Oktober 2020  /  MAST Foundation Grant of Photography, Bologna

Vom Zwiespalt, vom Bruch und von der Sehnsucht nach Intaktheit

Zur Ausstellung des MAST Foundation Grant of Photography, Bologna

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Wir sehnen uns immer wieder nach Intaktheit. Nach einer intakten Kindheit zum Beispiel, einer intakten Ehe, einer intakten Gemeinschaft, auch nach einem intakten, unversehrten Körper, einer intakten Natur, inzwischen einem intakten Planeten. An den Ursprung dieser Sehnsucht können wir uns nicht erinnern, so sehr wir uns auch bemühen. Sie scheint jedoch eine Grundkonstante unseres Lebens zu sein. Eine genetische oder phylogenetische Prägung unseres Lebens, das in der Sozialphilosophie gerne mit unserer Geburt in Verbindung gebracht wird, mit dem Trennungsschmerz der Geburt und nachfolgenden schmerzlichen Erfahrungen, die wir persönlich und als Gesellschaft schrittweise mit einer grossen Sehnsucht nach Unversehrtheit, nach Integrität, nach Ganzheit zu „überdecken“ versuchen. „Wir rennen nicht dem Tod entgegen, sondern fliehen vor der Katastrophe der Geburt.“ – so spitzte es Emile M. Cioran in seiner Schrift „Vom Nachteil geboren zu sein“ zu. 

Die persönliche Trennung, die individuelle Versehrung erweiterte sich in der Geschichte der Menschheit in mehreren Schritten zu einer allgemeinen grossen Kränkung. Die Entdeckungen von Kopernikus und Galilei, dass die Welt und die Menschheit nicht im Zentrum des Alls liegt, und die Entdeckung des Unbewussten durch die Psychoanalyse haben das Urvertrauen in die Macht des Menschen und die Kraft und Hoheit seiner Subjektivität gebrochen. Wir Menschen müssen uns eingestehen, dass das Subjekt nicht einmal mehr „Herr im eigenen Hause“ ist, dass es sowohl im Unbewussten wie im Bewussten ein Produkt fremder, „dunkler“ Mächte ist (Arnd Pollmann). Die zentrifugalen Kräfte der Moderne – zu denen auch die Auftrennungen von Wohn- und Arbeitsort, von Kapital und Arbeit zählen darf – korrespondieren, schrieb Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so stark mit der Fragmentierung, ja Zersplitterung des Subjekts, dass sie zu einer spezifisch modernen Desintegrationserfahrung des Menschen werden – eine Erfahrung, die das menschliche Bedürfnis nach Ganzheit, nach Unversehrtheit und Integrität wachrüttelt. 

Das hat sich auch in der Postmoderne und in der Gegenwart nicht wesentlich geändert. Während idealistische Kunst die Fantasie, die Hoffnung auf eine neue Ganzheit, auf eine neue Integrität bedient, beschäftigt sich realistisch-zeitgenössische Kunst seit drei, vier Dekaden mit Hinweisen, Hervorhebungen und auch mit der Analyse der Motoren hinter den gesellschaftlichen, sozialen und psychologischen Verwerfungen, unter denen viele Menschen zu leiden haben – letztlich oft auch mit einem darin versteckten Begehren nach Intaktheit und Unversehrtheit. Zeitgenössische Fotografie ist da keine Ausnahme. Junge Künstler und Künstlerinnen halten den Finger oft mit Sarkasmus, ja mit ätzender Schärfe in die Wunden unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirkens und weisen uns selbst da, wo wir im romantisierenden Rückblick auf die Vergangenheit noch Einheit vermutet haben, auf Divergenzen, auf verdeckte Ungerechtigkeiten, auf fatale Tunnelblicke hin, die uns die Vergangenheit und die Gegenwart beschönigen lassen. 

Der MAST Foundation Grant for Photography in Industry and Work gibt alle zwei Jahre fünf jüngeren Bildermachern die Möglichkeit, sich mit dem Feld der industriellen, technologischen Welt und mit Systemen von Arbeit und Kapitel, von Erfindungen, Entwicklungen und Produktionen auseinanderzusetzen. Und oft stossen sie uns mit ihrem neuen Blick auf Ungereimtheiten, auf Verschiebungen, auf Phänomene, vielleicht auch auf Abgründe, die wir bisher übersehen haben. Pablo Pedro Luz zum Beispiel beschäftigt sich in seiner Serie von Strassen- und Schaufensterbildern in Mexiko mit den Verwerfungen im Handel, die lokale Produktions- und Verwertungsprozesse zugunsten globaler Akteure und Prozesse verschwinden lassen. Er folgt mit aufmerksamen, scharfen Augen den übergebliebenen lokalen Geschäften und Kleidermoden, er fotografiert die Geschäfte wie Kleintheater, die Einblick in eine allmähliche verbleichende, verschwindende Volkskultur gewähren. Das Glas der Schaufenster operiert dabei wie die Schnittstelle von bisher und morgen, von Basa Moda und Alta Moda, lokaler Gebrauchsmode und in den Fotografien nicht unsichtbarer globaler Logo-, Brand- und Identitätsmode, die zunehmend alle Main Streets und Broadways der Welt besetzen.

Der Finne Aapo Huhta lässt Bild und Wort aufeinanderprallen. In seiner Bild- und Ton-Installationen reibt sich das bald 200 Jahre alte Bild-Recordingsystem „Fotografie“ an neuen, von Google und Microsoft entwickelten Analysesystemen. Die in den Bildern sich ausbreitende rurale Landschaft Finnlands, mit gewachsenen Dörfern, Traditionen, die weitergegeben werden, mit banalen, einfachen Handlungen, die weit weg sind von den globalen Verhaltensströmen, werden fünfmal von digital gesteuerten und algorithmisch beschwingten Erkennungssystemen analysiert und, verbunden mit Angaben zur Wahrscheinlichkeit von Vorkommnissen in den Fotografien, mit scheppernder Maschinestimme kommentiert. Das Vieldeutige, Ambigue des Gewachsenen wird von Algorithmen in dualer 0-1-Schärfe vermessen - mit dem Resultat, dass hier zwei Welten aneinander vorbeigleiten, ohne viel Wesentliches voneinander wahrzunehmen.

Chloe Dewe Mathews‘ Video- und Fotografie-Installation „Für ein paar Euro mehr“ verknüpft auf entspannte und elegante Weise drei, vier Zeiten und drei, vier grundsätzlich verschiedene Industriezweige mit unterschiedlichen sozialen und monetären Strukturen. Schauplatz ist das gigantische Mar de Plástico, das Plastikmeer, südwestlich von Almeria zwischen dem Meer und der Sierra Nevada gelegen, diese rund 200 Quadratkilometer grosse Agro-Industrie-Zone, in der die Hälfte des Früchte- und Gemüsebedarfs von Europa wächst. Sie ist die weltweit grösste Anbaufläche unter Folie. Pro Jahr werden hier rund 3 Millionen Tonnen Treibhausgemüse produziert. Zwischen den einheimischen Andalusiern und den meist afrikanischen Gastarbeitern kommt es immer wieder zu grossen Spannungen. Die Gegend war arm, bis hier in den 1960er Jahren die systematische Nutzung des Landes begann. Vorher wurde hier während 100 Jahren eine grosse Blei-, Silber- und Gold-Mine ausgebeutet. Ebenfalls in den 1960er Jahren filmte Sergio Leone in den Überresten der Mine seine berühmten Spaghetti-Western. Heute ist das ehemalige Filmset Ziel vieler Touristen. Chloe Dewe Mathews lässt in ihrem Video Maruf, einen afrikanischen Wanderarbeiter, wie eine Sonde, wie eine Drohne, durch die gänzlich verschiedenen Welten und Zeiten, die vier Industriewelten Agrarkultur, Mine, Film und Tourismus schreiten und gleiten, verbunden mit eindrücklichem Ambient Sound.

Das intakte Leben ist vor allem eine Fantasie, eine Sehnsucht, ein Verlangen. Weil es in der jeweiligen Gegenwart der Menschen nur selten und auch nur annährend erreicht werden kann, wird es oft in die Vergangenheit, in die mythische Vergangenheit eines Lebens, eines Volkes, einer Zeit projiziert. Das ist immer ein gefährliches Spiel, denn es kann kaum je überprüft, dafür aber – in Vorstellungen von Leitkultur, von Nationalkultur – überhöht und missbraucht werden. Alinka Echeverrias dreiteiliges Werk ist zugleich Hymne und Anklage. Sie feiert einerseits „Grace“ in einer LED Animation nach einer Fotografie von Berenice Abbott. Grace Brewster Murray Hopper war eine US-amerikanische Informatikerin und Computerpionierin. Sie war im letzten Dienstgrad Flottillenadmiral der US Navy Reserve. Andererseits feiert Echeverria „Hélène“ – ein, wie sie selbst sagt, common french name in the period of the silent era of French cinema where young working class girls were given the job of splicing. Mit griechischer Wurzel in “ēlē“ meaning light, torch, bright – in einer Installation mit verschiedenen bedruckten Glasplatten, die auf Podesten präsentiert werden. Die Abbildungen verweisen auf die Fingerfertigkeit und die so zentrale Meisterschaft der Filmcutterinnen in der Geschichte des Films. Und schliesslich feiert sie auch “Ada”, Ada Lovelace, Augusta Ada King-Noel, Countess of Lovelace, die Mathematikerin, die oft als erste Programmiererin bezeichnet wird, in einem riesigen Mosaik, einer mehrteiligen Collage. Sie feiert diese drei realen und erfundenen Figuren, stellvertretend für eine Geschichte der versteckten Frauenarbeit (in Film, Fotografie und Computertechnologie). Insofern ist diese Feier zugleich als Anklage an die männlich dominierte Geschichtsschreibung zu verstehen –verbunden mit der Frage nach der Zukunft der Frau in der Arbeit von morgen, in der Industrie 4.0.

Maxime Guyon hingegen spielt weniger mit dem Bruch, mit dem Zwiespalt, sein Geschäft ist vielmehr die Überhöhung, die Verdoppelung, Verschmelzung. „Die technische Qualität der Fotografien entspricht der technologischen Qualität, die erforderlich ist, um diese grossen Metallmassen vom Boden und in den Flug zu heben. In den Bildern von Maxime Guyon ist alles scharf abgebildet, von den ausgedehnten Böden bis zu den Details, vom Skelett einer ganzen Kabine bis zur kleinsten Niete. Es gibt ein Gefühl von Kontrolle, von einer fragmentierten, aber totalen Vision, künstlich, fast fetischistisch.“ Das schreibt Milo Keller in seinem Begleittext in diesem Buch, bevor er festhält: „Künstliches Licht betont den skulpturalen Charakter der Formen in einer studierten, parametrisierten und kalibrierten ästhetischen Virtuosität, die die sterile technische Darstellung übertrifft und ein formales Register auferlegt, das sowohl attraktiv als auch befremdlich ist. Wir befinden uns in einem globalisierten, homogenisierten, supranationalen Raum.“ Maxime Guyons hyperrealistische Bilder versetzen uns in einen ebenso konkreten wie unwirklichen Raum, in dem, so scheint es, Idealität und Realität nicht mehr getrennt sind, in der Trauer und Erfüllung im ewigen Versprechen des technologischen Heils aufgerechnet und aufgehoben werden. Leben und Technologie, wird in diesen Bildern angedeutet (vielleicht behauptet), werden verschmelzen, werden eins sein – nach ihrer Reise in die mögliche Zukunft einer synthetischen Intaktheit.