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„Ich war abhängig“

Unsere Interviewserie zum Thema »Schmerzmittel« startet mit Dieter Prestin. Der ehemalige FC-Spieler über den täglichen Gang zum Tablettenschrank, künstliche Kniegelenke und Ärzte als Erfüllungsgehilfen.
Foto: Mareike Foecking

Dieter Prestin, von Beginn Ihrer aktiven Zeit  bis heute wurden Sie ca. 30 Mal operiert. War das Spiel damals insgesamt härter, um nicht zu sagen: brutaler?

Die Zeiten waren anders. Was damals eine gelbe Karte war, ist heute eine dunkelrote, es gab versteckte Prügeleien auf dem Spielfeld und Verteidiger waren daran interessiert, dass Gegner Respekt vor ihnen hatten. Für einen defensiven Spieler gehörte ein gesundes Tackling zum Grundhandwerk.



Geben Sie uns doch mal einen Überblick über Ihre Leidensgeschichte?

Mit 17 hatte ich den ersten Meniskusschaden, noch bevor ich meinen ersten Profi-Vertrag beim 1. FC Köln unterschrieben hatte. Dann hatte ich einen Trümmerbruch im Wadenbein, es ging regelmäßig weiter mit Bandrupturen und Meniskusschäden.

Heute haben Sie zwei künstliche Kniegelenke, zwei versteifte Hand- und ein steifes Sprunggelenk. Spätschäden Ihrer Fußballerkarriere?

Der Grund für meine heutige Situation ist, dass ich oft nicht fit in die Spiele gegangen bin. Wenn ich eine Bandruptur hatte, wurde das getaped und ich habe gespielt, teilweise mit schmerzstillenden Spritzen. Man fängt an, falsch zu belasten und verschlimmert die Beschwerden. Ich habe in dieser Zeit praktisch gar nicht trainiert. Wenn man das mehrere Wochen hintereinander tut, fehlt einem zusätzlich die körperliche Fitness.

Sie haben nicht trainiert und wurden in der Bundesliga eingesetzt?

Ich habe teilweise sechs Wochen nicht trainiert und trotzdem gespielt. Eingesetzt ist vielleicht das falsche Wort, denn ich als Spieler war in diesem Vorgang die treibende Kraft. Ich bin zum Doc gegangen und sagte: »Ich will spielen, was können wir tun?« Ich habe ihn also mehr oder weniger genötigt, mich fit zu spritzen, weil mir das Spiel so wichtig war.

Wie lang währt die Liebe zum Fußball, wo fangen Schmerzen an, unerträglich zu werden?

Ich habe mich nicht nur mit meinen Gelenken so verhalten. Einmal habe ich sechs Wochen mit einem Rippenbruch gespielt. In einem Spiel zog ich mir einen Nasenbeinbruch zu, ließ mich sechs, sieben Minuten auf dem Feld behandeln, man versuchte die Blutung zu stoppen, und in der Halbzeit hat man mich dann mal eben ohne Betäubung genäht. Da gab es keine Maske und ich wusste ganz genau: Nach dem Spiel wird die Nase wieder gerichtet. Ich will damit nicht sagen, dass wir die »Harten« waren, aber wir hatten eine andere Identifikation mit dem Verein und insbesondere den Fans.

Für uns klingt das eher nach modernen Gladiatorenkämpfen?

Wenn ein Europapokalspiel bevorstand, wollte ich das spielen, zur Not auch mit dem Kopf unterm Arm. Ich habe rund 250 Pflichtspiele für den 1. FC Köln gemacht, von denen ich bestimmt 30 oder 40 nur durchgehalten habe, weil ich vorher mit schmerzstillenden Spritzen versorgt worden war.

Waren das Mittel, die heute noch zulässig sind?

Heute ist die Situation anders. Wenn wir damals Schmerzmittel bekommen haben, dann war das nicht meldepflichtig. Wenn heute schmerzhemmende Mittel wie Cortison gespritzt werden, muss das der NADA gemeldet werden.

Das heißt, Sie haben auch 40 Wochen beim Training am Rand gestanden und zugeschaut?

Man kann sich immer irgendwie betätigen. Mit einer Bandverletzung geht man in den Kraftraum, bei Achillessehnenverletzungen wird es heftiger, da musste ich häufiger um sechs aufstehen, damit ich um zehn vernünftig gehen konnte.

Wie wurden Sie von Ärzten beraten?

Die Ärzte hatten einen ganz anderen Status. Sie waren weniger beratend und aufklärend tätig, sondern eher unsere Erfüllungsgehilfen, die uns legitimierten, dass wir sagen konnten: »Gebrochen, egal, ich spiele trotzdem«. Die angeordneten Pausen beschränkten sich sowieso zumeist auf das Training, gespielt hat man trotzdem.

Unter Schmerzen?

In der Regel haben die Schmerzmittel eine Stunde oder etwas länger gehalten, aber man konnte nicht einfach in der Halbzeit nachspritzen. Gegen Ende des Spiels wurden die Schmerzen dann also immer extremer.

Inwieweit wurden zu Ihrer Zeit auch regelmäßig Schmerztabletten eingeworfen?

Gerade wenn es um Gelenkverletzungen geht, um Knorpel und Reizungen, hat man Voltaren genommen. Das wurde später durch Vioxx ersetzt. Aber den konkreten Schmerz hat man nicht mit irgendwelchen Tabletten bekämpft.

Wurden diese Mittel zu Ihrer aktiven Zeit offen in der Kabine konsumiert?

Nicht in der Kabine, aber viele Spieler haben Voltaren damals standardmäßig eingenommen.

Das heißt?

Jeden Tag.

Die Ärzte haben nichts dagegen unternommen?

Wir waren Profis, der Arzt war in aller Regel beim Verein angestellt und er hatte dafür Sorge zu tragen, dass die Jungs am Wochenende spielen können. Hennes Weisweiler war jedes Spiel wichtig, bei dem haben sich viele nicht getraut zu sagen: »Ich kann nicht«. Mir wurden einmal freitags zwei vereiterte, aber noch funktionierende Zehnägel gezogen, und ich habe am Samstag gespielt.

War Ihr damaliger Schmerzmittelgebrauch aus heutiger Sicht eine Form von Doping?

Das kann man so nicht sagen. Denn es ging allein um das Hemmen von Schmerz, nicht um leistungsfördernde Substanzen.

Beschreiben Sie doch mal Ihren Tagesablauf als Profi. Gab es bestimmte Rituale?

Zu Ende der Karriere bin ich morgens mit Schmerzen aufgewacht, habe erstmal Eis auf die Verletzung gepackt, dann humpelte man irgendwann zum Training. Vor dem Training wurde das Gelenk dann getaped, damit das Ganze dann stabilisiert war. Oft hatte ich zu einer Bandruptur noch einen Kapselschaden, dann musste man zusehen, dass ich schnell die Schwellung heraus bekomme. In solchen Phasen habe ich natürlich nicht jede Laufeinheit mitgemacht, aber zum Spiel musste es, mit Spritze und Tape, wieder gehen.

Wie macht sowas die Psyche mit?

Es gab schon Phasen, da fragte ich mich, was ich meinem Körper da eigentlich antue. Aber ich habe meinen Job und meinen Verein, mit dem ganzen Umfeld, geliebt. Es kam immer wieder der nächste Samstag – oder auch mal ein Europacup-Mittwoch – und dafür wurde letztlich alles zurückgestellt. Für längere Zeit bin ich psychisch nie in ein Loch gefallen.

Herrschte unter Trainern wie Hennes Weisweiler gemeinhin das Motto: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«?

Ganz bestimmt.

Wie sah das in der Praxis aus. Hier die harten Knochen, da die Weicheier?

Bei Spielern wie Toni Schumacher oder mir war normal, dass es keine Diskussionen über Einsätze gab. Dann gab es natürlich auch »Weicheier«, denen wir gesagt haben: »Reiß dich mal zusammen und hör mit der Heulerei auf«. Schließlich ist es immer eine Frage, wie sensibel man ist. Und wenn ich im Jahr vier Verletzungen habe, lerne ich anders damit umzugehen, als wenn ich nie angeschlagen bin.

Welche Ihrer Verletzung war die Schlimmste?

Während der Karriere war das mit den Knien alles nicht so dramatisch. Aber wenn man zur Ruhe kommt und die Muskulatur zurückgeht, werden die Kniegeschichten extremer. Ohne vernünftige Oberschenkelmuskulatur können sie die Knie nicht mehr stabilisieren.

Gab es einen Moment in Ihrer Karriere, in dem Sie wussten, dass es ohne Schmerzmittel nicht mehr geht?

Je häufiger man Schmerzmittel nimmt, desto lockerer geht man damit um. Aber ich bin nie zum Arzt gegangen und habe gesagt: »Ich brauche was.« Ich habe auch nie eine Tablette Voltaren prophylaktisch genommen, wenn die Verletzung schon abgeheilt war. Bei mir war der Schmerzmittelgebrauch immer vom akuten Fall abhängig. Nach der Karriere war das anders: Von Vioxx war ich schon auf gewisse Weise abhängig. Einige Zeit war für mich der erste Gang nach dem Aufstehen der zum Tablettenschrank.

Warum?

Um den Schmerz zu betäuben.

Vioxx wurde 2004 vom Markt genommen, weil es das Herzinfarkt und Schlaganfallrisiko erhöht.

Wenn ich es zwei Tage nicht nahm, haben meine Gelenke extrem weh getan. Als es von heute auf morgen vom Markt genommen wurde, es gab wohl einen Todesfall in den USA, war mein erster Gedanke nicht: »Oh Gott, hoffentlich kriege ich keinen Schlaganfall«, sondern »Verdammt, wie viel habe ich noch von dem Zeug?«. Aus den Apotheken war es sofort verschwunden. Dann habe ich es über Umwege geschafft, noch ein Kontingent von 300 Tabletten zu bekommen. Ich wusste einfach nicht, wie es ohne dieses Zeug weitergehen soll. Damals habe ich mir gesagt: »Lieber einen Schlaganfall, damit alles vorbei ist, als auf diese Medikamente verzichten und die Schmerzen ertragen«.

Der pure Horror.

Das war es auch. Sie glauben gar nicht, wie schön es ist, wenn Sie dieses Zeug bekommen und den Tag halbwegs beschwerdefrei verbringen konnten. Das Verbot von Vioxx war für mich ein Schock und ich bin in Panik geraten. Ein Fußballprofi beschäftigt sich ja eher mit den orthopädischen Dingen als mit den internistischen.

Wie kann man mit solchen Schmerzen umgehen?

Über den Kopf. Meine Ärzte haben mir empfohlen, mich mit meinen Knien zu bewegen. Deshalb habe ich mir einen Hund gekauft, der mich zur Bewegung gezwungen hat. Erst als es bei meinen Knien so war, dass ich bei den Spaziergängen schon nach zehn Minuten eine Blockade spürte und das Knie steif wurde, dachte ich über eine Prothese nach. Ich habe auch jahrelang mit mir gerungen, das Sprunggelenk zu versteifen, weil das immer etwas Endgültiges ist. Schließlich gilt man nach so einer Operation gemeinhin als Krüppel. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich zwar eingeschränkt bin, aber nach einer Versteifung schmerzfrei bin. So war das mit dem Knie auch: Meine erste Prothese ist phänomenal geworden, ohne Narbe könnte man kaum sagen, dass es eine ist. Sie glauben mir gar nicht, wie ich mich auf meine zweite Operation gefreut habe. Keine Medikamente mehr, keine schmerzstillenden Geschichten: Die Lebensqualität steigt enorm.

Hat der lange Gebrauch von Schmerzmittel internistische Folgen für Sie gehabt?

Gott sei Dank nicht. Ich lasse mich regelmäßig durchchecken und bei meiner letzten Operation wurde mir attestiert, dass ich deutlich fitter bin, als noch vor zwei Jahren.

Sie haben also bis an Ihr absolutes Limit gespielt. Hatten Sie nie Zweifel, dass Ihre Selbstlosigkeit nicht folgenlos bleiben kann?

Das muss man immer an Verletzungen fest machen. Wenn der Arzt sagt, wir machen eine Athroskopie im Knie, ist das eine Sache von ein, zwei Wochen. Aber ich hatte Beschwerden wie eine Achillessehnenruptur, wo man sich schon Gedanken macht. Der Aufwand um wieder auf 100 Prozent zu kommen, wird mit zunehmendem Alter immer größer. Als mir am 12. September 1987 beim Spiel gegen Bayern München die Achillessehne riss, dachte ich noch auf dem Platz: Jetzt ist alles vorbei. Und auf der Tribüne riefen 60.000: »Dieter, wir brauchen dich«.

Passierte es durch Fremdeinwirkung?

Nein, ich bin bei einem Sprint kurz hinter der Mittellinie in ein Loch getreten und dann hat es geknallt. Es war so laut, dass man es auf der Tribüne gehört hat. Damals war klar, dass man mit einer Achillessehnenruptur mindestens ein halbes Jahr ausfällt. Ich war schon 31, da kamen schnell Gedanken, es könnte vorbei sein. Ich habe es dann noch ein Dreivierteljahr versucht, aber die Sehne hat sich immer wieder entzündet. Aber wir haben 3:1 gewonnen, dass war das Wichtigste. Ein wichtiger Sieg und ich war Kapitän.

Ihr letztes Spiel.

Ja, das war es. Aber so läuft es eben und es war immer meine Überzeugung: Als Profi werde ich gut bezahlt, also muss ich einen Teil der Gesundheit dafür opfern.

Dieter Prestin, wie geht es Ihnen heute?

Momentan leide ich noch ein wenig unter den Folgen der zweiten Operation des künstlichen Kniegelenkes. Auch nach neun Wochen muss ich noch sehr viel Reha machen. Und ich kämpfe für mein Ziel: Ich will wieder Ski fahren. Schon nach der ersten Operation hat mir das keiner geglaubt, aber ich habe es geschafft und danach allen die Fotos vom Hang geschickt.

Mit zwei künstlichen Kniegelenken und einem steifen Sprunggelenk können Sie noch Ski fahren?

Das Sprunggelenk stört beim Ski nicht, damit fiel anfangs nur das Treppen steigen schwer.

Würden Sie alles noch einmal genauso machen?

Auch aus heutiger Sicht war mein Leben als Profi ein Traum und ich würde es genauso machen. Aber ich würde versuchen, die Medizin intensiver mit einzubauen und mich mehr über die Gefahren von Spätfolgen zu informieren. Das war damals kaum möglich. Ich hätte mir gewünscht, dass die Medizin zu meiner Zeit schon weiter gewesen wäre.


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Die umfangreiche Reportage »Gib mir die Pille – Im Leben eines Profis ist Gevatter Schmerz ein treuer Begleiter. Wegen des hohen Erfolgsdrucks bleibt aber kaum Zeit, dass ein Spieler seine Verletzungen auskuriert. Der Griff zu Schmerzmitteln ist für viele Profis längst Gewohnheit« von Tim Jürgens gibt es in 11 FREUNDE #91, ab 28. Mai im Handel.