Zusammenfassung
Robert Walser (1878–1956) ist einer der bedeutenden deutschsprachigen Schriftsteller der Schweiz. Sein Frühwerk fasziniert durch den intensiven Affekt und die traumähnlichen Erlebnisse, sein Spätwerk durch den eigenwilligen Sprachgebrauch und die mikrographisch verkleinerte Sütterlinschrift. Aufgrund einer psychischen Erkrankung verbrachte er seine letzten 27 Lebensjahre in den Psychiatrischen Kliniken Waldau und Herisau. Anhand der Krankengeschichten lässt sich aufzeigen, dass Robert Walser an einer schizophrenen Psychose nach der ICD-10 litt. Es findet sich eine charakteristische Symptomkonstellation, die zur Diagnose einer sprachträge-manierierten Katatonie nach Leonhard führt. Walsers psychotische Erkrankung ist charakterisiert durch einen langzeitstabilen, eng umschriebenen Symptomenkomplex aus Steifheit der Ausdrucksmotorik, Bewegungs- und Unterlassungsmanieren, automatisierten Gewohnheiten (manierierte Komponente) sowie Antriebsminderung, autistischer Unzugänglichkeit und Dauerhalluzinationen (sprachträge Komponente). Mit zunehmender Krankheitsdauer wurde die schriftstellerische Produktivität Walsers spezifisch beeinträchtigt: Das Schriftbild wandelte sich zu einer kaum mehr entzifferbaren Mikrographie, im Schreibprozess kam er gedanklich nur erschwert zum Abschluss und verarmte inhaltlich. Bei der Verlegung von Waldau nach Herisau unterbrach Walser im Alter von 54 Jahren sein Schreiben und war – wohl aufgrund einer Unterlassungsmanier – dann nicht mehr in der Lage, wieder mit dem literarischen Schreiben zu beginnen. Die Analyse der spezifischen Natur von Robert Walsers psychotischer Erkrankung könnte zum erweiterten Verständnis seines schriftstellerischen Werks beitragen, eines literarischen Werks, das auch heute noch ungebrochen fasziniert.
Summary
Robert Walser (1878–1956) is among the most prominent German-speaking writers born in Switzerland. His early writings are fascinating due to his intensive affectivity and oneiric experiences; his late work impresses through his idiosyncratic use of language and his micrographs. Due to a psychotic disease he stayed in Swiss Mental State Hospitals (Waldau and Herisau) throughout the final 27 years of his life. According to his case records Robert Walser suffered from a schizophrenic disorder (ICD-10) and from a combined sluggish/manneristic catatonia according to K. Leonhard. Walser’s psychotic disorder was characterized by a chronic course with sharp-cut symptomatology with stiff postures, repetitive behaviour, movement mannerisms and omissions (manneristic component) complemented by loss of incentive, severe autism and persistent verbal hallucinations (speech-sluggish component). In the late stages his psychopathology affected the process of thinking and writing in a specific manner: his handwriting became illegibly small, and his train of thoughts did not get to the point. At age 54 he stopped writing when transferred from Waldau to Herisau, and subsequently, due to manneristic omission, he was never again able to restart literary writing. The analysis of Robert Walser’s psychotic disease may contribute to a deeper understanding of his literary production, which influenced such classical German authors like Franz Kafka, Hermann Hesse and Robert Musil.
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Danksagung
Herrn Bernhard Echte, dem ehemaligen Leiter des Robert Walser Archivs der Carl Seelig-Stiftung zu Zürich, und Frau Margit Gigerl, seit 2007 Leiterin des Archivs, danken wir für das stets freundliche Entgegenkommen und die Möglichkeit, die Krankenakten von Robert und Ernst Walser einzusehen. Ebenso danken wir Keystone Sales, Zürich, für die Abdruckgenehmigung der photographischen Dokumente.
Interessenkonflikt
Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Partl, S., Pfuhlmann, B., Jabs, B. et al. „Meine Krankheit ist eine Kopfkrankheit, die schwer zu definieren ist“. Nervenarzt 82, 67–78 (2011). https://doi.org/10.1007/s00115-009-2914-y
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