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InterviewHumanitäre Lage im Bürgerkriegsland

„Für viele Syrer ist die Grenze des Ertragbaren überschritten“

Die Folgen des verheerenden Bebens stürzen die vom Bürgerkrieg geschundenen Menschen noch weiter ins Elend, sagt Karin Bräuer, Referentin für Syrien beim Aachener Hilfswerk Misereor.

Retter und Anwohner durchsuchen im syrischen Harem nahe der Grenze zur Türkei die Trümmer eingestürzter Gebäude nach Überlebenden.
Retter und Anwohner durchsuchen im syrischen Harem nahe der Grenze zur Türkei die Trümmer eingestürzter Gebäude nach Überlebenden. Foto: Ghaith Alsayed

Frau Bräuer, die Lage im nordsyrischen Katastrophengebiet ist noch schlimmer als in der Türkei. Was hören Sie von Ihren Partnern vor Ort?

Karin Bräuer: Die Situation ist tatsächlich katastrophal. Nach zwölf Jahren Bürgerkrieg waren die Kräfte schon vorher aufgezehrt, die Menschen in Syrien leiden seit langem unter zunehmender Verarmung. Mit dem Erdbeben ist die Grenze des Ertragbaren jetzt für viele überschritten.

Woran fehlt es jetzt am meisten?

Bräuer: Jetzt geht es erst einmal um die Not- und Erstversorgung. Gebraucht wird fast alles – von Decken über Kleidung, Matratzen und Babynahrung bis zu Windeln und Heizmaterial. Und vor allem darum, die Hilfsgüter überhaupt ins Land zu bringen. Während die internationale Hilfe für die Türkei gut angelaufen ist, bleibt Syrien aufgrund der schwierigen politischen Gemengelage ein Stück außen vor. Hier kann Misereor auf die langen bestehenden Partnerschaften mit Organisationen vor Ort aufbauen.

Mit Bab al-Hawa ist derzeit nur ein einziger Grenzübergang zur Türkei offen, über den Hilfe auch in nicht von Damaskus kontrollierte Gebiete kommen kann. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock drängt das Assad-Regime deshalb zu einer Öffnung aller Kontrollstellen. Halten Sie das für realistisch?

Bräuer: Diese Forderung stellen wir Hilfsorganisationen schon seit langem. Der Zugang zu der jetzt vom Beben schwer getroffenen Region Idlib im Nordosten ist durch das russische Veto im UN-Sicherheitsrat weitgehend blockiert. Moskau will damit erreichen, dass alle Lieferungen über die von Assad kontrollierten Gebiete ins Land gelangen, um darüber das Regime zu stärken und weiterhin Einfluss nehmen zu können. Auf diese Weise wird humanitäre Hilfe politisch instrumentalisiert. Hinzu kommt, dass auch der Übergang Bab al-Hawa durch das Erdbeben schwer beschädigt worden ist, was die Versorgung noch schwieriger macht.

Auch aus Syrien kommen, zum Beispiel vom Roten Halbmond, Forderungen, die Sanktionen gegen das Regime von Baschar al-Assad aufzuheben. Lassen sich die Beschränkungen angesichts der Not noch verantworten?

Bräuer: Man kann nicht sagen: Wenn die Sanktionen des Westens aufgehoben sind, wird sich die Lage schlagartig verbessern. Denn die Sanktionen sind ja nur die eine Seite der Medaille, zudem ist humanitäre Hilfe davon ausgenommen. Auch das syrische Regime muss sich bewegen. Also endlich den ungehinderten Zugang von Hilfsgütern in alle Regionen Syriens zu ermöglichen, auch zu der letzten von Aufständischen kontrollierten Region Idlib, den letzten Rebellengebieten im Nordwesten und die Lieferung von Hilfsgütern über alle vier Grenzübergänge im Norden erlauben. Auf mittlere Sicht braucht Syrien einen politischen Prozess, um die tiefen Gräben durch den jahrelangen Bürgerkrieg zu überwinden.

Erst die Bomben, jetzt das Beben: Die Katastrophe trifft eine traumatisierte Gesellschaft. Was macht das mit den Menschen?

Bräuer: Schon im Dezember beschrieb einer unserer Partner die Stimmung im Land als lähmend bis äußerst fragil. Rund 15 Millionen Syrerinnen und Syrer sind mittlerweile auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Menschen verharren angesichts von Gewalt und Not in einer Art von Starre, Hoffnungslosigkeit macht sich immer weiter breit. Und dann kam auch noch Corona und Cholera hinzu. Langfristig müssen unsere Partner vor Ort, neben der Sicherung der Grundbedarfe für die Menschen mit Lebensmitteln, Medikamenten und Heizmaterial, auch Unterstützung bei der Instandsetzung von Wohnraum, im Bereich Bildung und psychologischen Beistand leisten. Das gilt insbesondere für die oft traumatisierten Kinder und Jugendliche.

Was können Sie als Hilfswerk von Deutschland im Moment leisten?

Bräuer: Wir arbeiten mit unseren Partnern vor Ort seit mehr als zehn Jahren zusammen. Sie können die Lage sehr gut einschätzen und sehen genau, wo der Bedarf am größten ist.

Die Hilfsorganisationen rufen zu Spenden für die gesamte Region auf, auch für Syrien, trotz der Gewalt und Unterdrückung im Land. Ist das ein Problem?

Bräuer: Es macht keinen Sinn, die Erdbebenopfer jetzt gegeneinander auszuspielen. Die Türkei hat ja in der Vergangenheit bereits 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Gerade in den Nordwesten von Syrien gelangt derzeit allerdings so gut wie keine Hilfe. Deshalb ist es wichtig, die Spenden dort einzusetzen, wo sie am dringendsten benötigt werden, und nicht nach Ländern zu unterscheiden. Die Menschen in Syrien sind mehr denn je auf internationale Unterstützung angewiesen.