen 46 Tätigkeit nicht ohne Maß, Imposantgestalten nicht ohne Wurzeln Senkrecht 1 Die Liebe ist ein Fest – es muss nicht nur ..., sondern auch gefeiert werden (Susette Gontard) 2 Hat in Parfümerien Hausverbot 3 Die Lady, die Paparazzi und Pokerface zu Themen machte 4 Einundzwanzig Mal Teil vom Teil Nordeuropas 5 Auf Schritt und Tritt begegnet man dem 23 senkrecht und ihm 6 Verbucht auf dem »Wie-konnt-ich-nur?«-Konto 7 So im Wald zu stehen: Liedes Männleins Wesensart 8 Auf denen fußt manch ein Aufspürerfolg

9 Geht zwischen Hörnern und Trompeten keineswegs unter 10 Da-lang-Ding aus Vormals-Arsenal 11 Kam zu Oscars, indem sie mal Ruby, mal Judy war 12 Entsorgungsfrage: blaues zum grünen oder zum braunen? 13 Jenem, der sie liebend gerne wollte, ward erst mal die 25 waagerecht gegeben 15 Blättchentäschchen 17 Für den Bau zuständig wie Lisa für die Familie 18 Runter ein Spaß, zur Seite eine Gefälligkeit 23 Experte für mehr als schnellen 35 senkrecht 25 Mit den Zeichen von einem aus dem Eis: einer aus den Tropen 27 Römpömpömpöms Revier 30 Schnellurteil über Stau auf der Strecke oder Mücke im Anflug 32 Bot sich geradewegs als Maß an, gerechnet ab Bogen 35 Mit mehr als einem will aufwendigere 27 senkrecht glänzen 37 Schlusswort in Reden an allerhöchste Adresse 38 Trägerelement in Diensten der Saftigkeit 39 Was nützt dem ... oder Brill’, der nicht sehen kann oder will (Sprichwort) 42 Wo der Wurm ist, wenn nichts mehr geht

Lösung von Nr. 2713: Waagerecht 7 Zahn- und Versiegelungs-PLOMBEN 11 LEHRBUCH 14 GIACOMO Casanova 16 EINFACHHEIT 19 SCHLANGE (chines. Astrologie) 20 NACHLASS, Erbe und Rabatt 21 HACKER 23 Geld-, Park-BANK 24 skandinav. Währungseinheit OERE 25 MASCHEN (Truck Stop, »Der wilde, wilde Westen«) 26 ACHTER 28 TONIC 29 ZAHLLOS und »Zahl! Los!« 32 »um HAARes Breite« 33 FUNDE 35 ILTIS 37 SPESSART 39 HEL 40 REVUE 41 TEENS 42 TRAEUMEN 43 SENDER 44 LOESEGELD Senkrecht 1 HOCHACHTUNG 2 AEONEN 3 HENNA als Haarfärbemittel 4 CRACKER 5 KUHLE 6 THESEN 7 PISTAZIE 8 LACHSALVE 9 MOLCH 10 NEG = negativ 11 LIEBCHEN 12 CHARON 13 EISDIELEN 15 MAKEL 17 FANTAST 18 CHOR 22 RASPEL 27 HASSEN 28 TUTE 30 LIED 31 OSER = nacheiszeitliche Wallberge 33 FRAGE und Antwort 34 DEM in Dia-dem 36 STEG 38 ARE in Shakespe-are 39 HULD

Scrabble SEBASTIAN HERZOG

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Sudoku ZWEISTEIN

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Lebensgeschichte FRAUKE DÖHRING

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Schach HELMUT PFLEGER

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SPIELE


Juli ist 10 Jahre alt.

PRÜFERS TÖCHTER

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Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über sie und seine anderen drei Töchter im Alter von 23, 18 und 16 Jahren

Illustration ALINE ZALKO Zu hören unter www.zeit.de/audio

»Tot, tot, tot, Happy End«

Wir haben Juli gefragt, was für ein Buch sie gerne lesen möchte. Ich finde es wirklich wichtig, dass Kinder lesen. Aber die Kinder selbst sehen das oft anders. Ich glaube, jede Elterngeneration ringt damit, dass Kinder chronisch zu wenig lesen. Meinen Eltern ging es da jedenfalls nicht anders. Mein Vater legte mir die Lektüre von Tom Sawyer und Huckle­berry Finn ans Herz. Er machte immer geltend, dass Bücher Bilder im Kopf zauberten und dass diese Bilder im Kopf viel toller s­ eien als die Bilder, die man im Fernse­ hen sehe. Ich hingegen war der Meinung, dass die Bilder im Fernsehen eigentlich auch schon ganz schön waren. Heute konkurrieren die Bilder aus dem Kopf nicht nur mit denen im Fernsehen, sondern auch mit denen im Smart­ phone. Das macht es nicht leichter. Ich gehe also nicht so vor wie mein Vater, der mir einfach die Bücher antrug, die er selbst als Kind gerne gelesen hatte. Sondern wir Eltern betreiben aufwendige Nachforschungen, was das Kind wohl interessieren könnte, und dann versuchen wir, dieses Interessengebiet mit dem passenden Buch zu flankieren. Juli hat uns aufgeschrieben, was für ein Buch sie interes­ sieren könnte: »Tot, tot, tot, Happy End«. Sie hat ein ge­ steigertes Interesse an allem, was düster ist. Sie kennt jede Folge von Wednes­day, einer Serie, die von einem kleinen, ungeheuerlichen Mädchen handelt. Sie weiß auch bei Dä­ monen Bescheid. Und natürlich ist für sie der wichtigste­ Feier­tag im Jahr Halloween. Juli ist für das friedliche, nette­Leben gerade nicht so zu haben. Ich habe mal ver­ sucht, ihr die verschiedenen Wolkenarten beizubringen. Juli meinte, es gebe ja wohl nichts Langweiligeres als Wolken, die würden einfach nur so am Himmel herum­ wolken. Ich solle ihr lieber etwas von Feuersbrünsten oder Erdbeben erzählen. Mein Einwand, dass Erdbeben zwar sehr interessant ­seien, man es aber nicht jeden Tag mit einem bestimmten Typ von Erdbeben zu tun habe, mit einem bestimmten Typ von Wolke aber eben schon, be­ eindruckte sie leider wenig. Ich mache mir manchmal Sorgen darum, dass Juli so viel Interesse an »tot, tot, tot« hat. Tod und Happy End schlie­ ßen sich gegenseitig aus, finde ich. Dann wieder meine ich, dass Tod und Happy End in der Lebenswelt eines Kindes eben keine Gegensätze sein müssen, weil Kinder das Pri­ vileg haben, von den furchtbaren Seiten des Todes noch nichts mitbekommen zu haben, weil das alles für sie weit, weit weg ist und deswegen nichts ungefährlicher ist als ein wenig Grusel. Warum sollte das für Juli anders sein? Ich habe neulich über die Lebensgeschichte des rumä­ nischen Fürsten Vlad III. gelesen. Er war ein tapferer und listiger Widerständler gegen die Invasion der Türken und ein Förderer der Kultur. Darüber gibt es keinen Film. Aber dass man ihm nachsagte, er sei ein blutrünstiger Vampir: darüber wurden seit 1922 über 400 Filme gemacht. Juli hat als Buch nun Das kleine Böse Buch bekommen. Es handelt von einem Buch, das sich redlich bemüht, so rich­ tig böse zu werden. So wie Juli. Die beiden ergänzen sich ganz gut. Und neulich sagte Juli mir: »Guck mal, Papa, da sind Schäfchenwolken, jetzt wird das Wetter schlechter.« Das hat mich sehr beruhigt. Das Kind ist also doch emp­ fänglich für das öde Herumwolkende.


Was ich gern früher gewusst hätte

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Von Heinz Strunk

Hab keine Angst vor denen, die dich hassen. Aber nimm dich in Acht vor denen, die so tun, als würden sie dich lieben. Dein Gehalt ist die Droge, die dein Arbeitgeber dir gibt, damit du deine Träume vergisst. Wenn euch die Luft ausgeht, reißt euch die Lunge raus, beatmet sie und pflanzt sie euch wieder ein. Emotional verfügbar sein, total und sofort. Manchmal muss man aus der Rolle fallen, um aus der Folie zu rollen. Stark ist, wer mehr Träume hat, als die Realität zerstören kann. Was du heute kannst entkorken,

Du hast vielleicht die Uhr, aber ich

Auch ein polierter Apfel kann innen

das verschiebe nicht auf morgen.

habe die Zeit.

faul sein.

Nichts strahlt heller als die Liebe in

Erfolg ist, wie hoch du springst,

Wer seine Schweißtropfen zählt, wird

den Augen eines Hundes.

nachdem du auf dem

nie Geld zählen.

Boden aufgeschlagen bist. Manch älterer Herr findet leichter Liebe ist wie ein Brot – wenn man es

sich der Turbo-Modus schlecht zünden.

essen will, muss man es jeden Tag Wenn du mit einem Idioten diskutierst,

neu backen.

dann gibt es zwei Idioten.

Wer mit Hühnern rumhängt, gackert, wer mit Adlern rumhängt, fliegt.

Körpergröße und Bauchumfang Andere machen Pausen, ich mache

sollten etwa im Verhältnis zwei zu eins

Das Prinzip höheren Lebens ist

weiter.

stehen.

übender Fleiß.

Hier verraten jede Woche Prominente, was sie erst spät begriffen haben. Heinz Strunk, 61, ist ein deutscher Schriftsteller, Musiker, Schauspieler und Drehbuchautor. Er schrieb unter anderem die Romane »Fleisch ist mein Gemüse« und »Der goldene Handschuh«. Am 6. Oktober startet die Serie »Last Exit Schinkenstraße« (Prime Video) von und mit ihm

Illustration ROBERT RADZIEJEWSKI (Foto Dennis Dirksen)

einen neuen Hut als eine neue Frau.

Mit angezogener Handbremse lässt


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