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79 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hg.) Auf neuen Wegen ∙ ∙ ∙ ∙ Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis 35. Jahrestagung des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache an der Freien Universität Berlin 2007 Band 79 Materialien Deutsch als Fremdsprache Universitätsdrucke Göttingen Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hg.) Auf neuen Wegen This work is licensed under the Creative Commons License 2.0 “by-nc-nd”, allowing you to download, distribute and print the document in a few copies for private or educational use, given that the document stays unchanged and the creator is mentioned. Commercial use is not covered by the licence. erschienen als Band 79 in der Reihe „Materialien Deutsch als Fremdsprache“ in den Universitätsdrucken im Universitätsverlag Göttingen 2008 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hg.) Auf neuen Wegen Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin Materialien Deutsch als Fremdsprache Band 79 Universitätsverlag Göttingen 2008 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Die „Materialien Deutsch als Fremdsprache“ sind eine Reihe des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache e.V. (FaDaF), in der Tagungsergebnisse, Dissertationen und andere wichtige Einzeldarstellungen aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache veröffentlicht werden. http://www.fadaf.de/de/Publikationen/mat_daf/ Dieses Buch ist nach einer Schutzfrist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den OPAC der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar. Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Es ist nicht gestattet, Kopien oder gedruckte Fassungen der freien Onlineversion zu veräußern. Satz und Layout: Beate Gorny © 2008 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-940344-38-0 ISSN: 1866-8283 Inhalt 1 Inhalt Barbara Krischer, Gabriela Leder, Christoph Chlosta Vorwort IX Empirische Forschung im Bereich DaF Claudia Riemer DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 1 Ewa Andrzejewsa Aneignung von fremdsprachlicher deutscher Lexik im frühen Schulalter. Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im grundschulischen Kontext 17 Magdalena Pieklarz Zur Erforschung von Stereotypen in der Fremdsprachendidaktik – ein geschichtlicher Überblick über Forschungsansätze und Darstellung eines Forschungsprojektes 35 Anastasia Adybasova Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen in einem Eltern-Kind Deutschkurs mit russischsprachigen Kindergartenkindern 53 Sevilen Demirkaya, Nazan Gültekin Die Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 65 Sonja Altmüller Sprachliche Formeln in der Lernersprache von Kindern mit Migrationshintergrund 83 VI Inhalt Grammatik – Theorie und Praxis für den DaF-Unterricht Ruth Albert Beurteilung der Qualität von Grammatiken – ein wichtiges Ausbildungsziel für DaF-Studierende 93 Isolde Mozer Der Artikel, die Artikelunlust, das Artikellernen. Ein methodischer Voschlag zur Grammatik 109 Sebastian Chudak Training von Lernstrategien und -techniken für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken für den DaF-Unterricht 125 Mi-Young Lee Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln – Neue didaktische Perspektiven im DaF-Unterricht 141 Susanne Krauß, Sabine Jentges Spielerisch Grammatik entdecken und festigen 159 Gisella Ferraresi Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis 173 Winfried Thielmann Schon – zu einer Partikel und ihrer Interaktion mit anderen sprachlichen Mitteln und Redehintergründen 187 Fachsprache und ihre Vermittlung Judith Theuerkauf Ingenieurstudenten schreiben Fachtexte – Erfahrungen mit einem internationalen und interdisziplinären Ansatz 197 Stanka Murdsheva Fachsprachenunterricht im Rahmen eines deutschsprachigen Unterrichts an der TU Sofia, Bulgarien 209 Niina Lepa, Katrin Koorits E-teaching und Fachsprachenvermittlung im Rahmen der BA/MA-Umstellung: Die Auslandsperspektive zwischen Tradition und Neubeginn am Beispiel Tartu / Estland 221 Elke Langelahn „Zunächst ist zu fragen, ob ... man das Gutachtenschreiben nicht doch lernen kann“ – das Jura-Fachsprachenangebot an der Universität Bielefeld 227 Inhalt VII Silke Jahr Sprachhandlungstypen in Fachtexten und deren Vermittlung im DaF-Unterricht 237 Karl-Hubert Kiefer Fallstudien – zur Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente im Unterricht Berufsdeutsch (Wirtschaft) für Lerner ohne betriebswirtschaftliche Vorkenntnisse 247 Gesprochene Sprache Reinhard Fiehler Gesprochene Sprache – ein „sperriger“ Gegenstand 261 Klaus Vorderwülbecke Sprache kommt von Sprechen – Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht 275 Christa Heilmann Kriterien und Standards der Mündlichkeit im DaF-Unterricht 293 Elisabeth Venohr Wissenschaftliches Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen in verschiedenen Textsorten mündlicher Kommunikation 305 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo Wie komm ich nur zu Wort? Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 323 Wolfgang Rug Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 343 Ralf Bernick, Minka Hoheisel Podcasting: Methodische Aspekte beim Einsatz eines neuen Mediums im DaF-Unterrricht. Ein Erfahrungsbericht 373 Klaus Geyer der, die, DaF – linguistische Perspektiven auf ein vermeintlich umgangssprachliches Pronomen als Lerngegenstand für Deutsch als Fremdsprache 381 Praxisforum „Unterricht“ Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende an der Universität Bielefeld 401 VIII Inhalt Regina Freudenfeld Sprachmittlung im interkulturellen Kontext: Mehrsprachigkeit als Chance für DaF/DaZ-Studierende 431 Sandra Ballweg VIRTEX – Lehr- und Lernmaterialien für den Fachsprachenunterricht in Hotel und Gastronomie 443 Hansjörg Bisle-Müller, Henry K. Ostberg Projektarbeit Sprachpraxis: Erkundungen bei städtischen Entscheidungsträgern. Ein neues Konzept für den Internationalen Sommerkurs des Sprachenzentrums der Universität Augsburg 453 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork Texte lernerorientiert auswählen. Folgerungen aus einer quantitativen Studierendenbefragung für die Textauswahl und Textarbeit im universitären Fremdsprachenunterricht 463 Vorwort 1 Vorwort Vom 31.05. bis zum 02.06.2007 fand die Jahrestagung Deutsch als Fremdsprache in Berlin statt, die der Fachverband Deutsch als Fremdsprache gemeinsam mit der ZE Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin durchführte. Mit fast 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern fand die Tagung große Resonanz. Ein Grund dafür war sicher das vielversprechende Leitmotiv der Tagung: ‘Auf neuen Wegen’. In diesem Motto spiegelte sich zum einen die allerorts spürbare Umbruchsituation in der Bundesrepublik Deutschland wider, die auch im bildungspolitischen Bereich unverkennbar ist. Zum anderen wurde – dem Motto entsprechend – ein breitgefächerter Aufriss der heutigen Aspekte des Faches „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ geboten: Das Spektrum der Beiträge umfasste Untersuchungen zu Elternkursen, zur frühkindlichen Sprachförderung im Inland wie Vorschläge zu spezifischen Post-DSH-Angeboten an Hochschulen, alternativen Methoden der Grammatikvermittlung bis zu Untersuchungen von Ritualen und Hierarchien in Gesprächsabläufen. Die große Resonanz und das nachhaltige Interesse an den neueren Entwicklungen der jeweiligen Aspekte des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache spiegelte sich nicht zuletzt auch in der anhaltenden Nachfrage freiberuflicher Dozentinnen und Dozenten nach Tageskarten wider. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer – so schien es – wollten sich in Zeiten der Neu- und Umorientierung vor Ort ein möglichst genaues Bild zukünftiger Entwicklungstendenzen verschaffen. Unübersehbar war in diesem Zusammenhang der immer größere Raum, den die Ausrichtung Deutsch als Zweitsprache in der Zukunft einnehmen wird. Offensichtlich ist, dass es in diesem Kontext bedeutende gesellschaftliche Aufgaben gibt. Die in diesem Bereich Verantwortlichen – seien sie nun Lehrende, Forschende oder Verwaltende – sehen sich zunehmend mit großen Herausforderungen konfrontiert, auf die man sich X Vorwort umfassend vorbereiten möchte und muss. So stießen die Beiträge in diesem Kontext nicht nur auf ausgesprochen reges Interesse, sondern fanden auch Wiederaufnahme und Weiterführung in der Folgetagung 2008, die unter dem Motto DaF integriert: Literatur: Medien: Ausbildung angekündigt ist. In den Themenschwerpunkten Ausbildung und Integrationskurse werden Fragestellungen wieder aufgenommen und vertieft, die auf der Jahrestagung an der Freien Universität Berlin bereits angesprochenen wurden: Integration der Mitbürgerinnen und -bürger mit Migrationshintergrund durch bessere Ausbildungs- und damit Arbeitsmarktchancen. Auf der Jahrestagung 2007 wurden – was Ausrichtung und Themenwahl anlangt – ein Gespür für die Bedürfnisse der Zeit vermittelt, neue Erkenntnisse veröffentlicht und aktuelle Probleme im Bildungsbereich aufgegriffen und diskutiert. Im Rahmen des oben skizzierten Gesamtkonzepts der Tagung wurden folgende Themenschwerpunkte angeboten: 1. Empirische Forschung im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Gegenstand dieses Themenschwerpunktes war es, aktuelle empirisch fundierte Theorien und Modelle zu Aspekten des Erwerbs, der Rezeption und Produktion der deutschen Sprache vorzustellen. Nachgegangen wurde u.a. der Frage nach dem (frühkindlichen) Erwerb des Deutschen als Zweitsprache, den Gesetzmäßigkeiten beim Erwerb komplexer Äußerungsstrukturen in der Zweitsprache Deutsch, Maßnahmen der vorschulischen Sprachförderung von Migrantenkindern, den Bedingungen für den schulischen Erwerb fremdsprachlicher Lexik, Möglichkeiten und Grenzen der Analyse von Lernerkorpora im Rahmen der Lernerkorpuslinguistik etc. 2. Grammatik – Theorie und Praxis für den DaF-Unterricht Diskutiert und ausgelotet wurden Möglichkeiten und Grenzen alternativer Methoden der Grammatikvermittlung vor dem Hintergrund aktueller kognitiver, linguistischer bzw. didaktischer Konzeptionen. Diskutiert wurden u.a. auch neue Verfahren des Trainings von Lernstrategien- und -techniken für die Grammatikarbeit sowie Vermittlungsansätze in ausgewählten DaF-Lehrwerken. 3. Fachsprache und ihre Vermittlung In diesem Themenschwerpunkt wurden einerseits zahlreiche Beiträge zur fachsprachlichen Vorbereitung ausländischer Studierender auf ein Studium in der Bundesrepublik Deutschland angeboten. Hier nahm die Frage nach der inhaltlichen wie organisatorischen Verzahnung der fachsprachlichen Vorbereitung mit der fachlichen Ausbildung der Studierenden einen zentralen Stellenwert ein. Andererseits wurde der Blick auf die Situation der in der Bundesrepublik lebenden jungen Lerner mit Migrationshintergrund gelenkt. In diesem Zusammenhang wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, diesen Lernern verstärkt sowohl berufsbezogenen als auch fachsprachlichen Förderunterricht anzubieten, um ihnen Vorwort XI bessere Voraussetzungen für den Erwerb eines Abschlusses und damit bessere Arbeitsmarktperspektiven zu eröffnen. 4. Gesprochene Sprache Anliegen dieses Themenschwerpunktes war es, die Ergebnisse der GesprocheneSprache-Forschung bzw. der Gesprächsforschung für den Bereich DaF verstärkt zugänglich zu machen und damit zugleich die auf diesem Gebiet tätigen Forscher für die Bedürfnisse des Faches Deutsch als Fremdsprache zu sensibilisieren. Nachgegangen wurde u.a. der Frage nach der Rolle der gesprochenen Sprache in DaFLehrwerken, den Kriterien und Standards für die Beschreibung von Mündlichkeit, (indirekten) Sprachhandlungen in Textsorten mündlicher Kommunikation, dem Vergleich von Deutsch als Mutter- und als Zweitsprache bei Fragerealisierungen etc. Wie immer konnte man wichtige Impulse im Praxisforum ‘Unterricht’ finden, das als Plattform für den Erfahrungsaustausch der DaF-Lehrenden eine Fülle von Beiträgen zu den unterschiedlichsten Aspekten des Faches Deutsch als Fremdsprache versammelte. Als interessant und überaus informationsreich sind die vielfältigen Beiträge und Diskussionsanregungen im Kontext der Ausstellerpräsentationen hervorzuheben. Die unterschiedlichsten Verlage und Institute stellten anschaulich neue Publikationen, Vermittlungs- und Testkonzeptionen, e-learning-Angebote etc. vor und gaben so einen breitgefächerten Überblick über die derzeitigen Entwicklungstendenzen im Bereich des Deutschen als Fremd- bzw. Zweitsprache. Barbara Krischer, Gabriela Leder, Christoph Chlosta Berlin, im März 2008 Inhaltsverzeichnis 1 Themenschwerpunkte — Betreuerinnen und Betreuer Empirische Forschung im Bereich DaF Prof. Dr. Ernst Apeltauer, Universität Flensburg, Institut für Germanistik Dr. Silvia Demmig, Institut für Auslandsgermanistik, FSU Jena Gabriela Leder, Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin Grammatik – Theorie und Praxis für den DaF-Untericht Erika Hayes, Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Christian Krekeler, Hochschule Konstanz HTWG Gesine Voeste-Scherer, Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin Fachsprache und ihre Vermittlung Peter Dammmeier, Universität zu Köln, Staatliches Studienkolleg Prof. Dr. Uwe Koreik, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Barbara Krischer, Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin Gesprochene Sprache Prof. Dr. Hiltraud Casper-Hehne, Universität Göttingen, Seminar für Interkulturelle Germanistik Claudia Burghoff, Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin Andrea Wilke, Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin Martin Lange, Lektorat Deutsch als Fremdsprache, Christian-Albrechts-Universität Kiel Praxisforum Unterricht Dr. Susanne Duxa, Sprachenzentrum der Philipps-Universität Frank Fischer, Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin Dr. Sabine Schmidt, Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 1-16. Claudia Riemer (Bielefeld) DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen1 Ausgangslage Das Fach Deutsch als Fremdsprache hat seit den ersten Schritten seiner Konstituierung an den deutschen Universitäten eine längere Wegstrecke erfolgreich bewältigt. Das Fach hat DaF-spezifische Studiengänge entwickelt und überarbeitet und es ist jüngst dabei, den Bologna-Prozess zu bewältigen; es wurden in diesen Studiengängen Absolventinnen und Absolventen hervorgebracht und wissenschaftliche Nachwuchskräfte ausgebildet, von denen einige im Zuge des Generationenwechsels an den Universitäten jetzt Stellen besetzen, die zuvor noch nicht mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besetzt waren bzw. besetzt sein konnten, die ihre wissenschaftliche Sozialisation (zumindest in größeren Anteilen) im Fach DaF selbst durchlaufen haben und ihre wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten im Bereich der DaF-/DaZ-Forschung geschrieben haben. Es kann daher nicht mehr von DaF als einem sehr jungen Fach gesprochen werden; vielmehr gilt es, das bereits Erreichte zu sichern und zu erweitern – und das in einer Zeit, in der es gerade kleinere Fächer an den Universitäten sehr schwer haben. 1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Plenumsvortrag zum Themenschwerpunkt 1: „Empirische Forschung im Bereich DaF“ im Rahmen der 35. Jahrestagung Deutsch als Fremdsprache des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache (FaDaF) vom 31. Mai bis 2. Juni 2007 an der Freien Universität Berlin zum Rahmenthema „Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis“. 2 Claudia Riemer 1. Problemaufriss Dieser Beitrag behandelt generelle Fragen und Probleme empirischer Forschung im Bereich Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache. Mit empirischer Forschung bezeichne ich Forschung, die datengeleitet und dabei systematisch und methodisch kontrolliert Erkenntnisse über die Wirklichkeit des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen (hier: DaF) sammelt. Hierzu ist zunächst zu sagen, dass solche Forschung in unserem Fach aktiv betrieben wird. Es gibt deutlich erkennbare Fortschritte in der Breite der behandelten Themen, im Forschungsvolumen und auch in der wissenschaftlichen Reflexion der angewendeten Forschungsmethoden. Auch dass Berichte aus der empirischen Forschung einen festen Platz im Rahmen der Jahrestagungen des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache gefunden haben und dass in den letzten Jahren immer wieder auch Themenschwerpunkte eingerichtet wurden, in denen Berichte über empirische Forschungen zentral eingeplant waren, ist ein Anzeichen dafür. Es gilt aber noch einige zentrale Herausforderungen zu bewältigen. Es muss ganz nüchtern konstatiert werden: Empirische Forschung im Bereich DaF/DaZ ist dadurch gekennzeichnet, dass in anderen Disziplinen erreichte Standards (z.B. in Psychologie und dabei v.a. in der pädagogischen Psychologie, in empirischer Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaft) in unserem Fach nicht durchgängig eingehalten werden, oft gar nicht eingehalten werden können – und dies gilt sowohl für quantitative als auch für qualitative Forschung. Ursachen liegen bekanntermaßen in den eingeschränkten Kapazitäten des Fachs an den Universitäten, in der personellen und Sachmittelausstattung von Forschungsprojekten, wenn sie überhaupt durchgeführt werden können, aber auch in fehlender oder nicht ausreichender Methodenexpertise der Forscherinnen und Forscher, die eine Entsprechung in fehlenden Modulen zu Forschungsmethoden und fehlender Forschungspraxis im Rahmen der DaF-/DaZ-Studiengänge finden. Meine Ausgangsthese lautet, dass das Fach Deutsch als Fremdsprache momentan in eine Phase eintritt bzw. sich schon längst befindet, in der Forschung, und dabei insbesondere forschungsmethodologisch kontrollierte empirische Forschung, massiv die Zukunft des Fachs als akademische Disziplin bestimmen wird. Und damit meine ich sowohl empirische Forschung, die im Bereich DaF/DaZ selbst durchgeführt wird, als auch empirische Forschung, die in anderen Disziplinen geleistet wird und deren Ergebnisse uns (teilweise ganz direkt) betreffen. Welche empirische Studie, welche Studien wurden in den letzten Jahren in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und auch im Rahmen der DaF-Tagungen am häufigsten zitiert? Welche Studien haben vielleicht sogar Schockwellen ausgelöst? Welche Studien haben daraufhin auch in unserem Fach Bewegungen in Gang gesetzt, eine Fokusverschiebung von DaF zu DaZ – welche Studien haben dem Fach damit auch höhere Relevanz und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, der Politik, an den Universitäten beschert? Eine Antwort ist: die PISA-Studien und die Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund – und dabei insbesondere diejenigen, die in Deutschland nicht als Seiteneinsteiger, sondern von Beginn an das schulische Bildungssystem durchlaufen – bei der Entwicklung spezifischer sprachlicher Kompetenzen, die DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 3 für erfolgreiche Bildungskarrieren zentral sind, massiv im Nachteil sind. Waren aber DaF-/DaZler an der Konzeption der Studien und an den Analysen beteiligt – gibt es doch seit vielen Jahren DaF-/DaZ-Fachvertreterinnen und -vertreter, die mit Nachdruck auf die Notwendigkeit der systematischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufmerksam gemacht haben? Nein. In den letzten Jahren haben wir außerdem (auch im Rahmen der Jahrestagungen) viel über die Integrationskurse diskutiert – und werden dies weiter tun. Vertreter von DaF-Lehrstühlen sind in der das BAMF beratenden Bewertungskommission vertreten. Eine empirische Evaluationsstudie der Integrationskurse wurde vom BMI ausgeschrieben, schließlich in Auftrag gegeben und dann Anfang des Jahres 2007 veröffentlicht. Laut BAMF-Internetauftritt war es Ziel der Studie „dabei nicht, die politischen Vorgaben zu hinterfragen, sondern vielmehr deren Umsetzung zu analysieren. Im Fokus standen die Bereiche ‘Verfahrenseffizienz’, ‘Finanzierung’ und ‘Methodik/Didaktik’“ (www.bamf.de, 30.1.2007). Haben DaF-/DaZler sich massiv um die ausgeschriebene Studie beworben, haben sie die Studie durchgeführt – oder bescheidener gefragt: War DaF-/DaZ-Kompetenz im Team vertreten, das die Studie durchgeführt hat? Die Antwort lautet erneut: nein. Das kommerzielle Management-Beratungsunternehmen, das die Studie durchgeführt hat, äußert sich dazu im Abschlussbericht indirekt folgendermaßen: „Um der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes Rechnung zu tragen, stellte Rambøll Management ein Evaluationsteam aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zusammen. Durch diesen multidisziplinären Ansatz waren für jeden Untersuchungsaspekt spezifische Fachkompetenzen vorhanden. Im Evaluationsteam waren die folgenden wissenschaftlichen Hintergründe präsent: • Politologie • Jura • Betriebswirtschaftslehre • Volkswirtschaftslehre • Internationales Informationsmanagement • Erziehungswissenschaften • Soziologie/Statistik • Psychologie • Geographie • Informatik“ (Bundesministerium des Innern 2006: 6) Solche empirische Forschung muss zunächst einmal als von außen an das Fach herangetragene Herausforderung wahrgenommen werden. Ich frage aber hier zu Beginn meines Beitrags ganz offen und ungeschützt: Ist das Fach DaF überhaupt hinreichend darauf vorbereitet, sich in kleine und große empirische Studien im Rahmen der Bildungsforschung angemessen einzubringen, in Studien, bei denen das Lernen und Lehren von Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache reliabel und valide evaluiert werden soll, Studien, in denen die Wirksamkeit entwickelter Konzeptionen, eingesetzter Methoden und Materialien methodisch kontrolliert und systematisch überprüft wird, in denen Ent- 4 Claudia Riemer wicklungen bei Aneignungsprozessen DaF/DaZ umfassend und mehrperspektivisch erforscht werden? Wenn wir solche Fragen nicht überzeugend bejahen können, wenn wir sie auch gegenüber potenziellen Forschungsförderern, Auftraggebern von Forschung und in interdisziplinären Forschergruppen nicht überzeugend bejahen können, haben wir ein Problem. Wir – damit meine ich die Praxis und die universitären DaF-/ DaZ-Forschungsbereiche. Betroffen ist die Praxis, die möglicherweise mit den direkten Folgen solcher Forschung leben muss, z.B. im Rahmen von Sprachförderangeboten, die nicht angemessen ausgestattet sind und sich möglicherweise von Fachfremden vorhalten lassen müssen, dass u. a. der Unterricht qualitativ verbessert werden muss, wenn die Ergebnisse einer Sprachfördermaßnahme nicht den Erwartungen entsprechen (wenn z.B. das Erreichen einer Niveaustufe B1 von einem großen Anteil von Lernenden in einer Fördermaßnahme nicht erreicht werden kann). Die universitären DaF-Bereiche hängen auch hinsichtlich ihrer Eigenständigkeit in Form von eigenen Studiengängen und Promotionsmöglichkeiten und der damit möglichen Ausbildung auch des wissenschaftlichen Nachwuchses von einer erfolgreichen Forschungsentwicklung ab. Die Zeit der Freiheit in Lehre und Forschung scheint endgültig vorbei zu sein. Einbindbarkeit von Neuberufenen in größere Forschungsverbünde an den jeweiligen Universitäten (und in denen gibt es im schlimmsten Fall keine oder im Normalfall nur wenige andere DaF-/DaZler oder Fremdsprachendidaktiker anderer Philologien) ist zunehmend zum wichtigen Kriterium in Berufungskommissionen und Berufungsentscheidungen von Universitätspräsidien geworden; individuelle Forschungsleistungen gelten schon jetzt mancherorts als zweite Wahl. Hinzu kommt: Gute Forschungsleistungen über die Einwerbung von Forschungsdrittmitteln zu beweisen, ist bereits heute wichtig und im Rahmen von Zielvereinbarungen und Besoldungsverhandlungen ein zentraler Punkt. Der Druck wird mit Sicherheit zukünftig noch zunehmen (Stichwort: Exzellenzinitiative, in deren Folge die DFG z.B. Gutachter darauf hinweist, dass nur mehr solche Forscherpersönlichkeiten förderwürdig sind, die „national führend“ oder besser noch „international sichtbar“ sind – schlechte Chancen für Neueinsteiger, für Neuberufene. Wer an der Aufrechterhaltung und für den Ausbau von Deutsch als Fremdsprache im Fächerkanon der Universitäten mitarbeitet, muss sich dieser Herausforderung nichtsdestotrotz stellen. Ich möchte die Relevanz empirischer Forschung nicht allein – wie es in der Vergangenheit oft getan wurde – auf den Bereich der fremdsprachenlehr-/-lernwissenschaftlichen Ausrichtung des Fachs beziehen. Die Unterscheidung von unterschiedlichen Ausrichtungen (lehr-/lernwissenschaftlich oder didaktisch-methodisch, linguistisch, literaturwissenschaftlich, kulturwissenschaftlich) hatte meines Erachtens heuristischen Wert in der Phase der akademischen Konstituierung des Faches – sie ist heute aber nicht mehr zielführend. Zukünftig sollte eher das Verhältnis dieser Ausrichtungen zueinander im Rahmen einer integrativen Fachkonzeption im Zentrum stehen. So kann auch kein Studiengang, der ernsthaft eine umfassende Ausbildung in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache anstrebt, ohne entsprechende Studienelemente aus den unterschiedlichen Bereichen auskommen. Die federführend vom Fachverband Deutsch als Fremdsprache DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 5 benannten Kernbereiche, die in einem Bachelor-/Masterstudiengang zu berücksichtigen sind, sprechen hier eine deutliche Sprache, obwohl sie eher bescheiden formuliert sind (vgl. Fachverband Deutsch als Fremdsprache 2006). Es wird weiter unterschiedliche Forschungsschwerpunkte an den universitären DaF-Abteilungen geben; hier ist angesichts des hohen Forschungsbedarfs in allen Bereichen Vielfalt sogar ausdrücklich zu begrüßen und zu fördern. Die auch empirische Ausrichtung dieser Forschungsschwerpunkte mit Nachdruck anzustreben bzw. – wenn bereits in Ansätzen vorhanden – diese auszubauen und weiterzuentwickeln, halte ich jedoch für unverzichtbar, wenn die wissenschaftliche Beschäftigung mit deutscher Sprache, Kultur und Literatur im für das Fach konstitutiven Verbund mit damit verbundenen fremd-/zweitsprachlichen und fremdkulturellen/interkulturellen Prozessen der Aneignung und Verwendung erfolgt. Wenn ich im Folgenden also von Fremdsprachenlernen und -lehren spreche, schließt dies immer auch Prozesse des kulturellen Lernens ein. Forschung im Bereich DaF/DaZ kann dabei anknüpfen an Entwicklungen in der internationalen Fremdsprachenforschung (insbesondere Applied Linguistics, Second Language Acquisition Research, Bilingualismusforschung) und in der deutschen Fremdsprachenforschung (Sprachlehr- und -lernforschung, empirische Fremdsprachendidaktik). Ich möchte kurz ausholen, warum zunächst im Bereich der lehr-/lernwissenschaftlichen Ausrichtung des Fachs empirische Forschung vorangetrieben wurde. Dies hatte zu tun mit der Entwicklung der Sprachlehr-/-lernforschung in Deutschland und der dann schrittweise erfolgten Umorientierung der Fremdsprachendidaktik, für die die Erforschung des Fremdsprachenunterrichts und dabei insbesondere die empirische Untersuchung seiner prozessualen Lehr- und Lernaspekte übergeordnetes Ziel ist. Angestrebt wird dabei, „die begründete Konsolidierung bzw. Veränderung konkreter Formen des Lehrens und Lernens fremder Sprachen zu bewirken“ (Bausch; Christ; Krumm 42003: 4). Eine solche Forschung sei in ihren Arbeitsweisen aufgefordert, „die Forschungsmethodik so anzulegen, dass sie Probleme aus der Praxis aufgreift, der systematischen und integrativen Forschung zuführt und wieder in die Praxis einbringt, sei es in Form von Bestätigungen für gewohntes Unterrichtsverhalten, sei es als Empfehlung bzw. Handlungsalternative für eine begründete Veränderung desselben“ (Bausch; Christ; Krumm 42003: 4). Diesem Credo der Sprachlehrforschung entsprechend wurde empirische Forschung in den letzten 20, 30 Jahren gefordert und gefördert, in Teilen erfolgreich geleistet – gleichzeitig aber auch vielfach geschmäht und insgesamt noch viel zu wenig bearbeitet. Eines wurde bis heute versäumt: parallel dazu die forschungsmethodische Ausbildung in den Studiengängen ausreichend zu berücksichtigen, geschweige denn zu verankern. Es entstand die für forschungsinteressierte und qualifikationswillige Studierende und wissenschaftliche Nachwuchskräfte unbefriedigende Situation, dass sie sich viele wichtige Grundlagen der empirischen Forschungsmethodik vorwiegend im (teils betreuten, teils unbetreuten) Selbststudium aneignen und Unterstützung außerhalb ihres Fachs suchen müssen, was nicht immer gelingt – ich spreche hier auch aus eigener Er- 6 Claudia Riemer fahrung. Viele, die ihre wissenschaftliche Sozialisation im Fach DaF durchlaufen haben und nicht etwa als Seiteneinsteiger aus der Psychologie oder Soziologie zu DaF stoßen, müssen bei null oder nahe null anfangen, wenn sie ein empirisches Forschungsprojekt anstreben, was die Wahl von z.B. anspruchsvollen multivariaten quantitativen Designs meist von vornherein ausschließt. Auch dass häufig qualitative Designs ausgewählt werden, kann darauf zurückgeführt werden; außerdem darauf, dass interpretative Verfahren der Datenanalyse an philologisch-literaturwissenschaftlich-hermeneutische Verfahren anknüpfen können, mit denen viele DaFler im Laufe des Studiums zumindest ansatzweise in Berührung kommen. Wir benötigen in unserem Bereich aber qualitative und quantitative Forschung, um zentrale Fragestellungen bearbeiten zu können. Im Folgenden erlaube ich mir daher einen knappen Exkurs, der die zentralen Charakteristika beider Paradigmen beleuchtet. 2. Qualitative und quantitative Forschung Das qualitative und das quantitative Forschungsparadigma implizieren jeweils unterschiedliche Voraussetzungen und Ziele, gehen von unterschiedlichen zugrunde gelegten Menschenbildern und Vorstellungen über die Forschungsorganisation und -durchführung aus und verlangen Daten, die nach unterschiedlichen Maximen erhoben, aufbereitet und analysiert werden müssen. Dies führt innerhalb des jeweiligen Paradigmas zu Forschungsergebnissen mit unterschiedlichem Erkenntnisanspruch. Die von Grotjahn (1987) präferierte Verwendung der Termini „explorativ-interpretativ“ bzw. „analytisch-nomologisch“ als Bezeichnung dieser beiden Forschungsausrichtungen benennt die zentralen Merkmale beider Methodologien. Beide Ansätze wurden lange Zeit als sich gegenseitig ausschließende Paradigmen interpretiert, was zu Lagerbildungen führte. Heute ist eher ein Zustand friedlicher Koexistenz eingetreten, wobei aber nicht verkannt werden darf, dass trotz allseitiger Proklamation der Berechtigung beider Forschungsrichtungen und des Plädoyers für eine Verbindung von beiden im Rahmen von hybriden Methodologien Vertreter der jeweiligen Ausrichtung gern die Arbeiten und Entwicklungen der anderen Ausrichtung ignorieren. Hinsichtlich einer Gegenüberstellung wichtiger Merkmale beider Paradigmen halte ich mich kurz: Auf der Ebene der allgemeinen Zielsetzung von Forschungen stehen sich Verstehen auf der qualitativen Seite und auf der quantitativen Seite Deskription und Erklären menschlichen Verhaltens gegenüber. Qualitative Forschung verlangt einen empathischen Nachvollzug aus der Perspektive der Untersuchungsteilnehmer und bedingt ein komplexes elaborativ-prospektives Menschenbild, wobei das Gesamtfeld als Informationslieferant zur Verfügung steht. (Zur Menschenbilddiskussion in der Fremdsprachenforschung vgl. Grotjahn 2005.) Hypothesen und Theorien sollen dabei erst während des Forschungsprozesses durch das interpretative Auffinden wiederkehrender Muster erschlossen werden (qualitative Forschung als theoriegenerierende Forschung), wobei ausgeprägte Vorstrukturierungen des Untersuchungsfeldes (z.B. Standardisierungen in der Datenerhebung oder vorrangige Berücksichtigung von Vorwissen in der Entwicklung kategorialer Systeme) weitgehend vermieden werden sollen. Es interes- DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 7 sieren nicht allein die Produkte menschlichen Verhaltens, sondern vor allem die Prozesse, die zu ihnen führen. Das Untersuchungsfeld soll so weit wie möglich natürlich belassen sein, dies heißt konkret: Soll z.B. gesteuerter Fremdsprachenerwerb verstanden werden, so sind die Daten aus dem Kontext real stattfindenden Fremdsprachenunterrichts zu gewinnen und nicht in speziell eingerichteten laborähnlichen Handlungsräumen mit je eigenen Konstellationen. Dabei sollen möglichst tiefgründige, reichhaltige Daten (rich data) erhoben werden. Dies bedeutet andererseits, dass es aus forschungsökonomischen Gründen selten möglich ist, größere Probandengruppen zu erfassen, und dass damit qualitative Forschungen zumeist in Form von Fallstudien organisiert sind, die auf eine breite Generalisierung der Befunde verzichten müssen. Oben erwähnte Parameter wie „Verstehen“ oder „interpretativ“ deuten darauf hin, dass qualitative Studien weniger dem Gütekriterium der Objektivität entsprechen können; hierfür wurden Gütekriterien wie „Nachvollziehbarkeit“ und „Intersubjektivität“ bzw. „reflektierte Subjektivität“ eingeführt (vgl. Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld 1996, Steinke 1999). Noch relativ wenig ist in der qualitativen Fremdsprachenforschung die Zusammenstellung von Untersuchungsgruppen/Auswahl von Fällen diskutiert worden, was meines Erachtens dringend notwendig wäre. Denn die mit der Wahl eines qualitativen Forschungsdesigns verbundenen notwendigen Entscheidungen für ein bestimmtes Lehr-/Lernumfeld (Alter, Ausgangssprache, L2-Kompetenz, Unterrichtskontext, Lernziele etc.) inklusive Verzicht auf größere Probandengruppen (und repräsentative Stichproben) dürfen nicht in Beliebigkeit bzw. Zufälligkeit der Auswahl der Forschungssubjekte resultieren. Quantitative Forschung dagegen strebt generalisierbare Gesetzmäßigkeiten an. Es ist anzumerken, dass dieses Paradigma – wohl auch durch seine erwiesene Effizienz innerhalb naturwissenschaftlicher Forschung und dem davon abgeleiteten Anspruch auf ‘Wissenschaftlichkeit’ – besonders in den letzten 50 Jahren innerhalb sozialwissenschaftlicher Forschung und in der fremdsprachenerwerbsspezifischen Forschung angloamerikanischer Ausrichtung sehr einflussreich war und weiter ist. Im Rahmen dieses Forschungsparadigmas sollen aus der Außenperspektive interessierende Untersuchungsobjekte erklärt werden, d. h. auf exakt zu spezifizierende Bedingungen zurückgeführt werden. Aufgestellte Hypothesen sollen dabei mit Hilfe empirischer Untersuchungen verifiziert oder falsifiziert werden. Dafür ist es unabdingbar, Teilbereiche des Untersuchungsfeldes zu isolieren und zu kontrollieren, d.h. externe Einflüsse und weitere intervenierende Variablen auf die interessierenden Untersuchungsgegenstände müssen hinreichend ausgeschaltet werden. Dies erfordert eine Manipulation des Untersuchungsfeldes, sorgfältige Zusammenstellung der Probandengruppen und standardisierte Datenerhebungsverfahren (am besten gelingt dies innerhalb eines Experimentes in einer dafür geschaffenen Laborsituation). Erhoben werden sollen harte – d.h. reliable und replizierbare – Daten, die mit Hilfe teststatistisch überprüfter Instrumentarien elizitiert werden. Dies ist allerdings mit einem Verlust an Tiefgründigkeit und Natürlichkeit verbunden. Vonseiten qualitativer Forscher ist deshalb der Vorwurf erhoben worden, dass die Künstlichkeit der Datenerhebung die ökologische Validität der gewonnenen empirischen Befunde und damit gerade die angestrebte Generalisierbarkeit einschränkt. 8 Claudia Riemer In den letzten Jahren hat sich (nicht nur) in der Fremdsprachenforschung der Standpunkt durchgesetzt, dass der qualitative und der quantitative Forschungsansatz nicht als Paradigmen anzusehen sind, sondern vielmehr Erkenntnisinteressen und Untersuchungsgegenstände die Wahl spezifischer Forschungsdesigns begründen sollten. Für die Auswahl eines stärker qualitativ oder stärker quantitativ orientierten Forschungsdesigns ist danach u.a. entscheidend, ob zum Zeitpunkt des angestrebten Forschungsprojekts der Wissensstand zum spezifischen Gegenstand eine begründete Hypothesenprüfung erlaubt oder es sinnvoller ist, mögliche Vorannahmen und Hypothesen über das Untersuchungsfeld erst einmal empirisch zu gewinnen. Parallel dazu kann man beobachten, dass fremdsprachenspezifische Forschungen selten die Ideale des qualitativen oder des quantitativen Ansatzes erfüllen können. So gibt es selten in quantitativ-deskriptiven Studien ausreichend große und durch Zufallsauswahl zusammengestellte Untersuchungsgruppen. Auch genuine Experimente sind relativ selten, häufiger sind Quasi-Experimente, die etwa Bedingungen wie die Existenz zweier vergleichbarer Probandengruppen oder die Zufallsverteilung der Probanden auf Experiment- und Kontrollgruppe nicht erfüllen. Auch reine Feldforschung, die auf teilnehmender Beobachtung beruht, ist innerhalb fremdsprachenspezifischer Forschung kaum repräsentiert. Bei näherer Betrachtung der oben angedeuteten einfachen Gegenüberstellungen zwischen qualitativer und quantitativer Forschung lassen sich diese auch nicht aufrechterhalten. Ob Hypothesen generiert oder getestet werden sollen, ob induktiv oder deduktiv vorgegangen wird, beide Vorgehensweisen greifen auf Vorwissen zurück. Qualitative Forschung hat sich damit vor allem auf der Ebene der Datenanalyse auseinanderzusetzen, quantitative Forschung dagegen eher auf den Ebenen der Datenerhebung und -aufbereitung, wenn etwa kategoriale Raster für Fragebögen konzipiert und ausgewertet werden. Allerdings bleiben Unterschiede bestehen, die in den mit qualitativer und quantitativer Forschung verbundenen unterschiedlichen Vorgehensweisen und Forschungsstrategien begründet sind. Auf der einen Seite steht etwa das notwendige Festhalten an einem strikten Forschungsplan zur Erhebung vergleichbarer Daten und deren systematische sowie vorweg festgelegte Analyse im Rahmen quantitativer Forschung, auf der anderen Seite bei qualitativer Forschung die Notwendigkeit eines stärker offenen und hinsichtlich sich ergebender Bedingungen des Untersuchungsfelds anpassbaren Forschungsplans, der sich z.B. in sukzessiver Probandenauswahl und modifizierten Erhebungsverfahren niederschlägt. 3. Akzeptanzprobleme Zwar kann in den letzten Jahren insgesamt ein Anstieg im Volumen empirischer Forschung v.a. im Rahmen von Qualifikationsarbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses beobachtet werden, der auch damit zu tun hat, dass eine empirische Erarbeitung vielerorts von den Betreuern solcher Arbeiten verlangt wurde und wird. Trotzdem (oder vielleicht sogar als Folge davon?) ist heute teilweise offen zu hören, dass ‘die Sprachlehr-/-lernforschung ihre programmatischen Versprechungen nicht eingehalten habe’, teilweise wird getuschelt, dass ‘die ganze Empirie doch nichts oder nur wenig gebracht DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 9 habe’, dass die Arbeiten oft methodisch nicht überzeugen können und man besser wieder zu ‘hermeneutischer’ Forschung (was immer auch darunter verstanden werden mag) zurückkehren könne. Nicht nur in der fremdsprachenunterrichtlichen Praxis herrscht Zweifel, ob die beschworene angestrebte empirische Begründung spezifischer fremdsprachendidaktischer Handlungsstrategien oder allgemeiner Prinzipien nicht doch eher die wissenschaftliche Deskription des bereits Bekannten oder spezifischer Sonderfälle darstelle und es gibt auch die Meinung, dass solche Forschung die ‘wahren’ Probleme nicht löse. Solche Einschätzungen werden häufig dann laut, wenn Fragen zur Wirksamkeit bzw. Effektivität spezifischer Instruktionsformen, Lernarrangements und Lernmaterialien gestellt werden und aus der Forschungsperspektive nicht zufrieden stellend beantwortet werden können. Was ist los? Ist empirische Forschung im Bereich DaF/DaZ und allgemein in der deutschen Fremdsprachenforschung in eine Sackgasse geraten, die uns nicht zu den goldenen Töpfen akademischer und gesellschaftlicher Anerkennung führt? Warum fehlt Wirkungsforschung weitgehend, die etwas Profundes darüber aussagen kann, ob, wann und wie Fremdsprachenunterricht in seinen unterschiedlichen Ausprägungen Lernen bewirkt? Dies ist zweifelsohne ein Forschungsfeld, das besonders intensive Bearbeitung benötigt, von Bildungspolitikern und Praktikern gefordert wird, aber aus unterschiedlichen Gründen zu wenig angegangen wird. Als exemplarisches Beispiel möchte ich hier lediglich die weitgehend fehlende Lehrmaterialwirkungsforschung nennen, die nicht erst seit dem mit der Adaption von Lernmaterialien an den Europäischen Referenzrahmen boomenden Lehrwerkmarkt ein dringliches Desiderat darstellt. DaF gilt – das habe ich immer wieder bewundernd von Kolleginnen und Kollegen aus der Englisch- oder Französischdidaktik gehört – als Vorreiter in der Lehrwerkentwicklung –, aber leider nicht im Bereich der Lehrmaterialwirkungsforschung. Solche und andere Defizite können dazu führen, dass – aus der Außenperspektive betrachtet – von empirischen Forschern möglicherweise immer gerade das ‘Falsche’ erforscht wird. Akzeptanzprobleme von Forschung bei Praktikern mögen eine Ursache darin haben, dass das Postulat, zu begründeten Handlungsstrategien im Fremdsprachenunterricht zu gelangen, häufig in empirischen Studien nicht oder nur in kleinen Ausschnitten erreicht werden kann. Häufig müssen sich solche Arbeiten auf allgemeine Prinzipien bzw. Ziele der Sensibilisierung von Rezipienten für ausgewählte Bereiche des Lehrens und Lernens beschränken. Eine Folge enttäuschter Erwartungen auf Seite der Lehrenden, von Forscherseite konkrete Vorschläge zur Umsetzung der empirisch gewonnenen Ergebnisse für die eigene didaktische Praxis zu erhalten, kann sein, dass der Dialog mit der Forschung ganz aufgegeben wird (vgl. zu Störfeldern zwischen Theorie und Praxis auch Aguado; Riemer 2000) bzw. auf die Phase der Ausbildung und punktuellen Weiterbildung beschränkt und ohne nachhaltige Auswirkungen bleibt. Die Untersuchung von Lehrerhaltungen (vgl. exemplarisch Caspari 2003) hat bestätigt, dass überwiegend eigene frühere Sprachlernerfahrungen, vorwissenschaftliche Überzeugungen sowie lehr-/ lernkontextspezifische Erwägungen unterrichtliches Handeln von Lehrenden leiten. Eine letztes Jahr in der Fachzeitschrift Modern Language Journal publizierte Studie von 10 Claudia Riemer Rankin; Becker (2006) mit dem Titel: „Does reading the research make a difference? A case study of teacher growth in FL German“ kommt zum Schluss, dass die Rezeption von Forschungsergebnissen das Handeln eines (noch unerfahrenen) Lehrers zwar nachweislich beeinflusst, dies geschieht aber durch einen Filter vorhandener Einstellungen und Lernerfahrungen, ein einfacher Transfer von Wissen in Handeln ist nicht gegeben – es muss in den persönlichen Rahmen eingepasst und v.a. gut reflektiert werden. Untersucht wird in dieser Studie das recht gut erforschte mündliche Korrekturverhalten von Lehrern, was ein Forschungsbereich ist, dem wahrlich nicht vorgeworfen werden kann, praxisfern und implikationslos zu sein. Aktionsforschung, die begründet etwas zur Effektivität von Fremdsprachenlehre sagen könnte, ist in unserem Bereich kaum ausgeprägt (vgl. diesbezügliche Überlegungen in Riemer 2002). Leider! Denn Aktionsforschung wird insbesondere das Potenzial zugeschrieben, dass aus der konkreten Unterrichtswirklichkeit entnommene Fragestellungen nach ihrer systematischen Analyse in Handlungsstrategien für die Unterrichtsgestaltung überführt werden, die sofort in ihren Auswirkungen reanalysiert werden können und dann zu weiteren Modifikationen führen können. Ursachen für das Fehlen solcher Forschung (v.a. in größeren und von der Fachöffentlichkeit wahrgenommenen Zusammenhängen) mögen darin liegen, dass solche Aktionsforschung hierzulande, anders als z.B. in Großbritannien und den USA, auf keine Tradition zurückblicken kann und auch keinen entscheidenden Einfluss auf curriculare Entwicklungen nehmen konnte. Hinzu kommen allgemeine Probleme, die Forschungsinteressen von Lehrenden massiv beeinträchtigen, wie Befristungen und schlechte Bezahlung von Lehrtätigkeiten, Zeitmangel, Mangel an Unterstützung (durch Kollegen, durch die Institution) und Mangel an Erfahrung mit Forschungsprojekten und Forschungsmethoden sowie die Befürchtung, solche Forschung würde von einem prinzipiell defizitären Lehr- und Unterrichtsmodell ausgehen. Auf Akzeptanzprobleme stoßen Forschungen, insbesondere Einzelforschungen, aber genauso im wissenschaftlichen Diskurs. Dies hat unterschiedliche Gründe. Einer liegt darin, dass empirisches Arbeiten stets hinsichtlich Gegenstandswahl, -konstruktion und -operationalisierung anfechtbar ist. Zweifel an der Relevanz und Reichweite empirischer Einzelforschung hat wohl aber fachintern auch mit dem Paradoxon lehr-/lernwissenschaftlicher Forschung zu tun, aus der Beobachtung sowie Introspektion real ablaufender Lehr-/Lernprozesse und einer erfolgten Offenlegung dort vorgefundener Handlungen und Prozesse Empfehlungen für deren Weiterentwicklung und Veränderung abzuleiten, die selbst aber nicht mehr Gegenstand der Untersuchung sind – was wiederum in der oben erwähnten Vernachlässigung von empirischer Aktionsforschung und Wirkungsforschung begründet liegt. Dies hat Ursachen darin, dass Einzelforschungen stets einen begrenzten Wirklichkeitsausschnitt fokussieren müssen, sich aber nicht notwendigerweise ergänzen, sich mitunter widersprechen oder sogar ganz inkompatibel sind. Größere Forschungsverbünde konnten bislang aus Ressourcengründen kaum realisiert werden. Insbesondere Nachwuchswissenschaftler spüren diese Last und die Grenzen der eigenen Untersuchungen und regen immer wieder zur Bildung von regionalen und überregionalen Forschungsverbünden an. Wir sollten mehr auf sie hören. DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 11 4. Forschungsinhärente Probleme Ich werde im Folgenden zwei exemplarische Bereiche ausführen, die allgemein Probleme für empirische Forschung im Kontext von Fremdsprachenunterricht bereiten und zu Enttäuschung bei Rezipienten solcher Forschung – auch bei wohlwollenden Fachwissenschaftlern und interessierten Praktikern – führen können. Es sind forschungsinhärente Probleme. Sie betreffen zum einen die grundsätzliche Konzeptualisierung von Lehren und Lernen in der Fremdsprachenforschung als Faktorenkomplexion und zum anderen die Möglichkeiten der Operationalisierung von Untersuchungsgegenständen im Rahmen forschungsmethodologisch begründeter Erhebungs- und Analyseansätze. Zunächst zum Problem Faktorenkomplexion: Auf der einen Seite stimmen Erkenntnisse hinsichtlich der Mehrdimensionalität von Lernprozessen mit der Erfahrung von Fremdsprachenlehrenden überein und sind daher für deren Professionsverständnis als wenig bedrohlich einzuschätzen. Auf der anderen Seite verhindern solche Forschungsergebnisse einfache Adaptionen von eher allgemein gehaltenen Handlungsempfehlungen. Denn was in einem spezifischen Kontext, der durch besondere Rahmenbedingungen und Lernende geprägt ist, angemessenes, empirisch begründetes fremdsprachenunterrichtliches Handeln darstellt, ist in einem anderen Kontext hinfällig, da dort andere Konstellationen herrschen. Es ist ein logisch unlösbares Dilemma, dass das Postulat der Faktorenkomplexion von Fremdsprachenlehr-/-lernprozessen eine generell eingeschränkte Übertragbarkeit und damit Generalisierbarkeit von Einzelforschung – sei sie hypothesentestend oder hypothesengenerierend – impliziert und folglich eine potenzielle Unendlichkeit von Forschung verursacht. Die im Rahmen von Forschungsprojekten unverzichtbare Auswahl (und damit der Ausschluss) von Variablen, die im Kontext spezifischer Lehr-/Lernszenarien und sämtlicher damit verbundener Bedingungen (Lehr-/Lernmittel, Methoden etc.) erforscht werden, führt zu Ergebnissen, die nicht ohne Weiteres außerhalb des fokussierten Faktorenkomplexes und Wirklichkeitsausschnitts Aussagekraft besitzen. Die Annahme und Erfahrung von Faktorenkomplexion des Fremdsprachenunterrichts desavouiert somit gleichermaßen partikularistische Forschungsergebnisse, die erst durch diese Grundannahme überhaupt zustande kommen, aber genauso Forschungsergebnisse mit Allgemeingültigkeitsanspruch. Diese Problematik wird besonders deutlich, wenn man die Beziehungen von Forschung im Bereich DaF und DaZ betrachtet. Lernumgebungen und Bedingungen für das Lehren und Lernen von DaZ unterscheiden sich massiv von denen für DaF, so dass jeweils sorgfältig zu prüfen ist, ob in einem Bereich gewonnene Erkenntnisse für den anderen (zumindest teilweise) gültig sind oder ob sie überhaupt nicht auf den anderen Bereich übertragen werden können. Es wäre vermessen, hierfür eine schnelle Lösung anbieten zu wollen. Ich wage aber dennoch zu behaupten, dass die Erforschung der tatsächlich in Lernszenarien vorliegenden Faktoren und ihrer Einflüsse auf das Fremdsprachenlernen noch lange nicht hinreichend erfolgt ist, um auszuschließen, dass durch den kritischen Vergleich vielfältiger Lernformen doch allgemeingültigere Aussagen inklusive Einschätzungen über Wirksamkeiten auf messbare Lernresultate möglich wären. 12 Claudia Riemer Weniger logische als ganz forschungspraktische Probleme bereitet die zugrunde gelegte Komplexität des Gegenstands Fremdsprachenlehren und -lernen bei der Operationalisierung von Untersuchungsgegenständen im Rahmen empirischer Untersuchungen. Spezifische Fragestellungen müssen untersuchungsintern angemessen ausgewählt werden, aber gleichzeitig die allgemeine Forschungsentwicklung im entsprechenden Gegenstandsbereich im Blick behalten. Bei jeder empirischen Studie stellen sich die Fragen neu, innerhalb welchen Untersuchungsdesigns welche Erkenntnisinteressen, Gegenstände, Datenerhebungs-, Datenaufbereitungs-, -analyse- und -interpretationsverfahren angemessen zu verbinden sind, wo geeignete und auskunftsbereite bzw. freiwillige Untersuchungsteilnehmer (Lehrende, Lernende) bzw. Lehr- und Lernkontexte zu finden sind und wie sich die Vorgehensweisen bei unvorhergesehenen Ereignissen während des Forschungsprozesses angemessen anpassen lassen. Gleichzeitig soll die forschungsmethodische Anlage der Studie auch Vergleichbarkeit mit anderen Untersuchungen ermöglichen. Und hier spiegelt sich die Problematik des Konstrukts Faktorenkomplexion in einer auch forschungsmethodologischen Auffassung von Fremdsprachenlehren und -lernen als dynamischen, komplexen und mehrdimensionalen, von unterschiedlichen Variablen konstituierten Untersuchungsgegenständen. Dieses hat Konsequenzen in den forschungsmethodologischen Entscheidungen, die von der Annahme eines komplexen Subjektmodells/Menschenbilds (vgl. Grotjahn 2005) über die umfassende Berücksichtigung affektiver Variablen sowie des kontextuellen (sozialen, wie auch interaktiven) Lehr-/Lernumfelds inklusive der Präferenz von möglichst natürlichen Daten aus real ablaufenden Lehr-/Lernsituationen gegenüber künstlich elizitierten Daten bis hin zur Beachtung von Gütekriterien wie Gegenstandsangemessenheit, Nachvollziehbarkeit und Akzeptabilität im Forschungsprozess reichen (vgl. auch Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld 1996). 5. Schlussfolgerung Die oben beschriebenen Herausforderungen an empirische Forschung in unserem Bereich sind besonders brisant in einer Zeit, in der uns quantitative, outputorientierte Bildungsstudien zu Schulerfolg, Festsetzungen von Standards, Kerncurricula und Kompetenzen überrollen, die keine Pendants in fremdsprachenspezifischer, insbesondere spracherwerbsbezogener empirischer Forschung haben, ja ohne solche auszukommen glauben. Diese in der Öffentlichkeit stark beachteten und politisch enorm einflussreichen quantitativen Bildungsstudien messen Lernoutput und beschreiben Defizite, während empirische Fremdsprachenforschung – überspitzt ausgedrückt – noch Schwierigkeiten dabei hat, überhaupt zu bestimmen, wie man Lernzuwächse über längere Zeiträume umfassend, den Erwerbsmöglichkeiten entsprechend und natürlich auch reliabel und valide feststellen kann. Eine bessere Beteiligung in der empirischen Bildungsforschung wird nachhaltig dann am besten gelingen, wenn mehr Fremdsprachendidaktiker so qualifiziert werden, dass sie mit ausreichenden Kompetenzen in Forschungsmethoden (inkl. testmethodischer Kompetenzen) ausgestattet erfolgreich an solchen Forschungsprojekten mitarbeiten können. Hier stimmt mich zuversichtlich, dass sich in unserem DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 13 Bereich die Testforschung stetig weiterentwickelt – auch als Folge der Entwicklung und Anwendung von C-Tests und TestDaF. Zu wünschen ist allerdings, dass fremdsprachenspezifische Testentwicklung und Testforschung noch stärker in engem Kontakt und im Verbund mit der Erforschung des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen erfolgen und nicht zu bloßen Lieferanten von methodisch einwandfreien und überprüften Diagnoseinstrumenten mutieren, die für Selektionszwecke gebraucht, aber auch missbraucht werden können. Hier muss langfristige Aufbauarbeit betrieben werden, die beginnen muss, indem eine forschungsmethodologische und -methodische Ausbildung der Studierenden in den Bachelor- und dann insbesondere in den Masterstudiengängen und in der Postgraduiertenausbildung Deutsch als Fremdsprache erfolgt. Eine solche Integration in die Studiengänge wurde in der Vergangenheit immer wieder gefordert, zuletzt z.B. von Grotjahn (2006) und Schlak (2004) – wann soll sie endlich realisiert werden? Schlak äußerte 2004 angesichts erster eingerichteter bzw. geplanter Bachelor- und Masterstudiengänge noch die Hoffnung, dass die forschungsmethodologische Grundausbildung bald zum festen Repertoire im Studienfach Deutsch als Fremdsprache gehören würde und lieferte eine Reihe von bedenkenswerten Vorschlägen. Sie fanden bislang kaum Berücksichtigung. Ich befürchte, dass der heutige Trend sogar eher in eine andere Richtung geht. Viele DaF-/DaZ-Universitätsstandorte, die mit geringen Ressourcen ausgestattet sind, haben sich im Rahmen der Umsetzung des Bologna-Prozesses dafür entschieden, auf der Basis von Erfahrungen aus ehemaligen Nebenfach-, Aufbau- und Zusatzstudiengängen anwendungsorientierte Masterstudiengänge DaF zu konzipieren, die v.a. Bachelorabsolventinnen und -absolventen der germanistischen Studiengänge eine überwiegend fremdsprachendidaktische Spezialisierung anbieten. Auch mittlere und größere Standorte für DaF (mit bis zu 4 Professuren) bieten bislang keine oder nur Ansätze einer systematischen forschungsmethodologischen Ausbildung an. Und nach ersten Erfahrungen mit dem neu eingerichteten Bielefelder DaF-Masterstudiengang (und mit Blick auf die Methodenausbildung z.B. im Rahmen psychologischer oder soziologischer Studiengänge) komme ich zur vorläufigen Einschätzung, dass die Einrichtung ganzer Module mit mehr als einer in Forschungsmethoden einführenden Lehrveranstaltung und weitere Studienangebote, bei denen in konkreten Forschungsprojekten Methoden angewendet und erprobt werden, nötig sind, um Studierenden das Rüstzeug für selbstständig durchgeführte (kleinere) Projekte zu vermitteln. Es ist (noch) nicht zu spät, in den DaF-/DaZ-Studiengängen entscheidende Veränderungen vorzunehmen; der BAMA-Umstruktuierungsprozess ist im Bereich DaF/DaZ noch nicht abgeschlossen und für bereits eingerichtete Studiengänge können im Zuge der Evaluation und weiteren Entwicklung der Studiengänge Anpassungen schrittweise vorgenommen werden, bei entsprechend vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen. Wer soll aber diese Lehre anbieten, fragen sich jetzt vielleicht einige. Zweifellos wird es v.a. in der Aufbauphase immer wieder notwendig werden, für die Hochschullehre Kompetenz aus den Nachbarwissenschaften ‘einzukaufen’ (z.B. durch die Investition von Mitteln zur Verbesserung der Lehre). Die Studienstandorte sollten Möglichkeiten standortübergrei- 14 Claudia Riemer fender Konzepte entwickeln und sich gegenseitig unterstützen. Gesprächsbeiträge nach dem Vortrag dieses Beitrags auf der FaDaF-Jahrestagung regten z.B. die gemeinsame Entwicklung und Betreuung von E-Modulen an. Zweifellos wird genauer zu differenzieren sein, welches forschungsmethodologische Wissen und Können Absolventinnen und Absolventen DaF-/DaZ-spezifischer Studiengänge benötigen. An dieser Stelle möchte ich erste Vorschläge unterbreiten. In den Bachelorstudiengängen sind Kompetenzen anzustreben, die die Rezeption von Forschung erlauben und an Praxisforschung heranführen (z.B. Aktionsforschung oder die Durchführung/Mitgestaltung von Evaluationen). Hierfür sind rezeptive und produktive Kenntnisse z.B. in folgenden Bereichen anzustreben: Erstellen und Beurteilen einfacher (Evaluations-)Instrumentarien, Konzeption und Bewertung von Fragebögen und Beobachtungsbögen, Durchführung von Leitfaden-Interviews und hierfür Aneignung von Interviewstrategien. Mit der Arbeit an der Entwicklung solcher Kompetenzen kann frühzeitig bereits in den ersten Studiensemestern begonnen werden, wobei auch komplexitätsreduzierte Einführungsliteratur eingesetzt werden kann (als exemplarisches Beispiel Moser 2003). Im Rahmen von Masterstudiengängen und in der Promotionsphase sollten Studierende auf die eigene Forschungspraxis vorbereitet werden, die im Rahmen von Master- und Doktorarbeiten selbstständig erfolgt. Hierfür sind Kompetenzen zu erarbeiten, z.B. in der begründeten Konzeption von Forschungsansätzen (qualitativ, quantitativ, gemischt) und der Auswahl geeigneter Datenerhebungsmethoden, z.B. die begründete Auswahl von Probanden oder die Zusammenstellung von Stichproben, z.B. Beachtung von Standards der Datenaufbereitung und Analyse (u.a. Transkriptionsverfahren, EDV-gestützte Verfahren der Analyse quantitativer und qualitativer Daten). Geeignete Fachliteratur ist verfügbar, auch das Volumen hat sich in den letzten Jahren insofern deutlich verbessert, dass einige Monographien zur Forschungsmethodik im Rahmen der Fremdsprachenforschung publiziert wurden, die teils einführenden, teils weiterführenden Charakter haben. Bezeichnenderweise sind dies fast ausnahmslos Publikationen in englischer Sprache (eine solche Ausnahme stellt Albert; Koster 2002 dar, vgl. aber auch die kritischen Anmerkungen von Grotjahn 2003), was trotz aller Rede von der internationalen Wissenschaftssprache Englisch für viele DaF-Studierende (darunter oft internationale Studierende) eine Hürde darstellt (exemplarische Beispiele: Brown 1988, Brown; Rodgers 2002, Dörnyei 2003, Ellis 2005, Gass; Mackey 2007, Mackey; Gass 2005, McDonoug; McDonough 1997, Perry 2005, Seliger; Shohamy 1989). Es ist mir ein besonderes Anliegen hervorzuheben, dass eine gute forschungsmethodische Ausbildung nicht allein für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler und für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der universitären DaF-Standorte wichtig ist. Ich halte die kompetente Beherrschung des grundlegenden Handwerkszeugs für empirische Forschung für eine Schlüsselkompetenz jeder akademisch ausgebildeten Kraft, die im Bereich der Vermittlung von Sprache und Kultur agiert. Nur wer über solche Grundlagen verfügt, wird Forschungsergebnisse angemessen rezipieren können (und wollen), z.B. das Kleingedruckte in statistischen Studien verstehen und solchen Werten wie r, T, p, α etc. Verfahren zuordnen können. Eine DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen 15 bessere Akzeptanz und fundiertere kritische Einschätzung von Forschungsergebnissen im Rahmen der professionellen Aus- und Weiterentwicklung kann dadurch gefördert werden. Des Weiteren kann eine bessere Befähigung zur methodisch kontrollierten Evaluation von Lehrangeboten und zu Aktionsforschung (siehe oben) das Professionsverständnis akademisch geschulter Sprachlehrkräfte weiterentwickeln und möglicherweise bei der weiteren Professionalisierung von Sprachlehre im Bereich DaF/DaZ nützlich sein. So betrachtet stellt Forschungskompetenz ein wichtiges Ausbildungsziel für die DaF-/DaZ-Studiengänge dar, die neben den (in alphabetischer Reihenfolge) didaktisch-methodischen, kulturwissenschaftlichen, lehr-/lernwissenschaftlichen, literatur- und sprachwissenschaftlichen Kompetenzen notwendigerweise anzustreben sind. Literatur Aguado, Karin; Riemer, Claudia (2000): „Empirische Forschung: aus der Praxis für die Praxis?“. In: Wolff, Armin; Tanzer, Harald (Hrsg.): Sprache – Kultur – Politik (= Materialien Deutsch als Fremdsprache 53). Regensburg: Fachverband Deutsch als Fremdsprache, 153-165. Albert, Ruth; Koster, Cor J. (2002): Empirie in Linguistik und Sprachlehrforschung. Ein methodologisches Arbeitsbuch. Tübungen: Gunter Narr. Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld (1996): „Fremdsprachenerwerbsspezifische Forschung. Aber wie? Theoretische und methodologische Überlegungen“. Deutsch als Fremdsprache 33, 144–155; 200–210. Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert; Krumm, Hans-Jürgen (2003): „Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung“. In: Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Vierte, vollständig neu bearbeitete Auflage Tübingen, Basel: Francke, 1-9. Brown, James Dean (2002): Understanding Research in Second Language Learning. A Teacher’s Guide to Statistics and Research Design. Cambridge: Cambridge University Press, 1988. Brown, James Dean; Rodgers, Theodore S.: Doing Second Language Research. Oxford: Oxford University Press. Bundesministerium des Innern: Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz. Abschlussbericht und Gutachten über Verbesserungspotenziale bei der Umsetzung der Integrationskurse, Rambøll Management, Dezember 2006 [verfügbar unter: http://www.bamf.de/cln_011/nn_442016/ SharedDocs/Anlagen/DE/ Integration/ Downloads/ Integrationskurse/ Kurstraeger/Sonstiges/abschlussbericht-evaluation__IP, templateId=raw,property=publicationFile.pdf/abschlussbericht-evaluation_IP.pdf, 10.9.2007]. Caspari, Daniela (2003): Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer: Studien zu ihrem beruflichen Selbstverständnis: Tübingen: Narr. Dörnyei, Zoltán (2003): Questionnaires in Second Language Research. Construction, Administration, and Processing. Mahwah, NJ/London: Lawrence Erlbaum. Ellis, Rod; Barkhuizen (2005): Analysing Learner Language. Oxford: Oxford University Press. 16 Claudia Riemer Fachverband Deutsch als Fremdsprache (2006): Grundsatzpapier des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache (FaDaF) zur curricularen Basis der BA/MA-Studiengänge „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) [verfügbar unter: http://www.fadaf.de/de/ daf_angebote/studieng_nge/grundsatzpapier.pdf, 10.9.2007]. Gass, Susan M; Mackey, Alison (2007): Data Elicitation for Second and Foreign Language Research. Mahwah, NJ/London: Lawrence Erlbaum. Grotjahn, Rüdiger (1987): “On the methodological basis of introspective methods”. In: Faerch, Claus; Kasper, Gabriele (Hrsg.): Introspection in Second Language Research. Clevedon/Philadelphia: Multilingual Matters, 54-81. Grotjahn, Rüdiger (2005): „Rezensionsaufsatz. ‘Empirie in Linguistik und Sprachlehrforschung’. Kritische Bemerkungen zu einem ‚methodologischen Arbeitsbuch’“. Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 14, 1, 169-186. Grotjahn, Rüdiger (2005): „Subjektmodelle. 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Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im Grundschulkontext 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 17-34. Ewa Andrzejewska (Gdańsk) Aneignung von fremdsprachlicher deutscher Lexik im frühen Schulalter. Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im grundschulischen Kontext. Einleitung „Wer davon ausgeht, dass Unterricht dazu da ist, denjenigen, die etwas lernen wollen oder sollen, dabei nach Möglichkeit zu helfen, kann Lernenden schon sehr von Nutzen sein. Bedingung ist dann allerdings, dass sie oder er versucht zu verstehen, wie Lernen vor sich geht, und sich darauf konzentriert diesen Prozess zu unterstützen“ (Westhoff 2005: 3). Diesem Grundgedanken verpflichtet ging mein Forschungsansatz von zwei zentralen Erkenntnisinteressen aus: theoretisch und empirisch zu ermitteln, wie die Lexikaneignung von Kindern im schulischen Fremdsprachenlernen erfolgt. Diese Studie erfolgte im Rahmen unterrichtlich gesteuerter Fremdsprachenaneignung im frühen Schulalter. Der schulische Kontext spielte deshalb eine wichtige Rolle, weil die Forschungsfragen, der Verlauf des Projekts und die Beteiligten (Kinder und Lehrerinnen) von schulinternen Faktoren beeinflusst waren. In meinem Beitrag will ich einige ausgewählte Probleme besprechen, die sich auf Ausgangsbedingungen, Instrumente, Forschungsmethode und Ergebnisse einer vor zwei Jahren durchgeführten Studie beziehen. 1. Anbindung der Studie an theoretische Konzeptionen Erkenntnisinteresse dieses Forschungsvorhabens ist die Lexikaneignung im frühen Fremdsprachenunterricht. Der theoretische Hintergrund ist hier in zweierlei Hinsicht 18 Ewa Andrzejewska von Bedeutung. Einerseits bilden die theoretischen Annahmen eine Basis für die Interpretationen von gewonnenen Daten, andererseits bestimmt die Praxis des fremdsprachlichen Unterrichts u.a. Methoden und Unterrichtsmaterialien, die von einem bestimmten Verständnis vom Kind als Fremdsprachenlerner ausgehen. Da die Daten im konkreten schulischen Unterricht erhoben wurden, ist auch ihre Anbindung an die polnische bzw. in Polen rezipierte und gängige Fachdidaktik ein wichtiges Bezugsfeld. Die Vorstellungen zur Lexikaneignung basieren hier auf der Verbindung von Erkenntnissen zum Spracherwerb und zur muttersprachlichen Lexikaneignung mit der Wortschatzarbeit im Unterricht mit dem Schwerpunkt Frühbeginn. Der Lexikerwerb wird vor dem Hintergrund der Verarbeitungsprozesse im Gehirn untersucht. Aus dieser Sicht steht heutzutage der Lernprozess im Zentrum, einerseits als Phasenmodell der Lernhandlungen und andererseits als Hypothesen über mentale Prozesse auf der neuronalen Ebene. Den Lernprozess sollen drei bzw. vier Stufen ausmachen: von der Wahrnehmung („Wie gelangen die Wörter in den Kopf ?“) über die Verarbeitung („Wie bleiben die Wörter im Kopf ? Wie werden sie angemessen und effektiv im Gedächtnis gespeichert?“) bis zur Anwendung („Wie kommt das passende Wort bei der Sprachproduktion an die richtige Stelle?“), (De Florio-Hansen 1998: 302-309, vgl. Börner 2000: 29, Edmondson 1995: 59). Im Kontext der Lexikaneignung beim Frühbeginn ist in der Fachliteratur überwiegend von der Wortschatzvermittlung die Rede. Die Wortschatzvermittlung bezieht sich hier auf den gesamten Prozess von der ersten Darbietung der Wörter bis zu deren Speicherung im LZG. Im Zentrum des Interesses steht das methodische Vorgehen, das vor allem darauf zielt, die fremdsprachlichen Wörter so zu vermitteln, dass sie abrufbar und verwendbar werden. Das Wiedererkennen von Wörtern wird in der Fachliteratur nur gelegentlich angedeutet. Das Lehren und Lernen von Lexik begreift man als einen Phasenprozess, in dem nach der Darbietungsphase, in der Laut und Bedeutung erfasst werden, die Festigungsphase folgt. Die Festigungsphase soll durch umfassendes Üben die Speicherung im Langzeitgedächtnis und Abrufbarkeit der Wörter sichern (Steinbach 1995: 13; Iluk 2002: 86). Die Bedeutungserfassung und Einübung soll von den Fähigkeiten der Kinder (zur Bedeutungserschließung, zum kreativen Sprachgebrauch, zum indirekten Lernen, Sinn für Spiel, Vorstellungskraft und Fantasie) ausgehen (vgl. Steinbach 1995). Weniger als im gesteuerten Unterricht für Erwachsene schreibt man den Eigensemantisierungen1, zusammen mit der Forderung Verfahren aus dem ungesteuerten Spracherwerb einzubeziehen, eine bedeutende Rolle zu (Köster 2000: 203; De Florio-Hansen 1998: 302-303). Dieses Problem wird in der Forschungsliteratur vergleichsweise wenig thematisiert. Die Diskussion um die Bedingungen für die Vermittlung von Wortschatz stellt in diesem Kontext u.a. die Frage nach dem Lernen von Einzelwörtern und dem daraus folgenden Ziel, Gegenstände, Tätigkeiten und Gefühle zu benennen. Obwohl im polnischen Curriculum für DaF in den Grundschulklassen 1-3 als grundlegendes Lernziel: „Schaffung einer lexikalischen Basis zur Vorbereitung 1 Eigensemantisierungen (modified output): „Erklärungsverfahren, die nicht den traditionellen Wörterbucheinträgen entsprechen und sachlogische Zusammenhänge (Sachfelder) betonen.“ Sie scheinen „sowohl kommunikativ angemessener (Verstehen) als auch erfolgreicher (Behalten) zu sein“ (Köster 2000: 203). Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im Grundschulkontext 19 auf das spätere Kommunizieren in der gegebenen Sprache“ (Starczewska; Szot 1999: 14) genannt wird, soll dieses Ziel, d.h. „solide lexikalische Basis“ durch präkommunikative Wortschatzaufgaben erreicht werden, d.h. isolierte Wörter werden durch Nachsprechen, Abschreiben und andere Festigungstechniken gelernt. Die Auffassung von „solide“ gründet demnach in der Fähigkeit, Tätigkeiten, Gefühle und Gegenstände aus den im Curriculum bestimmten Themenbereichen zu benennen. Diese Fähigkeit wird kritisiert, weil sie nicht selbstverständlich zu kommunikativem Gebrauch führt (Bliesener; Edelenbos 1998: 28ff.; Iluk 2002: 85). So weist auch Iluk darauf hin, dass die polnischen Curricula und Lehrwerke den Schwerpunkt in der Wortschatzarbeit auf Erwerb und Einübung von Einzelwörtern legen (Iluk 2002: 85). Diese verschiedenen Erklärungsversuche sind nicht ohne Einschränkungen zu akzeptieren. Einerseits zeigen die Kinder sehr unterschiedliche Einstellungen den fremdsprachlichen Wörtern gegenüber: „Es gibt Schüler, die sich freuen, Wörter zu sammeln wie Briefmarken, aber die keinen Satz wiederholen und sich dagegen sträuben, Texte zu verstehen“ (Piepho 1992: 8). Andererseits sind die Kinder „weniger sprachversessen als professionalis. Für sie gilt das Paradox, dass sie wohl Vergnügen an Sprache und Interesse an sprachlichen Phänomenen haben, sich aber weniger durch das Medium der Sprache ausdrücken als Erwachsene“ (Kubanek-German 2004: 133). In diesem Kontext soll auch nicht unbeachtet bleiben, „dass auch Einzelwörter für sich Bedeutung tragen und als Mittel der Kommunikation auf elementarem Niveau geeignet sind“ (Klippel 1995: 102). In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Rolle der Muttersprache bei der Wortschatzvermittlung im Frühbeginn. Hier wird überwiegend die von der direkten Methode stammende Auffassung vertreten, dass beim Erlernen einer Fremdsprache auf die Muttersprache weitgehend verzichtet werden soll. Das fremdsprachliche Wort soll direkt und unmittelbar auf Gegenstand, Bild oder Handlung bezogen werden. Es werden kaum Erkenntnisse aus der Zweitsprachenforschung rezipiert. Es wird dabei nicht berücksichtigt, dass die Wortbedeutungen der Erstsprache am Anfang der Fremdsprachenaneignung eine wichtige Rolle spielen und die Muttersprache ein wichtiges Beziehungsfeld bei der Vernetzung von neuen lexikalischen Informationen ist (Apeltauer 2007). Die weitere Auseinandersetzung mit den Annahmen zur Aneignung von fremdsprachlicher Lexik im schulischen Frühbeginn zeigt, dass dabei die Empfehlungen zwar im unterschiedlichen Ausmaß, doch weitgehend den Empfehlungen für erwachsene Lerner ähnlich sind (zumindest bei der kommunikativen Methode: multisensorisch, abwechslungsreich, spielerisch). Man beobachtet auch (in der polnischen Fachliteratur) eine gleichzeitige Begründung des methodischen Vorgehens im Fremdsprachenunterricht mit Kindern durch den Spracherwerbsmechanismus (LAD), den affektiven Filter, die konstruktivistische Lerntheorie und die Verstärkungsprozesse im Sinne des Behaviorismus. Sowohl aus der Sicht der Psycholinguistik als auch aus der Sicht komplexer LehrLernmodelle bleibt hier die Frage des Inputs von Bedeutung, vor allem die Frage nach der qualitativen und quantitativen Wahl der lexikalischen Einheiten. Eine Basis für die qualitative Bestimmung der im Frühbeginn zu lernenden Wörter bilden Annahmen über die Lehr- und Lernprozesse. Die Vermittlungsperspektive unterstreicht vor allem 20 Ewa Andrzejewska die Wahl der Substantiva, die Konkreta benennen, weil sie sich leicht im Unterricht veranschaulichen lassen. Die Lernperspektive berücksichtigt die Lernbarkeit der Wörter (Schwierigkeitsgrad des Lautbildes; Schwierigkeitsgrad des Schriftbildes; Wörter, die emotional wirken (Rohrauer; Rohrauer; Schönberger 1994: 32).2 Es wird darauf hingewiesen, dass seit den 90er Jahren die Auswahlkriterien in den Lehrwerken für Kinder sehr einseitig sind, d.h. vorwiegend auf Vermittlungstechniken beruhen. Im Gegensatz zu den audiolingualen Lehr-Lernbüchern, wo das Was und Warum primär sprachlich-linguistisch begründet war, steht heutzutage das Wie der Wortschatzvermittlung im Zentrum des Interesses (Rixon 1999: 63). Darunter leidet die inhaltliche Seite der Lehrwerke. Darüber hinaus kann man kaum einen einheitlichen Kernwortschatz in den Lehrwerken für Kinder finden.3 Aus den Untersuchungen zum Spracherwerb geht hervor, dass die Zahl der verfügbaren lexikalischen Einheiten für die weitere Sprachentwicklung von großer Bedeutung ist. Demnach wird die Zahl der Wörter und der Grad ihrer Aneignung als Voraussetzung von „qualitativen Sprüngen“ innerhalb verschiedener sprachlicher Bereiche angenommen. Für die phonologische Ausdifferenzierung braucht das Kind 50 Wörter (Kielhöfer 1997: 41) für die Syntaxentwicklung bis zu 400 Wörter (Bleyhl 2000: 16). Für den Lexikonsaufbau nennt Clark die Zahl von 500-600 Wörtern (Clark 1993). Die Zahl der erworbenen Wörter dient als Maßstab zur Einschätzung der frühen grammatischen Entwicklung des Kindes und lässt sich mit den Angaben zum Wortschatzumfang vorhersagen (Goldberg 2003: 135). Das gilt jedoch nur für die Ansätze, die Zusammenhänge der Lexikaneignung mit der Entwicklung der anderen sprachlichen Bereiche annehmen. Für die modularen Theorien verläuft die Entwicklung der verschiedenen sprachlichen Bereiche weitgehend voneinander unabhängig (Kauschke 1999: 130). Die Untersuchungsergebnisse zur quantitativen Entwicklung des muttersprachlichen Wortschatzes wurden in die Fremdsprachendidaktik übernommen. Ähnlich wie beim Mutterspracherwerb soll die Entwicklung verschiedener sprachlicher Bereiche mit den ca. 400 erworbenen Wörtern in Gang gesetzt werden. Diese Zahl bezeichnet „eine kritische Masse von Wörtern“. Laut den gängigen Vorstellungen umfasst der Kenntnisstand am Ende der ersten zwei (drei) Jahre des Unterrichts mit zwei Wochenstunden 300 bis 500 Vokabeln (Piepho 1992: 31; Rohrauer; Schönberger 1994: 31; Maier 1991: 146).4 Diese Zahl ergibt sich aus der entwicklungspsychologischen Erkenntnis, dass die Gedächtnisspanne und Behaltensfähigkeit der Grundschulkinder kürzer als bei den älteren Kindern ist.5 Demnach kann das Kind nur 3 (Steinbach 1995: 14) von 2 3 4 5 Des Weiteren soll die Lernbarkeit von der Art und Weise der Vermittlung im Unterricht abhängig sein und deswegen bestimmt dies nur indirekt die Wahl der Lexik. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass sich Kinder am effektivsten Wörter, die ihr Interesse wecken, merken. Hier sei auf die Untersuchung von Szpotowicz verwiesen (Szpotowicz 2000). Rixon untersuchte Lehrwerke für Grundschulenglisch und stellte fest, dass die Unterschiede in Bezug auf Qualität der Wörter sehr hoch sind (Rixon 1999: 60f.). Ein Vergleich des Vokabelumfanges für den Frühbeginn in: Gompf (1975: 72). Eine Zusammenstellung von Zahl der Wörter in Bezug auf Stundenzahl und -dauer im Fremdsprachenunterricht mit Kindern in unterschiedlichen Ländern in: Rixon (1999: 59). Dass selbst diese Perspektive zu eng für die Bestimmung des Grundwortschatzes ist, betont Butzkamm: „Warum ist aber ein möglichst großer Wortschatz gleich zu Beginn so wichtig? Weil das Neugier- und Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im Grundschulkontext 21 3 bis 5 neuen Wörtern pro Unterrichtseinheit (Maier 1991: 146) aufnehmen und speichern, und zwar unter lernfördernden Bedingungen (z.B. ungeteilte Aufmerksamkeit). Diese Angaben beziehen sich auf den aktiven Wortschatz. Zum passiven Wortschatz werden keine Zahlen genannt. Mit der Zahl von über 400 lexikalischen Einheiten wird man den spracherwerbstheoretischen Auffassungen von der sog. „kritische Masse“, welche einen qualitativen Sprung ermöglicht, gerecht. Unter diesem Gesichtspunkt wird die weitgehende Begrenzung des Wortschatzes im Frühbeginn kritisiert (Bleyhl 2000: 16; Iluk 2002: 24). Der Umfang des aktiven Wortschatzes gilt oft als Maßstab für einen erfolgreichen Fremdsprachenunterricht. Mit der Zahl der beherrschten Wörter ließe sich demzufolge die Effektivität des Lehrens und Lernens einfach messen und das weitere Lexikwachstum planen. In Bezug auf den frühen Fremdsprachenunterricht, wo einerseits die rezeptiven Fertigkeiten in den Vordergrund treten und andererseits nicht nur sprachbasierte Erhebungsformen (d.h. auch Malen, Pantomime u. a.) zum Tragen kommen, sollte dieses Kriterium differenziert werden (Kubanek -German 2003: 56). 2. Forschungsdimensionen im grundschulischen Kontext „Wer Sprachdaten von Kindern zu erheben und auszuwerten versucht, weiß, dass dies oft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist“ (Apeltauer 2000: 7). Dass sich Kinder sprachlich anders als Erwachsene verhalten und sich nicht ausschließlich durch das Medium Sprache ausdrücken, wird oft im Kontext der forschungsmethodologischen Erwägungen angedeutet. Man weist darauf hin, dass kindliches (Sprach-) Verhalten bei der Datenerhebung und auch Datenauswertung im Grundschulbereich spezifische Probleme auslöst. Im Gegensatz zu Erwachsenen kommen bei den Untersuchungen mit Kindern verstärkt Emotionen ins Spiel. Auslöser von Emotionen kann der Kontext sein, u.a. das Vertrauensverhältnis zwischen Kindern und Interaktionspartner (Lehrer, Studenten). Dieser Kontext kann einen großen Einfluss auf die Datenproduktion der Kinder ausüben: er kann bei den Kindern Spannungen auslösen, negative Einstellungen verursachen oder aber sich höchst positiv auf das Lösen von Aufgaben oder auf Gespräche auswirken (Apeltauer 2000: 8). Emotionale Aspekte spielen eine wichtige Rolle, sowohl bei Gesprächen mit Kindern auch als bei der Anwendung unterschiedlicher Forschungsinstrumente. Dabei wirkt sich sowohl die Art der Aufgabe als auch die ästhetische Form (darunter Farbe) der Arbeitsblätter motivierend aus. Die Zahl der Aufgaben kann die Kinder abschrecken. Man muss sie besonders behutsam in eine neue Aufgabe einarbeiten. Die Erhebung von Daten im schulischen Kontext muss die in den jeweiligen Schulen herrschenden Bedingungen, die sich aus dem Stundenplan ergeben, einbeziehen. So ist die Konzentrationsfähigkeit nach 5 Stunden Unterricht anders als früh am Morgen, oder als an einem Tag, an dem die Kinder zusammen ins Kommunikationsmotiv nur über einen vielfältigen Wortschatz zu befriedigen sind. Die Ausdrucksbedürfnisse der Kinder dürfen nicht an die Kette eines wohldosierten, hauptsächlich nach Frequenzgesichtspunkten ausgewählten Wortschatzes gelegt werden. Dort verkümmern sie. Und da die Kinder sich angeblich nichts merken können, verringert man den Wortschatz noch weiter. Das nennt man realistisch“ (Butzkamm 2002: 252). 22 Ewa Andrzejewska Theater gehen bzw. an Wettkämpfen teilnehmen. Darüber hinaus werden die Daten mit den Kindern bekannten herkömmlichen Aufgaben, die tief im Kontext der alltäglichen Arbeit verwurzelt sind, ermittelt. Indem man die Forschungsaufträge mit den alltäglichen Aufgaben der Kinder verbindet, bedeutet die Teilnahme der Kinder an einer Untersuchung keinen zusätzlichen zeitlichen Aufwand. Darüber hinaus kann man über einen längeren Zeitraum mit einer festen Zahl an Versuchspersonen arbeiten. Zu vermerken ist, dass die Grundschulzeit in Polen 6 Jahre dauert und Untersuchungen mit Schulklassen deswegen über eine längere Zeit möglich sind. 3. Untersuchungsmethode Für die Erforschung der unterrichtlich gesteuerten Lexikaneignung von fremdsprachlicher Lexik im frühen Schulalter scheint eine polymethodische Vorgehensweise geeignet zu sein. Es wurde die Mehr- Methodenanalyse angewendet, die darauf zielt „den zu untersuchenden Gegenstand möglichst vielfältig an[zu]gehen, einkreisen zu können, um die entsprechenden Analysen und Interpretationen aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig abzusichern“ (Henrici 2000: 32). Um möglichst genau vorzugehen, wird die Methode der „Triangulation“ angewendet. Es werden in Bezug auf gleiche Fragen Daten aus verschiedenen Schulen und Orten, Datensätze, die mit verschiedenen Instrumenten (z.B. Interviews, Fragebögen, Beobachtungen) und von verschiedenen Personen (Lehrer, Schüler, beobachtende Studenten) gewonnen werden, ermittelt und verglichen (Konarzewski 2000: 33). Bei der Studie handelt es sich um „Micro-Research“, bei der der Blick auf Kleingruppen und einige Grundschulklassen geworfen wird (Johnstone 2001). Es wurden keine Hypothesen aufgestellt, denn das Ziel war, dem Kind zu folgen und somit Antworten zu erhalten, die nicht voraussehbar waren. Die qualitativen Analysen werden durch quantifizierbare Einschätzungsverfahren vervollständigt. Diese Vorgehensweise findet ihre Begründung einerseits in der Mehr-Methodenanalyse, andererseits hängt sie selbst von den jeweiligen Instrumenten ab. Demnach ist zwischen quantifizierbaren (so ist z.B. die Zahl der richtig zugeordneten Wörter zum Wortfeld quantifizierbar), und solchen, die eine doppelte (qualitative und quantitative) Auswertung verlangen zu unterscheiden. Die Auffassung von der Kategorie Vokabel ist z.B. in diesem Sinne quantifizierbar, da die Unterscheidung Vokabel versus Wort abzählbar ist, die Begründung aber eine qualitative Auswertung verlangt; so kann beispielsweise auch die Anzahl der gleichen (ähnlichen) Lieblingswörter errechnet werden, gleichzeitig sind aber die Erklärungen der Kinder von Bedeutung. 4. Ziele und Design der Untersuchung Das Ziel dieser Studie war zu erforschen, wie Grundschulkinder bei der fremdsprachigen Wortschatzarbeit vorgehen. Im Allgemeinen ging es darum, Daten über den Wortschatzerwerb zu erhalten, Einsicht in den Wortschatzerwerb aufgrund der erhobenen Daten zu gewinnen, qualitative Aussagen über den Erwerbsprozess zu erarbeiten und Forschungsinstrumente zu überprüfen. Es wurden nur einige Teilbereiche aus dem komplexen Thema Lexikaneignung untersucht: Lernstrategien, Bedeutungserschließen und Wiederabrufen wie auch die Selbsteinschätzung und das Sprachbewusstsein in Bezug auf Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im Grundschulkontext 23 Lexik. Die Wahl der Forschungsfelder ergab sich aus den Fragen, die in der Schulpraxis aufgeworfen wurden, wobei hier die Lernerperspektive in den Mittelpunkt rückte. Für die Gewinnung von Daten wurden unterschiedliche Instrumente entwickelt, adaptiert oder vom Lehrwerk „Kängookängoo Deutsch“ (Andrzejewska; Fuks; Stasiak 2000) übernommenen. Die Anwendung der unterschiedlichen Untersuchungsmaterialien wurde mit den beteiligten Lehrerinnen diskutiert, besonders unter dem Aspekt, ob die Lehrerinnen, die mit dem Lehrwerk „Kängooköngoo Deutsch“ arbeiten, die geplanten Aufgaben, die von diesem Lehrwerk übernommen wurden, schon früher im Unterricht angewendet hatten. Die Verschiedenheit der Untersuchungsinstrumente sollte ermöglichen, das Problem der Lexikaneignung im gesteuerten Fremdsprachenunterricht möglichst vielseitig zu ergründen. Zu unterscheiden sind Aufgaben, die von den Kindern gelöst wurden und solche, die von den Lehrerinnen und Studenten mit Hilfe von Beobachtungsbögen durchgeführt wurden. Für die Aufzeichnung von Daten wurden Verlaufsprotokolle von Unterrichtsstunden, die Aufgaben vom Lehrwerk „Kängookängoo Deutsch“, Video- und Audioaufnahmen, Portfolio zum Lehrwerk „Kängookängoo Deutsch“, Beobachtungsbögen und Produkte der Kinder (Plakate) angewendet. Dieses Projekt wurde innerhalb von 4 Jahren realisiert: In den ersten zwei Jahren (1999/2000; 2000/2001) wurden Daten von einer Kinderwerkstatt (14 Kinder) und einer Schulklasse (28 Kinder, Gruppenunterricht 14+14) erhoben. Diese Materialien beruhen auf Videoaufnahmen, Unterrichtsbeobachtungen und Arbeiten der Kinder. Im Laufe der nächsten zwei Jahre (2002/2003; 2003/2004) wurden eine Kinderwerkstatt und die anderen 9 Grundschulklassen einbezogen. Die Untersuchung umfasst grundsätzlich das zweistündige Angebot in Klasse 1 und Klasse 2 oder Klasse 2 und Klasse 3 und betrifft Kinder, die zwei Jahre lang Deutsch lernen. Insgesamt waren an diesem Projekt 217 Kinder beteiligt. Es handelt sich um Kindergruppen, die mit dem nationalen Durchschnitt vergleichbar sind, weil die Kinder sowohl in größeren als auch kleineren Städten und auf dem Lande wohnen und dort die Grundschule besuchen. Sie besuchen öffentliche und private Grundschulen. Ein weiterer Faktor waren die Unterrichtsmaterialien, die im Unterricht Einsatz fanden. Obwohl die Lehrerinnen mit unterschiedlichen Lehrwerken und Materialien gearbeitet hatten, gaben alle an mit demselben Programm für die Klassen 1-3 gearbeitet zu haben (Starczewska; Szot 1999). Daraus folgt, dass die im Programm genannten Themen (Wortschatzbereiche) und didaktischen Empfehlungen realisiert wurden. Die Wahl der Schulklassen erfolgte durch die beteiligten Lehrerinnen. Es war für die Untersuchung wichtig, mit ausgebildeten und nach ähnlichen didaktischmethodischen Prinzipien unterrichtenden Lehrerinnen zu arbeiten, mit denen auch ein ständiger Kontakt (Rückfragen, Bemerkungen usw.) möglich war. Die beteiligten Lehrerinnen waren: 4 Deutschlehrerinnen (Mag. der Germanistik); 2 Grundschullehrerinnen mit Qualifikation für den früh beginnenden Deutschunterricht; 1 Grundschullehrerin (Mag. der Pädagogik) plus KKNJO, 1 Deutschlehrerin mit KKNJO-Ausbildung. Zwei Grundschullehrerinnen unterrichten als Klassenlehrerinnen alle Fächer. Die fachdidaktische und sprachliche Qualifikation der Lehrerinnen wurde durch Fortbildungen erweitert, zwei Grundschullehrerinnen nahmen an einem Fortbildungs- und Qualifi- Ewa Andrzejewska 24 kations-Seminar6, die Deutschlehrerinnen an einem postgradualen Studium teil.7 Vor der Untersuchung wurden die Lehrerinnen bei einem Treffen (April 2004) genau über die Ziele und Bedingungen der Studie informiert und mit den Instrumenten bekannt gemacht. Alle Lehrerinnen, die an diesen Fortbildungsseminaren teilgenommen haben, wurden gezielt auf die Problematik der Wortschatzvermittlung vorbereitet. Darüber hinaus erhielten sie auch schriftliche Instruktionen zu den Untersuchungsinstrumenten und zur Beschreibung der Lerngruppe. Durch den ständigen Kontakt mit den beteiligten Studenten und Lehrerinnen ergaben sich zusätzliche Fragen und Bemerkungen. Die an diesem Projekt beteiligten Lehrerinnen sahen in der Teilnahme an diesem Projekt praktische Vorteile, sie bekamen nämlich eine offizielle Bestätigung, die für das berufliche Weiterkommen von Nutzen sein kann. 5. Ergebnisse Im Folgenden werden einige Ergebnisse der Untersuchung in Bezug auf die unterschiedlichen Forschungsfelder dargestellt. Es wird kurz auf einige Punkte eingegangen, die Probleme und Entscheidungen, die diese Forschungsarbeit begleiteten, deutlich machen. 5.1 Vokabeln und Wörter − Der schulische und sprachliche Kontext bei der Erforschung des Sprachbewusstseins von Kindern Neben dem Begriff Wort ist unter Schülern und Lehrern der Begriff Vokabel verbreitet. In der Fachliteratur und im Alltag wird der Begriff Vokabel vorwiegend in Bezug auf den schulischen Fremdsprachenunterricht verwendet. Die Untersuchungen zu subjektiven Theorien vom Fremdsprachenlernen beweisen, dass das Konzept Vokabel von Gymnasiasten und Hauptschülern auf das formale, schulische Lernen begrenzt und mit subjektiven Schwierigkeitsempfinden verknüpft ist (vgl. Knapp-Potthoff 2000). Inwieweit auch Grundschulkinder den Begriff Vokabel unterscheiden und ihn mit dem schulischen Fremdsprachenlernen assoziieren wurde in einer Untersuchung erforscht (Andrzejewska 2005: 58ff.). Es zeigte sich, dass die Mehrheit der Siebenjährigen den Begriff Vokabel am Anfang des ersten Lernjahres mit dem fremdsprachlichen (Deutsch)Unterricht assoziierte. Diese Untersuchung, die während der Pilotphase durchgeführt wurde, zeigte, dass das Konzept Vokabel auch schon unter den Erstklässlern bekannt und mit dem schulischen Lernen von Fremdsprachen verknüpft ist. Allerdings wurden die Ergebnisse mit großer Vorsicht interpretiert, weil vermutet werden kann, dass die Tatsache, dass die Daten während des Deutschunterrichts erhoben wurden, die Antworten der Kinder beeinflusst hat. So wurde dieser Frage noch einmal unter anderen Bedingungen und mit anderen Instrumenten nachgegangen. Um die Einflüsse der anderen Kinder zu verhindern, wurde auf das Interview mit der ganzen Klasse verzichtet. Diesmal bekam jedes Kind ein Arbeitsblatt mit Fragen, die es selbst beantworten sollte. Darüber hinaus wurde diese Aufgabe nicht während des Deutschunterrichts durchgeführt, sondern 6 7 Fortbildungskurs im Bereich Methodik und Didaktik des frühen Deutschunterrichts für Grundschullehrer (05- 29. 09. 2003; 240 Unterrichtsstunden, ODN Gdańsk). Postgraduales Studium UG KKNJO, Gdańsk 2003. Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im Grundschulkontext 25 während des Polnischunterrichts beziehungsweise während der „Klassenleiterstunde“. Jedes Kind bekam ein Arbeitsblatt, auf dem zwei Fragen in der Muttersprache formuliert wurden: Was sind Wörter? Was sind Vokabeln? Diese zwei Fragen sollten die Aufmerksamkeit der Kinder auf den Unterschied lenken. Die Lehrerinnen erteilten diese Aufgabe ohne Bezug zur Fremdsprache. Die Kinder sollten kurze Antworten aufschreiben. Die Bearbeitungsdauer der Aufgaben betrug im Durchschnitt 10-15 Minuten. Man muss hier auf einen sprachlichen Unterschied zwischen Deutsch und Polnisch hinweisen. Bei der polnischen Übersetzung von Vokabel handelt es sich um eine Verkleinerungsform von Wort (Wörtlein). 23% der Kinder gaben an, dass Wörter länger als Vokabeln seien. Indem aber manche Kinder dies mit der Zahl der Buchstaben belegten, identifizierten andere Kinder Wörter mit Designaten (z.B. Wörter das sind sehr lange Vokabeln, die nicht durch eine Tür passen, z.B. Elefant. Vokabeln, das sind kleine Wörter, die durch eine Tür passen.). Darüber hinaus wurde die Opposition Wörter-Vokabeln oft durch eine intuitive Analyse der polnischen Begriffe erklärt. Demnach glaubten 36 Kinder (27%), dass sich Vokabeln im Allgemeinen auf Diminutivformen beschränken oder nur in Bezug auf die Verkleinerungsform des Wortes słowo: „Słówko”. Viele Kinder führten auch das polnische Wort Ausdruck zur Erklärung des Begriffs Wort an. Die Differenzierung Wörter-Vokabeln wurde von 10% der Kinder ganz abgelehnt. Sie behaupteten, dass Wörter und Vokabeln das gleiche bedeuten und sich gar nicht unterscheiden. Wenn die Kinder diese Begriffe als unterschiedlich empfanden, führten sie folgende Erklärungen an: Vokabeln sind Verkleinerungsformen (27% der beteiligten Kinder); Vokabeln sind kurze Wörter (23%); sonst gaben sie unterschiedliche Erklärungen, u.a.: Vokabeln, das sind Ausdrücke, die man selten benutzt (z.B. Mond), die mehrere Bedeutungen haben; einfach (z.B. Vati); die sich leicht schreiben lassen; die wir benutzen, wenn wir etwas zu den Freunden sagen, denn bei den Erwachsenen benutzten wir Wörter. Nur vier Kinder assoziierten das Konzept Vokabel mit einer Lernsituation im Allgemeinen: Vokabeln, das sind Wörter zum Lernen für die Klassenarbeit; Vokabeln, das sind Wörter, die wir in der Unterrichtsstunde kennen lernen; Vokabeln lernen wir, sie können schwer sein; Vokabeln lernen wir, also sind sie eine Plage. Eine Unterscheidung, die den Begriff Vokabel auf den (schulischen) Fremdsprachenunterricht und eine Fremdsprache bezog, trafen 17 der 135 Kinder, die eine Erklärung von Vokabeln angegeben hatten, was einem Prozentsatz von 12% entspricht. Die schriftlichen Äußerungen und Assoziationen, die die Kinder in Bezug auf Unterscheidung der Vokabeln als fremdsprachliche Wörter machten, kann man folgendermaßen kategorisieren: Vokabeln sind fremdsprachliche Wörter im Allgemeinen, fremdsprachliche Wörter, die man übersetzt (im Unterricht oder auch außerhalb der Schule; vor allem aufgeschriebene Wörter in Form von Vokabelgleichungen), fremdsprachliche Wörter, die man im Unterricht lernt, um eine fremde Sprache zu beherrschen (hier wurde zweimal angedeutet, dass Lehrer das Lernen von Vokabeln verlangen). Das Beispiel zeigt, dass der Kontext einen wichtigen Einfluss auf die Ergebnisse hat: außerhalb des Fremdsprachenunterrichts kam es zu anderen Antworten. Dabei zeigt sich, dass schon bei den Kindern der Halo-Effekt mitwirkt. Die Kinder tendieren dazu, das zu tun und zu glauben, was ihrer Meinung nach von ihnen 26 Ewa Andrzejewska erwartet wird und der Situation angemessenen zu sein scheint (Edmondson; House 2000: 37). Darüber hinaus kann man ohne die linguistische Analyse der Erstsprache die Ergebnisse teilweise falsch interpretieren. 5.2 Selbsteinschätzungen Da sich die unterschiedlichen Aufgaben zur Selbsteinschätzung vorwiegend auf Lexik beziehen, wurden sie für diese Untersuchung benutzt. Eine der Aufgaben zur Selbsteinschätzung wurde dem Europäischen Sprachportfolio entnommen, nämlich die, wo leere Zeilen oder auch ganze Seiten für die freien Einträge der Schüler vorgesehen sind. Hier sollte erforscht werden, wie dieses Instrument den Zuwachs an lexikalischen Kenntnissen widerspiegelt. Alle der beteiligten Kinder machten Notizen, diese waren aber in Bezug auf Form, Inhalt und Umfang unterschiedlich. Bei der Auswertung wurden die Aussagen nach formalen Kategorien ((einzelne Wörter: Verben, Nomen, Adjektive), Aussagesätze, Fragen und Themen) geordnet, in Prozentwerte umgerechnet und dann mit allen Äußerungen und innerhalb bestimmter Klassen verglichen. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Selbsteinschätzung dem Lehrer eine Auskunft über die kindliche Sicht auf die Lernprozesse ermöglicht. Die meisten Kinder, d.h. 74%, erledigten die Aufgabe auf Deutsch. 26% der Kinder (36 Schüler) machten ihre Notizen auf Polnisch, darunter eine ganze Klasse (Schulklasse10, vier Wochenstunden Deutschunterricht). Die Aussagen der Kinder dieser Klasse und die anderen Aussagen auf Polnisch unterscheiden sich grundsätzlich von den Aussagen auf Deutsch. Die Kinder, die ihre Kenntnisse auf Polnisch aufgeschrieben hatten, formulierten allgemeine, vorwiegend als Kategorien und Fähigkeiten formulierte Aussagen, z.B. „Ich kann einen Brief schreiben. Ich kann mich vorstellen. Ich kann alle Monate, Jahreszeiten und Wochentage nennen. Ich kann mit meiner Freundin auf Deutsch sprechen. Ich kenne die Zahlen. Ich kenne einige Lieder und Gedichte. Ich kann sagen, was ich gern mache und was ich nicht gern mache. Ich kann Tiere beschreiben. Ich kann Tiere, Schulsachen und Spielsachen benennen.“ Aus dem Nachgespräch mit der Lehrerin ergab sich, dass die Kinder, als sie diese Aufgabe bekommen hatten, laut eingewendet hätten, dass es unmöglich sei, alles, was sie schon gelernt hatten, auf zwei A4 Seiten aufzuschreiben. Sie trafen zusammen die Entscheidung ihre Kenntnisse nicht in Form von Wendungen, Sätzen oder Wörtern, sondern in Form von Kann-Beschreibungen zu formulieren. Ähnliche Kann-Beschreibungen wurden von den Kindern der anderen Klassen gemacht. Dabei gab es auch Notizen, die sich kaum von denen, die auf Deutsch gemacht wurden, unterscheiden. Die Notizen auf Deutsch waren keine Kann-Beschreibungen, sondern Belege der fremdsprachlichen Kenntnisse. Die Kinder hatten sowohl einzelne Wörter aufgeschrieben als auch zwei volle A4 Seiten mit unterschiedlichen Wörtern und Sätzen eingetragen. Die mengenmäßigen Unterschiede zwischen den einzelnen Arbeiten waren sowohl innerhalb der jeweiligen Schulklassen als auch in Bezug auf verschiedene Lernergruppen beträchtlich. Die meisten Einträge waren in den Lerngruppen mit erweitertem Stundenangebot (drei Wochenstunden) zu verzeichnen, die wenigsten in solchen mit nur einer Wochenstunde. Eine große innere Differenzierung wurde aber bei allen Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im Grundschulkontext 27 Lerngruppen festgestellt. Darüber hinaus ist sie besonders auffällig in den Klassen, die am besten abgeschnitten haben. Es stellt sich hier die Frage, ob diese Werte in Bezug auf die 50-Wörter Grenze interpretiert werden können. Misst man das mentale Lexikon an der 50-Wörter-Grenze, so kann man feststellen, dass Kinder aus den Schulklassen mit dreistündigem bzw. zweistündigem Angebot diese Grenze überschritten haben oder bereits knapp davor stehen. Aus den von den Kindern gemachten Notizen geht hervor, dass es sich bei den von ihnen genannten Redemitteln, die sie zu beherrschen glaubten, vor allem um Einzelwörter handelt. In den extrem hohen Prozentwerten von Einzelwörtern (92% Einzelwörter), die die Kinder zu beherrschen glaubten, spiegelt sich wahrscheinlich der Input der Lehrkräfte wider. Die Einzelwörter werden im Unterricht aufgeschrieben, gezielt gefestigt und auch in Bezug auf die Einzelwörter wird öfter eine Leistungskontrolle ausgeführt. Anhand der Aufgaben, die die Arbeitsbücher enthalten, werden vorwiegend Wörter geübt. Die Ergebnisse bestätigen auch, dass die Lehrer den Lernzielen des frühen Fremdsprachenunterrichts folgen, nämlich dem oft benannten Ziel Farben, Gegenstände und Tätigkeiten zu benennen. Eine besonders hohe Prozentzahl der Einzelwörter (99,5 %) gaben die Kinder einer Schulklasse an, die einmal in der Woche Deutschunterricht hatten. Bei dieser Schulklasse kann die Ursache wahrscheinlich das Lehrwerk „Eins, zwei, drei“ (Halej; Kozubska; Krawczyk 1999) sein, das die meisten Aufgaben auf der Wortebene aufweist. Innerhalb der Einzelwörter überwiegen Nomen (85%). Die Überlegenheit von Nomen wurde in jeder Lerngruppe festgestellt. Verben und Adjektive kamen seltener vor. Die Durchschnittswerte aller beteiligten Kinder zeigen, dass mehr Nomen als Verben aufgelistet werden. Diese Tatsache bestätigt die Annahme, dass Nomen schneller erworben werden (Snow in: Gleason; Ratner 2005: 390). Sowohl bei der Aufgabe zur Selbsteinschätzung als auch bei Wiedererkennung der gelernten Wörter lässt sich zeigen, dass sich die qualitativen und quantitativen Analysen ergänzen. Die von den Schülern angefertigten Arbeiten geben nicht nur Aufschlüsse darüber, was die Schüler glaubten zu beherrschen. Die Arbeitsblätter liefern auch indirekte Informationen über die Strategien zum Abruf des lexikalischen Wissens aus dem Gedächtnis oder auch zur Art der Speicherung im mentalen Lexikon. Gleichzeitig aber kann die Form der kindlichen Einträge auch von der Art des Lernens beeinflusst werden und den Lehrerinput im Unterricht widerspiegeln. Bei der Auswertung der Kinderarbeiten zeigte sich nämlich, dass die meisten Kinder ihre Notizen nach ähnlichem Muster angefertigt hatten. Die notierten Wörter wurden nach Themen geordnet. Demnach wurden z.B. zuerst alle Tiere, an die sich das Kind erinnerte, aufgelistet und danach kamen Körperteile, Wochentage usw. Ein weiteres Ordnungsprinzip, das aus den Arbeiten abzulesen ist, war die Auflistung der Wörter nach den Wortarten. Die Kinder führten alle Verben, an die sie sich erinnerten, nacheinander auf; das gleiche gilt für Nomen und auch für die wenigen Adjektive. Bei Adjektiven wurden von vier Kindern Antonyme nebeneinander aufgezählt. Erst am Ende der nach solchem Muster angefertigten Arbeiten kamen manchmal einige wenige Wörter dazu, die sich diesem Ordnungsschema entziehen. Hier hatten die Kinder ergänzend einige einzelne Wörter aus den unterschiedlichen Themenbereichen nebeneinander geschrieben. 28 Ewa Andrzejewska Daneben gab es aber einige einzelne Arbeiten, in denen die Auflistung der Redemittel nicht ganz dem von mehreren Kindern angewendeten Ordnungsschema folgte. In allen Lerngruppen sind es nur 5 Kinder, deren Arbeiten sich von den anderen unter diesem Aspekt unterscheiden. Indem die Wörter bei ihnen auch thematisch gruppiert wurden fehlte jedoch eine konsequente Einordnung nach Wortarten. Es wurden zwar zwischen nebeneinander stehenden Wörtern Kommata gesetzt, aber die syntagmatischen Assoziationen waren leicht zu erkennen: wie z.B. bei einem Schüler aus der sechsten Lerngruppe: „Buch, lesen, Pinsel, malen, Kleber, basteln, Fußball, spielen, Kuli schreiben, Schere schneiden“. Darüber hinaus wurden weiter auch nicht alle Tiernamen nacheinander aufgelistet, sondern nach unterschiedlichen weiteren Kriterien geordnet wie z.B. „Maus, Katze, Hund“, danach Esswaren, die diese Tiere essen können, dann Tiere aus dem ZOO und die Körperteile von diesen Tieren. Auch die Wochentage wurden bei diesen Kindern nicht alle auf einmal eingeführt. Sie folgten unterschiedlichen individuellen Kriterien. So ergab sich aus den Nachfragen, dass die Kinder ihre Lieblingstage und die anderen Tage, dann Tage an denen sie Deutschunterricht hatten getrennt aufgelistet hatten. Bei den wenigen Kindern, die sich nicht prinzipiell nach dem thematischen und nach Wortarten gruppierten Ordnungsschema gerichtet hatten, war ein weiteres Prinzip zu erkennen: Sie schrieben nebeneinander Wörter mit gleichen Anfangsbuchstaben auf, z.B.: „Schwester, Schokolade; Pulli, Po, Pinsel; Milch, Mantel, Mutter.“ Man kann aber von keiner signifikanten Korrelation zwischen der Art von Notizen und Menge der Einträge sprechen. Diese Arbeiten gehören in Bezug auf die Zahl der angegeben Redemittel eher zu den höchsten und mittleren Ergebnissen innerhalb der jeweiligen Lerngruppe. Auffällig ist jedoch, dass sich die Kinder, die die syntagmatischen Assoziationen aufgeschrieben haben, auch anderer Ordnungsprinzipien bedienten, d.h. Anfangsbuchstaben, Vorlieben, eigenen Erfahrungswelten. Dagegen hielten sich die anderen Kinder nur an das thematische- und Wortartenprinzip. Die Frage, ob diese unterschiedlichen Abrufstrategien (bzw. Arten der Speicherung) zu besseren Ergebnissen führen und ob sich dadurch der sog. „good language learner“ erkennen lässt, ist weiter zu erforschen. Die Lehrerinnen haben zwar zugegeben, dass diese Kinder besonders gut im Deutschunterricht abschneiden; hier ist aber genauer zu erfragen in welchen Bereichen und wie sich diese Fähigkeit im Weiteren auf die Sprachentwicklung auswirkt. 5.3 Wiedererkennung gelernter Wörter Mit diesem Instrument sollte erforscht werden, ob der in den Lehrplänen empfohlene Wortschatz am Ende des zweiten Lernjahres erkannt wurde. Die quantitative Analyse der Wiedererkennungsaufgaben zeigte, dass die Kinder am Ende des zweiten Lernjahres den zu den curricularen Vorschriften gehörenden Wortschatz größtenteils erkannt haben. Der Prozentsatz an richtigen Antworten war in allen Lerngruppen hoch. Darüber hinaus liefern die Kinderarbeiten Auskünfte über ihren Umgang mit dem Wortschatz: die erfolgreichsten Kinder haben bei der Wiedererkennung unterschiedliche Ordnungsprinzipien angewandt. Die Arbeitsblätter, auf denen Kinder diese Aufgabe lösten, dokumentieren zum Teil die Vorgehensweise der Kinder. So kann man anhand der Blätter Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im Grundschulkontext 29 erkennen, dass es sich um stufenweise Markierung (durchstreichen, markieren usw.) von angegebenen Wörtern, Verbindungen mit Pfeilen (Wort mit dem Wortfeld), Nummerierung von Wörtern und Wortfeldern bzw. Übersetzung der für die Zuordnung angeführten Wörter handelt. Manche Kinder markierten in verschiedenen Farben die Ess- und Trinkwaren auf dem Arbeitsblatt. Dadurch gingen sie in der Differenzierung weiter, als es die Lehrwerkautoren geplant hatten. Ihre Lernstrategie beruht also darauf, mögliche Ordnungsprinzipien beim Lernen anzuwenden. 5.4 Erschließung von Wörtern Zur Einschätzung des Umgangs der Kinder mit der fremdsprachlichen Lexik wird hier eine Aufgabe angewendet, bei der die Kinder selbständig Wortbedeutungen erschließen sollen. Dieser Weg ist „ein sehr nahe liegendes natürliches Verfahren, das wir auch beim Lesen und Hören in der Muttersprache anwenden, wenn auch eher unbewusst“ (Bohn 1999: 63). Demnach ist diese Aufgabe mit den natürlichen Kommunikationsprozessen vergleichbar. Für das selbständige Erschließen von Wörtern wurde ein bebilderter Sachtext entwickelt, den die Kinder übersetzen sollen. Übersetzungsaufgaben, die man mit der Grammatik-Übersetzungsmethode negativ assoziierte, kehren teilweise in die Fachdidaktik zurück durch die in dem „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen“ geforderte Fähigkeit der Sprachmittlung.8 Dass die Übersetzung ein interessantes Untersuchungsfeld auch im Hinblick auf den Frühbeginn ist, zeigen die Ergebnisse der Forschung „Intensiviertes Frühes Fremdsprachenlernen“ (Kubanek-German 2004a).9 Das Instrument soll dazu dienen, die Fähigkeit der Kinder zur Erschließung von Lexik in bildgestützten Texten einzuschätzen. Die zur Übersetzung vorgelegten Sätze sind im Kontext eingebettet und knüpfen an das Vorwissen und Interesse der Kinder an. Es handelt sich hier um einen Sachtext über Kängurus. Die Vorlage war Meyers Großes Kinderlexikon (Bröger 1981: 118). Die Informationen über die Lebensweise der Kängurus wurden in 6 Informationsabschnitte aufgegliedert.10 Der ursprüngliche Text war zu diesem Zweck vereinfacht worden. Die Informationen wurden neben bzw. unter den Bildern auf drei A4 Seiten angeordnet. Aus Motivations- und Verständnisgründen 8 9 10 „Sowohl bei der rezeptiven als auch bei der produktiven Sprachverwendung ermöglichen die mündlichen und/oder schriftlichen Aktivitäten der Sprachmittlung Kommunikation zwischen Menschen, die aus irgendwelchen Gründen nicht direkt miteinander kommunizieren können. Übersetzen oder Dolmetschen, die Zusammenfassung oder der Bericht ergeben eine (Neu)Fassung eines Ausgangstextes für Dritte, die keinen unmittelbaren Zugriff darauf haben“ (Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen 2001: 26). Die Idee, einen Text für Übersetzungsaufgaben zu entwerfen und als Instrument der Einschätzung von Kinderleistungen einzusetzen, ist der Studie von Kubanek- German (2004a) entnommen. Der bebilderte Sachtext und Einsatz dieses Instrumentes ist von der Autorin dieser Arbeit selbst erstellt. In der Studie von Kubanek-German war ähnliches Instrument mit Kindern der vierten Grundschulklasse angewendet worden und die erhobenen Daten wurden in Bezug auf Übersetzungen aus den verschiedenen Fremdsprachen (Tschechisch, Englisch, Französisch, Deutsch) verglichen. 1. Kängurus leben in Australien. 2. Kängurus haben kurze Vorderbeine. Sehr lang sind dagegen die Hinterbeine. Kängurus haben einen kleinen Kopf und große Ohren. 3. Kängurus fressen Gras und Pflanzen. 4. Känguruweibchen (Mutterkängurus) haben spezielle Bauchtaschen. Dort bekommen die Känguru-Babys Milch. 5. Kängurus können springen. Sie springen bis zu zwölf Meter weit und bis drei Meter hoch. 6. Kängurus können sehr schnell springen – bis 65 km in der Stunde. Der lange Schwanz hilft beim Springen. 30 Ewa Andrzejewska kamen Farbkopien zum Einsatz. Ihre Übersetzungen schrieben die Kinder jeweils unter den deutschen Text direkt auf die Arbeitsblätter. Für diese Aufgabe waren 30 Minuten vorgesehen. Die Kinder sollten den Text selbständig lesen und ohne jegliche zusätzliche Hilfsmaterialien, wie z.B. Wörterbücher, arbeiten. Bei der Auswertung wurden die einzelnen Satzblöcke in 59 Bausteine zerlegt. Dann wurde die Zahl der richtigen Lösungen im Allgemeinen und in den betreffenden Satzblöcken gesondert ausgewertet. Des Weiteren wurden einige Beispiele der kindlichen Übersetzungen angegeben und analysiert. Es zeigte sich, dass die Kinder im Allgemeinen 88% aller Bausteine richtig übersetzt hatten. Zu den meisten Fehlern, die die Ergebnisquote senkten, gehörte eine ganz zufällige Anwendung von den Plural- und Singularformen, z.B. in einer Schulklasse, die im Allgemeinen gut abgeschnitten hat (die Kinder dieser Klasse schrieben fast alle Sätze im Singular). Die Ergebnisse sind in Bezug auf die unterschiedlichen Satzblöcke unterschiedlich. Die meisten der richtigen Lösungen fielen bei den Satzblöcken, die aus einem Satz und wenigen Bausteinen, und darunter nur Nomen und Verben, bestehen (Satzblock 1- 3 Bausteine und Satzblock 3-5 Bausteine). Darüber hinaus scheint es, dass das Verstehen von der Satzlänge (Aufteilung in kleinere Sinnzusammenhänge) abhängt. So wurde der Satzblock 2 mit 16 Bausteinen aber 3 Sätzen von 6% richtig übersetzt, und der Satzblock 5 mit 14 Bausteinen und 2 Sätzen von 31% richtig gelöst. Manche Kinder übersprangen längere Sätze. Die qualitative Analyse zeigt, dass sich die Kinder bei der Lösung dieser Aufgabe nicht auf einzelne Wörter bzw. Wendungen beschränkten, sondern Sätze bildeten. Bei manchen Arbeiten ist zu erkennen, dass die Kinder die sprachlichen Informationen und Bilder kaum als Hilfe bei Erkennung und Erschließung benutzten, sondern sich vorwiegend auf ihr Weltwissen stützten, wie z.B. „Ein Känguru hat sehr starke Pfoten, aber nicht so stark wie ein Gepard.“ Auch eigene Kindheitserfahrungen wurden herangezogen, z.B. „Känguru Mutter sorgt um sein liebes Kind.“ „Das kleine Känguru spielt mit seiner Mutter Verstecken.“ „Kängurus spielen mit Bausteinen und trinken Milch.“ Bezogen auf die Sprache als Grundlage der kindlichen Übersetzungsarbeiten wurden folgende Tendenzen festgestellt: Die meisten Kinder hatten die Wortfolge und Wortart des deutschen Textes beibehalten (100% beim Satzblock 1 und Satzblock 3). Das Streben nach der Beibehaltung der Zahl der Wörter ist z.B. bei dem Satz „Kängurus haben einen kleinen Kopf und große Ohren“ zu erkennen. Hier haben viele Kinder auch den unbestimmten Artikel ins Polnische übersetzt. Bei den anderen Sätzen stimmte sowohl die Wortzahl als auch die Wortfolge nicht überein. Die Wortart wurde meistens beibehalten, auch dann, wenn die Bedeutung nicht stimmt: So wurde z.B. das Verb bekommen als tragen, halten, werden geboren, verbringen, verstecken, brauchen, legt übersetzt; auch Adjektive bleiben im polnischen Text Adjektive, sowohl bei den richtigen als auch bei falschen Übersetzungen, z.B. speziell als lustig, kurze als durschnittliche, lange. Das gleiche gilt für Nomen. Obwohl z.B. die Zahl der richtigen Übersetzungen von Pflanzen gering ist, wurde dies Wort nur als Substantiv übersetzt: Unkraut, Obst Pflaumen, Heu, Blätter, Blumen, Fleisch, Korn, Getreide. Man kann mit Vorsicht annehmen, dass sich die Kinder bei der Erschließung von der Wortbedeutung die Syntax zu Hilfe nahmen. Die Übersetzungen zeigen, dass Kinder unterschiedliche Methodologische Probleme bei der empirischen Forschung im Grundschulkontext 31 Erschließungsstrategien anwenden. Nicht alle sind erfolgreich: Die Orientierung an den ersten Buchstaben führte zur falschen Wortbedeutungserschließung. Die Maßangaben wurden von den Kindern anhand der Ähnlichkeit meistens richtig erschlossen. Dabei spielte das Weltwissen der Kinder eine wichtige Rolle. Kinder, die ihr Weltwissen als Hilfe benutzten, übersetzten mehrere Bausteine richtig, so war z.B. bei der Weite und Höhe des Springens das Wissen von Bedeutung; so haben manche Kinder angegeben, dass „Kängurus bis zu 12 Meter hoch springen.“ Auch die Orientierung an dem ersten Buchstaben ohne Aktivierung des Weltwissens führte zu realitätsfremden Äußerungen, nämlich: „Kängurus springen bis zu 65 km in der Sekunde.“ Im Allgemeinen hatten die Kinder kaum Probleme bei der Erschließung von zusammengesetzten Wörtern, da dabei sowohl Bilder, als auch das erkannte Wortelement und Weltwissen helfen. Es fällt eine geringe Zahl der richtigen Erschließung bei dem Adjektiv spezielle (24% richtige Lösungen) auf. Aufgrund der Ähnlichkeit mit dem polnischen Schriftbild und Klang hätte man mehr richtige Lösungen erwarten können. Vielleicht stand die Position dieses Wortes und seine Bedeutung für die Inhaltserschließung nicht im Vordergrund. Die Arbeiten der Kinder zeigen, dass sie über verschiedene Strategien der Bedeutungserschließung verfügen und sie anwenden, sowohl die Zweitklässler als auch die Drittklässler, Kinder mit einer Wochenstunde und mit vier Wochenstunden. Die Klassen mit intensivem Stundenangebot schnitten besser ab, aber auch die Klassen mit einer und zwei Wochenstunden erreichten gute Ergebnisse. Die Leistungen der Kinder sind deswegen hervorzuheben, weil sie eine unbekannte, fremde Aufgabe lösten und sich dabei von den drei A4 Arbeitsblättern nicht abschrecken ließen. Die Ergebnisse können auch die Lehr-Lernsituation widerspiegeln. Klassen, die mit zusammenhängenden Texten arbeiten und auch im Deutschunterricht anspruchsvolle Texte bearbeiten, haben mehr Erfahrung bei der Bedeutungserschließung. Das Instrument erwies sich als informationsreich und den Kindern zumutbar. 6. Resümee Der Beitrag hatte zum Ziel die Teile des Projektes vorzustellen, die mit den Bedingungen und der Planung der angestellten Untersuchungen verbunden waren. Hingewiesen wurde darauf, dass die Forschungsbedingungen das FS Lernen in Polen widerspiegeln. Die in der Schule eingesetzten Methoden finden ihren Spiegel in den polnischen Lehrbüchern und der Methodik. Sie sind ein wichtiger Bezugspunkt bei den Untersuchungen. Darüber hinaus ist die Muttersprache der Kinder ein wesentlicher Kontext für die Interpretation. Die Besprechung ausgewählter Forschungsprobleme hatte zum Ziel, auf die Rolle des Kontextes für die Ergebnisse der Untersuchungen hinzuweisen (Wörter, Vokabeln). Auch war die Bedeutung des sich ergänzenden Einsatzes von qualitativen und quantitativen Methoden bei der Auswertung der Untersuchungsergebnisse von Belang. Es wurde auf das Potenzial ausgewählter Forschungsinstrumente hingewiesen, z.B. Übersetzungsübungen, die über schulischen Alltag und traditionelle Übungen hinausgehen. Die angewendeten Instrumente waren für die beteiligten Lehrerinnen relativ einfach einzusetzen, was die Vergleichbarkeit der Ergebnisse bei einem ähnlichen 32 Ewa Andrzejewska Einsatz im Unterricht sichern sollte. Darüber hinaus können diese Instrumente in anderen weiteren Lerngruppen erprobt werden. Anhand der eingesetzten Instrumente wurden zahlreiche Daten erhoben, die in Bezug auf weitere Aspekte ausgewertet werden können. Darüber hinaus haben manche Untersuchungsinstrumente weitere Fragen eröffnet und Anstoß zu weiteren Forschungsarbeiten gegeben. Literatur Andrzejewska, Ewa; Fuks, Angela; Stasiak, Halina (2000): Kängookängoo Deutsch. Warszawa: REA. 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Magdalena Pieklarz (Olsztyn) Zur Erforschung von Stereotypen in der Fremdsprachendidaktik – ein geschichtlicher Überblick über Forschungsansätze und Darstellung eines Forschungsprojektes Einleitung Seit einiger Zeit beobachtet man ein vermehrtes Interesse an der empirischen Forschung fremdsprachlicher Lehr- und Lernprozesse im Allgemeinen sowie kultureller und fremdkultureller Prozesse im Speziellen. Mit dem folgenden Beitrag wird der Versuch unternommen, eine ausgewählte fremdsprachendidaktische Kategorie, nämlich das Stereotyp, als ein Forschungsdesiderat des jungen Faches darzustellen. Zuerst soll auf den Forschungsstand im Bereich nationale Stereotype im Fremdsprachenunterricht kurz eingegangen werden. Des Weiteren wird ein abgeschlossenes Forschungsprojekt zum Thema Stereotype und Affektivität im interkulturellen Fremdsprachenunterricht skizziert. Anschließend wird ein Modell und zugleich Vorschlag einer holistischen Auseinandersetzung mit dem Stereotyp als kognitiv-affektiver Kategorie im FU diskutiert. 1. Zum Forschungsstand nationale Stereotype im Fremdsprachenunterricht Das Stereotyp ist eine multidisziplinäre Kategorie. Sein Ursprung liegt in den Sozialwissenschaften (der Stereotypenbegriff wurde 1922 vom amerikanischen Publizisten Lippmann eingeführt und definiert), es wurde dann auch Gegenstand der Sprachwissenschaft, Sprachpsychologie, Soziolinguistik, Psycholinguistik und seit ca. 40 Jahren 36 Magdalena Pieklarz hat sich die Fremdsprachendidaktik der Kategorie des Stereotyps zugewandt. Bei der Betrachtung von Ansätzen stellt man aber fest, dass es keine allgemein geltende Stereotypenauffassung in der Fremdsprachendidaktik gibt. Fremdsprachendidaktiker bedienen sich unterschiedlicher Konzepte, um ihre Ansätze entsprechend zu fundieren. Die junge Disziplin baut auf Erkenntnissen vieler Wissenschaftsbereiche auf, wie Sprachwissenschaft, Sprachpsychologie, angewandte Linguistik, Sozialpsychologie, Psycholinguistik, Zweitspracherwerbsforschung, die in affinen Relationen zur ihr stehen. Die fremdsprachendidaktische Stereotypenauffassung ist also in diesem vielfältigen Gefüge zu deuten. Die ersten fremdsprachendidaktischen Befunde zum Thema Stereotyp als fremdsprachendidaktische Kategorie sind Ende der 60-er Jahre, Anfang der 70er Jahre entstanden. Der großen Vielfalt von Konzepten stehen in dieser Zeit nur ganz wenige, zudem untereinander ähnliche Untersuchungsmethoden gegenüber. Das auf Katz & Braly (1933) zurückgehende Eigenschaftslisten-Verfahren beherrscht praktisch die gesamte Stereotypenforschung. Bei diesem Verfahren wird zuerst in Vorversuchen eine Liste mit Eigenschaften zusammengestellt, die für einen zu beurteilenden Sachverhalt charakteristisch sind. Im eigentlichen Experiment wird diese Liste den Versuchspersonen mit der Aufgabe vorgelegt, die zur Kennzeichnung des Sachverhalts typischen Eigenschaften auszuwählen. Eine größere Zahl von Versuchspersonen kreuzt die Eigenschaften an, die sie einer Gruppe von Personen (den Amerikanern, den Deutschen, den Beamten, den Ärzten) zuordnen würde. Die am häufigsten genannten Eigenschaften machen dann das jeweilige Nationalstereotyp (oder Berufsgruppenstereotyp) aus: Deutsche sind ordentlich, fleißig, pünktlich, kalt etc. Solche Eigenschaftslisten sind vor allem von wissenschaftsmethodischen Gesichtspunkten her konzipiert: Sie sind operationalisiert und können quantitativ ausgewertet werden, da alle Versuchspersonen dieselbe Eigenschaftsliste vorgelegt bekommen und daraus ihre Auswahl treffen müssen (Firges; Melenk 1985: 105). Es ist beispielsweise möglich, das Auto- und Heterostereotyp (das Selbst- und Fremdbild) verschiedener Gruppen miteinander zu vergleichen und die Entwicklung von Stereotypen über längere Zeit zu verfolgen.1 In der Fremdsprachendidaktik ist der Ansatz, Stereotype mithilfe von Eigenschaftslisten zu untersuchen, vor allem von Keller2 verwendet und in mehreren Publikationen dargestellt worden. Der Schüleraustausch ist Basis eines sozial-psychologischen Experiments. Die Auto- und Heterostereotype der Schüler werden ermittelt, und es wird untersucht, wie sie sich entwickeln. Nach Kellers Beobachtung nähert sich das Heteroste1 2 Dieses Verfahren hat aber immer den Nachteil, dass in vorgegebenen Listen relevante Items nicht enthalten sind und die Ergebnisse ihrerseits wieder interpretationsbedürftig sind. So weiß man z. B. nicht, ob die Charakterisierung „die Deutschen sind fleißig“ von der jeweiligen Versuchsperson positiv oder negativ gemeint war. Hinzu kommt ein gewisser Manipulationseffekt der Versuchsanlage selbst. Die Versuchspersonen müssen ja aus einer vorgegebenen Liste Eigenschaften auswählen, auf die sie vermutlich von sich aus oft nicht gekommen wären. Außerdem werden dabei die Versuchspersonen gezwungen, im Sinne von Generalisierung und Kategorisierung zu denken. Nach Prokop (1995: 185) lässt die Methode der Eigenschaftslisten außerdem einen sehr wichtigen Faktor außer Acht, nämlich die Bewertung der den Vertretern eigener oder fremder Ethnie zugeordneten Eigenschaften. Vgl. Keller 1969, 1970, 1983, 1987, 1994, 1998. Stereotype in der Fremdsprachendidaktik 37 reotyp der Schüler während des Austauschs deutlich dem englischen bzw. schottischen Autostereotyp an und entfernt sich nach dem Austausch wieder etwas davon. Als Zielsetzung wird angegeben, dass eine Beschäftigung mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Auto- und Heterostereotypen der beteiligten Gruppen die Sensibilität der Schüler fördern und eine mögliche Basis der Auseinandersetzung abgeben wird. Nach Meinung Kellers ist ein optimales Verständnis der anderen Gesellschaft dann erreicht, wenn das Heterostereotyp des Schülers deren Autostereotyp möglichst nahe kommt. Dieses Autostereotyp ist meist sehr positiv; deshalb besteht die Gefahr der kritiklosen Bewunderung, der vollständigen Identifikation mit der anderen Gesellschaft. Damit ist dann nicht wesentlich mehr gewonnen, als wenn es bei den ursprünglichen, stärker auf Abgrenzung basierenden Stereotypen bleibt. Mit der Hinwendung zur Alltagskultur in den 70er Jahren und deren Aufgreifen durch die Pragmalinguistik verlagerte sich der Schwerpunkt der Landeskundedidaktik auf das Lernziel kommunikative Kompetenz. In den 80er Jahren wurde dieser Ansatz durch den interkulturellen Aspekt erweitert, der neben der kommunikativen fremdsprachlichen Kompetenz das Kultur- und Fremdverstehen als gleichberechtigte Lernziele setzte. Zentrale Verfahrensweisen kamen dabei dem Stereotypenkonzept entgegen: die Thematisierung von Auto- und Heterostereotypen, die Bewusstmachung sprachlicher Routinen als mögliche Störquellen im interkulturellen Kontext und die konfrontative Betrachtung von Bedeutungsmustern. Seit dieser Zeit erfährt diese Kategorie ein großes Interesse bei den Fremdsprachendidaktikern. Der Forschungsbereich kann auch eine Reihe von empirischen Befunden vorweisen. Hier soll u.a. auf Arbeiten von Apeltauer (1983, 1998, 2002), HermannBrennecke (1991), Bausinger (1988), Husemann (1990, 1991), Koreik (1993), Löschmann (1998), Prokop (1995), Quasthoff (1986, 1989), Redder (1995), Reiß (1997), Rösch (2000) hingewiesen werden. Es handelt sich dabei um Befunde, deren Ziel es war, den Stellenwert von Stereotypen im Fremdsprachenlernprozess herauszustellen. Man hat vor allem die kognitive und soziale Dimension des Stereotyps betont und dementsprechend fremdsprachendidaktisch gehandhabt. Man hat auch linguistische Verfahren eingesetzt, um Stereotype in den Lehrwerken zu ermitteln sowie Aufgaben und Übungen zur Wahrnehmungschulung und Sensibilisierung für Stereotype in den Lehrwerken entwickelt. In den neusten Ansätzen begegnet man einer polymethodischen Vorgehensweise, das heißt, dass man bestrebt ist, verschiedene Methoden miteinander zu verbinden. Auch wenn die Schwerpunktsetzung in vielen Forschungsprojekten meistens zugunsten der einen oder der anderen Methode erfolgt, ermöglicht die Multitrait-MultimethodVorgehensweise, in der Forschung auch als Triangulation bezeichnet, einen zuverlässigeren Erkenntnisgewinn. Durch verschiedene Instrumente zur Messung desselben Sachverhalts sowie zur Messung mehrerer Merkmale mit demselben Instrument kommt es zu Minimierung von Messfehlern bzw. -effekten (vgl. Finkbeiner; Koplin 2001: 115). Es werden also unterschiedliche Mittel eingesetzt, wie z.B. Fragebögen mit offenen 38 Magdalena Pieklarz Fragen, Interviews, Merkmallisten, um dann die kollektiven Vorstellungen (Stereotype) rekonstruieren zu können (z.B. Apeltauer 2002). 2. Darstellung eines Forschungsprojektes zum Thema: Stereotype und Affektivität im interkulturellen Fremdsprachenunterricht Wie gerade festgestellt wurde, kann der Forschungsbereich nationale Stereotype im Fremdsprachenunterricht eine Reihe von empirischen Befunden vorweisen. Paradoxerweise ist jedoch das Merkmal Affektivität, welches Stereotype unzertrennlich begleitet, in der bisherigen Forschungspraxis kaum berücksichtigt worden. Man hat sich zumeist mit allgemeinen Tendenzen von Relationen zwischen den Variablen Stereotyp und Affekt beschäftigt. Im Folgenden wird ein Versuch unternommen, innerhalb eines explorativinterpretativen Ansatzes genuin Stereotypie und Affektivität sowie deren Wechselwirkungen zu untersuchen und die Relevanz entsprechenden Umgangs mit dem Stereotyp für den neuphilologischen Fremdsprachenunterricht herauszustellen. 2.1 Stereotyp und Affekt – wie nah beieinander? Erläuterung des theoretischen und methodologischen Zusammenhanges zwischen der Affektivität und Stereotypisierung3 Stereotype fungieren auf drei verschiedenen Ebenen: auf kognitiver, sozialer und politischer Ebene. Nach Brunzel (2002: 86) ist in enger Verbindung mit der kognitiven Ebene außerdem auch eine emotionale Ebene zu postulieren, denn über Stereotype werden auch gefühlsmäßig Einstellungen zu unserer Umwelt, zu Menschen, Personen, Gegenständen, bestimmten Themen usw. transportiert. Stereotype geben uns eine emotionale Sicherheit: Sie schützen uns vor abträglichen Bildern und den damit verbundenen Gefühlen (Krampen 1990: 135). Roth (1989: 142) erklärt den Zusammenhang zwischen emotionaler und ko gnitiver Komponente im Stereotypisierungsprozess folgendermaßen: „Ganz generell kann davon ausgegangen werden, dass die kognitive Tendenz zur Reduktion der Komplexität, zur Strukturierung, Akzentuierung und Polarisierung (…) mit der emotionalen Scheu vor zu großer Komplexität, zu viel Information, vor zu viel Neuem korrespondiert“. Stereotype sind für uns in emotionaler und kognitiver Hinsicht eminent wichtig, was ihre Langlebigkeit und ihre hohe Resistenz gegenüber Veränderungen erklären könnte: „Ein Eingriff auf die Stereotype eines Individuums richtet sich gegen dessen psychologische (genauer: emotionale und kognitive) Basis“ (Krampen 1990: 135). Nach dem Drei-Komponenten-Ansatz4, der sowohl für die Einstellung als auch für das Stereotyp anzuwenden ist, bestehen beide Konstrukte aus drei Komponenten: einer ko3 4 Da die Problematik sowohl empirisch als auch theoretisch noch nicht ausgereift ist, soll sie auch an dieser Stelle nur ansatzweise dargestellt werden Anders: mehrdimensionale Einstellungskonzeption. Dieses Modell setzte sich seit Anfang der 60er Jahre durch. Mit der affektiven Komponente ist – gefühlsbestimmte Bewertung eines Objekts, mit der kognitiven – Inhalt und Struktur des Wissens, das zu dem Einstellungsobjekt repräsentiert wird und mit der konativen Komponente – beobachtbares, mit einer Einstellung verknüpfbares Handeln, gemeint (Seel 2000: 119). Stereotype in der Fremdsprachendidaktik 39 gnitiven, affektiven und konativen Komponente. Aus den Äußerungen der Lernenden, in denen sie rückblickend Erlebnisse, Erfahrungen oder allgemeine Sachverhalte darstellen, können mithilfe dieses Modells Stereotype herausgearbeitet werden, indem die oben genannten Komponenten als Basis herangezogen werden, auf denen ein Stereotyp (bzw. eine Einstellung) beruht. Einstellungen sind nicht direkt messbar, sondern nur über Meinungsäußerungen zugänglich (Quasthoff 1973: 27). Stereotype werden demnach als Meinungsäußerungen verstanden. Es werden von uns also Stereotype untersucht, die aus Einstellungen resultieren, wie es die folgende Abbildung illustriert: Bewusstseinsinhalte Einstellung Überzeugung Stereotyp verbale Ausdrucksform der Bewusstseinsinhalte Abb. 1: Das Stereotyp, Einstellung und Überzeugung (Bearbeitung M.P.) Affektive Wertung ist eine unumgängliche Komponente des Kulturvergleichs, der wiederum den Fremdsprachenlernprozess immer begleitet (Keller 1998: 152f.). Erfahrungen aus der eigenen Kultur mit ihren Wertvorstellungen, Verhaltensweisen und soziokulturellen Errungenschaften dienen als Beurteilungskriterien für eine Orientierung in der Fremdkultur. Dabei werden u.a. Bevölkerungszahl, Klima, Wirtschaft, Einkommensverhältnisse, Sozial- und Ausbildungssysteme, Lebensstandart, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen miteinander verglichen und einer affektiven Wertung unterzogen, wobei sich Ähnlichkeiten und Unterschiede mit der eigenen Kultur herauskristallisieren. Dabei werden die stereotypen Vorstellungen vom Ausland in ein kausales, funktionales, emotionales und selbstreferentielles Beziehungsgeflecht eingebettet, das als Orientierungsraster für das Fremdverstehen dient. 2.2 Zum Konzept Die Grundlage für das empirische Vorgehen bildet das Konzept des Stereotyps als einer stark affektiv unterbauten Kategorie der menschlichen Wahrnehmung, das anhand 40 Magdalena Pieklarz der folgenden Abbildung illustriert wird (Abb. 2): Das Stereotyp wird danach als eine Disposition verstanden, die stark im affektiven Bereich angesiedelt ist, und der Motivation, Interesse und Emotionen und Einstellungen zugrunde liegen. Einstellungen und Überzeugungen werden nach Quasthoff (1973: 22ff.) als Bewusstseinsinhalte verstanden, Stereotype dagegen als ihre verbalisierten Ausdrucksformen. Diese Disposition korreliert ebenfalls mit vielen anderen biographiebedingten Faktoren, die sich allgemein in drei Gruppen einteilen lassen: persönlichkeitsspezifische Faktoren, Fremdsprachenunterricht und soziale Umwelt. Abb. 2: Stereotyp und Affektivität in der holistischen Betrachtung aller Determinanten des Fremdsprachenlernprozesses (M.P.) Stereotype in der Fremdsprachendidaktik 41 Unter persönlichkeitsspezifischen Faktoren werden biologische, kognitive, kognitiv-affektive und affektive Variablen verstanden, die sich weiter in mehrere Variablen einteilen lassen. Zur Faktorenkomplexion Fremdsprachenunterricht gehören: der Fremdsprachenlehrer, Lehratmosphäre und Lehrbedingungen und der Intensivierungsgrad der Beschäftigung mit der Zielsprache und Zielkultur. Die soziale Umwelt wird als Status der Zielsprache und -kultur im Ausgangsland und Kontakt und Aufenthalte im Zielsprachenland verstanden. Darüber hinaus wird das Stereotyp als eine aktive Kategorie verstanden, die immer wieder neu erschaffen, gehandelt, verstanden und individuell wahrgenommen und vertreten wird: Stereotype können relativiert werden; man kann sich von ihnen distanzieren, eventuell in sie einzufühlen versuchen (Empathie), und auch die stereotypen Eigenschaften verinnerlichen wollen. 2.3 Zu empirischen Untersuchungen Das Hauptziel meiner Untersuchung bestand darin herauszufinden, über welche Stereotype bzw. subjektiven Theorien5 zu Stereotypen bezüglich der fremden Sprache und Kultur Studierende verfügen, und in welchem Zusammenhang Stereotypisierung und Affektivität, verstanden als individuelle emotionale und motivationale Beteiligung am Fremdsprachen- und Fremdkulturaneignungsprozess, stehen. Dabei sollte untersucht werden, mit welchem Emotionswert Auto- und Heterostereotype beladen sind und wie dadurch der Fremdsprachenlernprozess beeinflusst wird. Es wurde von folgenden Prämissen ausgegangen: - Der Fremdsprachenunterricht ändert Einstellungen (die nur über Meinungsäußerungen zugänglich sind) und Stereotype (die als Meinungsäußerungen verstanden werden), indem er Informationen über das Zielland vermittelt und mit dessen Sprache konfrontiert. - Affektive und motivationale Faktoren stehen in enger Korrelation zur Stereotypisierung. - Die kulturspezifische Stereotypenbildung der Lernenden wird stark durch sowohl affektive Faktoren (Einstellung, Interesse und Motivation) in Bezug auf die Fremdsprache, die Fremdsprachensprecher und deren Kultur und das Fremdsprachenlernen als auch soziale Faktoren des Fremdsprachenlernprozesses (Erfahrungen innerhalb und außerhalb des Fremdspracheunterrichts: Lehrerperson und Unterrichtsgestaltung, Begegnungen mit Sprechern der Fremdkultur, Auslandsaufenthalte, Medien und Status der Fremdsprache und -kultur im Ausgangsland) beeinflusst. Die sozialen Faktoren sind in dieser Hinsicht als relevante Determinanten der Stereotypie und Affektivität im Fremdsprachenlernprozess zu deuten. 5 Da Emotion und Stereotyp als wichtige Bestandteile der subjektiven Theorien gesehen werden, spielt dieser Ansatz in der folgenden Arbeit eine doppelte Rolle: - als theoretisches Konzept, das die beiden Variablen (Stereotyp und Emotion) in sich vereinigt und die Wechselwirkung von der Kognitivität und Affektivität betont, also als wissenschaftlich fundierter Beitrag und Grundlage der theoretischen Überlegungen und als Mittel der qualitativen Forschungsmethodologie - als relativ stabile kognitive Struktur, die sich empirisch gewinnen und operieren lässt und somit uns einen Zugang zu den zu untersuchenden Variablen (Stereotyp und Emotion) ermöglicht. 42 Magdalena Pieklarz - Mit der wachsenden Sprach- und Kulturkompetenz kommt es infolge der bewussten und intensiven Auseinandersetzung mit der Fremdkultur und Fremdsprache zur Differenzierung und Relativierung sowohl der Auto- als auch der Heterostereotype. - Die Variablen: Differenzierung, Relativierung der Auto- und Heterostereotype und Distanzierung von den Stereotypen werden möglicherweise von folgenden Faktoren bedingt: Intensivierungsgrad der Beschäftigung mit der Zielsprache und -kultur, Auslandslandsaufenthalte und Alter.6 - Das Stereotyp als eine kognitiv-affektiv-konative Kategorie kann als Barometer zur Messung der interkulturellen Kompetenz betrachtet werden. Die Instrumentarien der vorliegenden Untersuchungen waren nicht imstande, Emotionen zu messen. Bis jetzt liegen keine komplexen empirischen Studien vor, welche die Gesamtbetrachtung aller Faktoren und ihres Einflusses auf den Lernerfolg behandeln (Riemer 1997: 54). Solche Untersuchungen müssten als Langzeitstudien angelegt sein, um auch über die Auswirkungen einzelner Faktoren und ihres Zusammenwirkens in einem längeren Prozessverlauf Aussagen treffen zu können (Düwell 2003: 348). Von besonderem Interesse waren die Wechselwirksamkeiten zwischen Stereotypie und Affektivität mit den folgenden abgeleiteten Fragestellungen: - Warum haben Lernende Polnisch (bzw. Deutsch) als Studienfach gewählt? Welche affektiven Konsequenzen hat diese Entscheidung? - Wie ist die soziale Situation der Lernenden zu beschreiben? Mögliche Parameter: Kontakt zu Polen (bzw. Deutschen), Auslandsaufenthalte, Status der Zielsprache und -kultur im Ausgangsland? - Welche Einstellungen und Stereotype (zu Polen/Deutschland) äußern Lernende? In welchen Erfahrungen/Persönlichkeitsmerkmalen der Lernenden liegen diese Einstellungen begründet? - Sind die oben genannten Komponenten als Hinweise für die Ausprägung der Motivationen von Lernenden zu erfassen? Sind Termini wie „integrativ vs. instrumentell und intrinsisch vs. extrinsisch“ geeignete Parameter? - Lässt sich ein Zusammenhang zwischen der individuellen Stereotypisierung und der interkulturellen Kompetenz beobachten? In welcher Beziehung stehen die beiden Größen zueinander? Diese empirische Untersuchung zur Erforschung der Korrelation zwischen Stereotypen und affektiven Prozessen im fremdsprachigen Lernprozess erhob nicht den Anspruch, 6 Es wird angenommen, dass Studierende im Alter von ca. 30 Jahren über ein breiteres Sprach- und Weltwissen verfügen als 19-jährige und somit ein differenzierteres Stereotypenrepertoire aufweisen. Nach Dietz (1998: 169) wird möglicherweise mit zunehmendem Alter mehr relativiert. Ihre Behauptung bezieht sich zwar hauptsächlich auf Emotionen in Lehrveranstaltungen, kann aber auf Stereotype übertragen werden: „Je älter die Studenten sind, empfinden sie die Studienemotionen weniger stark. Dieser Zusammenhang ist insofern sinnig, als mit zunehmendem Alter mehr Erfahrungen vorliegen, und damit problematische Umstände und Situationen nicht mehr so krass als bedrohlich oder stressend, sondern realistischer interpretiert werden. Mit zunehmendem Alter wird also möglicherweise mehr relativiert“. Auch Apeltauer (2002: 108) geht davon aus, dass mit zunehmendem Lebensalter und einem Anwachsen an Weltwissen und Erfahrungen Individuen dazu tendieren, ihre Sichtweisen zu differenzieren. Stereotype in der Fremdsprachendidaktik 43 Diese empirische Untersuchung zur Erforschung der Korrelation zwischen Stereotypen und affektiven Prozessen im fremdsprachigen Lernprozess erhob nicht den Anspruch, endgültige Antworten zu geben und Einsichten in die sehr verzweigten und weitgehend noch unerforschten Bereiche der Fremdsprachenerwerbsforschung zu bringen. Sie sollte eher auf einige mögliche Zusammenhänge hinweisen und Anstoß für weitere Untersuchungen auf diesem Gebiet sein. 2.4 Datengewinnung An der vorliegenden empirischen Untersuchung waren neben der Forscherin Studierende der Universität Potsdam (Slawisten mit Schwerpunkt Polonistik7 und Germanisten) und Studierende der Universität zu Poznań (Germanisten) beteiligt. Die Zahl der Probanden im gesamten Projekt verteilt sich wie folgt: Potsdam: Poznań: - Befragungen der Germanisten–Fragebogen, - Befragungen der Germanisten–12 Studenten 50 Studenten, Wintersemester 2003/2004 (eine Seminargruppe), WS 2003/2004 - Befragungen der Slawisten–Interviews, Fallstudien von 4 Studenten, SS 2003 Methoden der Datenerhebung: - entwickeltes Projekt (einführende Übung, ein - Fragebogen und Interview führender Fragebogen, aufgenommene und transkribierte Seminardiskussion, abschließender Fragebogen) Forschungsmethodologien: - quantitative (statistisch ausgerichtete) Untersuchung – Fragebogen - qualitative (explorativ-interpretativ) Unter- qualitative (explorativ-interpretative) Unter- suchung – Seminardiskussion und zwei Frasuchung – schriftliches Interview (4 Falla- gebögen (einführender und abschließender nalysen und anschließend subjektive Theo- Fragebogen) rien) Tab. 1: Probandenverteilung Die Stichproben wurden nach der Kooperationsbereitschaft der jeweiligen Institute und der Verfügbarkeit der Forschungsteilnehmer über einen Zeitraum von einem Jahr ausgewählt. Anzumerken wäre noch die Tatsache, dass die deutschen Slawistiken relativ kleine Institute (mit wenigen Lehrkräften und Studenten) sind und sich nicht mit polnischen Germanistiken vergleichen lassen. Die deutschen Slawisten stellen auch in Hinsicht auf den Fremdsprachenerwerb keine so einheitliche Gruppe dar, was von den polnischen Germanisten durchaus behauptet werden könnte. Die meisten sind polnischer Herkunft (polnisches Elternhaus) oder haben polnischen Familienbezug und beherrschen somit die Sprache zumindest phonologisch8 sehr gut. Es gibt auch polnische Slawistikstudenten, die das polnische Abitur haben und in Deutschland erst seit ein paar Jahren wohnen. Die beiden größten Gruppen waren jedoch nicht das Ziel der 7 8 Untersucht wurden Studierende, die weder das polnische Abitur haben noch polnischer Herkunft sind. Lexik und Grammatik sind in den meisten Fällen erweiterungs- bzw. nachholbedürftig. 44 Magdalena Pieklarz Untersuchung. Als Probanden wurden Slawisten ausgewählt, die Deutsch als Muttersprache sprechen und Polnisch als Fremdsprache lernen. Da Polnisch in den deutschen Schulen nicht angeboten wird, haben die Probanden erst nach dem Abitur angefangen, sich mit der polnischen Sprache auseinander zu setzen.9 Die Probanden wurden sowohl schriftlich als auch mündlich befragt. Es handelt sich dabei um eine explizite Vorgehensweise: es werden sowohl explizite Fragen gestellt als auch explizite Antworten formuliert. Die expliziteste Realisierung eines Stereotyps stellen Aussagen dar wie z.B. „Polen sind trinkfreudig“ oder „Deutsche sind bürokratisch“. Die Datenerhebung erfolgte durch Fragebögen und ein Gruppeninterview. Beide Verfahren der Datengewinnung zielen schwerpunktmäßig auf das Erfassen von Auto- und Heterostereotypen und deren Einfluss auf die Affektivität im Fremdsprachenunterricht ab. In der Untersuchung wurden vier Arten von Fragebögen verwendet. Die Fragebögen 1A und 1B wurden im Rahmen der Untersuchung an der Universität Potsdam und die Fragebögen 2B und 2C im zweiten an der Universität zu Poznań stattfindenden Teil des empirischen Vorgehens eingesetzt. Der Fragebogen 1A, der für deutsche Germanisten (Studenten ohne einen besonderen Bezug zur polnischen Sprache und Kultur) konzipiert wurde, beinhaltet 8 Fragen, die allgemein auf Selbst- und Fremdwahrnehmung ausgerichtet sind und auf explizite Weise auf Auto- und Heterostereotype der Probanden abzielen. Die Auswertung erfolgt quantitativ. Der Fragebogen 1B ist eine erweiterte Version des Fragebogens 1A. Er wurde für deutsche Polonisten (Studenten, die eine hohe Sprach- und Kulturkompetenz im Polnischen anstreben) vorbereitet. Die hinzugefügten Fragen betreffen allgemein affektive und motivationale Aspekte des Fremdsprachenerwerbs. Es sollen Daten zur Einstellung, Emotion und Motivation der Befragten zum Polnischlernen und zum Interesse in Bezug auf Polen erhoben werden. Dieser Fragebogen wurde zu Hause ausgefüllt und zum zweiten Termin wieder mitgebracht. Es ist eine Art schriftliches Interview, das es qualitativ auszuwerten gilt. Als Untersuchungsmittel wurde der Ansatz der subjektiven Theorien ausgewählt, mithilfe dessen man sich dem subjektiven Wissen der Probanden zu den Stereotypen, Sprache-Kultur-Beziehungen, der kulturellen Identität u.a. annähern konnte. Der Fragebogen 2B ist eine wörtliche Übersetzung ins Polnische des Fragebogens 1B, welcher unter deutschen Polonisten in Potsdam durchgeführt wurde. Dieser Fragebogen wurde im Projekt eingesetzt, welches unter polnischen Germanisten an der Universität zu Poznań durchgeführt wurde. Er war als eine Einführung in das Projekt gedacht. Die Ergebnisse des Fragebogens 2B lassen sich mit denen des Fragebogens 1B nicht ganz vergleichen und gegenüberstellen, weil sie unter anderen Bedingungen durchgeführt wurden. Die Auswertung erfolgt qualitativ. 9 Unter den untersuchten Slawisten hatte einer Polnisch im Gymnasium in einer Arbeitsgemeinschaft (eine Unterrichtsstunde pro Woche) gelernt. Da der Kurs über einen kurzen Zeitraum an der Schule stattfand und nicht gut besetzt war (kein ausgebildeter PaF-Lehrer), hat der Proband ihm keine größere Rolle beigemessen. Stereotype in der Fremdsprachendidaktik 45 Der Fragebogen 2C schließt das Projekt ab und fragt nach den Einschätzungen und persönlichen Empfindungen der Probanden. Er wird qualitativ ausgewertet. Allen Fragebögen ist eine Instruktion vorangestellt, um die Versuchspersonen zur ehrlichen Mitarbeit an der Untersuchung zu motivieren und ihnen eventuell vorhandene Ängste zu nehmen, die sich aus der testähnlichen Befragungssituation ergeben. Eingangs werden außerdem einige biografische Angaben der Probanden erfasst. Der qualitativen Forschungsmethodologie entsprechend enthalten die Fragebögen überwiegend offene Fragen, die den Probanden die Möglichkeit geben, die Art und Ausführlichkeit ihrer Antworten weitgehend selbstständig zu bestimmen. Das Interview (transkribierte Seminardiskussion) orientiert sich dem Aufbau nach an den Inhalten der von deutschen Germanisten ausgefüllten Fragebögen (Fragebogen 1A), deren Ergebnisse in Form von Diagrammen mithilfe eines Overheadprojektors dargestellt wurden. Dieses Anschauungsmaterial soll zu einer regen Auseinandersetzung mit der Thematik führen. Den Probanden werden außerdem gezielte Fragen gestellt, die es ihnen erleichtern sollen, eigenes Wissen und eigene Konzepte zu aktualisieren und zu verbalisieren. Diese Vorgehensweise stützt sich auf psycholinguistische Erkenntnisse, die in der Textverstehensforschung ermittelt wurden (Missler 1993: 72): „Es wurde öfter festgestellt, dass Informationen, die bei einer freien Wiedergabe nicht genannt wurden, auf eine gezielte Frage oder auf ein Stichwort hin sehr wohl abrufbar sind“. Außerdem werden die Stereotype im Interview z.T. in einen persönlichen Zusammenhang mit den Probanden gebracht (z.B. Hattest du Kontakt zu jüngeren Deutschen?), um die Interviewteilnehmer über eigene Erfahrungen, Wünsche und Gefühle zur Verbalisierung ihrer Gedächtnisinhalte zu animieren. Diese Art von Fragen stellt einerseits ein persönliches Verhältnis zwischen den Interviewpartnern her und zeigt andererseits, dass Emotionen, Wertungen und außerhalb der Universität gelebte Erfahrungen, die offensichtlich in den Seminaren eher selten zur Sprache kommen, sehr wohl wichtige Komponenten im Fremdkultur- und Fremdsprachenerwerbsprozess sind. 2.5 Interpretation der Untersuchungsergebnisse Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung werden in nachstehenden Thesen zusammengefasst, die im Lichte neuerer didaktischer Entwicklungen diskutiert werden und Handlungsempfehlungen für eine auf Interkulturalität abzielende, integrierte Landeskundearbeit beinhalten: - Fremdsprachenstudenten (seien es deutsche Polonisten oder polnische Germanisten) setzten sich mit der Kategorie der Selbst- und Fremdbilder intensiver auseinander, als ihre Kommilitonen, die andere Fächer studieren (in unserem Falle: deutsche Germanisten). Fremdsprachenstudenten beschäftigen sich (wenn auch in unterschiedlichem Grade) mit gängigen Stereotypen, relativieren sie vor dem historischen, politischen und soziologischen Hintergrund und konstruieren dabei ihre subjektiven Theorien zu Stereotypen, die starre Denkmuster abschwächen sollen. Dies ist nicht (bzw. wesentlich weniger) der Fall bei den untersuchten deutschen Germanisten, die sich der 46 - - - - Magdalena Pieklarz gängigen Stereotype bedienen, ohne sie in Frage zu stellen, was wahrscheinlich auf den fehlenden Bezug zur Sprache und zum Land zurückzuführen ist. Studenten mit einem längeren Auslandsaufenthalt tendieren dazu, ihr Heterostereotyp zu differenzieren, zu relativieren, indem sie erworbene Erfahrungen im Lande der Zielsprache in die Stereotypendiskussion mit einbringen (Slawisten der Universität Potsdam und einige Germanisten der Universität zu Poznań), während Studenten ohne Auslandserfahrung oder nur mit einem kurzen touristischen Auslandsaufenthalt sich eher einfacher, klischeehafter Fremdbilder bedienen (Germanisten der Universität Potsdam, die meisten Germanisten der Universität zu Poznań). Relevant in dieser Hinsicht scheint auch der Faktor „Kontakt“ zu sein. Ziellandaufenthalte sollen nicht als abgeschlossen betrachtet, sondern fortgesetzt werden, indem der innere Bezug zum Land und zur Sprache nicht abgebrochen wird, d.h. Kontakte und Freundschaften gepflegt, Literatur und Zeitungen gelesen werden etc. Die Korrelation zwischen den Variablen „Alter“ und „Stereotyp“ fällt auch positiv aus. Die älteren Studierenden lehnen gängige Stereotype ab, setzen sich mit ihnen auseinander, während die jüngeren Studenten ihr Heterostereotyp weniger differenzieren. Die Probandenzahl lässt keine endgültige Behauptung zu. Diese Vorannahme müsste noch empirisch bestätigt werden. Probanden, die sich intensiv mit der Kategorie Stereotyp auseinandersetzen, indem sie vorhandene Bilder zu relativieren versuchen, einige stereotype Eigenschaften verinnerlichen wollen und sich durch einen beträchtlichen Grad an Einfühlungsvermögen auszeichnen, weisen ebenfalls hohe Werte an Interesse, Motivation und positiver Einstellung der Zielsprache und dem Zielsprachenland gegenüber auf. Das Stereotyp ist also eine ernstzunehmende Kategorie im Fremdsprachenlernprozess, die auch als Barometer der affektiven Variablen wie Motivation, Interesse und Einstellung verwendet werden kann. Probanden, die ihre Stereotype relativieren/differenzieren oder die sich gar von den Stereotypen distanzieren, zeichnen sich durch viele Qualitäten und Fähigkeiten aus, welche die interkulturelle Kompetenz ausmachen. Darunter werden verstanden: - die Fähigkeit, eigenkulturelle Konzepte zu relativieren, - die Fähigkeit zur Vermittlung zwischen eigener und fremder Kultur, - die Fähigkeit, die aus den verschiedenen Lebenswelten resultierenden Erfahrungen und Verhaltensweisen im Gespräch zu erkennen, zu verstehen und zwischen ihnen kommunikativ vermitteln zu können. Es besteht also eine wechselseitige Beziehung zwischen dem Stereotyp und der interkulturellen Kompetenz: Probanden, die Stereotype relativieren/differenzieren, weisen die Bereitschaft und Fähigkeit auf, über eigene kulturelle Muster hinaus zu denken und zu handeln. Stereotype in der Fremdsprachendidaktik 47 3. Modell/Vorschlag einer holistischen Auseinandersetzung mit dem Stereotyp als kognitiv-affektiver Kategorie im FU Den Weg zur interkulturellen Kommunikation teilen wir in drei Phasen: Wahrnehmung, Bedeutungsentwicklung und Kommunikation. Dabei platzieren wir Stereotypie und die den Stereotypisierungsprozess unzertrennlich begleitende Affektivität in die Wahrnehmungsphase und behaupten mit Krumm (1994: 122), dass „…interkultureller Fremdsprachenunterricht darauf abzielen sollte, ein systematisches Wahrnehmungstraining zu entwickeln, das kulturgebundene Deutungsmuster in der Sprache aufsucht und Prozesse des Selbst- und Fremdverstehens in den Mittelpunkt rückt“. Stereotype verstehen wir in diesem Zusammenhang als kulturgebundene Deutungsmuster. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist für Prozesse des Selbst- und Fremdverstehens unumgänglich. Wir plädieren also für eine Wahrnehmungsschulung, welche reflektierten Umgang mit Stereotypen einbezieht. Folgende unterrichtliche Tätigkeiten und didaktische Entscheidungen sollen zur Wahrnehmungsschulung im interkulturell ausgerichteten Fremdsprachenunterricht, der den Umgang mit der Kategorie des Stereotyps berücksichtigt, bevorzugt werden: 1. Sensibilisierung für Stereotype durch Gespräche, Filme, authentische Texte (gesteuertes interkulturelles Lernen); 2. Arbeit mit authentischen Texten, Tonbändern, Bildmaterialien und Filmen (ungesteuertes interkulturelles Lernen); 3. Simulationen und simulative Übungen; 4. Projektarbeit mit soziokulturellen bzw. landeskundlichen Themen einschließlich der Stereotype (Familie, Wohnen, Umwelt, Verkehr usw.); 5. Ausarbeitung und Übernahme einer fremden Rolle; 6. Muttersprachler mit der interkulturellen Kompetenz und jeweiligen Kenntnissen als Ansprechpartner; 7. Förderung von Studienfahrten mit einem intensiven interkulturellen Programm und von 1 bis 2 semesterlangen Ziellandsaufenthalten. Bezüglich dieses letzten Postulats soll hervorgehoben werden, dass die interkulturelle Kompetenz nicht „trocken“ geübt werden kann. Aus diesem Grunde betonen wir wiederholt die Relevanz von Studienfahrten, Austauschprogrammen und Ziellandsaufenthalten. Ihnen soll aber eine entsprechende interkulturelle Vorbereitung vorausgehen. Wir sind uns im Klaren, dass dies ein hochgestecktes Ziel ist – aber hoffentlich kein unerreichbares bleiben wird. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der an Austauschprogrammen teilnehmenden Studenten sowohl in Deutschland als auch in Polen um ein Vielfaches erhöht. Darüber hinaus sollen im interkulturellen Fremdsprachenunterricht dem Lernenden Bedingungen geschaffen werden, welche ihm eine Explizierung der subjektiven Theorien zu Stereotypen wie auch eine Metareflexion ermöglichen würden. Im universitären Bereich, besonders im Philologiestudium, soll eine solche Explizierung und Auseinandersetzung mit dem Stereotyp vor allem im Rahmen der sprachpraktischen Übungen stattfinden. Da eine solche Auseinandersetzung stark affektiv geprägt ist, d.h. eigene Magdalena Pieklarz 48 Erfahrungen, Erlebnisse und Sichtweisen mit einbezogen und ausdiskutiert werden, und da sie die sog. Alltagskultur betrifft, eignet sich der sprachpraktische Unterricht, der meistens einen lockeren Stil und Inhalt hat, am besten dazu. Die Thematik der Stereotype ist für Philologiestudenten äußerst interessant. Sie begleitet sie und reift während des gesamten Studiums und auch später. Jeder interkulturelle Kontakt bringt eine Auseinandersetzung mit den eigenen Selbst- und Fremdbildern mit sich. So gesehen ist eine solche Explizierung der subjektiven Theorien zu Stereotypen gerechtfertigt und empfehlenswert. Ebenfalls relevant scheint die Beschäftigung mit Prinzipien allgemeiner Semantik zu sein, welche parallel zur Wahrnehmungsschulung und zur Explizierung der subjektiven Theorien zu Stereotypen stattfinden soll. Die Lernenden sollen die Möglichkeit haben, zu erkennen, welche Rolle Sprache für menschliches Verhalten spielt und wie sie dieses beeinflusst. Dabei sollen tiefgehende Zusammenhänge zwischen Sprache, Kultur, Zivilisation und kulturbedingter Fremdwahrnehmung erkannt werden. Durch bewusste Sprachbetrachtung und Analyse eigenen Sprachverhaltens sollen sie mehr über eigene Kognitionen erfahren und entdecken, dass Wort und Gegenstand nicht übereinstimmen, dass gleiche Dinge in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Bezeichnungen besitzen, Sprache und Verhaltensweisen sich ständig wandeln und jeder Mensch, je nach Standpunkt und Interessen, seine Umgebung unterschiedlich wahrnimmt, so dass Situationsbeschreibungen zugleich Tatsachen und deren Wertungen beinhalten und insofern ein Abbild davon geben, was im Betrachter selbst vorgeht. Die folgende Abbildung 3 stellt eine Zusammenfassung und zugleich einen Vorschlag holistisch gesehenen Umgangs mit der Kategorie Stereotyp im interkulturellen Fremdsprachenunterricht dar: Auseinandersetzung mit dem Stereotyp als kognitivaffektiver Kategorie im interkulturellen Fremdsprachenunterricht Wahrnehmungsschulung Explizierung der subjektiven Theorien zu Stereotypen Beschäftigung mit Prinzipien allgemeiner Semantik Abb. 3: Holistischer Umgang mit dem Stereotyp im interkulturellen Fremdsprachenunterricht Man soll dabei nicht vergessen, dass die Erziehung zur interkulturellen Kompetenz und Kommunikation ein prozess- und nicht produktorientiertes Lernen ist. So muss man auch die Auseinandersetzung mit dem Stereotyp prozessorientiert betrachten und dementsprechend didaktisch gestalten. Ebenfalls wichtig scheint uns ein systematisches Stereotype in der Fremdsprachendidaktik 49 didaktisches Vorgehen zu sein, dem eine konzentrierte (also nicht lineare) Darbietung des Lernstoffes zugrunde liegt. Wenn man bedenkt, dass die interkulturelle Kompetenz durch drei Begriffe: Kenntnisse, Motivation und Handeln (Zawadzka 2004: 213) bedingt ist, soll verstärkt für die Berücksichtigung aller drei Komponenten in der Schulung dieser Kompetenz in Bezug auf den Umgang mit der Kategorie des Stereotyps plädiert werden. Folgende drei Fragestellungen sind besonders relevant: 1. Welche Kenntnisse um die Kategorie des Stereotyps sind nützlich für interkulturelle Kommunikation und wie werden sie erworben? 2. Wie kann man für die Fremdsprachenlernenden eine solche Motivationsbasis schaffen, dass sie sich bemühen, in Richtung der Zielvorstellungen des Umgangs mit der Kategorie des Stereotyps zu arbeiten und sich die interkulturelle Kompetenz zu erwerben? 3. Durch welche (hochschulischen) Maßnahmen kommt man zu einem interkulturellen und interkulturell geprägten Handeln in Bezug auf den Umgang mit der Kategorie des Stereotyps? Die Problemstellung unserer fremdsprachlichen Unterrichtstätigkeit liegt also darin, ob und inwiefern sowohl Relativierung und Differenzierung von Stereotypen als auch Eigen- und Fremdverstehen im hochschulischen Fremdsprachenunterricht außerhalb der Zielsprachenkultur möglich sind. Eine relevante Frage besteht darin, ob durch hochschulische Maßnahmen solche Bedingungen geschaffen werden können, die den Lernenden sowohl zu einer zufriedenstellenden fremdsprachlichen Kompetenz als auch zum interkulturellen Lernen und zur Stereotypenrelativierung führen. Übergreifende Lernziele in der Auseinandersetzung mit der Kategorie Stereotyp auf dem Wege zur Schulung der interkulturellen Kompetenz sind: 1. Einsichten in die (linguistische) Struktur des Stereotyps zu erarbeiten; 2. Eigene und fremde Stereotype als solche zu erkennen und ihren kognitiven, affektiven und konativen Wert zu berücksichtigen. Wenn sie in verdeckter, impliziter Form erscheinen, sind dazu bestimmte Analyseverfahren erforderlich; 3. Die Entstehung von Stereotypen und ihren Erwerb durch das Individuum zu reflektieren; 4. Einsichten in die Funktion von Stereotypen für das Individuum und für die Gruppe/Gesellschaft zu gewinnen; 5. Die grundsätzliche Bereitschaft zu entwickeln, Stereotype in den Situationen, in denen eine Konfrontation mit dem stereotypisierten Objekt ansteht, auf ihren Gehalt hin zu prüfen. Die vorliegenden Ausführungen sollen zu einem aufgeklärten Umgang mit Stereotypen im Fremdsprachenunterricht anregen. Die ermittelten Stereotype und der sie unzertrennlich begleitende affektive Wert weisen auf die Notwendigkeit hin, dem Stereotyp einen angemessenen Platz im interkulturellen Fremdsprachenunterricht, der ein soziales, kognitives und affektives Lernen voraussetzt, zu gewähren. 50 Magdalena Pieklarz Literatur Apeltauer, Ernst (1983): Vorurteile und Stereotype und Möglichkeiten zu ihrem Abbau bzw. zu ihrer Differenzierung in der Ausbildung von Lehrern für Ausländerkinder. In: Lähnemann, Johannes (Hrsg.): Kulturbegegnung in Schule und Studium. Hamburg: Rissen, 237-254. Apeltauer, Ernst; Polat, T.; Tapan, N. (1998): Selbst- und Fremdbilder türkischer und deutscher Studierender von Deutschen und Türken. In: Kuruyazici, N.; Jahn, S.; Müller, U. u.a. (Hrsg): Schnittpunkte der Kulturen. Stuttgart, 163-171. Apeltauer, Ernst (2002): Deutschland und die Deutschen aus norwegischer Sicht, Stereotype als Voraussetzungen interkultureller Kommunikation. 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Begegnungen mit realen Menschen und ihren Migrationsgeschichten, stellt wegen seiner Komplexität eine hohe Herausforderung für die forschende Person dar. Denn von den getroffenen methodischen Entscheidungen und eingegangenen Kompromissen hängen letztendlich auch Untersuchungsergebnisse ab. Diese können nur dann angemessen rezipiert und evaluiert werden, wenn die Anlage der Untersuchung eingehend dargestellt und der Forschungsprozess an sich reflektiert werden. Im Folgenden soll über eine Studie zum frühen nachzeitigen Zweitspracherwerb unter Migrationsbedingungen berichtet werden. Dabei sollen das Untersuchungsdesign und die methodische Vorgehensweise fokussiert werden. Außerdem wird auf methodische Probleme und Kompromisse während der Phase der Feldforschung sowie auf zielgruppenspezifische Besonderheiten eingegangen. 1. Darstellung der eigenen Untersuchung Im Rahmen der Studie wird erforscht, wie russischsprachige Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren die Zweitsprache Deutsch erwerben und welche Rolle ihre Eltern und Anastasia Adybasova 54 der räumliche Kontext (der Kindergarten) bei diesen Prozessen spielen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Entwicklung der Zweitsprache und der Interaktionskompetenz bei den Kindern. Was waren meine Motive für die Erforschung dieses Feldes? Russisch ist meine Muttersprache und ich verfüge selbst über Zuwanderungs- und ähnliche soziokulturelle Erfahrungen. Dies verhalf mir dazu, schnell einen Zugang zu den Familien zu finden und eine Vertrauensbasis aufzubauen. Sprachkenntnisse im Russischen machten außerdem eine Beschreibung und Analyse der erstsprachlichen Entwicklung sowie erstsprachlich bedingter Phänomene (z.B. Code-Switching, Interferenzen) überhaupt erst möglich. Untersuchungen mit russischsprachigen Einwanderern sind außerdem insofern relevant, weil sie die zweitgrößte Migrantengruppe in der Bundesrepublik darstellen. Auch in einem Streugebiet, wo die Daten aufgenommen wurden, gibt es Stadtteile und dementsprechend Bildungsinstitutionen mit einem relativ hohen Anteil an Migranten. Die Studie, über die hier berichtet wird, wurde im Kindergarten durchgeführt. Denn trotz neuerer Untersuchungen (vgl. z.B. Jeuk 2003, Kostyk 2005) wissen wir gegenwärtig immer noch viel zu wenig darüber, wie die Zweitsprache Deutsch in der frühen Kindheit erworben wird und wie sie am besten gefördert werden sollte. Und das, obwohl die Bedeutung der Kindergartenzeit für den Deutscherwerb bei Migrantenkindern und die Bedeutung der Sprachkenntnisse für den späteren Bildungsweg nicht zuletzt nach der Veröffentlichung großer internationaler Vergleichstudien unumstritten ist. Die Besonderheit dieser Untersuchung besteht vor allem in der Gestaltung der Aufnahmesituationen, in der Rolle der Eltern und in der Alterszusammensetzung der Probandengruppe. Nr. 1. Aufnahmesituationen 2. Rolle der Eltern 3. Alterszusammensetzung der Probanden Bisherige Untersuchungen (Elementarbereich) isolierende Einzelaufnahmen, forschende Person und das Probandenkind in einem separaten Raum Befragungen zur sozialen und sprachlichen Situation „künstliche“ Altershomogenität (erste Kontaktmonate mit der Zweitsprache) Vorliegende Untersuchung authentische Aufnahmesituation involviert in den Forschungsprozess „natürliche“ Altersheterogenität (drei- bis fünfjährige Kinder) Tab. 1: Rolle der Eltern und Alterszusammenhang 1. Aufnahmesituation: Die Tonaufzeichnungen stammen nicht nur aus Einzelaufnahmensituationen zwischen der forschenden Person und dem Probanden, sondern wurden in einer Fördermaßnahme (einem Eltern-Kind-Deutschkurs) gemacht, an der Eltern und Kinder gemeinsam teilnahmen (vgl. Adybasova 2006: 6f). Dies führte dazu, dass auch bestimmte interaktionale Aspekte (z.B. Kind-Kind-Interaktionen, Mutter-Kind-Interaktionen) analysiert werden konnten. 2. Rolle der Eltern: Die Eltern waren an der Untersuchung aktiv beteiligt. Sie wurden nicht nur zu Sozialdaten des Kindes und zum Sprachgebrauch in der Familie befragt, Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen russischsprachiger Kinder 55 sondern beteiligten sich an der Studie, indem sie den Kurs besuchten und ihn aktiv mitgestalteten. Dadurch konnte das Kind sowohl im institutionellen Kontext als auch in seiner familialen Umwelt erfasst werden. 3. Alterszusammensetzung der Probanden: Es handelt sich um eine authentische, altersgemischte Kindergruppe, wie es in einer realen Kindergartengruppe oder in einer Familie der Fall ist. Einerseits erlaubt die Altersheterogenität keine direkten Vergleiche zwischen einzelnen Probanden, was in dieser Studie auch methodisch nicht angestrebt wird, ermöglicht aber andererseits eine weitgehende Normalität der Aufnahmesituationen, d.h. eine Reduktion von Störfaktoren. 2. Anlage der empirischen Untersuchung Die Untersuchung ist der qualitativen (explorativ-interpretativen) Methodologie zuzuordnen und wurde hypothesengenerierend angelegt. Die sprachlichen und interaktionalen Entwicklungsprozesse werden anhand von transkribierten Tonaufnahmen, Befragungen und Beobachtungen dokumentiert und rekonstruiert. Die Phase der Feldforschung erstreckte sich über einen Zeitraum von 15 Monaten. Der Eltern-Kind-Deutschkurs, in dem die Tonaufzeichnungen entstanden, dauerte neun Monate. Im Sinne der Triangulation wurden ergänzend weitere Daten im Umfeld erhoben: Gespräche mit den Eltern und den Erzieherinnen, Hausbesuche sowie teilnehmende Beobachtung in den Kindergartengruppen. Diese Daten wurden für die nachfolgende Auswertung entsprechend aufbereitet. Die Feldforschung im Rahmen der vorliegenden Studie wurde in vier Phasen durchgeführt: Phase der Feldforschung zeitlicher Rahmen Datenerhebung 1. Eingang ins Feld November 2003 Befragungsverfahren (offene Interviews), teilnehmende Beobachtung 2. Orientierung im Feld November 2003teilnehmende Beobachtung Januar 2004 3. DurchFebruar 2004führung des Dezember 2004 Kurses 4. Evaluation Januar 2005-Feder Feldforbruar 2005 schung Tab. 2: Phasen der Feldforschung Datenaufbereitung Gedächtnisprotokolle, verschriftlichte Interviews, Feldnotizen Gedächtnisprotokolle, Mitschriften in der Gruppe teilnehmende Beobachtung, Tonaufnahmen Gedächtnisprotokolle, Transkripte Befragungsverfahren (Leitfadeninterviews) Gedächtnisprotokolle, verschriftlichte Interviews 56 Anastasia Adybasova 1. Eingang ins Feld (November 2003) In dieser Phase wurde der erste Kontakt mit dem Kindergarten aufgebaut. Der Eingang ins Feld erfolgte nicht zu Beginn des Kindergartenjahres. Denn jüngere Kinder, die im August in die Einrichtung gekommen waren, mussten sich zuerst an die neue Situation und neue Sprache gewöhnen. Auch ältere Kinder brauchten Zeit, um sich nach den Sommerferien einzufinden, zumal die Gruppen in dieser Einrichtung z.T. neu gemischt wurden. Die Kindergartenleiterin fungierte bei der Einführung in den Kindergarten als Schlüsselperson. 2. Orientierung im Feld (November 2003-Januar 2004) In dieser Zeit fanden das Kennenlernen, der Vertrauensaufbau, die Probandengewinnung und die Organisation des Kurses statt. Durch breitgestreute Beobachtung während der Hospitationen wurde ein erster Einblick in die pädagogische Arbeit des Kindergartens gewonnen. Das besondere Interesse galt dabei den Migrantenkindern der Einrichtung und ihrem sozialen und sprachlichen Verhalten. Um potentielle Probanden näher kennen zu lernen und eine stabile emotionale Basis aufzubauen, traf ich mich mit ihnen einmal wöchentlich für ca. 45 Minuten. Während dieser Zeit wurde gespielt, gesungen, erzählt und vorgelesen. Außerdem wurden Eltern persönlich und schriftlich über den geplanten Eltern-Kind-Deutschkurs informiert und zu einem Elternabend in russischer Sprache eingeladen. 3. Durchführung des Eltern-Kind-Deutschkurses (Februar 2004-Dezember 2004) Die dritte Phase stellt das Kernstück der empirischen Studie dar. In dieser Zeit wurde der Eltern-Kind-Deutschkurs durchgeführt, in dem die meisten Tonaufzeichnungen gemacht wurden. Überlegt wurde anfangs auch, eine Kontrollgruppe ohne Eltern zu organisieren. Diese Idee wurde allerdings verworfen. Denn in der Untersuchung geht es nicht darum zu vergleichen, ob Kinder mit oder ohne Eltern besser Deutsch lernen, sondern im Sinne der Hypothesengenerierung um eine genaue Beobachtung und Beschreibung von Entwicklungs- und Interaktionsphänomenen. Der Kurs basierte auf einer Zusammenstellung typischer altersgerechter Aktivitäten, denen Kinder mit Interesse und Neugier nachgehen: Kinderlieder, Sprachlernspiele, Bilderbuchbetrachtungen etc.. Vor der Sommerpause fanden die Sitzungen zweimal wöchentlich für je 30 Minuten statt. Nach der Sommerpause wurde der Kurs einmal wöchentlich durchgeführt. Die Dauer einzelner Sitzungen betrug 30-45 Minuten. Beide Sprachen waren im Kurs präsent. Während Deutsch als Zielsprache fungierte, war Russisch die Meta- und Funktionssprache, d.h. die Sprache der Anweisungen, Erklärungen und Kommentare. Durch die Verwendung des Russischen konnten Kinder Situationen rascher überblicken und Bedeutungen genauer erfassen. Versucht wurde außerdem möglichst viele Parallelen zwischen den Sprachen herzustellen und damit die metasprachliche Entwicklung anzuregen. So wurden beispielsweise Bücher und Reime ins Russische übersetzt sowie Lieder und Reime, die in beiden Sprachen bekannt sind, Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen russischsprachiger Kinder 57 verwendet. Durch die Teilnahme am Kurs bekamen die Eltern zahlreiche Anregungen, die sie auch zu Hause umsetzen konnten. 4. Evaluation der Feldforschung (Januar 2005-Februar 2005) In diesem Zeitraum wurden Hausbesuche bei den Familien, die am Eltern-KindDeutschkurs teilnahmen, durchgeführt. Dadurch wurde ein Einblick in die häusliche Umgebung und die Lebenswelt der Kinder gewonnen und die bereits vorliegenden Daten im Sinne der Perspektiventriangulation von den Eltern ergänzt und z.T. revidiert. Für die Eltern bedeuteten die Hausbesuche und die damit verbundenen Evaluationsgespräche den Abschluss der Sprachfördermaßnahme. Dies ermöglichte uns, die Eltern auch später im Bedarfsfall z.B. bei Rückfragen zu konsultieren. 3. Methodische Probleme und ihre Lösungen Methodische Probleme sollen als „konstitutive Schritte einer jeglichen Forschungstätigkeit“ betrachtet werden (Aguado 2000: 129), aus denen konstruktive Konsequenzen für weitere Studien gezogen werden können. Im Folgenden wird auf einige Probleme bei der Anlage der Untersuchung und bei der Datenerhebung eingegangen: - Kooperation mit Erzieherinnen: Erzieherinnen hätten bei der Organisation der Feldforschung, z.B. im Rahmen einer der wöchentlich stattfindenden Teambesprechung, ausführlicher informiert und aufgeklärt werden sollten. So kritisierte z.B. eine Erzieherin die Verwendung der russischen Sprache im Kurs. Dies bedeutet, dass es nicht gelungen war, alle Erzieherinnen ausreichend zu informieren und fortzubilden sowie ihnen auf diese Weise neuere Erkenntnisse zum Zweitspracherwerb zu vermitteln. - Probandenzahl: Erfahrungsgemäß muss in empirischen Längsschnittuntersuchungen damit gerechnet werden, dass Daten einiger Kinder aus unterschiedlichen Gründen (Umzug, Krankheit etc.) nicht regelmäßig erhoben werden und daher nicht auswertbar sein können. Um der Frage nachgehen zu können, welchen Einfluss Eltern auf den Zweitspracherwerb der Kinder haben, war außerdem eine zuverlässige Kursteilnahme der Eltern notwendig. Die Anzahl der Probanden zu erhöhen, um auf diese Weise die möglichen Ausfälle aufzufangen, war aus organisatorischen Gründen jedoch nicht möglich. Denn dies hätte den Kursrahmen gesprengt. - Forscherteam: Wünschenswert wäre es, ein solches Projekt künftig in einem Forscherteam durchführen zu lassen. Dies hätte Vorteile nicht nur bei der Datenauswertung, sondern auch bei der Datenaufbereitung durch mehrfache Kontrolle der Transkripte durch involvierte Personen. Auch die Datenerhebung könnte dadurch anders gestaltet werden. Denn in der hier beschriebenen Untersuchung übernahm ich gleichzeitig die Rolle der Forscherin und der Kursleiterin. Diese Situation konnte zwar durch das Delegieren von Aufgaben an die teilnehmenden Eltern etwas erleichtert werden. Durch den Einsatz einer zusätzlichen Kraft gäbe es aber mehr Möglichkeiten, z.B. für die teilnehmende Beobachtung im Kurs. Auch das Prinzip „eine Person - eine Sprache“ hätte realisiert werden können. Da alle Anwesenden Anastasia Adybasova 58 zwei Sprachen verstanden, war es für die Kinder im Kurs durchaus möglich, in einer von ihnen bevorzugten Sprache zu bleiben. 4. Zielgruppenspezifische Besonderheiten Welche zielgruppenspezifischen Besonderheiten ergaben sich während der Phase der Feldforschung? Um sie beschreiben zu können, soll im Weiteren auf das sozialökologische Modell von Bronfennbrenner (1981) zurückgegriffen werden, in dem ein sich veränderndes Individuum in einer sich verändernden Umwelt in ökologischen Systemen dargestellt wird. Diese sind hierarchisch aufgebaut und wechselseitig miteinander verbunden. Bronfenbrenner (1981) strukturiert die gesamte materielle und soziale Umwelt eines Menschen in vier Systemebenen: das Makrosystem, das Exosystem, das Mesosystem und das Mikrosystem. Im Folgenden sollen sie charakterisiert und anhand einiger Beispiele erläutert werden. Das Mikrosystem umfasst die Ebene der persönlichen Beziehungen, in denen direkte Interaktionen mit anderen möglich sind. Dazu gehören z.B. Kind-Kind-Interaktionen, Eltern-Kind-Interaktionen, Erzieherin-Kind-Interaktionen. Alle Probandenkinder bis auf eine Ausnahme spielten lieber oder ausschließlich mit russischsprachigen Kindern und hatten ein russischsprachiges Kind als besten Freund oder beste Freundin. Anscheinend vermittelt die Verwendung der gemeinsamen Erstsprache ein Gefühl der Geborgenheit und des Angenommenseins. Zu fragen wäre dabei, welchen Einfluss dies auf den Zweitspracherwerb hat, weil der Kindergarten für die Aussiedlerkinder fast der einzige Ort ist, an dem sie einen deutschsprachigen Input erhalten. Das Mesosystem beschreibt die Gesamtheit der Beziehungen eines Menschen, also die Summe der Mikrosysteme und die Beziehung zwischen ihnen. Dazu gehören z.B. die Wechselbeziehungen zwischen dem Kindergarten und Elternhaus. Obwohl sich die Erzieherinnen um die Kooperation mit den Aussiedlereltern bemühen, scheint dieser Prozess noch auf beiden Seiten verbesserungsbedürftig zu sein. Anfänglich äußerten Eltern Befürchtungen, dass die Kinder durch die Teilnahme an der Sprachfördermaßnahme eine Sonderbehandlung als „russische Kinder“ bekommen. Das war ein kritischer Punkt bei den Familien, weil sie in der Sowjetunion als Deutsche und in Deutschland als Russen angesehen werden. Dies wäre durchaus ein Grund, um die Teilnahme am Projekt abzubrechen. Erst als die Eltern sahen, dass ihre Kinder von allen anderen um dieses Privileg beneidet wurden, haben sich ihre Ängste gelegt. Das Exosystem umfasst Lebensbereiche, an denen das Kind nicht selbst beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die seinen Lebensbereich beeinflussen. Das sind z.B. institutionales Exosystem des Kindergartens (Aus- und Fortbildungen der Erzieherinnen) oder familiales Exosystem (Bildungsnähe oder -ferne, Erwerbssituation und Wohnsituation). Viele von uns untersuchte Familien kamen aus einer ländlichen Gegend und waren eher handwerklich orientiert. Die meisten Eltern hatten keinen bzw. keinen höheren Bildungsabschluss und verfügten dementsprechend über ein niedriges Einkommen. Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen russischsprachiger Kinder 59 Das Makrosystem bezieht sich auf das kulturelle, politische und wirtschaftliche System einer Gesellschaft mit ihren jeweiligen Weltanschauungen, Normen, Werten und Ideologien. Die Eltern brachten aus ihrem Herkunftsland andere Sozialisationsvorstellungen und Erwartungen an die pädagogische Arbeit im Kindergarten. So wünschten sie sich z.B. eine altersgerechte Wissensvermittlung in den Bereichen Numeralität und Literalität und nicht nur Spielen und Betreuung im Sinne von „Aufbewahrung“1. Obwohl die meisten Probanden unserer Untersuchung in Deutschland geboren und noch nie in Russland bzw. Kasachstan gewesen sind, werden sie durch die Sozialisationsvorstellungen und Erwartungen ihrer Eltern beeinflusst und teilen die Migrationsgeschichte ihrer Familien. Als ein Beispiel für den makrosystemischen Einfluss kann der Einsatz der Aufnahmentechnik in der Untersuchung angeführt werden. Während das Aufnahmegerät im Kurs für die Eltern kein Problem darstellte, weil es ja sozusagen auf die Kinder ausgerichtet war, wünschten sie sich bei den Hausbesuchen keine Tonaufnahmen der Gespräche. Von türkischen Eltern wissen wir, dass sie damit in der Regel keine Schwierigkeiten haben (vgl. Kuyumcu 2006: 19). Eine mögliche Erklärung dafür findet sich in der Verbannungsgeschichte (Migrationsgeschichte) der Wolga-Deutschen, die während des zweiten Weltkrieges nach Sibirien und Kasachstan deportiert und z.T. in Arbeitslagern inhaftiert wurden (vgl. Baur et al. 1999:36ff.). Auch nach dem Krieg befanden sie sich unter einer ständigen Kontrolle und einem enormen Druck, beispielsweise durch das Abhören von Telefonaten. Das Aufnehmen von Gesprächen scheint immer noch mit negativen Konnotationen verbunden zu sein. Zu Beginn der Untersuchung formulierten die Eltern auf Informationsabenden die Befürchtungen, dass der Kurs in Form eines traditionellen Fremdsprachenunterrichts gehalten wird. Denn aus ihrer Schulzeit kannten sie einen eher stark autoritären Unterricht in Form von Plenum und mit einer starken Gewichtung von Grammatikvermittlung. Diese Schulerfahrungen, die auf der makrosytemischen Ebene anzusiedeln sind, äußerten sich bei den am Kurs teilnehmenden Eltern in: 1. Annahmen über den Zweitspracherwerb; 2. Disziplinvorstellungen; 3. Gestaltung des häuslichen Lernens; 4. Memorieren von Texten. Im Folgenden sollen sie an Transkrpitauszügen2 dargestellt und erläutert werden. Die Beispiele beziehen sich auf zwei Probandenkinder Nina3 und Michael. Nina ist zu Beginn der Tonaufzeichnungen 4;14 und seit fünf Monaten im Kindergarten. Ihre Eltern gehörten in Kasachstan zu der sogenannten Inlelligenzija - einer Ge1 2 3 4 Der Wunsch nach mehr Wissensvermittlung zeigt sich auch im Konzept des von Eltern gegründeten Kindergartens „Umka“ (vgl. Lehmann; Meng; Pronina 2004). Beim Transkribieren deutscher Äußerungen wurde das (modifizierte) Gesprächsanalystische Transkriptionsverfahren (vgl. Selting et al. 1998) verwendet. Russische Äußerungen wurden nach den Regeln der ISO-Transliteration wiedergegeben und unten kursiv ins Deutsche übersetzt. Alle im Text vorkommenden Namen wurden aus Datenschützgründen geändert 4;1 bedeutet vier Jahre und ein Monat alt. Anastasia Adybasova 60 sellschaftsschicht mit einer akademischen Ausbildung und einem vergleichbar niedrigen Einkommen. Ninas Vater hatte Medizin und ihre Mutter Wirtschaftwissenschaften studiert. In Deutschland sind sie seit vier Jahren. Der Vater arbeitet als Arzt (ohne feste Einstellung) und die Mutter kümmert sich um den Haushalt und die Kinder. Die ältere Schwester besucht das Gymnasium. Nina wächst in einer durch die Erstsprache literal geprägten Umgebung auf. Michael ist 4;8 und seit 15 Monaten im Kindergarten. Seine Mutter hatte in Kasachstan Buchhalterin gelernt und der Vater konnte sein Fernstudium nicht abschließen. In Deutschland sind sie seit knapp zwei Jahren und sind noch arbeitslos. Der neun Jahre ältere Bruder geht auf die Realschule. In der Familie wird ausschließlich Russisch gesprochen. 1. Annahmen zum Zweitspracherwerb Ninas Mutter nimmt am Projekt teil, um das Mädchen beim Zweitspracherwerb zu unterstützen. Diesen Auftrag nimmt sie ernst und versucht den Sprachlernprozess ihrer Tochter verschiedentlich zu steuern. Zum einen legt die Mutter einen großen Wert darauf, dass Nina die Fragen nicht mit bloßem Ja oder Nein beantwortet, sondern in kompletten Sätzen spricht (S175). Obwohl die Mutter auf der Vollständigkeit besteht, formuliert sie selbst nur einsilbige Antworten und bietet somit dem Kind kein adäquates Sprechermodell (vgl. Z24): 23 24 25 26 27 Mi: Mu/Ni: Mi: Ni: Mu/Ni: 28 Ni: hast du ausgeslafen? ja. hast du ausgeslafen? nein. skaži polnost´ju. sag vollständig. nein (-) ich habe nicht auf´ aufgeschlafen. Außerdem versucht sie das Mädchen zum Nachsprechen zu animieren. In ihren Bemühungen verwendet sie sogar einen elliptischen Satz skaži (čto ėto za) predmet – sage (was ist das für ein) gegenstand (vgl. S28 Z235), der eher in den Bereich der Schulsprache gehört: 232 233 Mu/Ni: 234 235 236 237 238 5 Ni: Mu/Ni: ein spiegel! nina skaži čto ėto! nina sage was das ist? was ist das? skaži predmet. sage den gegenstand. ein spiegel? ein spiegel. molodec kakaja. gut gemacht. S17 steht für Sitzung 17, Z24 verweist auf Zeile 24. Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen russischsprachiger Kinder 61 Die Mutter findet für Nina neue Interaktionspartner „zum Üben”, damit sie mehr Wiederholungsmöglichkeiten bekommt (S28): 295 296 ... 299 Fo: Ni: gut (-) wir sagen jetzt auf wiedersehen. auf wiedersehen auf wiedersehen. Mu/Ni: 300 Ni: nina skaži alexu (-) alexu skaži. nina sag dem alex (-) dem alex sag. auf wiedersehen. Entsprechend ihren Annahmen zum Zweitspracherwerb (Vollständigkeit, Nachsprechen, mehrfaches Wiederholen) versucht Ninas Mutter ihre Tochter beim Deutscherwerb zu unterstützen. Am Beispiel eines Sprachlernspiels (S34), bei dem die Kinder beschriebene Gegenstände erraten sollten, wird gezeigt, wie die Mutter mit ihrem Kind interagiert: Interaktionsphänomene6 Belege Transkriptbeispiele 230 Mu/Ni: skaži čto ty znaeš´. sag was du weißt. Aufmerksamkeitssteuerung 7 231 was ist das? ((flüsternd)) 232 Ni: ich weiß. 175 Mu/JaMa: es kann man essen. Reformulierungen 5 176 Mu/Ni: nina nina! 177 was kann man essen? 86 Mu/Ni: was ist das? 87 Ni: zerkalo. Sprachwahlsteuerung 2 spiegel. 88 Mu/Ni: auf deutsch? Tab. 3: Interaktion zwischen Mutter und Kind 6 Aufmerksamkeitssteuerung: Dazu gehören Belege, in denen die Mutter Grundbedingungen für den Lernprozess schafft. Sie motiviert, ermutigt ihre Tochter zum Nachdenken und fokussiert ihre Aufmerksamkeit, u.a. indem sie das Mädchen auffallend häufig (8 Belege) mit dem Namen anspricht. Reformulierungen: Damit wird gemeint, dass die Mutter eine vorausgegangene Äußerung (meist die der Forscherin) wiederaufnimmt7. Dies kann sowohl in einer veränderten Form (vereinfachende Paraphrasen, Übersetzungen ins Russische) als auch in einer unveränderten Form (einfache Wiederholungen) geschehen. Sprachwahlsteuerung: Die Mutter ist daran interessiert, dass Nina Deutsch lernt. Da das Mädchen von ihrer kognitiven Entwicklung her wohl dazu in der Lage ist, die Gegenstände richtig zuzuordnen, versucht die Mutter Nina dazu zu bringen, sie auf Deutsch zu bezeichnen. Selbst spricht die Mutter dabei überwiegend Russisch. Bis auf eine Ausnahme (vgl. Z177) gebraucht sie im Deutschen die formelhaften Äußerungen auf deutsch (2 Belege) und was ist das? (5 Belege). 6 7 Die Interaktionsphänomene sind nach der Häufigkeit ihres Auftretens aufgelistet. Eingehende definitorische Beschreibungen finden sich bei Henrici (1995:40f). Anastasia Adybasova 62 2. Disziplinvorstellungen Das Verhalten einer anderen Mutter zeigt, dass sie strengere Disziplinvorstellungen hat. Auf die Leistungen ihres Sohnes Michael ist diese Mutter zwar stolz, unterbricht und weist ihn jedoch häufig zurück, wenn er sich in den Vordergrund drängt und seine Äußerungen nicht zur aktuellen Aktivität im Kurs passen. Meist sagt sie dabei auf Russisch, dass er das später zu Hause machen kann. Nur das verbietende nein – typisch für viele Migranteneltern – ist auf Deutsch. Am Beispiel S21 werden ihre unterbrechenden Eingriffe aufgelistet. Zu bedenken ist dabei, dass dies nur aufgezeichnete Belege sind. Nicht dokumentiert werden konnte, wenn die Mutter etwas leise oder flüsternd sagt, streng guckt etc.. Situativer Kontext Transkriptbeispiele 193 Mi: (ja kacheli mogu) narisovat´! (ich kann eine schaukel) malen! Michael möchte eine Schaukel 194 Mu/Mi: doma narisueš. zeichnen und dabei einen Reim malst du zu hause. aufsagen 195 Mi: ja mogu kačeli narisovat´! ich kann eine schaukel malen! 271 Mu/Mi: michael. 272 Mi: anastasia a čё ėto takoe? Beim Betrachten von Tierfiguren und was ist das? aus Holz 273 Mu/Mi: michael! 274 slušaj! hör zu! 299 Mi: (…) dorogu a volk (-) na? Während eines Gesprächs über (...) den weg und der wolf (-) na? Wölfe beginnt er, das Märchen 300 Mu/Mi: potom rasskažeš´. Rotkäppchen nachzuerzählen erzählst du später. Michael denkt, dass die Holz322 Mi: možno ja soberu? figuren ein Puzzel wären und darf ich zusammenbauen? möchte puzzeln 323 Mu/Mi: michael nein! Tab. 4: Unterbrechende Eingriffe der Mutter Dieses Verhalten der Mutter könnte damit erklärt werden, dass sie in ihrer eigenen Schulzeit den meist frontal gehaltenen Unterricht auch nicht „stören“ (im Sinne von „mitgestalten“) durfte. 3. Gestaltung des häuslichen Lernens Insgesamt wurde das häusliche Lernen von den Eltern als ein wichtiger Teil des Lernprozesses angesehen. Diese Einstellung machte sich dadurch bemerkbar, dass einige Eltern das sporadische Vergeben von Hausaufgaben an deutschen Schulen kritisierten8. Deswegen waren sie durchaus dazu bereit, ihre Kinder zu unterstützen und das in dem Kurs Gelernte in den häuslichen Bereich zu transferieren. Von den Interessen der Kinder ausgehend entwickelten sich dabei unterschiedliche Präferenzen. Einige Familien sangen 8 Auf die Rolle der Familie für die schulische Entwicklung von Kindern weist auch Wild (2004). Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen russischsprachiger Kinder 63 gern Lieder aus dem Kurs, andere bevorzugten Sprachlernspiele. Es gab Familien, die im Kurs ausgeliehene Bücher gerne lasen und einen Teil davon sogar inszenierten. 4. Memorieren Das auswendig Lernen hat eine lange Tradition in der ehemaligen Sowjetunion. Das Memorieren von unterschiedlich langen Fach- und literarischen Texten wird immer noch für ein erfolgreiches Durchlaufen der Schule vorausgesetzt und ist positiv konnotiert. Dies machte sich im Kurs z.B. dadurch bemerkbar, dass die Kinder gerne Reime aufsagten und dabei von den Eltern wohlwollend unterstützt wurden. In den Reflexionsgesprächen erwähnten viele Eltern, dass sie ihren Kindern russische Kindergedichte beibringen. Insbesondere in print-orientierten Familien, in denen Kinder viele literale Anregungen bekamen, wurde es gerne praktiziert. So lernte Nina von der Mutter viele Gedichte, z.B. von Agnija Barto, und rezitierte sie gerne in der Familie. Ninas Mutter vertrat die Einsicht, dass das Memorieren das Gedächtnis trainiere und außerdem die Wortschatzentwicklung fördere. Sie bedauerte zudem, dass dies im Kindergarten nicht stattfindet. Michals Mutter nahm sich nach der eigentlichen Sitzung viel Zeit, um mit Michael über das im Kurs Erlebte und Gelernte zu sprechen und es zu wiederholen. Sie las ihrem Sohn so oft deutsche Bilderbücher vor, so dass er den Text z.T. memorieren konnte. Die Bemühungen der Mutter und Michaels Gedächtnisleistungen wurden von den anderen Eltern bewundert (S8): 408 Mu/Da: 409 Mu/Mi: naizust´ vse vyučil? ((mit Respekt)) hat er alles auswendig gelernt? nu ya emu pročitala neskol´ko raz. ich habe ihm einige Male vorgelesen. Das Memorieren von Texten wird in der zweitspracherwerbstheoretischen Diskussion unterschiedlich bewertet. Einerseits gibt es Wissenschaftler, die darauf hinweisen, dass sich Lerner bestimmte Sprachelemente (z.B. Vokabeln) aus zuvor vorgelesenen Büchern merken und daher die auf diese Weise für die Beurteilung der sprachlichen Entwicklung gewonnenen Daten wenig aussagekräftig seien (vgl. z.B. Kalpakidou 1996). Andererseits wird die Position vertreten, dass es sich um keine reine Textreproduktion, sondern ein Nachgestalten im Rahmen eigener sprachlicher Fertigkeiten handelt. Sogar beim Nachsprechen „können Rückschlüsse auf die sprachliche Kompetenz und auf bevorzugte Interaktions- und Lernstrategien gezogen“ und z.B. Aussprachebesonderheiten, Gebrauch von Inhalts- und Funktionsworten sowie morphologisch-syntaktische Phänomene untersucht werden (Apeltauer 2007: 200). 5. Zusammenfassung und Ausblick Am Beispiel meines Forschungsprojektes wurde zu zeigen versucht, welche methodischen Überlegungen und Kompromisse bei der Planung und Durchführung der Datenerhebung notwenig waren. Außerdem wurde auf die Besonderheiten, die sich bei der Arbeit mit der Zielgruppe Aussiedlerfamilie ergaben, und auf einen möglichen Umgang mit ihnen eingegangen. Dadurch sollen Hinweise für die Konzeption und Durchführung künftiger empirischer Studien zum frühen Zweitspracherwerb und/oder Studien mit der gleichen Zielgruppe gegeben werden. 64 Anastasia Adybasova Abschließend lässt sich feststellen, dass mehr Langzeituntersuchungen für den Kindergartenbereich und den Übergang in die Grundschule benötigt werden. Zudem sollten mehr Untersuchungen zu konkreten Sprachenpaaren (z.B. Türkisch – Deutsch, Russisch – Deutsch, aber auch selteneren Sprachenpaare wie z.B. Albanisch-Deutsch) durchgeführt werden, damit das Zusammenwirken von Erst- und Zweitsprache im Verlaufe der Aneignungsprozesse erhellt werden kann. Gegenwärtig werden diese Aspekte in der Zweitspracherwerbsforschung noch zu wenig berücksichtigt. Literatur Adybasova, Anastasia (2006): Sprach- und Literalitätsentwicklung in einem Eltern-KindKurs für Kindergartenkinder aus Aussiedlerfamilien. In: Ahrenholz, Bernt; Apeltauer, Ernst (Hrsg.): Zweitspracherwerb und curriculare Dimensionen: empirische Untersuchungen zum Deutschlernen in Kindergarten und Grundschule. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 5-16. Apeltauer, Ernst (2007): Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund durch Anbahnen von (Bi-)literalität? In: Wieler, Petra (Hrsg.): Medien als Erzählanlass. Wie lernen Kinder im Umgang mit alten und neuen Medien. Freiburg im Breisgau: Fillibach Verlag, S. 183-208. Aguado, Karin (2000): Empirische Fremdsprachenforschung. Ein Plädoyer für mehr Transparenz. In: Aguado, Karin (Hrsg.): Zur Methodologie in der empirischen Fremdsprachenforschung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 119-131. Baur, Rupprecht S.; Chlosta, Christoph; Krekeler, Christian; Wenderott, Claus (1999): Die unbekannten Deutschen: ein Lese- und Arbeitsbuch zu Geschichte, Sprache und Integration russlanddeutscher Aussiedler. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Bronfenbrenner, Urie (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung: natürliche und geplante Experimente. Stuttgart: Klett-Cotta. Henrici, Gert (1995): Spracherwerb durch Interaktion: Eine Einführung in die fremdspracherwerbsspezifische Diskursanalyse. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Jeuk, Stefan (2003): Erste Schritte in der Zweitsprache Deutsch: Eine empirische Untersuchung zum Zweitspracherwerb türkischer Migrantenkinder in Kindertageseinrichtungen. Freiburg im Breisgau: Fillibach Verlag. Kalpakidou, Anastasia-Maria (1996): Semantisch-lexikalische Aspekte der Zweisprachigkeit: eine empirische Untersuchung zur sprachlichen Situation griechischer Schulkinder in Oberfranken. München: iudicium. Kostyk, Natalie (2005): Der Zweitspracherwerb beim Kind: eine Studie am Beispiel des Erwerbs des Deutschen durch drei russischsprachige Kinder. Hamburg: Verlag Dr. Kovac. Kuyumcu (2006): Sprachlernvoraussetzungen zweisprachig aufwachsender Vorschulkinder in ihrer Erstsprache Türkisch. In: Ahrenholz, Bernt; Apeltauer, Ernst (Hrsg.): Zweitspracherwerb und curriculare Dimensionen: empirische Untersuchungen zum Deutschlernen in Kindergarten und Grundschule. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 17-29. Lehmann, Carola; Meng, Katharina; Pronina, Marina (2004): Zweisprachige und interkulturelle Erziehung in „Umka“, einer Berliner Kindertagesstätte. In: Deutsch als Zweitsprache 3, 14-20. Wild, Elke (2004): Häusliches Lernen – Forschungsdesiderate und Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften. Beiheft 3/2004, S. 37-64. Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 65-82. Sevilen Demirkaya & Nazan Gültekin (Bielefeld) Die Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme Einleitung Im Rahmen der aktuellen Bildungs- und Integrationspolitik wird der frühen Förderung des Deutschen als Zweitsprache ein Stellenwert eingeräumt, den sie bislang im Zuwanderungsland Deutschland nicht innehatte. Ein Blick in die Dokumentationen des BAMF über Sprachförderangebote des Bundes und der Länder (2007a), der Kommunen und Landkreise (2007b) und der freien Träger (2007c) gibt eine erste Übersicht über die „inzwischen nur noch schwer überschaubare Fülle an Programmen, Projekten bzw. Maßnahmen“ (Fried 2006: 176) zur Sprachförderung im vorschulischen Bereich. Ein zweiter Blick in selbige zeigt jedoch, dass wenige dieser Frühfördermaßnahmen wissenschaftlich fundiert begleitet werden (vgl. Apeltauer 2007: 12, DJI 2004: 117, Fried 2006: 176-177). Wie vielerorts wird derzeit auch in Bielefeld eine vorschulische Sprachförderung angeboten, doch wurde vor Beginn der Maßnahme deren wissenschaftliche Begleitung beschlossen. Gegenstand des Beitrags ist die differenzierte Darstellung der Struktur und Ausrichtung dieser Begleitstudie. Hierzu wird vorab die Entwicklung und Konzeption der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme für Kinder mit Migrationshintergrund1 an Kindertageseinrichtungen skizziert. Danach wird das Forschungsdesign der Gesamtstudie als Synthese quantitativer und qualitativer Forschungsverfahren vorgestellt. Dieser Überblick über die Gesamtstudie wird durch die anschließende detaillierte Beschreibung zunächst der quantitativen, hiernach der qualitativen Teilstudie 1 Gemeint sind alle Kinder, für die Deutsch nicht die Erstsprache ist. 66 Sevilen Demirkaya; Nazan Gültekin vertieft. Bei der Darstellung der quantitativen Teilstudie wird der Schwerpunkt auf die Stichprobe wie auch auf die Methodenauswahl und den -einsatz gelegt. Die qualitative Teilstudie wird hinsichtlich des zugrundeliegenden Forschungsverständnisses, der Fallwie auch der Methodenauswahl beleuchtet. 1. Entwicklung und Konzeption der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme Die Zahl Bielefelder Frühfördermaßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund nahm mit den Beschlüssen des Landes NRW, Zuwendungen für sechsmonatige, später zusätzlich zehnmonatige Sprachförderungen zu gewähren, stetig zu. Waren es im Kindergartenjahr 2000/2001 noch 18, wurden 2004/2005 bereits 85 Sprachfördermaßnahmen durchgeführt. Um bei diesem quantitativen Anstieg keine Qualitätseinbußen der Förderangebote zu riskieren, gründete der Bielefelder Jugendhilfeausschuss den Arbeitskreis Interkulturelle Erziehung und Sprachförderung2. Zentrales Anliegen des Arbeitskreises wurde es, die nebeneinander existierenden divergenten Sprachfördermaßnahmen auf der Basis einer Neukonzeption zu strukturieren und auszubauen. Diese Neukonzeption ist vornehmlich von den Leitgedanken getragen, in gesamt Bielefeld nicht nur früher und länger zu fördern, sondern auch auf der Grundlage einheitlicher Methoden und Inhalte. Neben der Förderung der Kinder mit Migrationshintergrund in der Zweit- und gegebenenfalls auch in ihrer Erstsprache ist die Elternarbeit ein weiterer Aufgabenbereich der Sprachförderlehrkräfte. Festgelegt ist zudem die einheitliche Sprachstandsermittlung in allen Bielefelder Kindertageseinrichtungen mittels des Sismik-Beobachtungsbogens. Zur Umsetzung der Konzeption ab dem Kindergartenjahr 2006/2007 ist eine vierstündige Förderung pro Woche über zwei Jahre vorgesehen, die ab dem zweiten Kindergartenjahr bis zur Einschulung der Kinder stattfindet. Förderinhalt im ersten Jahr, im sogenannten Grundkurs, ist die Materialsammlung Wir verstehen uns gut 3 (Schlösser 2001). Die inhaltliche Ausrichtung des anschließenden Aufbaukurses erfolgt auf der Grundlage des Bielefelder Handbuchs zur vorschulischen Sprachförderung, das von einzelnen Mitgliedern des Arbeitskreises Interkulturelle Erziehung und Sprachförderung zusammengestellt wurde und auf die bevorstehende Einschulung vorbereitet. In beiden Materialsammlungen werden, zusätzlich zur Einführung in die Besonderheiten der Spracharbeit im Elementarbereich, Sprachförderlehrerinnen4 Materialien zu kindgerechten Themen und Vorschläge zu ihrer Didaktisierung zur Hand gegeben. Für die ergänzende, wöchentlich einstündige Elternarbeit liegen Anregungen und Orientierungshilfen vor, 2 3 4 In diesem Arbeitskreis vertreten sind: alle großen Träger von Kindertageseinrichtungen, das Bielefelder Schulamt, der Job-Scout, das Interkulturelle Büro, die RAA, die Sozialverwaltung und seit 2006 das Team der Begleitstudie. Eine Diskussion des Materials befindet sich in Jampert; Best; Guadatiello; Holler; Zehnbauer (2007: 263-268). Die im Text verwendeten femininen bzw. geschlechtsneutralen Formen dienen der besseren Lesbarkeit und schließen grundsätzlich beide Geschlechter ein. Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 67 doch bleibt die genaue Inhaltsbestimmung, Organisation und Umsetzung weitestgehend den Sprachförderlehrerinnen überlassen. In diesen Fördermaßnahmen sind entweder Erzieherinnen der einzelnen Einrichtungen oder externe Lehrkräfte als Sprachförderlehrerinnen tätig, die der Job-Scout vermittelt. Der Job-Scout ist nicht nur eine Vermittlungs-, sondern auch eine Qualifizierungsagentur bei der Arbeiterwohlfahrt in Ostwestfalen. In Kooperation mit den Fachberaterinnen der Träger der Kindertageseinrichtungen, dem Schulamt und der RAA bietet der Job-Scout Qualifizierungsveranstaltungen zu relevanten Themen wie beispielsweise „Bewegungsspiele und Lieder zur Sprachförderung“, „Reflexion des eigenen Sprachverhaltens“ oder „Probleme und Erfolge in der Elternarbeit“ an. Für alle Sprachförderlehrkräfte ist die Teilnahme an drei vorbereitenden und weiteren Veranstaltungen im Verlauf der Sprachförderarbeit obligatorisch. Es werden außerdem Schulungen zum Beobachtungsbogen Sismik (Ulich; Mayr 2003a) veranstaltet, an denen Kita-Leitungen teilnehmen, die als Multiplikatorinnen in ihren Einrichtungen fungieren. Somit soll eine einheitliche Sprachentwicklungsdokumentation gewährleistet werden, die die Erzieherinnen mit Unterstützung der Sprachförderlehrkräfte vornehmen. 2. Forschungsdesign Die wissenschaftliche Begleitstudie unter der Leitung von Prof. Dr. Claudia Riemer im Fachbereich Deutsch als Fremdsprache an der Universität Bielefeld bezieht sich auf den ersten Durchlauf der vorgestellten vorschulischen Sprachfördermaßnahme, die im September 2006 begonnen hat. Nach einer im Voraus vom Sozialdezernat der Stadt Bielefeld durchgeführten Bedarfsabfrage kamen insgesamt 105 Grundkurse zustande, an denen 1026 Kinder mit Migrationshintergrund aus 138 Kindertageseinrichtungen teilnehmen und die von 75 Lehrkräften durchgeführt werden. Das zentrale Forschungsinteresse der Gesamtstudie ist es, den zweitsprachlichen Entwicklungsverlauf dieser Kinder zu untersuchen. Zur Durchführung der Untersuchung wurde ein Forschungsdesign entwickelt, dass auf theoretischen Ausführungen zur Ganzheitlichkeit kindlicher Entwicklung (Zehnbauer; Jampert 2005) und zur Rolle der Kinder als aktive Konstrukteure ihrer Lern- und Bildungsprozesse (Hurrelmann; Brüdel 2003: 7) fußt. Die eingenommene Forschungsperspektive fokussiert nicht nur sprachliche Phänomene, wie dies Apeltauer (2000, 2004a) vielen Zweitspracherwerbsforschern vorwirft, sondern inkludiert zudem kontextuelle und lernerspezifische Dimensionen des (frühkindlichen) Zweitspracherwerbs. Der Forderung, kindliche Entwicklung und Bildung als einen Austauschprozess zwischen Kind und Umwelt (vgl. Geulen 2001, Hurrelmann 2002) zu erfassen und den besonderen Stellenwert der Umwelten Familie und Kindertageseinrichtung zu beachten, sollte ein möglichst breit und zugleich auch dicht angelegtes Forschungsdesign gerecht werden, das den kindlichen Zweitspracherwerb an den Schnittstellen der Fördermaßnahme, der Kindertageseinrichtung und des Elternhauses transparent zu machen erlaubt. 68 Sevilen Demirkaya; Nazan Gültekin Abb. 1: Forschungsdesign der Begleitstudie. In der chronologischen Darstellung eingesetzter bzw. einzusetzender Verfahren kennzeichnet W: Wimmelbildbeschreibung; F: Elternfragebogen; S: Sismik-Beobachtungsbogen; B: Beobachtungen in der Sprachfördermaßnahme und im Kindergartenalltag; I: Interviews mit Erzieherinnen, Sprachförderlehrkräften und Eltern der Kinder Vor dem Hintergrund der angerissenen Überlegungen wurde das Design einer longitudinalen Studie entworfen, das den Einsatz quantitativer und auch qualitativer Methoden zur mehrmaligen Datenerhebung und ihrer Triangulation vorsieht. Zu Beginn der Sprachfördermaßnahme wurde zunächst mittels Einsatz eines Wimmelbildes (W) der Sprachstand der Kinder in der Stichprobe der quantitativen Teilstudie erfasst. Im Verlauf der Fördermaßnahme sind weitere Datenerhebungen zur Dokumentation des kindlichen Spracherwerbsprozesses geplant. Die Berücksichtigung der Perspektive der Erzieherinnen bzw. Förderlehrerinnen auf die sprachliche Entwicklung der Kinder erfolgt durch die Hinzunahme der Sismik-Beobachtungsbögen (S), die zu mehreren Zeitpunkten dem Forschungsteam vorgelegt werden. Zur Einbeziehung des familiären und sozialen Hintergrundes der Kinder wurde bereits ein umfangreicher Elternfragebogen (F) eingesetzt, ein weiterer wird vor Abschluss der Fördermaßnahme anvisiert. Die detaillierten Informationen über die Kinder, die im Rahmen der quantitativen Teilstudie erhoben wurden, bilden zudem das Grundgerüst für die qualitative Teilstudie. In dieser Teilstudie wird für eine kleine Gruppe der Stichprobe eine dichtere und umfassendere Begleitung in den Lebensbereichen Familie und Kindertageseinrichtung vorgenommen. Um der Prozesshaftigkeit und Kontextualität kindlicher Entwicklung Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 69 gerecht zu werden, sind zwischen den Datenerhebungszeitpunkten der quantitativen Teilstudie mehrmalige Beobachtungen der ausgewählten Kinder in der Sprachfördermaßnahme wie auch im Kindergartenalltag vorgesehen (B). Darüber hinaus sollen wiederholte Interviews mit den zentralen Akteuren Sprachförderlehrkräfte, Erzieherinnen bzw. Gruppenleitungen und Eltern der Kinder (I) zur differenzierten Erfassung ihrer Perspektive auf die kindliche Entwicklung beitragen. 2.1 Quantitative Teilstudie Die Longitudinaluntersuchung begann im September 2006 mit der quantitativen Teilstudie. Im Rahmen dieser Untersuchung soll beschrieben werden, wie sich die Kinder innerhalb der zweijährigen Förderung in der Zweitsprache Deutsch entwickeln. Die Beschreibung soll dahingehend analysiert werden, ob und welche Unterschiede es bei der sprachlichen Entwicklung zwischen den Kindern geben kann. Faktoren, die einen Einfluss auf die sprachliche Entwicklung der Kinder haben, sollen ermittelt und benannt werden. Vor der Darstellung der unterschiedlichen Methoden, die in dieser Teilstudie zum Einsatz kommen, wird zunächst auf die Auswahl der Probanden eingegangen. 2.1.1 Stichprobe Die Population der Untersuchung bestand aus 969 Kindern mit Migrationshintergrund, die auf 110 Kindertageseinrichtungen in Bielefeld verteilt waren. Aus dieser Population wurde mit Hilfe der Statistiksoftware SPSS (Statistical Package for the Social Sciences) eine geschichtete Zufallsstichprobe5 gezogen. Die Stichprobe umfasste 180 Kinder, wobei eine Ausfallquote bereits im Vorfeld mit einberechnet war. Die Zahl der Ausfälle liegt derzeit bei 42 Kindern, die aus verschiedenen Gründen (z.B. Umzug oder Krankheit) nicht mehr an der Untersuchung teilnehmen. Die Größe der Stichprobe liegt nun somit bei 138 Kindern, verteilt auf 23 Kindertageseinrichtungen in Bielefeld. Sie setzt sich aus 69 Mädchen (50%) und 69 Jungen (50%) zusammen. Das Alter der Kinder lag zum Untersuchungsbeginn zwischen 3;11 und 5;8 Jahren mit einem Durchschnittalter von 4;6 Jahren. Hinsichtlich der Verteilung der Erstsprachen sind die weitaus größten Sprachgruppen Türkisch (42%) und Russisch (19,6%). 7,2% der Kinder haben die Erstsprache Kurdisch und jeweils 4,3% sprechen Polnisch oder Serbokroatisch. Griechisch und Spanisch sind mit jeweils 3,6% in der Stichprobe vertreten. Die restlichen 15% verteilen sich auf weitere 12 Erstsprachen.6 Die 23 Kindertageseinrichtungen sind auf sieben Träger und alle Stadtteile in Bielefeld verteilt. 5 6 vgl. hierzu Bortz; Döring (2006: 425 ff, 481). Die Stichprobe wurde nach den Merkmalen prozentualer Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund in der Einrichtung, Geschlecht, Erstsprache und Stadtteil geschichtet und spiegelt hinsichtlich dieser Variabeln die Population wider. Diese sind Arabisch, Tamilisch, Albanisch, Farsi, Portugiesisch, Spanisch, Afghanisch, Italienisch, Indisch, Jugoslawisch, Vietnamesisch und Türkisch/Armenisch. Sevilen Demirkaya; Nazan Gültekin 70 2.1.2 Methoden der quantitativen Datenerhebung Im Folgenden werden die verschiedenen Bausteine der quantitativen Teilstudie vorgestellt, mit denen sowohl Daten zum Sprachstand bzw. zur sprachlichen Entwicklung der Kinder als auch zum familiären Hintergrund erhoben werden. Sprachstandserhebung mittels Bildeinsatz Das Ziel dieses Bausteins ist es die Kinder durch Einsatz eines Bildes zum freien Sprechen anzuregen, um quasi-natürliche Sprachdaten zu erhalten. Unter möglichen Erhebungsverfahren, die für diese Probandengruppe und für das Untersuchungsziel angemessen wären, wurde für diese Untersuchung das Wimmelbild als Erhebungsinstrument ausgewählt und eingesetzt. Das Wimmelbild zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es meist in einem großen Format gedruckt ist und dass viele Handlungen, Aktivitäten, Personen und Tiere auf dem Bild abgebildet sind, die den Kindern als Sprechimpuls dienen können. In Untersuchungen mit Kindern sind solche Verfahren vorzuziehen, „die von Kindern nicht als Forschungssituation erkannt werden“ (Roux 2002: 98). Eine Bildbeschreibung gehört zu diesen Verfahren, denn diese Spielsituation ist Kindern von zuhause und/oder aus der Kindertageseinrichtung meist bekannt. Als Sprechanlass dient das Wimmelbild vor allem deshalb, weil es die Kinder einerseits anregen kann, über das Bild zu sprechen und andererseits über das Bild hinaus frei zu erzählen (z.B. über die Familie, das Lieblingsspielzeug, den Alltag). „Bilderbücher besitzen einen starken Aufforderungscharakter: Kinder fühlen sich durch die Bilder zum Sprechen angeregt, oft äussern sie sich spontan dazu, fabulieren oder erzählen inhaltsgerecht […].“ (Dietschi Keller 1996: 75) Bei der Auswahl des Wimmelbildes für diese Untersuchung war entscheidend, dass das Bild dem natürlichen und alltäglichen Umfeld aller teilnehmenden Kinder entspricht, so dass Kinder nicht durch einen spezifischen und/oder ihnen unbekannten Gesprächsgegenstand benachteiligt werden. Folglich wurde ein Bild (Leiber 2005: 5) ausgewählt, das einen typischen Kindergartenalltag widerspiegelt. Vorteilhaft bei dieser Erhebungsmethode ist, dass man auch zu einem späteren Zeitpunkt die Äußerungsinhalte der Kinder durch die Bildvorlage nachvollziehen kann, was bei der Transkription der Sprachdaten7 hilfreich ist. Der durch die Bildvorlage vorgegebene Rahmen und die teilstandardisierten Fragen8, die allen Kindern gestellt wurden, bieten eine gewisse Vergleichbarkeit der Daten (vgl. Kalpakidou 1994: 48). Erhebung der Sprachdaten Ein Pretest zum Wimmelbild wurde im August 2006 mit fünf Kindern durchgeführt. Dieser Pretest sollte sowohl das Erhebungsinstrument als auch die technische Ausrü7 8 Die Transkription erfolgt mit dem Programm EXMARaLDA (Sonderforschungsbereich „Mehrsprachigkeit“ (SFB 538) an der Universität Hamburg. Internet-Adresse: http://www.exmaralda.org) (nach DIDA-Konventionen). Beispielsweise wurde allen Kindern eine „Warum“-Frage gestellt, um einen „Weil“-Satz zu elizitieren. Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 71 stung testen und mögliche Reaktionen der Kinder auf die Untersuchungssituation bzw. -durchführung aufzeigen. Insgesamt verlief der Pretest positiv, so dass die eigentliche Untersuchung ohne Verzögerung beginnen konnte. Vor jeder Datenerhebung wurde in einer Aufwärmphase Kontakt zu den ausgewählten Kindern hergestellt, um „[…] günstige Bedingungen für den Gesprächsverlauf zu gewährleisten, wie zum Beispiel den Aufbau einer angenehmen Beziehung zwischen Forscher und Kind“ (Roux 2002: 99). Die Untersuchung wurde mit jedem Kind einzeln in einem Raum der Kindertageseinrichtung durchgeführt, der den Kindern bekannt war. Auf Wunsch wurden die Kinder von einem Freund oder einer Erzieherin zur Untersuchung begleitet, wobei die Mehrheit der Kinder aber allein kam. Den Kindern wurde altersentsprechend erklärt, dass die Aufgabe darin besteht, das Bild zu beschreiben. Anschließend wurde dem Kind ausreichend Zeit gelassen sich das Bild anzuschauen und etwas zu sagen. Bei Kindern, die sehr zugänglich waren und von sich aus anfingen das Bild zu beschreiben, hielten sich die Forscherinnen mit Fragen zurück. Zurückhaltenden Kindern wurden kurze, einfach verständliche Fragen in Bezug auf das Bild gestellt, um sie zum Sprechen anzuregen. Da Kinder unterschiedlich auf die Untersuchungssituation reagieren, erfordert dies viel Einfühlungsvermögen seitens der Forscherin. Er muss flexibel und individuell auf jedes Kind reagieren und dabei den Forschungsansprüchen genügen (vgl. Yarrow 1967: 569).9 Zusätzlich wurden Daten zum Kind10 und Eindrücke, wie z.B. Reaktion des Kindes auf die Erhebungssituation, (un-)bekannter Wortschatz oder Auffälligkeiten in der Aussprache, auf einem Bogen festgehalten. Diese Daten sind hilfreiche Vor-Informationen für die Transkription und dienen als Erinnerungsstütze für weitere Erhebungen. Die Erhebungen werden auf Video festgehalten. Durch das Videomaterial können nonverbale Reaktionen von Kindern, die kaum oder nur sehr wenig sprachen und/oder mit nonverbalem Verhalten auf Fragen reagierten, mit in die Transkription der Sprachdaten einfließen. Die Dauer der Bildbeschreibung liegt im Durchschnitt bei fünf Minuten pro Kind. Nach der Erhebung werden die Kinder wieder in ihre Gruppen begleitet. Zur Auswertung der Sprachdaten wird derzeit ein Auswertungsschema entwickelt. Bei der Analyse der Sprachdaten liegt der Fokus auf der lexikalischen und morphologischsyntaktischen Entwicklung der Kinder in der Zweitsprache Deutsch. Die Fokussierung auf diese beiden Sprachbereiche resultiert u.a. aus dokumentierten Untersuchungsergebnissen anderer Studien. Beispielweise stellt Grimm (2003: 2) in ihrer Untersuchung im Raum Bielefeld fest, dass „die Sprachprobleme im syntaktischen Bereich sehr viel ausgeprägter [sind] als im phonologischen, wobei die syntaktischen Probleme sehr eng mit Wortschatzproblemen zusammenhängen“. 9 10 Zu praktischen Problemen bei Erhebungen mit Kindern, vgl. Petermann; Windmann (1993: 125f). Die Anonymität der Kinder wie auch der teilnehmenden Kindertageseinrichtungen wird durch eine vierstellige Codierung gewährleistet. Sevilen Demirkaya; Nazan Gültekin 72 Diese Erhebung wird zu drei Zeitpunkten innerhalb der zwei Jahre durchgeführt (siehe Abb. 1). Zu den Sprachdaten aus dieser Erhebung werden zusätzliche Informationen zum Sprachstand bzw. zur sprachlichen Entwicklung der Kinder aus dem Beobachtungsbogen Sismik ergänzend bzw. vergleichend herangezogen. Beobachtungsbogen Sismik Da die Erzieherinnen durch den täglichen und intensiven Kontakt zu den Kindern konkrete Aussagen über deren sprachliche Entwicklung machen können, war es ein Anliegen, auch diese Perspektive in die Untersuchung einfließen zu lassen. Dies ermöglicht der Sismik-Bogen. Sismik steht für Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen (Ulich; Mayr 2003a, 2003b, Ulich 2003).11 Der Beobachtungsbogen Sismik wurde für Kinder mit Migrationshintergrund im Alter zwischen 3½ Jahren bis zum Schuleintritt konzipiert und dient zur systematischen Dokumentation der Entwicklung in der Zweitsprache. Sismik beleuchtet nicht nur die Sprachkompetenz der Kinder, sondern ebenso die Sprachlernmotivation und das Interesse des Kindes an sprachbezogenen Situationen. Durch den Beobachtungsbogen wird der Sprachstand der Kinder nicht punktuell gemessen, sondern die Kinder werden über einen längeren Zeitraum von den Erzieherinnen beobachtet. Die Entwicklung der Kinder wird somit schriftlich festgehalten und es kann, nach mehrmaligem Ausfüllen des Bogens, ein Entwicklungsverlauf nachgezeichnet werden.12 Die Daten aus dem Sismik-Bogen sind für beide Teilstudien relevant, denn sie können sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgewertet werden. Sismik wird von den Erzieherinnen zu drei Zeitpunkten für die jeweiligen Kinder aus der Stichprobe ausgefüllt (siehe Abb. 1). In den bisher vorgestellten Bausteinen ging es um die Erhebung des Sprachstandes und die sprachliche Entwicklung der Kinder. Um auch einen Einblick in die familiäre Situation und das Umfeld des Kindes zu bekommen, wurde ein Elternfragebogen eingesetzt, der den dritten Baustein der quantitativen Teilstudie bildet. Elternfragebogen Die schriftliche Befragung ist ein verbreitetes und ökonomisches Instrument in quantitativen Studien, mit der eine große Anzahl an Probanden erreicht werden kann. Der Fragebogen dient zum einen dazu, eine Vielzahl an Informationen zu erheben, und zum anderen ist die Vergleichbarkeit der Daten durch dieses standardisierte Instrument gewährleistet.13 11 12 13 Im Begleitheft zum Sismik-Bogen werden u.a. die Konzeption des Bogens wie auch die Möglichkeiten der Auswertung beschrieben. Zu methodischen Vor- und Nachteilen von Beobachtungsbögen siehe Apeltauer (2004b). Zu weiteren Vorteilen von Fragebögen vgl. Dörnyei (2003: 9f). Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 73 Der für diese Untersuchung konzipierte Fragebogen14 ist sehr umfangreich. Das Zustandekommen eines so umfassenden Fragebogens ist dadurch zu erklären, dass mit dem Fragebogen viele für diese Untersuchung relevante Aspekte zum familiären Hintergrund erhoben werden, wie z.B. biographische Daten der Eltern (Geburtsland, Migration nach Deutschland, Erstsprache usw.), sozioökonomischer Status der Eltern (Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Einkommen usw.) (vgl. Hoff-Ginsberg 2000), kulturelles Kapital der Familie (Bildung der Eltern, Deutschkenntnisse, Lesegewohnheit usw.) (vgl. Bourdieu 1983), soziales Kapital in der Familie (Anzahl der Personen im Haushalt, gemeinsame Aktivitäten, Bezugspersonen des Kindes usw.) (vgl. Bourdieu 1983; Coleman 1988). Eine umfangreiche Literaturrecherche diente als Basis für den Fragebogen. Einzelne Teilbereiche des Fragebogens wurden aus bereits bewährten Fragebögen übernommen oder in Anlehnung an diese konzipiert.15 Ein Pretest mit fünf Personen mit Migrationshintergrund (A2-Niveau) sollte aufzeigen, ob die Frageformulierungen der Probandengruppe angemessen ist und wie viel Zeit das Ausfüllen des Fragebogens in Anspruch nimmt. Nach dem Pretest wurden bei einigen Fragen die Formulierungen vereinfacht oder Antwortmöglichkeiten ergänzt.16 Insgesamt bewerteten die Testpersonen den Fragebogen positiv. Vorgehen Die Eltern wurden zu einem Fragebogentag eingeladen, der im Rathaus der Stadt Bielefeld stattfand. Die Einladung, die in verschiedenen Sprachen vorlag, wurde durch die Kindertageseinrichtungen an die Eltern weitergegeben. Die Einladung wie auch der 10seitige Elternfragebogen wurden in die Sprachen Türkisch, Russisch, Serbokroatisch, Polnisch und Englisch übersetzt, damit auch die Eltern erreicht werden konnten, die nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Zusätzlich waren elf Studierende der Universität Bielefeld mit unterschiedlichen Erstsprachen anwesend, um gegebenenfalls Eltern beim Ausfüllen des Fragebogens zu unterstützen.17 Darüber hinaus hatten die Eltern die Gelegenheit, sich vor bzw. nach dem Ausfüllen des Fragebogens beim Evaluationsteam über die gesamte Untersuchung zu informieren. Da die Rücklaufquote an diesem Tag gering ausfiel18, wurden einzelne Eltern, die nicht zum Fragebogentag erscheinen konnten, zu den Bring- und Abholzeiten der Kinder in der Kindertageseinrichtung aufgesucht. Den Eltern wurde die Möglichkeit gegeben, den Fragebogen vor 14 15 16 17 18 Zur Konzeption von Fragebögen siehe Dörnyei (2003). Vgl. hierzu PISA-Programme for International Student Assessment (2000a, 2000b); SOEP-Sozio-oekonomisches Panel (2005a, 2005b). Auch Bortz; Döring (2006: 253) weisen darauf hin, dass das sprachliche Niveau des Fragebogens sich an den Sprachkenntnissen der Zielgruppe orientieren sollte. Durch die Anwesenheit der Forscher während der Befragung kann einer „unkontrollierten Erhebungssituation“ entgegengewirkt werden (vgl. Bortz; Döring 2006: 252). Die Rücklaufquote betrug 26%. Sevilen Demirkaya; Nazan Gültekin 74 Ort, auf Wunsch auch zusammen mit den Forscherinnen, auszufüllen oder den Fragebogen ausgefüllt an das Evaluationsteam weiterzuleiten. Durch diese zusätzliche Kontaktaufnahme stieg die Rücklaufquote und lag schließlich bei 91% (130 Fragebögen). Der Fragebogen wurde zu Beginn der Sprachfördermaßnahme eingesetzt. Ein zweiter, modifizierter Fragebogen ist gegen Ende der Sprachfördermaßnahme geplant (siehe Abb. 1). 2.2 Qualitative Teilstudie In dieser Teilstudie wird eine dichte Beschreibung der sprachlichen und sozialen Entwicklung ausgewählter Kinder19 der Stichprobe in den Sozialisationsumwelten20 Sprachfördermaßnahme, Kindertageseinrichtung und Elternhaus vorgenommen. Dabei wird der kindliche Entwicklungsprozess nicht nur im Zusammenhang mit den Konfigurationen aufgeführter Kontexte, sondern auch den Verflechtungen zwischen diesen beleuchtet. Diese komplexe Forschungsperspektive ist unabdingbar, will man nicht, wie Dippelhofer-Stiem und Wolf (1997: 15) bildhaft formulieren, Kinder als „’eingekapselte’“ Individuen wahrnehmen, deren Entwicklung unter Ausblendung der sie umgebenden und betreffenden Umwelt zu ergründen versucht wird. Es wird hier vielmehr ein Entwicklungsbegriff zugrunde gelegt, wie er in der Sozialökologie Bronfenbrenners (1981) zum Tragen kommt und von Grundmann und Lüscher (2000: 9) folgendermaßen umrissen wird: „Sozialökologisch denken, forschen und argumentieren heißt, die Entwicklung des einzelnen Menschen im Rahmen seiner Beziehungen zu den physischen, sozialen und kulturellen Umwelten begreifen zu wollen.“ Ausgehend von diesem Entwicklungsverständnis kritisiert Bronfenbrenner die reduktionistische Sichtweise empirischer Forschung zur Kindheit und fordert zum einen, kindliche Entwicklung stets im Rahmen seiner Beziehungen zu den es umgebenden Umwelten zu untersuchen (vgl. Bronfenbrenner 2000: 82), zum anderen die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Lebensbereichen als mögliche Einflussquellen auf den kindlichen Entwicklungsprozess einzubeziehen (vgl. Bronfenbrenner 1981: 19). Zu diesem Zweck konzipiert Bronfenbrenner ein Mehrebenenmodell, in dem die Ökologie des Individuums als eine Ineinanderverschachtelung von Systemen dargestellt wird und in wie auch zwischen den Systemen soziale Beziehungen besondere Bedeutung für den individuellen Entwicklungsprozess erhalten.21 Dieses Mehrebenenmodell ermöglicht sowohl die Konkretisierung der Sozialisationsbedingungen, unter denen sich das Kind entwickelt (vgl. Bronfenbrenner 1981: 19, Grundmann; Fuß; Suckow 2000: 21) als auch die Zuordnung dieser Bedingungen ent19 20 21 In der Darstellung der qualitativen Teilstudie wird bewusst auf den Terminus „Proband“ verzichtet. Mey (2000) schreibt hierzu „dass nicht wenige Autor[inn]en wohl als Ausdruck ihrer unhinterfragten Akzeptanz quantitativer Forschung, von ‘Proband’, lexikalisch also Testperson, sprechen, womit sie entgegen ihrer postulierten epistemologischen Haltung das selbst-reflexive Subjekt als ‘Datenträger’ be- bzw. als Forschungsobjekt abwerten“. Eine knappe Definition des Begriffs „Umwelt“ bzw. „Ökologie“ im Kontext der Sozialisationsforschung liefern Grundmann; Fuß und Suckow (2000: 19). Zur Relevanz sozialer Beziehungen schreibt Bronfenbrenner (1981: 55): „Es ist wahrscheinlich, daß die Haupteffekte in ökologischen Forschungen Interaktionen sind.“ Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 75 sprechend ihrer Relevanz für den Entwicklungsprozess in unmittelbare, nähere, mittlere und ferne Lebensbereiche (Grundmann; Lüscher 2000: 9), die Bronfenbrenner als Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosysteme bezeichnet (Bronfenbrenner 1981: 38).22 Bei der folgenden Skizzierung der einzelnen Systeme wird auf die Konzeption der qualitativen Teilstudie Bezug genommen. Im Innersten des Mehrebenenmodells sind all die Lebensbereiche als Mikrosysteme aufgeführt, in denen sich das Kind selbst befindet und mit anderen in direktem Austausch steht (vgl. Bronfenbrenner 1981: 38). Der Fokus der vorliegenden Studie ist auf die „Tätigkeiten [...], Rollen und zwischenmenschliche[n] Beziehungen“ (Bronfenbrenner 1981: 38) in den Mikrosystemen Kindertageseinrichtung, Sprachfördermaßnahme und Elternhaus gerichtet, deren Auswirkungen auf die kindliche (Sprach-)entwicklung analysiert werden sollen. Dabei werden die aufgeführten Mikrosysteme nicht nur separat untersucht, sondern es wird auch ihr wechselseitiger Einfluss beachtet. Diese Interdependenz der Mikrosysteme fasst Bronfenbrenner als Mesosystem zusammen und grenzt es wiederum von der nächsten Ebene, dem Exosystem, ab. Das Exosystem umfasst jene Lebensbereiche, in die das Kind selbst nicht involviert ist, die aber nichtsdestotrotz in seine unmittelbare Lebensumwelt hineinwirken können. Als mögliche Einflussquellen des Exosystems auf die Mikrosysteme des Kindes werden u.a. die beruflichen Tätigkeiten der Eltern oder auch die organisatorischen Rahmenbedingungen der Sprachfördermaßnahme und ihre Umsetzungspraxis in den einzelnen Kindertageseinrichtungen betrachtet. Trotz der unterschiedlichen Gestaltung der hier aufgeführten Subsysteme für jedes Kind weisen sie zugleich auch formale und inhaltliche Ähnlichkeiten auf, die auf den äußersten Bezugsrahmen des Modells, das Makrosystem, zurückzuführen sind. Folglich wird die Untersuchung in den gesellschaftlich-kulturellen Kontext eingebettet, d.h. es werden Gemeinsamkeiten in Folge des Migrationshintergrundes der Kinder und ihrer Familien wie auch der aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen für die Datenanalyse herangezogen. Aus der sozialökologischen Denk- und Forschungsweise leiten sich für die Forschung im Elementarbereich folgende methodologische Implikationen ab, will man nicht, „[...] das merkwürdige Verhalten von Kindern in ihnen fremden Situation mit ihnen fremden Erwachsenen studier[en]“ (Bronfenbrenner 2000: 84). Bereits der Begriff des kindlichen Entwicklungsprozesses macht es erforderlich, eine Longitudinalstudie zu konzipieren. Zur Analyse kindlicher Entwicklung als Wechselwirkung zwischen ihm und seiner Umwelt ist diese differenziert zu beschreiben. Darüber hinaus sollten in die Forschungsplanung nicht nur die Kinder selbst, sondern auch die Perspektiven derjenigen einbezogen werden, die an ausgewählten kindlichen Lebensbereichen aktiv beteiligt 22 Für eine differenzierte Darstellung des Mehrebenenmodells siehe u.a. Bronfenbrenner (1981; 2000), Dippelhofer-Stiem; Wolf (1997), Grundmann; Fuß; Suckow (2000), Nickel; Petzold (1993). Die Reichweite des Modells wird u.a. in Dippelhofer-Stiem (2000; im Druck), Grundmann (1994: 136-186) kritisch diskutiert. Übertragungsmöglichkeiten des Modells auf eine gesamte Kindertageseinrichtung zeigen Conrad; Wolf (1999) auf. Sevilen Demirkaya; Nazan Gültekin 76 sind, um somit möglichst umfassende Situationsmerkmale zu erhalten. Grundmann, Fuß und Suckow (2000: 54) schreiben hierzu: „Je umfangreicher und detaillierter dem Forscher Informationen über die unmittelbaren Lebensbereiche, die beteiligten Personen, die materiellen Gegebenheiten, die Tätigkeiten und Interaktionen sowie der Häufigkeit und Inhalt vorliegen, desto stärker vermindert sich das Risiko ökologischer Fehlinterpretationen.“ Dieser Anspruch, Situationen facettenreich darzustellen, lässt sich besonders im Rahmen von Einzelfallstudien realisieren, denn hier kann jenseits einer Dichotomisierung in strikt strukturierten Verfahren eine Annäherung an die Komplexität kindlicher Umwelten vorgenommen werden (vgl. Dippelhofer-Stiem 2000: 230, 231). In Bezug auf die einzusetzenden Forschungsmethoden23 bleibt zu ergänzen, dass auch in der sozialökologischen Forschung ein multimodaler Zugang zum jeweiligen Forschungsgegenstand favorisiert wird (vgl. Roux 2002: 69, Grundmann; Fuß; Suckow 2000: 60). Bronfenbrenner selbst weist darauf hin, dass nicht alle Grundsätze und Anforderungen sozialökologischer Forschung im Rahmen einer einzigen Untersuchung umgesetzt werden können (vgl. Bronfenbrenner 1981: 30-31). Diese Ansicht teilt Dippelhofer-Stiem (im Druck), die den heuristischen Ertrag des Mehrebenenmodells „in der Bereitstellung eines gestaltgebenden Rahmens“ sieht, der je nach Forschungsinteresse systematisiert und inhaltlich gefüllt werden kann. Wie in dieser Teilstudie der vorgestellte Rahmen systematisiert wurde, welche Methoden Anwendung und welche Perspektiven Beachtung finden, wird nach der Beschreibung der Fallauswahl dargestellt. 2.2.1 Fallauswahl Für die qualitative Studie kamen ausschließlich Kinder aus dem Pool der insgesamt 72 türkisch- bzw. kurdisch-/kurmancisprachigen Familien in Frage. Diese Entscheidung ist auf den vielfach diskutierten Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitspracherwerb zurückzuführen (vgl. u.a. Apeltauer 2004a, 2006, 2007, Baur; Meder 1989, 2004, Brizić 2006, Jampert 2002: 66 ff). Zwar richtet sich das Forschungsinteresse vornehmlich auf die sprachliche Entwicklung der Kinder in der Zweitsprache Deutsch, doch wo möglich und nötig, weil die Kinder ihre Erstsprache verwenden, sollte auch diese in die Studie einbezogen werden.24 Ebenso wichtig war es, Eltern mit geringen oder keinen Deutsch- 23 24 Zur Wahl kindgerechter Erhebungsmethoden und zur veränderten Sichtweise auf die Rolle von Kindern in empirischer Forschung siehe u.a.: Heinzel (1997; 2000), Hurrelmann; Brüdel (2003), Petermann; Windmann (1993), Zinnecker (1999). Eine differenzierte Einbeziehung auch der erstsprachlichen Entwicklung wäre wünschenswert, ist jedoch aus forschungsökonomischen Gründen in dieser Studie nicht zu realisieren. Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 77 kenntnissen in die Untersuchung aufnehmen zu können.25 Die Auswahl von zehn26 kontrastiven Fällen aus fünf verschiedenen Kindertageseinrichtungen erfolgte schließlich auf der Grundlage umfangreicher Daten, die aus der zuvor eingeleiteten quantitativen Teilstudie vorlagen.27 Es wurden Kriterien wie differentes Sprach- und Sozialverhalten der Kinder, ungleiche Familienkonstellationen und -merkmale und auch verschieden zusammengesetzte Kindertageseinrichtungen mit unterschiedlicher Umsetzung der Sprachfördermaßnahme angelegt. Entsprechend des sozialökologischen Grundgedankens wird die sprachliche und soziale Entwicklung der vier Mädchen und sechs Jungen im Zusammenspiel mit den Auswahlkriterien zu analysieren sein. 2.2.2 Methoden Eine Annäherung an den Entwicklungsprozess der sprachlichen und sozialen Handlungskompetenz der Kinder erfolgt über die regelmäßige Beobachtung in der Sprachfördermaßnahme und im Kindergartenalltag. Um „die Variationsbreite des tatsächlich Beobachtbaren zu vergrößern“ (Flick 2005: 209), wird die Beobachtung im Kindergartenalltag bevorzugt in verschiedenen Situationen wie Kindergeburtstag, Freispiel oder unterschiedlichen Gruppenaktivitäten durchgeführt. Zwar wird in beiden Kontexten, sowohl in der Sprachfördermaßnahme als auch im Kindergartenalltag, teilnehmend beobachtet, doch möglichst ohne den natürlichen Ereignisverlauf zu stören. Die Beobachtung der Kinder in ihren Interaktionszusammenhängen wird unmittelbar in einem eigenen Beobachtungsbogen festgehalten, in dem sowohl ein vorstrukturierter Abschnitt mit Beobachtungskategorien28 als auch genügend Raum zur detaillierten Protokollierung der kindlichen Handlungen und Interaktionen vorgesehen ist. Die Teamarbeit im Forschungsprojekt ermöglicht über die abwechselnde Beobachtung der einzelnen Kinder, eine Perspektiventriangulation vorzunehmen. Der mehrmethodische Zugang, der in beiden Teilstudien des Projektes umgesetzt wird, bietet zudem Triangulationsmöglichkeiten der Beobachtungsprotokolle mit den Daten aus den Sismik-Bögen und auch den kindlichen Sprachdaten. Im Verlauf der zweijährigen Sprachförderung werden die ausgewählten Kinder dieser Teilstudie insgesamt fünfmal im Kindergartenalltag wie auch in der Sprachfördermaßnahme beobachtet (siehe Abb. 1). 25 26 27 28 Es wurde als zentral erachtet, weder in den Beobachtungen der Kinder, noch in der Interviewsituation mit den Eltern andere Personen als Übersetzer einzubeziehen. In einem Vergleich zweier Gesprächsausschnitte zwischen Forscherinnen und Müttern der Kinder derselben und unterschiedlicher Linguakulturen zeigt Apeltauer (2000: 9-11), dass sich die Zugehörigkeit zu derselben Linguakultur und das geteilte Hintergrundwissen positiv auf die Datenproduktion auswirken. Die Teilstudie begann mit 14 Fällen, doch wurde nach der zweiten Datenerhebungssequenz auf der Grundlage von Überlegungen zur Typenbildung (Kelle; Kluge 1999) eine Fallreduktion vorgenommen. Neben der eigenen Einschätzung der Kinder, mit denen bereits die Wimmelbildbeschreibung vorgenommen wurde, konnte auf eine Kurzbefragung der Erzieherinnen und auf Informationen aus den Sismik-Beobachtungsbögen wie auch aus den Elternfragebögen zurückgegriffen werden. Die Auswahl der Beobachtungskategorien (z.B. Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, Interaktion mit Sprachförderlehrkraft bzw. Erzieherin oder Umgang mit Erstsprache) orientiert sich u.a. an Jampert (2002). Sevilen Demirkaya; Nazan Gültekin 78 Vor dem Hintergrund der unter 3.2 skizzierten methodologischen Implikationen sozialökologischer Forschung wird als weitere, zentrale Informationsquelle für diese qualitative Untersuchung auch die Sicht relevanter Akteure in den ausgewählten Mikrosystemen der Kinder berücksichtigt. So werden mit den Bezugspersonengruppen der Sprachförderlehrkräfte, der Erzieherinnen und der Kindseltern wiederholt teilstandardisierte Interviews durchgeführt, um den Entwicklungsprozess der Kinder und diesen möglicherweise tangierende Rahmenbedingungen multiperspektivisch nachzeichnen zu können. Die Interviews mit den Sprachförderlehrkräften und den Erzieherinnen29 beziehen sich vornehmlich auf die konkrete Arbeitssituation, die sprachliche und soziale Einschätzung des Kindes in der jeweiligen Sprachförder- bzw. Kindergartengruppe wie auch auf die Kooperation mit den Eltern. Auf der Grundlage der umfangreichen Informationen aus dem Elternfragebogen konnten ausführliche und tiefergehendere Elterninterviews durchgeführt werden. Einige der Themenkomplexe bezogen sich auf die (Bildungs-)Biographie der Eltern, das Kind im familiären Kontext und die Erwartungen an die sowie Einschätzung der Kindertageseinrichtung und Sprachfördermaßnahme. Um über die Perspektive der Eltern hinaus, wenn auch begrenzt, so doch einen eigenen Einblick in das Mikrosystem Familie nehmen zu können, werden die Interviews möglichst im häuslichen Umfeld der Kinder durchgeführt. Die teilstandardisierten Interviews mit den Bezugspersonengruppen der Erzieherinnen, Sprachförderlehrkräften und Kindseltern werden insgesamt dreimal durchgeführt (siehe Abb. 1). 3. Zusammenfassung Ziel der Gesamtstudie ist es, den zweitsprachlichen Entwicklungsprozess der Kinder mit Migrationshintergrund nicht isoliert zu untersuchen, sondern als „integrierten Bestandteil der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung und Umweltaneignung“ (Zehnbauer; Jampert 2005: 33). Zu diesem Zweck wird auf der Grundlage eines Designs geforscht, das unterschiedliche methodische Zugänge miteinander verknüpft und verschiedene Perspektiven auf den kindlichen Entwicklungsprozess einbezieht. Diese Daten-, Methoden- und auch Perspektiventriangulation soll dem Forschungsvorhaben gerecht werden, bei der Annäherung an die sprachliche Entwicklung der Kinder, die entwicklungsbedingten Besonderheiten von Vier- bis Sechsjährigen zu berücksichtigen. 29 Zusätzlich wurden in einem Kurzfragebogen u.a. die Sozialdaten, Qualifikationen, Zusammensetzung des Teams und der Kindergartengruppe bzw. der Sprachfördergruppe erhoben. Begleitstudie der Bielefelder vorschulischen Sprachfördermaßnahme 79 Literatur Apeltauer, Ernst (2000): Datenerhebung im Schuleingangsbereich. Methodologische Probleme beim Erheben von Vergleichsdaten. In: Aguado, Karin (Hrsg.): Zur Methodologie in der empirischen Fremdsprachenforschung. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag, 7-18. Apeltauer, Ernst (2004a): Sprachlerndispositionen – eine Alternative zu Sprachtests im Vorschulalter? In: Frühes Deutsch 2, 48-54. Apeltauer, Ernst (2004b): Beobachten oder Testen? 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Göttingen: Universitätsverlag, 83-91. Sonja Altmüller (Flensburg) Sprachliche Formeln in der Lernersprache von Kindern mit Migrationshintergrund „Guck mal!“ Einleitung Formelhafte Einheiten wie die obige ermöglichen es Kindern, mit anderen in Kontakt zu treten und Interaktionen zu initiieren. Im vorliegenden Text werden sprachliche Formeln im Zweitspracherwerb fokussiert, wie z.B. „guck mal“, „du bist dran“ oder „was ist das denn?“. Welche Rolle spielen solche Formeln in den Erwerbsprozessen von Migrantenkindern? Welche Bedeutung hat ihre Verwendung in den verschiedenen Entwicklungsphasen? Hier sollen erste Ergebnisse einer empirischen Studie vorgestellt werden, in der Daten über einen Zeitraum von 22 Monaten von Kindern mit der Erstsprache Türkisch in einem Kindergarten erhoben wurden. Zunächst soll das Konzept der Lernersprache erläutert werden, da es eine zentrale Rolle in dieser Untersuchung spielt. Außerdem wird darauf eingegangen, was hier unter dem Begriff „sprachliche Formel“ verstanden wird. Darauf folgt eine Darstellung der empirischen Untersuchung und deren Methoden. Schließlich wird die Entwicklung der Lernersprache eines Probanden im Bereich der Syntax anhand einiger Beispiele skizziert, wobei insbesondere sprachliche Formeln berücksichtigt werden. 84 Sonja Altmüller 1. Lernersprache Lernersprache wird als Konstrukt definiert, das ein Lerner durch den Kontakt mit zielsprachlichen Äußerungen bildet und sich dabei der Zielsprache annähert. Für die Entstehung einer Lernersprache sind sowohl die Zielsprache als auch die Erstsprache von Bedeutung. Ein Merkmal, das eine Lernersprache mit dem Erstspracherwerb teilt, ist ihre Systematizität. Eine Lernersprache ist systematisch, weil das sprachliche Verhalten nicht als zufällig und willkürlich, sondern als regelgeleitet betrachtet werden kann (vgl. Knapp-Potthoff; Knapp 1982: 50 ff.). Die Systematizität manifestiert sich in festen Erwerbsreihenfolgen grammatischer Strukturen. Es ist jedoch fraglich, ob man von allgemeingültigen Erwerbsreihenfolgen ausgehen kann. Untersuchungen mit Probanden verschiedener Erstsprachen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was die Erwerbsreihenfolge syntaktischer Strukturen betrifft (vgl. Clahsen; Meisel; Pienemann 1983, Diehl et al. 2000, Haberzettl 2005). Im Vergleich zum Erstspracherwerb zeichnet sich der Erwerb einer zweiten Sprache also durch eine größere Variabilität aus. D.h. die Entwicklung einer Lernersprache variiert stärker in Verlaufstrukturen, Tempo und Lernerfolg, als es beim Erstspracherwerb der Fall ist. Dies hängt mit dem Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren zusammen, wie z.B. den Persönlichkeitsfaktoren (Motivation, Intelligenz, Lernstil usw.), den Vorerfahrungen eines Lerners (darunter auch seine Kompetenz in der Erstsprache) und den Umfeldbedingungen (soziale Faktoren, Häufigkeit und Intensität des Sprachkontakts usw.) (vgl. auch Knapp-Potthoff; Knapp 1982: 54 ff., Vogel 1990: 50 ff.). Die Variabilität der Lernersprache kann sich als Instabilität zeigen, wenn ein Lerner in derselben Situation eine Struktur manchmal zielsprachlich korrekt und manchmal normabweichend verwendet (vgl. Vogel 1990: 231). Charakteristisch für eine Lernersprache sind auch Fossilisierungen. Als Fossilisierung bezeichnet man einen Stillstand in der Lernersprachentwicklung, der sich nur auf bestimmte Phänomene beziehen und von vorübergehender Natur sein kann. Zu Fossilisierungen kommt es insbesondere dann, wenn der Lerner unter Druck steht oder Angst hat, wenn er müde ist, wenn er seine Aufmerksamkeit gerade auf etwas anderes richtet oder er es mit einem neuen Thema in der Zielsprache zu tun hat (vgl. auch Selinker 1972: 23). 2. Sprachliche Formeln Wenn es um formelhafte Sprache geht, werden in der Literatur je nach Forschungszusammenhang unterschiedliche Termini verwendet, beispielsweise formelhafte Sequenzen, formelhafte Ausdrücke, Routinen, Routineformeln, Rahmen, Mehrworteinheiten und Phrasen. Im englischen Sprachraum sind die Begriffe formulas, formulaic speech, patterns, chunks und frames geläufig. Doch was wird darunter verstanden? Wie lassen sich die Begriffe voneinander abgrenzen? Hakuta (1974) unterscheidet zwischen Routineformeln (routines) und Satzmustern (prefabricated patterns). Während nach dieser Differenzierung Routineformeln fest und invariabel sind, besitzen Satzmuster sowohl einen festen (nicht veränderbaren) als auch einen variablen Bestandteil. Zu solchen Satzmustern zählt Hakuta Satzmuster mit Sprachliche Formeln in der Lernersprache von Kindern mit Migrationshintergrund 85 Kopula, die Wortkombination „Do you…?“ in Fragen oder „how to“ in indirekten Fragen (Hakuta 1974: 289). Krashen; Scarcella (1978) folgen Hakuta in Bezug auf die Terminologie. Wode (1988) bezeichnet korrekte und als Ganzes gelernte Äußerungen („wie heißt du?“, „Guten Tag“) als Formeln, die den Routineformeln bei Hakuta entsprechen. Wortkombinationen, die aus einem varianten und einem invarianten Teil bestehen, heißen bei Wode Rahmen, z.B. „was ist + x“. Coulmas (1981) bezeichnet mit Routineformeln nur konventionalisierte Einheiten und betont ihre situationsabhängige Verwendung. Allgemeiner gehalten sind die Begriffe: formulaic expressions/ speech (Wong Fillmore 1976), formulae (Raupach 1984), formulas (Vihmann 1982, Hickey 1990), prefabricated sequences (Foster 2001), formulaic sequences (Wray 2002, Schmitt; Carter 2004), formelhafte Sequenzen (Aguado 2002) und Mehrworteinheiten (Aguado 20051). Unter diesen Begriffen sind folgende Phänomene zusammengefasst: - Routineformeln (routines) (z.B. „wie geht’s?“) - idiomatische Wendungen (z.B. „von etwas die Nase voll haben“) - Kollokationen (z.B. „Zähne putzen“) - Satzmuster (patterns) bzw. Satzrahmen (frames) (z.B. „das ist + “) Es gibt jedoch nicht nur eine Vielzahl von Begriffen, sondern es bestehen auch unterschiedliche Vorstellungen, die mit denselben Begriffen verknüpft sind. So verwendet Mika (2005) die Begriffe Formeln und Routinen anders als Hakuta (1974), Krashen; Scarcella (1978), Coulmas (1981) und Wode (1988). Er fasst Formeln als feste, als Ganzes erworbene zielsprachengerechte Einheiten auf, während für ihn Routinen lernerspezifisch und variabel sind. Diese Definition erscheint problematisch, da beide Begriffe in der Literatur anders besetzt sind, was gerade bei Zitaten missverständlich sein kann. Unter sprachlichen Formeln sollen hier Einheiten verstanden werden, die aus mehreren Teilen bestehen und als Ganzes abgerufen werden (vgl. Aguado 2002: 30). Sie weisen bestimmte Merkmale auf, anhand derer man sie von den übrigen lernersprachlichen Äußerungen unterscheiden kann. Sprachliche Formeln lassen sich daran erkennen, dass sie vom Lerner ohne Planungs- oder Denkpausen produziert werden. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch eine höhere Artikulationsgeschwindigkeit und zum Teil durch ein festes Intonationsmuster aus (vgl. Schmitt; Carter 2004: 5). Gerade zu Beginn des Spracherwerbs sind ihre Strukturen im Vergleich zu kreativen Sprachproduktionen komplexer (vgl. Aguado 2002: 31). Das heißt, dass Kinder in solchen Formeln komplexe grammatische Strukturen verwenden können, die sie außerhalb der Formel noch nicht beherrschen. Formeln lassen sich als solche identifizieren, wenn der Lerner sie häufig verwendet. Dabei ist es möglich, dass er eine Formel zunächst stets in derselben Form verwendet, bevor er die Formel mit der Zeit durch das Hinzufügen von Elementen oder das Austauschen einzelner Elemente variiert (vgl. z.B. Wong Fillmore 1976, Peters 1983). Dieses bildet den Ausgangpunkt für die Untersuchung, die hier vorgestellt werden soll. 1 Vortrag am 27.06.2005, Freie Universität Berlin Sonja Altmüller 86 3. Die Untersuchung Ziel der Untersuchung ist es, die Erwerbsverläufe von Migrantenkindern in ihrer Zweitsprache Deutsch zu rekonstruieren, wobei insbesondere sprachliche Formeln fokussiert werden. Die Datenerhebung erstreckte sich über einen Zeitraum von 22 Monaten. Als Probanden wurden 8 Kinder mit der Erstsprache Türkisch in einer heterogenen Kindergartengruppe ausgewählt: Von 22 Kindern haben 14 Kinder in der Gruppe einen Migrationshintergrund. Da die Erstsprache den Zweitspracherwerb beeinflusst und die Anzahl der Variablen in der Untersuchung gering gehalten werden sollte, wurden Kinder mit derselben Erstsprache gewählt. In Intervallen von etwa einem Monat wurden Tonaufzeichnungen mit den einzelnen Probanden gemacht. Dabei handelte es sich um freie Gespräche, Bilderbuchbetrachtungen und Spielsituationen. Diese wurden durch Gedächtnisprotokolle aus wöchentlich durchgeführten teilnehmenden Beobachtungen in der Kindergartengruppe ergänzt. Zusätzlich wurden im Sinne der Triangulation Gespräche mit Erzieherinnen und auch mit den Eltern zum Zweck der Datengewinnung geführt. Die Datentriangulation dient dazu, die Zweitsprachentwicklung aus mehreren Perspektiven zu betrachten und auf diese Weise ein differenziertes Bild der Sprachentwicklung zu erhalten. Die relativ kurzen Intervalle der Datenerhebung sollen eine möglichst genaue Rekonstruktion der Spracherwerbsprozesse ermöglichen. Bisher nicht beachtete Zwischenschritte in den Erwerbsreihenfolgen können auf diese Weise erfasst werden, die bei größeren Intervallen der Datenerhebung, wie z.B. bei Diehl et al. (2000), nicht notwendig erkennbar sind (vgl. dazu auch: Apeltauer 2002). 4. Kemals2 Lernersprache Im vorliegenden Text soll die Lernersprachentwicklung des Probanden Kemal im Bereich der Syntax exemplarisch beschrieben werden. Als der Junge im August 2004 in den Kindergarten kommt, ist er fast vier Jahre alt (3 Jahre, 11 Monate). Aufgrund seines sozialen Umfeldes hatte er bis zum Eintritt in den Kindergarten nur wenig Kontakt zur deutschen Sprache. In den ersten Monaten im Kindergarten äußert er sich wenig auf Deutsch, was möglicherweise auch mit Ausspracheproblemen in dieser Zeit zusammenhängt. Er befindet sich in der Einhörphase (vgl. Apeltauer 2004: 66). Nach drei Monaten tritt in Kemals Lernersprache bei Benennungen die folgende Struktur auf: das + X. Dabei wird das X als Nomen oder Adjektiv realisiert, z.B. „das forosch“, „das baby“, „das milch“ (das + Nomen) (16.11.04), „und das goroß“, „das goroße“ (das + Adjektiv) (16.11.04). Drei Monate später hat er diese Struktur durch die Verwendung des Kopula „is“ und des Artikels erweitert. Diese Struktur kann als Satzmuster aufgefasst werden (vgl. Hakuta 1974: 289). Anders als zuvor verwendet Kemal jedoch nun nicht mehr immer 2 Zur Wahrung der Anonymität des Probanden wurde der Name von der Verfasserin geändert. Sprachliche Formeln in der Lernersprache von Kindern mit Migrationshintergrund 87 „das“ bei Benennungen. Er variiert somit das Satzmuster. Die Struktur sieht nun folgendermaßen aus: (das) + is + Art. + X. Beispiele dafür sind „und das is ein fisch“, „guck is eine dinosauriers“, „is eine goroß“ (17.02.05). Zunächst tauchen Vollverben in Formeln auf: „kaputt machen“, „was kommt da?“ (17.02.05). Kurze Zeit später werden auch außerhalb von Formeln Vollverben verwendet. Dabei liegt die Struktur X + V vor: „das essen komm“, „der springt“ (24.02.05). Aufgrund des Intervalls von nur einer Woche ist es auch möglich, dass Kemal schon in der vorangegangenen Woche Vollverben außerhalb von Formeln produzieren konnte, er diese Konstruktion allerdings in der Erhebungssituation nicht gebraucht hat. Eindeutiger ist sein Vorsprung in den Formeln im Vergleich zur übrigen Lernersprachentwicklung in der Verwendung des Perfekts: „hast du gesehen?“ (24.02.05). Er fügt auch Formeln in kreative Äußerungen ein, so auch die Wortkombination „kaputt mach“, die aufgrund ihrer häufigen Verwendung als Formel aufgefasst werden kann: „aber das nich kaputt machen okay?“ (24.02.05), „und das guck nich kaputt mach“, „aber das is nich alles nich kaputt mach“ (10.03.05). Die Wortkombination „kaputt mach“ lässt sich als Formel identifizieren, weil das Verb „mach“ ohne „kaputt“ in einem anderen Kontext erst später auftaucht. Bei Benennungen verwendet Kemal als Nächstes folgende Strukturen: das + is + X (erweitert), es + is + X (erweitert). Diese können als Satzmuster betrachtet werden. Mit „X (erweitert)“ ist gemeint, dass das X aus mehreren Wörtern besteht, wie z.B. in „das is gelbe aber“, „das is ganz goroß“ und „aber das is kleiner pinguin“ (17.03.05). Bemerkenswert ist die Struktur es + is + X (erweitert), weil Kemal sie offensichtlich als Mittel benutzt, Wörter miteinander zu Sätzen zu verknüpfen: „und das heppo es is wech“, „guck mal das is neun es is stiefel“ (24.03.05). Angeführt werden soll auch die Formel das ist aber + X, die im Deutschen vorwiegend in Kombination mit einem Adjektiv verwendet wird, wobei das „aber“ zur Verstärkung der Aussage dient, wie z.B. in „das is aber schön“. Kemal verwendet sie hier jedoch in Kombination mit Nominalphrasen: „das is aber heppo“; „das is aber knolle“; „das is aber bob der meister is stiefel“ (24.03.05). Erst einige Monate später gebraucht er sie angemessen: „das is aber wunderschön“, „kino is aber wunderschön“, „das is aber toll“ (20.09.05), „das is aber gefährlich“ (29.09.05). Kemal arbeitet nun an der Struktur S + O/X + V. Diese taucht z.B. in der Äußerung „der nase isst“ (bezogen auf einen Dinosaurier) (28.04.05) auf. Die Struktur wird auch von den türkischen Probanden in Haberzettls Untersuchung vor der zielsprachlichen Struktur S + V + O/X erworben, was sich dadurch erklären lässt, dass für die Erstsprache Türkisch die Verbletztstellung charakteri- Sonja Altmüller 88 stisch ist, so dass die Struktur vermutlich von der Erstsprache ins Deutsche übertragen wird (vgl. Haberzettl 2005: 78 ff.). Diese Erwerbsreihenfolge erinnert an den Erstspracherwerb von deutschsprachigen Kindern, die sich ebenfalls die Verbletztstellung vor der Normalform S + V + O/X aneignen. Haberzettl bezeichnet die Reihenfolge als „Königsweg“ und argumentiert, dass dieser Weg den türkischen Kindern den Erwerb der Satzklammer sowie den Erwerb der Wortstellung im Nebensatz erleichtert (vgl. Haberzettl 2005: 144 ff.). Bevor Kemal zur Normalform kommt, verwendet er das Satzmuster S + ist/ macht + V (Infinitiv). Er konstruiert nun also eine idiosynkratische Stuktur, die typisch für türkische Lerner ist und die auch Haberzettl bei ihren türkischen Probanden nachgewiesen hat (vgl. Haberzettl 2005: 145 f.). Solche Strukturen können als Vorstufen zur Normalform und der Satzklammer gelten. Beispiele: „ali is komm da feuer“ (28.04.05), „das is aufsteht“ (19.05.05). Erst einige Monate später taucht in Kemals Lernersprache die so genannte Normalform Struktur auf: S + V + O/ X. Bevor Kemal diese Struktur mit Vollverben verwendet, benutzt er sie zunächst mit „haben“: „ich hab so lokomotive“; „wi habte zug“; „wi habte zu hause“ (11.08.05). Dabei können „ich hab“ und „wi habte“ als formelhafte Wortkombinationen interpretiert werden. Dies lässt sich daran erkennen, dass das idiosynkratische „wi habte“ mehrmals in dieser Kombination auftaucht. Eine Woche später gebraucht Kemal die Normalform auch mit Vollverben, z.B. „er hol ein katze“ (18.08.05). Aufgrund des kurzen zeitlichen Abstands, in dem die Normalform mit ‘haben’ und mit Vollverben in den Daten aufeinander folgen, ist es auch möglich, dass Kemal sich die beiden Konstruktionen gleichzeitig angeeignet hat. Andererseits würde die Reihenfolge, sich neue Strukturen zunächst mit Hilfverben und Kopula und später mit Vollverben anzueignen, die Ergebnisse anderer Untersuchungen stützen (vgl. Jordens 2005). Diesbezüglich könnten die Daten der anderen Kinder Aufschluss geben3. Fast parallel zur Normalform verwendet Kemal die Satzklammer, bei der die infiniten Teile des Prädikats ans Satzende treten. „ich hab so tiger gesehen“, „das hat der flugzeug die türkei gegeht“ (25.08.05). Die zuvor verwendete Struktur aus einem nichtlexikalischen Verb in finiter Form plus einem lexikalischen Verb/ Vollverb in infiniter Form (s.o.) taucht nun nicht mehr nur in Sätzen auf, sondern auch in Fragen „hey was is der machen da?“, „warum hat der nich kämpfen gemacht“ (02.09.05), „aber es is ganz viele sein“ (29.09.05). Darin sind z.B. die Formeln bzw. Teile von Formeln „was is“ und „es is“ enthalten. Die verstärkte Verwendung dieser Struktur hängt vermutlich mit dem Erwerb der Satzklammer zusammen. Später arbeitet Kemal an der Inversion bei der Adverbvoranstellung, z.B. „dann frisst die“, „dann kratzt sie so“. In einigen Fällen lässt er noch das Subjekt weg, z.B. „dann helfe den“, „dann is tot“ (25.11.05). Dies könnte mit dem Einfluss der Erstsprache zusammenhängen, denn im Türkischen ist es möglich, subjektlose Sätze zu bilden. In 3 Die Daten der weiteren Probanden sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ausgewertet. Sprachliche Formeln in der Lernersprache von Kindern mit Migrationshintergrund 89 Kombination mit der Satzklammer gelingt die Inversion zu diesem Zeitpunkt noch nicht: „dann er ist da ge- ge- gegeht. und dann er ist da gegeht“ (25.11.05). Schließlich erwirbt Kemal die Nebensatzstruktur: „wenn man da richtich verzählt dann hat ein ein chips gewonnen“ (28.04.06), „wenn man das kopf dreht dann glitzert das anders“ (19.05.06). Sprachliche Formeln scheinen auf den ersten Blick nun keine so bedeutende Rolle mehr für die Lernersprachentwicklung zu spielen. Doch dies könnte auch damit zusammenzuhängen, dass die Formeln nun nicht mehr so leicht zu identifizieren sind wie zu Beginn des Deutscherwerbs, als sie durch ihre grammatische Komplexität im Vergleich zu den übrigen lernersprachlichen Äußerungen auffielen. Im Vergleich zu den kreativen Äußerungen sind sie nun nicht mehr grammatisch komplexer, sondern sogar eher kürzer, z.B. „was redest du da?“ (05.05.06), „was machst du da?“ (02.06.06). 5. Fazit und Ausblick Die Entwicklung der Lernersprache des Probanden Kemal wurde im Bereich der Syntax exemplarisch beschrieben. Dabei wurde versucht zu ermitteln, welche Rolle sprachliche Formeln im Verlauf des Spracherwerbsprozesses spielen. Bei der Rekonstruktion der Lernersprache von Kemal im Bereich der Syntax fällt auf, dass sich zwar eine Erwerbsreihenfolge erkennen lässt, doch stellt sich diese Reihenfolge nicht in Form von eindeutigen Erwerbsstadien oder Erwerbsstufen dar. Die Übergänge von einem Erwerbsstadium zum nächsten sind fließend, da sich Kemal einige Strukturen relativ zeitnah nacheinander aneignet. Zudem greift Kemal auch im späteren Verlauf seiner Lernersprachentwicklung immer wieder auf Strukturen aus früheren Phasen seines Spracherwerbs zurück. Es zeigt sich also die für eine Lernersprache typische Instabilität. Bei der Analyse lässt sich feststellen, dass sprachliche Formeln zu Beginn von Kemals Lernersprachentwicklung eine große Rolle spielen. Feste Satzmuster nehmen sogar eine Art Vorläuferfunktion beim Erwerb neuer Satzstrukturen ein. Im weiteren Verlauf des Zweitspracherwerbs scheint formelhafte Sprache weniger Raum einzunehmen. Möglicherweise entsteht dieser Eindruck dadurch, dass sich Formeln später schwieriger identifizieren lassen als zu Beginn des Zweitspracherwerbs. Während man Formeln zunächst als solche erkennen kann, weil sie eine komplexere Struktur aufweisen als andere lernersprachliche Äußerungen oder weil sie eine invariante Wortkombination darstellen, gelten diese Merkmale im späteren Verlauf der Lernersprachentwicklung nicht mehr. Schmitt; Carter (2004: 1) konstatieren, dass ein hoher Anteil formelhafter Sprache in jedem Diskurs zu finden ist. Die Funktion von Formeln scheint sich jedoch im Laufe der Zeit zu verändern. Während ihnen am Anfang eine Rolle beim Erwerb syntaktischer Strukturen zukommt, was hier zu zeigen versucht wurde, werden sie später im Wesentlichen in ihrer Funktion als Ritualia zur Gesprächssteuerung verwendet. Um die Bedeutung sprachlicher Formeln für die Lernersprache in den einzelnen Entwicklungsphasen einschätzen sowie Erwerbsschritte herausfinden zu können, sol- 90 Sonja Altmüller len in der weiteren Datenanalyse situative Kontexte mit berücksichtigt und die Daten außerdem im Sinne der Korpusanalyse quantitativ ausgewertet werden. Literatur Aguado, Karin (2002): Formelhafte Sequenzen und ihre Funktionen für den L2-Erwerb. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik, 37, 27-49. Apeltauer, Ernst (2002): Rezension zu „Erika Diehl et al. (2000): Grammatikunterricht. Alles für der Katz?“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, 13, 187-199. 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Die inhaltliche Richtigkeit von Grammatikerklärungen 1.1 Einleitung Wenn ich meinen Studierenden die Aufgabe stelle, verschiedene Grammatikdarstellungen zum selben Thema zu vergleichen, wie z.B. die unten (nicht im Original-Layout) angeführten zum Gebrauch der Konjunktionen da und weil bei kausalen Nebensätzen, dann bekomme ich durchaus verschiedene Antworten. Angaben des Grundes Ich gehe nicht hin, weil (da) ich einfach keine Lust habe. ↔ Weil (da) ich keine Lust habe, gehe ich nicht hin. Verbinden Sie die Sätze mit den Konjunktionen weil oder da (da klingt schriftsprachlich, literarisch). Variieren Sie die Wortstellung. Achten Sie auf die Logik Argumentation. Die Arbeit ist mühsam. Es gibt keine Heinzelmännchen mehr. Und Gott war sehr zufrieden. Alles war gut geraten. Der Mensch ist schlecht geworden. Gott war unzufrieden. gesamte Darstellung aus: Rug/Tomaszewski, 2001: 96 94 Ruth Albert Kausalsätze Nebensätze und Hauptsätze des Grundes/der Ursache Fragen: Warum? Weshalb? Aus welchem Grund? Konjunktionen: weil NS/meist ng. da NS/meist vg. ... (1a) Die Trinkwasserqualität hat große Bedeutung für den Menschen, weil Wasser lebensnotwendig ist. (1b) D a es in Deutschland häufig regnet, herrscht selten Wassermangel. Die Konjunktion weil wird bei wichtigen Gründen (1a), die Konjunktion da bei unwichtigen und allgemein bekannten Gründen gebraucht (1b). gesamte Darstellung aus: Hall/Scheiner, 1995: 194 da Subordinierend. Kausal. Der Sachverhalt im HS wird durch einen Grund im NS erläutert. Da es heute regnet, nimmt er den Schirm. Er konnte gestern die Versammlung nicht besuchen, da er krank war. Anmerkung: Statt da wird weil verwendet, (1)wenn der NS nach dem HS steht, der Inhalt des HS dem Hörer bekannt ist, dagegen der Inhalt des NS die einzig neue Information darstellt: Warum gehst du ins Theater? Ich gehe ins Theater, weil mich das Stück interessiert. (2) wenn der Inhalt des HS schon im Kontext (z.B. in einer vorangegangenen Frage) enthalten ist, der HS – um eine Wiederholung zu vermeiden – weggelassen wird und der NS in isolierter Form (z.B. in Form einer Antwort) erscheint: Warum kommt er nicht zum Unterricht? Weil er krank ist. (3) wenn da (das als gehoben empfunden wird) aus Gründen der Stilschicht nicht angemessen ist. Teildarstellung aus Helbig/Buscha 2007: 404ff. Abb. 1: Unterschiedliche Erklärungen zum Gebrauch von da und weil Die Antworten der Studierenden beziehen sich z.B. auf das Layout von Hall; Scheiner (1995), das sie nicht übersichtlich genug finden, sie kritisieren die Beispielsätze in Rug; Tomaszewski (2001) als unpassend oder die in Hall; Scheiner 1995 als sprachlich unnötig kompliziert, sie bemängeln den Gebrauch von störenden Abkürzungen in Hall; Beurteilung der Qualität von Grammatiken 95 Scheiner (1995) und Helbig; Buscha (1995), oder die Studierenden erklären, dass die Darstellung in Helbig; Buscha (1995) zu lang und zu kompliziert sei für Ausländer. Bisher habe ich es nicht erlebt, dass die Studierenden ohne Hilfestellung überhaupt bemerkten, dass die drei o.a. Erklärungen inhaltlich erhebliche Unterschiede und sogar Widersprüche untereinander aufweisen. Dabei gibt es ja durchaus Unterschiede: 1. nur die Grammatik von Hall; Scheiner (1995) erwähnt, dass die Sätze mit da meist vorangestellt sind, 2. nur die Grammatik von Helbig; Buscha (2007) erklärt, dass nur die Nebensätze mit weil als selbständige Antwort auf eine Frage vorkommen 3. nur Hall; Scheiner (1995) schreiben, dass da sich auf unwichtige Gründe bezieht 4. Rug; Tomaszewski (1995) und Helbig; Buscha (2007) schreiben, dass da auf einer höheren Stilebene angesiedelt ist. Es scheint aber so zu sein, dass die Studierenden – und meiner Erfahrung nach auch viele Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrpersonen – der Meinung sind, was in einer Grammatik stehe, müsse auf jeden Fall inhaltlich richtig sein. Diese Kritikunfähigkeit, die sie ja in Bezug auf andere Lehrmaterialien nicht haben, muss etwas mit einer eigenen Unsicherheit in Bezug auf das explizite Wissen über grammatische Regeln des Deutschen zu tun haben und mit einem starken Glauben an die Unfehlbarkeit von gedruckten Grammatiken. Dabei gibt ja das vorgegebene Material zu einem einfach durchschaubaren Thema durchaus Anlass, an dieser Unfehlbarkeit zu zweifeln. Zunächst einmal erwähnen alle drei zitierten Grammatik-Ausschnitte nicht, dass da im Unterschied zu weil kein Korrelat im Hauptsatz haben kann, vgl. Er kommt deshalb nicht, weil er neue Stelle bekommen hat. * Er kommt deshalb nicht, da er eine neue Stelle bekommen hat. Aber auch wenn man gar nicht noch selbst nach möglichen zusätzlichen Fehlern sucht, kann man anhand der gefundenen Unterschiede zu Urteilen kommen. Als kompetenter Sprecher des Deutschen kann man feststellen, welche dieser Aussagen richtig sind, und wenn man sich ein bisschen in die Lernersituation versetzen kann, kann man auch feststellen, ob alle diese richtigen Aussagen wichtig genug sind für eine Grammatik für die Mittelstufe und höher. Offensichtlich sind 1 und 2 und 4 richtig, 3 ist aber zu bezweifeln. Es geht nämlich nicht darum, ob der Grund wichtig ist, sondern darum, ob der Sprecher annimmt, dass der Grund dem Hörer bekannt ist, wenn Grammatiken dies erwähnen, dann meist mit Formulierungen wie „beiläufiges Erwähnen des Grundes“. Wichtig genug für die Mittelstufe und höher (nur Grammatiken für dieses Lernerniveau haben wir angesehen) sind 1,2,4 auch. Daraus könnte man ganz formalisiert ein Urteil zur Qualität dieser Darstellungen ableiten. Was den Inhalt betrifft, so hat Rug; Tomaszewski (2001) einen Pluspunkt und 2 Minuspunkte, Hall; Scheiner (1995) hat auch einen Plus- und zwei Minuspunkte, Helbig; Buscha (2007) hat 2 Pluspunkte und einen Minuspunkt. Also wäre für dieses Phänomen die Darstellung in Helbig; Buscha (2007) am besten gelungen. Ruth Albert 96 Man sieht, so schwierig kann es nicht sein, auch die inhaltliche Richtigkeit der Darstellungen in Grammatiken zum Gegenstand der Ausbildung von Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrpersonen zu machen. Aber es scheint durchaus nicht selbstverständlich zu sein, denn selbst die Autoren von Kriterienkatalogen berücksichtigen die Frage der inhaltlichen Korrektheit nicht, wie der Kriterienkatalog aus Henning (2001:14-15) zur Beurteilung von didaktischen Grammatiken zeigt, der nur Fragen zur Konzeption, zum Aufbau, zur Darstellungsweise, zu den Beispielsätzen, zur Didaktisierung, zum Layout und zur Angemessenheit für die Zielgruppe enthält. 1.2 Das Beispiel „Wechselpräpositionen“ Unser einleitendes Beispiel sollte nur zeigen, wie einfach es eigentlich ist, Unterschiede zu finden und anhand dieser gefundenen Unterschiede auch als Studierender Urteile über die Qualität der Darstellungen zu fällen. Aber es handelt sich bei diesem Beispiel um das Fehlen von Informationen bzw. um kleinere Fehler in der Formulierung. Leider kommt es aber auch recht häufig in Grammatiken für Lerner vor, dass völlig falsche Erklärungsansätze gewählt werden, was die Lerner beim Befolgen der gegebenen Regeln dazu bringen muss, Fehler zu produzieren. Hier ist es natürlich erheblich wichtiger, dass die (zukünftigen) Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrpersonen in der Lage sind, dies zu erkennen, damit sie den Einsatz solcher Grammatiken bei ihren Lernern verhüten können. Eins der grammatischen Phänomene, bei denen sich erschreckend häufig falsche Erklärungen finden, ist die Kasuszuweisung der sogenannten „Wechselpräpositionen“. Diese Terminologie für die Präpositionen, die den Dativ und den Akkusativ zuweisen können, ist zwar sicher ausgesprochen ungeschickt, hat sich aber eingebürgert.1 Betrachten wir erst einmal die Fakten: Die neun Präpositionen an, auf, hinter, in, neben, über, unter, vor und zwischen kommen in präpositionalen Objekten, in Attributen und in Adverbialen vor. In präpositionalen Objekten haben sie kaum eine Eigenbedeutung und müssen zusammen mit dem Verb und mit dem in der entsprechenden Konstruktion zu benutzenden Kasus lexikalisch gelernt werden, vgl. Eva besteht auf einer Entschuldigung./Dieser Aufsatz beruht auf Erfahrungen. (Dativ) Fritz hofft auf ein baldiges Ende des Vortrags./Fritz vertraut auf seine Grammatik. (Akk.) Bei Adverbialen hat die Präposition ihre volle Bedeutung und weist als Richtungspräposition den Akkusativ, ansonsten aber den Dativ zu.2 Attribute können Adverbialen oder präpositionalen Objekten entsprechen, vgl. Der Weg in den Wald/Evas Hoffnung auf ein baldiges Ende dieser Ausführungen. Den Unterschied kann man leicht wieder an der Bedeutung der Präposition erkennen. 1 2 Was damit gemeint ist, ist nicht wirklich klar, denn zunächst einmal ist ja anzunehmen, dass nicht die Präposition wechselt, sondern der Kasus (was „Kasuswechselpräpositionen“ ergeben würde). Sollte damit wirklich gemeint sein, dass je nach Kontext zwei homonyme Präpositionen wechseln, wäre es immerhin ein interessanter Erklärungsansatz, der jedoch ohne Erklärung für den Lerner so nicht erschließbar ist. Als Sonderfall muss lexikalisch gelernt werden, dass über mit einer Zeitangabe bedeutet „länger als der genannte Zeitraum“ und den Akkusativ erfordert. Auf die temporale Verwendung von auf (Das Zimmer ist auf Monate ausgebucht) kann man m.E. getrost verzichten, sie wirkt reichlich veraltet. Beurteilung der Qualität von Grammatiken 97 Wichtig ist nun, dass man für die Fälle, in denen die Präposition Bedeutung trägt, eine Regel findet, die die Kasuszuweisung erklärt. Betrachten wir drei Beispiele. Regel: Der Akkusativ nennt das Ziel des Geschehens. Der Dativ nennt nicht das Ziel. Abb. 2: Kars; Häussermann (1997: 130), weitere Darstellung nach Einzelpräpositionen getrennt Abb. 3: Jentsch; Brenner (1991: 132) Ruth Albert 98 Abb. 4: Reimann (1996: 164) Die Regel aus Kars; Häussermann (1997) enthält eindeutig die richtige Beschreibung, wobei eine komplizierte Terminologie wie „als direktionale Präposition regieren sie den Akkusativ“ vermieden wird, jedoch eine Formulierung gefunden wird, die deutlich macht, dass es einzig und allein um die Bedeutung der Präpositionalgruppe geht, so dass Attribute problemlos mit erfasst werden. Die Darstellung aus Jentsch (1991: 132) enthält zwar den völlig berechtigten Hinweis, dass der Lerner ja nicht weiß, ob man mit wo oder wohin fragen muss,3 aber dann folgt eine Erklärung, die völlig an den Tatsachen vorbeigeht: „Um zu wissen, welcher Kasus nach diesen Präpositionen steht, musst du dir zuerst das Verb ansehen. Drückt es eine Ortsveränderung aus (Bewegung auf ein Ziel), dann steht der Akkusativ“. Das Verb spielt nämlich überhaupt keine Rolle, man findet beim selben Verb beide Möglichkeiten, vgl. Er fährt auf der Autobahn/Er fährt auf die Autobahn. Das Fahren auf der Autobahn ist garantiert eine Bewegung auf ein Ziel zu, aber das Ziel ist nicht in der Präpositionalgruppe genannt, die Präpositionalgruppe nennt im Dativ-Beispiel die Wegstrecke. Es geht also einzig und allein um die direktionale Bedeutung der Präposition. Nur so sind die Attribut-Fälle zu erklären, die ja kein Verb enthalten (Der Weg im/in den Wald) und nur so sind auch die Fälle zu erklären, wo es keinerlei „Bewegungen“ gibt, wie Die Katze gehört nicht auf den Tisch. Gehören ist sicherlich 3 Sehr viele Ausgangssprachen der Lerner unterscheiden keine Fragepronomina für wo und wohin, die beiden Fragen werden mit demselben Fragepronomen gestellt. Dafür gibt es aber durchaus Lerner, die aus ihrer Muttersprache zwei unterschiedliche Präpositionen für die direktionalen und die lokalen „Wechselpräpositionen“ kennen. Beurteilung der Qualität von Grammatiken 99 keinerlei „Bewegungen“ gibt, wie Die Katze gehört nicht auf den Tisch. Gehören ist sicherlich kein Verb der Fortbewegung. Was dann darunter unter „Merke besonders“ steht, ist sicher nur ungeschickt formuliert, aber woher soll der Lerner wissen, dass der Autor nur die angeführten regelmäßigen und unregelmäßigen Verben meint? Wenn er die Darstellung wörtlich nimmt, wird er Peter weint oft ins Kino sagen, denn weinen ist ein regelmäßiges Verb und zieht folglich nach der Regel den Akkusativ nach sich, und er wird den Satz Peter läuft ins Kino für ungrammatisch erklären, denn laufen ist ein unregelmäßiges Verb und muss folglich nach dieser Darstellung die Präposition mit Dativ nach sich ziehen. Nun könnte man annehmen, wenn man den Studierenden nur den Tipp gibt, verbreitete Grammatiken von großen Verlagen zu nehmen, dann sind sie vor derartig groben Irrtümern gefeit, aber leider findet sich in abgeschwächter Form in der Grundstufengrammatik von Monika Reimann (1996) derselbe Denkfehler. Auch hier sind es die Verben, die „verschiedene Kasus verlangen“, und hier wird der Dativ mit „Resultat einer Aktion, Ruhezustand“ erklärt, wobei Peter joggt im Park oder Das Auto fährt auf der Brücke sicher nicht als „Ruhezustand“ aufgefasst werden dürften, und auch das „Resultat einer Aktion“ ist sehr zweifelhaft, was ist z.B. die Aktion, die zu Köln liegt am Rhein geführt hat? Da Grammatiken also, wie diese Beispiele zeigen sollten, leider auch inhaltliche Fehler in ihren Erklärungen enthalten, müssen Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrpersonen über ein solides germanistisch-linguistisches Wissen verfügen, um solche Fehler zu erkennen und um in der Lage zu sein, möglichst fehlerfreie Grammatiken auszuwählen, oder wenn man ihnen dieses Recht nicht einräumt, Fehler in Grammatikdarstellungen für ihre Lerner zu korrigieren. Erfreulicherweise ist der Stand der linguistischen Diskussion zur Beschreibung der Grammatik des Deutschen mit allen Für- und Widerargumenten für streitige Beschreibungsansätze ja für Germanistikstudierende aufbereitet in der Grammatik von Peter Eisenberg, die regelmäßig aktualisiert wird, so dass die DaFLehrpersonen ein zuverlässiges Nachschlagewerk für alle Zweifelsfälle zur Verfügung haben. 1.3 Wo finden sich große inhaltliche Unterschiede? Es ist nicht so, dass sich die Grammatiken in allen Bereichen der Grammatikbeschreibung wesentlich inhaltlich von einander unterscheiden. Große inhaltliche Unterschiede finden sich neben dem o.a. Beispiel der „Wechselpräpositionen“ vor allem in folgenden Bereichen: - Die Tempora des Deutschen Hier bestreiten einige wenige Grammatiken völlig die Funktion von Tempora Zeitbezüge herzustellen (z.B.Weinrich 2005, Schanen 1995), andere übernehmen nur für bestimmte Tempora abgeschwächte Versionen der Weinrich’schen Theorie, Tempora drückten nicht Relationen zum Sprechzeitpunkt, sondern Einstellungen des Sprechers aus. Außerdem unterscheiden sich die Grammatiken darin, ob sie für das Deutsche Futurtempora annehmen oder nicht, so dass es Grammatiken mit vier Tempora und solche mit sechs Tempora im Deutschen gibt. Einige Grammatiken erwähnen auch die 100 Ruth Albert Formen des Doppelperfekts und Doppelplusquamperfekts (Als ich kam, hatte sie ihren Mantel schon angezogen gehabt), allerdings ohne sie zum aktiven Gebrauch vorzuschlagen. - Die Modalverben Große Unterschiede finden sich schon in der Auswahl der Verben, die als Modalverben bezeichnet werden. Manche Grammatiken erklären ich möchte als ein eigenes, defektives Modalverb, was dem Gebrauch entspricht, andere führen es auf als den Konj. II von mögen, was der Sprachgeschichte entspricht. Ob werden und nicht brauchen als Modalverben bezeichnet werden, ist auch sehr verschieden. Und einige wenige Grammatiken führen ohne Rücksicht auf die Bedeutung alle Präteritopräsentia, also auch wissen, unter den Modalverben auf. Aber nicht nur die Auswahl der Verben, auch die Beschreibung des Gebrauchs oder der Bedeutung differiert erheblich zwischen den Grammatiken. - Die (Abtönungs)partikeln Hier fängt das Problem bereits bei der Einteilung an, und wenn man die Bedeutungsoder Verwendungsbeschreibungen in Grammatiken miteinander vergleicht, dann kann man kaum glauben, dass doch alle Grammatik-Autoren kompetente Sprecher derselben Sprache sein müssten. Nun ist es ja auch ausgesprochen schwierig, eine konstante Bedeutung für einzelne Partikeln zu finden, insofern ist vielleicht das Unterfangen, eine möglichst vollständige Übersicht zu geben, kaum realisierbar und typische Verwendungsweisen aufzulisten wäre erheblich sinnvoller. 2. Didaktische Angemessenheit 2.1 Vereinfachungen und Verkomplizierungen Natürlich gibt es neben der inhaltlichen Angemessenheit auch die didaktische, und selbstverständlich gibt es didaktisch notwendige Vereinfachungen. Unnötige Ausführlichkeit macht das Behalten einer Grammatikregel unmöglich. Betrachten wir das folgende Beispiel aus Hall; Scheiner (1995: 8-9). Beurteilung der Qualität von Grammatiken Abb. 5: Perfekt mit haben in Hall; Scheiner (1995: 8) 101 102 Ruth Albert Abb. 6: Perfekt mit sein in Hall; Scheiner (1995: 9) Auch wenn es linguistisch in keiner Weise zu beanstanden ist, alle Verbgruppen aufzuführen, die ihr Perfekt mit haben und die ihr Perfekt mit sein bilden, so ist es doch didaktisch nicht sinnvoll, denn es verkompliziert die Angelegenheit und schafft unnötigen Lernstoff. Ein weiteres Kriterium zur Beurteilung von Grammatiken ist also die didaktische Qualität. Dazu gehört, dass alle gegebenen Regeln verständlich, behaltbar und anwendbar sein müssen (vgl. dazu auch Schmidt 1990). Natürlich ist eine Darstellung erheblich besser merkbar, wenn das Dargestellte überschaubar ist, insofern ist es vom didaktischen Standpunkt aus viel sinnvoller zu erklären, dass das Perfekt normalerweise Beurteilung der Qualität von Grammatiken 103 mit haben gebildet wird, und nur diejenigen Verbgruppen, die ihr Perfekt mit sein bilden, explizit zu nennen. In der o.a. Darstellung gab es offensichtlich ein starkes Bedürfnis nach Vollständigkeit, jeder Fall sollte explizit aufgenommen werden, und wenn die Möglichkeit bestand, etwas als Ausnahme (oder unter „aber“) anzuführen, dann wurde das nicht vermieden. Sehr viel merkbarer wäre es gewesen zu schreiben, dass die Verben des Deutschen üblicherweise ihr Perfekt mit haben bilden, dass man aber einige Gruppen von Verben lernen muss, die ihr Perfekt mit sein bilden, nämlich die intransitiven Verben der Fortbewegung und Zustandsveränderung (wobei man nicht gerade ein transitives Verb mit einer ergativen Variante als Beispiel wählen sollte, es kann die Lerner ja nur verwirren, wenn sie Sätze wie jemand hat die Gartenabfälle verbrannt kennen, hier aber verbrennen als intransitives Verb der Zustandsveränderung finden). Daneben kann man je nach Sprachniveau einzelne weitere Verben, die ihr Perfekt mit sein bilden, lexikalisch lernen lassen, auf jeden Fall sein und bleiben, aber je nach Lernerniveau auch passieren und begegnen sowie Ausnahmen zur Transitivitätsregel u.a.m. Grammatiken für Lerner – gerade im Anfängerbereich − dürfen vereinfachen, wenn dabei mit dem, was die Lerner schon äußern können, nicht Fehler hervorgerufen werden und wenn das Nachtragen von den nötigen zusätzlichen Informationen nicht zu Widersprüchen mit der ursprünglichen Regel führt, so dass später eine völlig neue Regel gegeben werden muss. Im Anfängerbereich sollte die Anwendung der gegebenen Regeln auf schon gelerntes lexikalisches Material ohne Fehler geschehen können – zur Not, indem man einige Ausnahmen/Sonderfälle lexikalisch lernen lässt. Vor diesem Hintergrund ist das folgende Beispiel eine nicht gelungene Vereinfachung: 104 Ruth Albert Diese Darstellung der Hilfsverben zur Perfektbildung hat mir einmal ein SprachlehrerKollege in die Hand gedrückt, leider ohne Quellenangabe, und dazu erklärt: „Siehst du, so einfach kann man den Unterschied erklären.“ Einfachheit ist sicher erstrebenswert, aber in dieser Darstellung ist sie zu weit getrieben. Erst einmal wird nicht gesagt, dass sein nur bei den intransitiven Verben, die einen Orts- oder Positionswechsel angeben, verwendet wird, der Lerner erhält also widersprüchliche Informationen für Sätze wie Er …das Auto in die Garage gefahren. Nach der ersten Regel muss hier haben gewählt werden, denn es ist transitiv, nach der zweiten Regel sein, denn es handelt sich ja um einen Orts- oder Positionswechsel. Außerdem fehlen die Verben der Zustandsveränderung völlig, und auch die auch bei Anfängern ausgesprochen gebräuchlichen Verben sein und bleiben.4 Ein anderes Beispiel für die richtige Wahl einer einfachen und merkbaren Darstellung eines Grammatikphänomens ist die Adjektivflexion. Hier wird oft gedacht, dass den armen Lernern nicht eine komplexe Darstellung, die die Markierung von Genus, Kasus und Numerus am Artikelwort, am Adjektiv und am Substantiv einbezieht, zugemutet werden kann. Das ist aber ein Irrtum, nur in dieser Gesamtschau kann man das Prinzip sehen, das die Adjektivflexion durchschaubar macht, nämlich das, dass die deutlich markierenden („starken“) Endungen einmal in der Gruppe vorkommen müssen. Die starken Endungen sind dem Lerner längst vom bestimmten Artikel her bekannt, wenn das attributive Adjektiv eingeführt wird, es ist also nicht so, dass verwirrender Lernstoff eingeführt wird, sondern dass der Lernstoff auf einmal versteh- und behaltbar wird, was bei einzelnen Tabellen für die starke, schwache und gemischte Adjektivflexion nicht der Fall ist. Was sich die zukünftige DaF-Lehrperson also angewöhnen sollte, ist, sich bei der Beurteilung der didaktischen Qualität der Erklärungen in die Rolle des Lerners auf der entsprechenden Stufe zu versetzen und alle Fragen, die sich ihm stellen, anhand der gegebenen Erklärungen zu lösen zu versuchen. Ob die Regeln merkbar sind, können die Studierenden sehr einfach daran feststellen, ob sie selbst diese Regel behalten können. 2.2 Alte Gewohnheiten Gehen wir einmal davon aus, dass heutige DaF-Lehrpersonen nicht mehr die Reihenfolge der Kasus Nominativ-Genitiv-Dativ-Akkusativ und auch nicht mehr die Reihenfolge der Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum, Plural in ihren Tabellen handhaben und Grammatiken, in denen sie so etwas finden, nicht verwenden. Aber es gibt durchaus noch andere traditionelle grammatische Darstellungsweisen oder Unterrichtsstoffe, bei denen man sich fragt, ob sie wirklich sinnvollerweise noch im Sprachunterricht behandeln sollte. Ein Paradebeispiel dafür ist das „Zustandspassiv“. Wenn man auf die Vermittlung des Zustandspassivs verzichten könnte, wäre das eine erhebliche Lerner4 Dazu kommt ein regional gefärbter Beispielsatz (im Standarddeutschen müsste es heißen ich bin in Urlaub gefahren) und rein illustrierende, nichts erklärende Zeichnungen. Dies reicht wohl als Grund, diese Erklärung nicht zu benutzen. Beurteilung der Qualität von Grammatiken 105 leichterung, und was dem Lerner dadurch an praktisch verwendbaren Informationen entgeht, ist sehr gering. Interessanterweise wissen Lehrbuchverlage das, setzen aber trotzdem das Zustandspassiv weiterhin in ihre Grammatiken, selbst für die Grund- und Mittelstufe, denn – wie sie sagen – sonst würde die Grammatik nicht gekauft, weil die Lehrpersonen sie für unvollständig halten. Es lohnt sich also, in diesem Punkt etwas zu missionieren. Helbig; Buscha (2007) behandelt das Zustandspassiv auf 8 Seiten, wobei diese Form ausführlich von anderen Formen abgegrenzt wird, nämlich ein Zustandspassiv sei Ich bin geimpft (ich bin schließlich geimpft worden), ein Zustandsreflexiv sei Das Mädchen ist verliebt (es hat sich verliebt), eine allgemeine Zustandsform sei Die Stadt ist von 2 Millionen Menschen bewohnt (die Menschen sind nicht Agens), ein adjektivisches Prädikativ sei Der Mann ist begabt (es gibt ja gar kein Verb begaben, Beispiele 2007: 144, 155-160). Das „Zustandspassiv“ findet sich in den meisten Grammatiken als eine komplizierte Herleitung etwa dieser Art: Jemand hat Frau Meier verheiratet (Perfekt Aktiv) → Frau Meier ist verheiratet worden (Perfekt Vorgangspassiv) → Frau Meier ist verheiratet (resultierender Zustand, Präsens Zustandspassiv). Die Frage ist, ob der Nutzen dieses Vorgehens in Relation zum Lernaufwand steht. Der Nutzen ist, dass die Lernenden unterscheiden können zwischen homonymen Formen wie in Der Student ist informiert (als Zustandsreflexiv hat er sich selbst informiert, als Zustandspassiv ist er informiert worden) oder Das Kind ist gewaschen. Die äußerst seltenen Homonymien mit einer Form im Perfekt Aktiv könnten so auch besser erklärbar sein, also z.B. Das Kind ist verzogen (an einen anderen Ort gezogen/falsch erzogen worden). Sehr viel einfacher ist natürlich, das „Zustandspassiv“ als Lernstoff ganz wegzulassen, wie in Kars; Häussermann (1997: 46f, 61) und nur darauf hinzuweisen, dass das Partizip II als Adjektiv passivische Bedeutung haben kann. Dies ist für fast alle kommunikativen Absichten der Lerner ausreichend und vermeidet einen naheliegenden Irrtum. Die Tür ist geschlossen kann nämlich ebenso gut gesagt werden, wenn sie zugefallen ist, wie wenn sie geschlossen wurde, wie auch, wenn man nicht weiß, wie es dazu kam, dass sie nun zu ist. Kars; Häussermann (1997) ist also in diesem Punkt eine mutige Grammatik, die es wagt, unnötigen Lernstoff abzubauen, auch das sollten Deutsch-als-FremdspracheLehrpersonen an einer Grammatik zu schätzen wissen. 2.3 Übungen Für meine Studierenden ist es immer ganz überraschend, wenn ich ihnen die Aufgabe erteile, eine Grammatikübung aus einer Grammatik, die Erklärungen und Übungen enthält, ausschließlich durch Befolgen der Regeln in den Erklärungen zu bearbeiten, also nicht auf ihr intuitives Wissen über die richtigen Lösungen zurückzugreifen. Und zu ihrem Erstaunen erweist es sich oft als unmöglich, durch Befolgen der Regeln zu der Lösung zu kommen, die nach ihrem Sprachgefühl die richtige ist. Zur Beurteilung von Übungsgrammatiken gehört also, dass man überprüft, ob die angegebenen Regeln dazu ausreichen, die zu lösenden Übungsaufgaben richtig zu lösen. Leider ist das in 106 Ruth Albert Übungsgrammatiken oft nicht der Fall. Entweder finden sich in den Übungsaufgaben in den Regeln nicht erklärte Ausnahmen oder die Regeln sind ohnehin so ungenau, dass man durch Anwendung der Regeln nicht zu einer eindeutigen Lösung kommen kann. Diese Erfahrung gehört zum Alltag von Sprachlehrpersonen, denn sie werden von ihren Lernern ja mit bearbeiteten Übungen konfrontiert, die nur auf der Anwendung der in der Grammatik gegebenen Regeln beruhen. Zur Ausbildung der zukünftigen DaF-Lehrpersonen sollte aber gehören, dass sie in der Lage sind, Übungsgrammatiken auszusortieren, bei denen so etwas häufig passiert. 2.4 Kommunikative Grammatiken Die Idee, Grammatiken so zu gestalten, dass sie von der Äußerungsabsicht aus zur sprachlichen Form gelangen, ist für angehende Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrpersonen meist sehr überzeugend, und kommunikative Grammatiken werden nach der Lektüre der Ausführungen zum Konzept zunächst stark gegenüber anderen präferiert. Manche Grammatiken, wie die „Grammatik mit Sinn und Verstand“ (Rug; Tomaszewski 2001) versuchen, diese Vorgehensweise konsequent durchzuhalten, wenn es ihnen auch nicht restlos gelingt. Das Problem dabei ist das folgende: Angenommen, jemand möchte ein Bauwerk datieren, weiß aber den Namen des Erbauers nicht. Dann hat er unter anderem folgende grammatische Möglichkeiten: Passiv: Dieses Haus wurde in den 20er Jahren gebaut. Die man-Form: Man baute dieses Haus in den 20er Jahren. Nominalisierung: Der Bau dieses Hauses fand in den 20er Jahren statt. Solche Auswahlen von Möglichkeiten kann man für ganz verschiedene Redeabsichten für die Lerner zusammenstellen. Jedoch zeigt sich, dass das sich höchstens für Wiederholungsübungen eignet, bei denen den Lernern die einzelnen grammatischen Möglichkeiten schon bekannt sind, weil sie sie vorher einzeln gelernt haben und sie beherrschen. Zum Lernen neuer grammatischer Phänomene scheint ein solches Vorgehen ungeeignet zu sein, weil zu viele Möglichkeiten auf einmal präsentiert werden müssen, die in dieser Fülle ausgesprochen verwirrend wirken. Das zeigt sich z.B. bei der Darstellung des objektiven Gebrauchs der Modalverben in Rug; Tomaszewski (2001: 12): Beurteilung der Qualität von Grammatiken 107 Abb. 7: Rug; Tomaszewski (2001: 12) Wenn nicht vorher eine Erklärung zu Bedeutung und Verwendungsmöglichkeiten der einzelnen Modalverben auf der Basis einer anderen Grammatik gegeben wurde, ist diese Darstellung für Lerner nicht zu gebrauchen. Hier zeigt sich, dass die gut gemeinte Theorie sich nicht in eine didaktisch vertretbare Praxis umsetzen lässt. Anscheinend ist es nicht zu umgehen, zunächst einmal grammatische Phänomene an sich zu beschreiben. Erst wenn die Lerner sie verstanden haben, kann man sie mit anderen grammatischen Möglichkeiten für dieselbe Redeabsicht kontrastieren. 108 Ruth Albert 3. Fazit Diese Darstellung dessen, was man als angehende Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrperson zur Beurteilung von Grammatiken lernen sollte, nennt längst nicht alle Aspekte, die zur Wahl oder Ablehnung einer Grammatik führen können. Selbstverständlich sind die Aspekte, die ich eingangs als spontane Reaktionen meiner Studierenden genannt habe (Layout, Terminologie, Aktualität und Schwierigkeitsgrad der Beispielsätze u.a.m.) neben ganz banalen Dingen wie Verfügbarkeit und Preis durchaus auch wichtige Kriterien für die Beurteilung von Grammatiken. Mir ging es hier darum, einige Aspekte zu benennen, die m.E. bisher zu wenig die Beachtung der DaF-Didaktik gefunden haben. Literatur Brons-Albert, Ruth (1987): Die Tempora des Deutschen. In: Info DaF 3/87, 195-201. Eisenberg, Peter (1999): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1 Das Wort, Bd. 2 Der Satz. Stuttgart: Metzler. Hall, Karin; Scheiner, Barbara (1995): Übungsgrammatik Deutsch als Fremdsprache für Fortgeschrittene. Ismaning: Verlag für Deutsch. Helbig, Gerhard; Buscha, Joachim (2007): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin u.a.: Langenscheidt. Henning, Mathilde (2001): Welche Grammatik braucht der Mensch? Grammatikenführer für Deutsch als Fremdsprache. München: iudicium. Jentsch, H.R.; Brenner, H.R. 1991: Grammatik zum Üben: Ein Arbeitsbuch mit Regeln und Übungen für Fortgeschrittene. Kerpen: Burris Druck. Kars, Jürgen; Häussermann, Ulrich (51997): Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt a.M.: Diesterweg. Reimann, Monika (1996): Grundstufen-Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning: Hueber. Rug, Wolfgang; Tomaszewski, Andreas (2001): Grammatik mit Sinn und Verstand. Stuttgart: Klett. Schanen, François (1995): Grammatik Deutsch als Fremdsprache. München: iudicium. Schmidt, Reiner (1990): Das Konzept einer Lerner-Grammatik. In: Gross, Harro; Fischer, Klaus (Hrsg.): Grammatikarbeit im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht. München: iudicium, 153-161. Weinrich, Harald (³2005): Textgrammatik der deutschen Sprache. Hildesheim u.a.: Olms. Weinrich, Harald et al. (2003): Textgrammatik der deutschen Sprache. Hildesheim u.a.: Olms. Der Artikel. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 109-124. Isolde Mozer (Frankfurt am Main) Der Artikel, die Artikelunlust, das Artikellernen. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik Der deutsche Artikel1 − ein Sprachphänomen der Superlative: Quantitativ repräsentiert er die frequenteste Wortart2, didaktisch gehört er zu den unbeliebtesten Themen unseres Unterrichtsspektrums. DaF-Lektoren können ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, den rechten Gebrauch zu ver mitteln. Aus der Lernerperspektive scheint die Mentalreserve gegenüber dem deutschen Artikel verständlich, gibt es doch in vielen Sprachen gar keinen, nur einen oder nur zwei Artikel. Im Normalfall des DaF-Unterrichts wird den Lernenden nur die möglichst regelgerechte Pragmatik des grammatischen Faktums vermittelt, sie wird kontrolliert und verifiziert oder falsifiziert. Dabei steht die Fehlerhäufigkeit in direktem Verhältnis zur mangelnden Motivation; ihr können DaF-Lektoren meist nichts anderes entgegensetzen als den Verweis auf die Axiomatik der deutschen Sprache – wohl wissend, dass die Einsicht heischende Überredung eine untaugliche 1 2 Ich bleibe in meinem Unterricht und deshalb auch hier bei der klassischen Klassifikation dieser Wortgruppe, er ist den Studenten geläufig. Linguistische Differenzierungen (Granzow-Emden 2004, Ahrenholz 2007: 92ff.) oder Neubenennungen wie „Begleiter des Nomens“ (vgl. Funk 1995: 43f.) sind, was hier nicht vertieft werden soll, zugleich zu komplex und zu vereinfachend. Vgl. Meier (1964: 112): Basierend auf einem Korpus von ca. 11 Millionen Wörtern ermittelt er „die“ als die Nummer 1, gefolgt von „der“. Unter den fünfzehn häufigsten Wörtern der deutschen Sprache rangieren sechs Formen des bestimmten Artikels. Wängler (1963), der zur Hälfte gesprochenen bzw. geschriebenen Wortschatz in einem Umfang von etwas mehr als 160 000 Wörtern zu Rate zieht, hat unter den vierzig häufigsten Wörtern sechs Formen des bestimmten Artikels, wobei auch hier „die“ und „der“ die Spitzenstellung einnehmen. Bei Ruoff (1990: 513, 354) ist die Aufstellung etwas unübersichtlicher. Er ordnet nicht nur nach Wortarten, sondern fasst auch Artikel und Demonstrativpronomen zusammen. Sie kommen bei einer Wortmenge von einer halben Million auf fast 38000 Zählungen; im Vergleich dazu erreicht das häufigste Substantiv nur etwas mehr als 1500 Nennungen. 110 Isolde Mozer pädagogische Methode darstellt, verdankt sich der Erfolg als akademischer Lehrer ja gerade dem „Verzicht aufs Überreden“ (Adorno 1977: 662).3 Dass der die Ablehnung des Artikels begründende Sprachvergleich die Mentalreserve weiter verstärkt (indem er ihn pseudolinguistisch als „überflüssiges“ Sprachelement identifiziert), liegt meiner Ansicht nach an dem Versäumnis, diese Methode aufzugreifen. Stattdessen bleibt es im DaF-Unterricht meist bei der monolingualen Askese, auch wenn sie die Studenten infantilisiert und gleichsam als nachahmend lernende Kinder behandelt. Dabei bringen die Studenten ihr kognitives Lernverlangen ja gerade zum Ausdruck, indem sie Sprachen vergleichen. Die Gesichtspunkte der anderen mitzudenken, das wäre nun nicht einfach eine allgemeine ethische Forderung, sondern ein didaktisches Gebot. Denn diese Gesichtspunkte sind ja prägend, insofern als es muttersprachliche Muster gibt, die auch beim Lernen einer Fremdsprache weiterwirken. Wir bemerken sie als Interferenzen, als inadäquaten Ausdruck, als Abweichung und als Fehler. Und nicht nur weil wir an der Universität arbeiten, wo Lehre und Forschung eine Heimat haben, könnten wir das Lernen als Forschung auffassen. Experten haben wir ja vor uns – jeder unserer Kursteilnehmer verfügt über eine, manchmal sogar über mehrere Muttersprachen. Die Aktivierung eigener sprachlicher Kompetenzen zur Motivierung gehört inzwischen ebenso zum methodischen Standard (Zimmermann; Wißner-Kurzawa 1985: 12; Funk 1995: 44; Guntzmann 1995: 267) wie Methoden eines kognitiven Fremdsprachenerwerbs (Tönshoff 1995; Grotjahn 2000); ebenso kann auch die kontrastive Methode auf eine lange Geschichte zurückblicken (König 1990): Das Konzept des Einbezugs muttersprachlicher Kompetenzen gilt als rationelle, fehlerresistente Vermittlungsmethode (Funk, Koenig 2003: 53). Meist, vor allem in Lehrwerken, bleiben solche Modelle jedoch hinter ihrem Anspruch zurück, da die Vergleichssprache adressatenunabhängig verfügbar sein muss und sich deshalb im Allgemeinen auf das Englische konzentriert. Oft basieren kontrastive Betrachtungen zudem auf einer hochkomplexen linguistischen Fragestellung, die jenseits unseres pädagogischen Auftrags liegt. Exponiert werden soll hier aber eine Methode, die sich weder auf ein Lehrwerk stützt, noch sich auf eine einzige lingua franca als Vergleichssprache beschränkt. Vielmehr sollen die Sprachen aller Sprecher, die in einer Lerngruppe vertreten sind, zum Thema gemacht werden – vor allem und gerade auch dann, wenn der Dozent selbst sie nicht spricht. Denn dieser Switch vermag es, die Mühen des Paradigmenwechsels, die „Aneignungsaufwände“ (Ehlich 2006: 21f.), nachzuvollziehen, derer sich Lerner besonders außereuropäischer Sprachsysteme ständig unterziehen müssen. Die empathische Erfahrung der Sprachferne sensibilisiert; allerdings verunsichert sie auch, weil 3 Eine ephemere Überzeugung pro Artikel erziele ich manchmal mit dem Verweis auf eine historische Situation, in der der Artikel eine „semantische Leistung“ (Eisenberg 1989 : 163) als politischer Determinator erbracht hat: das Jahr 1989 und die Zeit danach. Bevor die Mauer fiel, tauchten bei Demonstrationen in der DDR Plakate mit der Inschrift auf: „Wir sind das Volk“. Sie wurden von der Parole „Wir sind ein Volk.“ abgelöst. „Ein“ fungiert hier noch als Numerale („ein“ Volk gegenüber den beiden getrennten Nationen). Nach der Einheit und einige Jahre später aber räumte das Zahlwort dem unbestimmten Artikel den Platz. Denn nun war der Sonderfall der deutschen Teilung aufgehoben und Deutschland konnte sich als ein Volk unter die vielen anderen einreihen, als pars inter pares. Der Artikel. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik 111 sie den Sprachzentrismus auflöst, den der kommunikativ ausgerichtete DaF-Unterricht etabliert.4 Der Gewinn für die Sprachstudenten liegt im motivationalen, gruppendynamischen und kognitiven Bereich. Die Vitalisierungskraft, die der Aufruf muttersprachlichen Materials mobilisert, ist erfahrungsgemäß enorm (vgl. Mozer 2006). Vor allem die sich sonst eher nicht ins Gespräch bringenden, aus Scheu vor Inkompetenz zurückhaltenden Kursteilnehmer erhalten bei diesem Konzept die Gelegenheit, sich einmal als nicht-defizient zu präsentieren. Deshalb ist die Beteiligung in diesen Stunden überwältigend. In der inversen Situation, in der der Dozent rezipiert und die Sprachstudenten ihr exklusives Wissen vermitteln, müssen diese ihr explizites Grammatikwissen aktualisieren – ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt, bei dem die grammatischen Termini eingeübt werden. Aufgrund der Unbewusstheit muttersprachlicher Kompetenz ist allerdings damit zu rechnen, dass die Explikation der Strukturen nicht ohne weiteres gelingt; in solchen Fällen gibt es meist freiwillig nachgelieferte Erklärungen. In anderen Fällen, wenn mehrere Sprecher einer Muttersprache in der Gruppe vertreten sind, setzt erfahrungsgemäß eine binnensprachliche Erforschungsphase ein, deren Resultate auf Deutsch veröffentlicht werden. Auch während dieser Klärungsprozesse überflügelt das Erkenntnisinteresse das im gewöhnlichen Grammatikunterricht vertretene Maß erheblich. Die Flut an Informationen, mit denen man in einer solchen Unterrichtseinheit überschwemmt wird, übersteigt das Quantum dessen, was das Prinzip der didaktischen Reduktion gebietet: Man sieht, wie viel Potential hier brachliegt. Zwei Erkenntnisse sollen, was die Leistung des deutschen Artikels anbelangt, am Ende er vorgestellten Sequenz stehen: die Ökonomie der Formenbildung und die Varianz des Ausdrucks. Ich gebe vier Sätze vor, die die Studenten nacheinander, medial für die ganze Gruppe einsehbar (Tafel, Overheadprojektor, PC) in ihre jeweilige Muttersprache übersetzen und dabei die typologischen Analogien oder Divergenzen zum Deutschen erläutern sollen. Diese vier Sätze lauten: 1. 2. 3. 4. Der Vater liebt den Sohn. Den Sohn liebt der Vater. Der Sohn liebt den Vater. Den Vater liebt der Sohn. Diese vier Sätze bestehen aus demselben lexikalischen Material; Satz eins und drei sind syntagmatisch analog strukturiert, ebenso Satz zwei und vier. Die Perioden eins und zwei auf der einen Seite, drei und vier auf der anderen ähneln sich in der Aussage; jedoch ist mit der Linksstellung des Objekts der Akzent der Aussage verschoben. 4 Tatsächlich wäre das graphische Pendant einer solchen Unterrichtseinheit eine Reihe – mithin das Signum der Moderne, die sich vom Zentrum mit fester Mitte verabschiedet hat. Isolde Mozer 112 Bei der lexikalischen Generierung der Aussage wurden, was die Substantive anbelangt, auf Archinomina zurückgegriffen5; das Verb sollte semantisch universal und transitiv sein und die Möglichkeit einschließen, dass sich Links- und Rechtsposition des Objekts vertauschen lassen. − Beim Artikel habe ich den masculinum Singular gewählt, er ist der deklinationsstärkste Artikel. Die Abundanz des zu erwartenden Materials verbietet es selbstverständlich, mehr als nur einen Kasus zu behandeln, ohnehin soll ja nicht eine vollständige interlinguale Typologie erarbeitet werden: Für die language awareness genügt das Exemplarische, hier also der Akkusativ Singular. Im Folgenden fasse ich die Ergebnisse zusammen. Es handelt sich um ein Sample von etwa drei Dutzend Sprachen, die sich zufällig aus einer bestimmten Lehrsituation heraus ergeben haben. Mit diesem Material dürften die wesentlichen Sprachfamilien abgedeckt sein: das (Indo-)Germanische, das Finno-Ugrische, das Semitische, das SinoTibetische, das Kaukasische, Altai-Sprachen, das Austronesische, das Austroasiatische und Niger-Kongo-Sprachen. Meine Darstellung orientiert sich am Prinzip der zunehmenden Sprachferne zum Deutschen; ob man sich im Unterricht an dieses inhaltliche Kriterium oder eher an die gruppendynamischen Gegebenheiten oder die Zufälligkeit der Sitzordnung hält, wird von der Spezifik der Lerngruppe abhängen. Denn die Studenten, die in der monolingualen Fremdsprachenvermittlung sozialisiert sind, begegnen einer derartigen Unterrichtsabsicht zunächst mit Ungläubigkeit – ist es ihnen doch zunächst nicht ganz einsichtig, inwiefern dieses Unterfangen einer Prüfungsvorbereitung dienlich sein soll. Hier kann auf die Forschung verwiesen werden, die neben der impliziten auch die explizite Grammatikvorbereitung für angezeigt hält (Krekeler 2005: 77). Paradigma 1 Das Englische, die uns allen geläufige Sprache, hat den bestimmten Artikel, aber unflektiert. Der Artikel kann also den Kasus nicht markieren; er wird bestimmt über die Stellung des Nomens plus Artikel im Satz. Im Ergebnis sind die Sätze zwei und vier im Englischen nicht zu bilden: 1. 2. 3. 4. 5 The father loves the son. – The son loves the father. – Dabei ließ ich mich von der Hoffnung leiten, bei allen typologischen Differenzen zumindest semantische interlinguale Ähnlichkeiten zu eruieren. Tatsächlich gibt es auch jenseits der Sprachfamilien ähnliche Wortbildungen für „Vater“; sie gehen entweder auf eine gemeinsame Wurzel zurück oder orientieren sich am Onomatopoetischen („Papa“): father (englisch), pater (griechisch und lateinisch), père (französisch), padre (italienisch und spanisch), pai (portugiesisch), pedar (persisch), pader (dari), aba (arabisch), ab (mongolisch), bapa (malaiisch), ba (vietnamesisch). Auch der „Sohn“ ist relativ international: son (englisch), Ȍ Ȉ (russisch), ȌuȈ (ukrainisch), syn (polnisch und tschechisch), sin (bosnisch, kroatisch, serbisch), ȌuȈ ȍ (bulgarisch), sun (litauisch). Der Artikel. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik 113 Paradigma 2 Für mich war Latein die erste Begegnung mit einer artikellosen Sprache. Und wir erinnern uns, wie viel da zu deklinieren ist, wenn kein Artikel existiert, der den Kasus bezeichnet. 1. 2. 3. 4. Pater filium amat. Filium pater amat. Filius patrem amat. Patrem filius amat. Paradigma 3 Das klassische Griechisch kannte den bestimmten Artikel. Er war Teil des Formenreichtums, dem wir den abendländischen Logos verdanken. Die grammatische Struktur des Griechischen kam „der Begriffsbildung und damit den Anfängen der Philosophie entgegen. Auch wer des Griechischen nicht mächtig ist, wird sich eine Vorstellung davon bilden können, wie der bestimmte Artikel, den diese Sprache dem Lateinischen voraus hat, dazu einlädt, sich das Allgemeine – das Sein, das Werden, das Vergehen – als etwas Bestimmtes vorzustellen, und so den Glauben an eine zweite, geheimnisvolle Wirklichkeit zu nähren, die sich hinter der ersten, erfahrbaren verbirgt.“6 Der bestimmte Artikel hat hier eine generalisierende Funktion. Werden diese Aussagen ohne Artikel formuliert, dann wird damit eine spezifische familiäre Situation zum Ausdruck gebracht. Abb. 1: griechisch 6 Konrad Adam: Die alten Griechen. Berlin 2006, S. 21 Isolde Mozer 114 Nun zu den Demonstrationen der Studenten. Die Beispiele sind nach Sprachfamilien geordnet, beginnend mit dem Indogermanischen und zuerst mit dem romanischen Zweig. Im Französischen gibt es einen nach zwei Geschlechtern unterschiedenen Artikel, der aber nicht dekliniert wird. Das Ergebnis ist wie das Englische: Der Positionswechsel des Objekts an die erste Stelle im Satz ist im Aktiv nicht möglich. 1. 2. 3. 4. Le père aime le fils. – Le fils aime le père. – Auch im Italienischen gibt es zwei Genera. Um den Objektbezug zu markieren, verschmelzen die Nomina in unserem Fall mit der Präposition „a“. Deshalb muss das Nomen nicht dekliniert werden, und es sind alle vier Optionen möglich. 1. 2. 3. 4. Il padre ama al figlio. Al figlio ama ail padre. Il figlio ama al padre. Al padre am ail figlio. Auch das Spanische hat den Artikel in zwei Genera. Das Objekt zum Verb „lieben“ wird mit einer Präposition („a“) gebildet, die mit dem Artikel verschmilzt. Die Linksstellung des Objekts verlangt das nachgestellte Personalpronomen (lo): 1. 2. 3. 4. El padre ama al hijo. Al hijo lo ama el padre. El hijo ama al padre. Al padre lo ama el hijo. Im Portugiesischen heißen die bestimmten Artikel „o“ und „a“, sie werden ebenso wenig dekliniert wie die Substantive. Das Verb „lieben“ hat ein direktes Objekt. 1. 2. 3. 4. O pai ama o filho. – O filho ama o pai. – Auch das Rumänische folgt dem Paradigma 2: Es hat keinen bestimmten Artikel und dekliniert die Nomina nicht. Deshalb ist die Syntaxordnung auch hier festgelegt. Die Nicht-Existenz des bestimmten Artikels hat zur Folge, dass dem Objekt ein Possessivpronomen („sau“) beigegeben werden muss. Damit verändert sich die Bedeutung: Die Vater-Sohn-Verbindung wird auf eine besondere, familiäre Beziehung fixiert. Das Allgemeine, das im deutschen Satz mitgesagt wird, verschwindet bei dieser Festlegung. 1. 2. 3. 4. Täticul iubeste fiul sau. – Fiul iubeste täticul sau. – Der Artikel. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik 115 Wenden wir uns dem slawischen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie zu. Für alle gilt Paradigma 2: Es gibt keinen Artikel, die Nomina müssen sämtlich dekliniert werden. Im Hinblick auf die quantitativ umfangreichen Kasussysteme7 erfordert dies wahrhaft umfangreiche Deklinationen. Beschränken wir uns auf das Polnische und Russische: 1. 2. 3. 4. Ojciec kocha syna. Syna kocha ojciec. Syn kocha ojca. Ojca kocha syn. Mit dem Russischen kommt nun auch die Alphabetdifferenz ins Spiel. Ich ermuntere meine Studenten, ihr Alphabet beizubehalten und auf eine lateinische Transkription zu verzichten. Es kommt mir ja nicht auf die Aneignung der fremden Sprache, sondern auf deren Erkenntnis an.8 In der Praxis kann neben der (hier aufgeführten) Druck- auch die Kurrentschrift wiedergegeben werden. 1. 2. 3. 4. Оȍе лю иȍ Ȍ Ȉа. С Ȉа лю иȍ ȉȍе . С Ȉ лю иȍ ȉȍ а. Оȍ а лю иȍ Ȍ Ȉ. Der baltische Zweig der indogermanischen Sprachfamilie verfährt nach demselben Muster wie das Slawische. Hier das Beispiel des Litauischen: 1. 2. 3. 4. Tevas myli suny. Suny myli tevas. Sunus myli teva. Teva myli sunus. Ganz besonders für die slawischen und baltischen Muttersprachler führt die Unterrichtseinheit zu der substantiellen Erkenntnis, dass der Artikel eine ökonomische Objektmarkierung bietet. Abb. 2: armenisch 7 8 Das Russische beispielsweise verfügt über 7 Kasus und es dekliniert auch die Eigennamen. Diese Erkenntnis soll sich ja auch nicht im Linguistischen erschöpfen. Vielmehr vermag die Auffächerung des babylonischen Reichtums (paradoxerweise?) die Etablierung des Deutschen zu befestigen. 116 Isolde Mozer Ein eigener Zweig innerhalb des Indogermanischen ist das Ar menische, das auch ein eigenes Alphabet hat. Die beiden Wörter in der Mitte sind in allen Sätzen identisch: Sie stellen das Verb dar. Wir erkennen auch, dass es keinen Artikel gibt, jedenfalls nicht als selbstständiges Morphem. Aber es gibt im Armenischen ein Phänomen, das uns bisher noch nicht begegnet ist: die Nominativmarkierung. Die Vokabel für „Vater“ heißt [hajr]; in der Funktion des Nominativs heißt Vater [hajr]. Der Sohn, isoliert, heißt [wordi], als Subjekt dagegen [wordin]. Die Nominativsuffixe folgen komplizierten Regeln: Sie richten sich nach dem konsonantischen oder vokalischen Ende des Nominalstamms und dem Beginn des folgenden Verbs. Alle 6 anderen Fälle werden natürlich auch dekliniert. Unser Weg führt uns nun vom armenischen zum indoiranischen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie, dem Persischen. Abb. 3: persisch Es ist zu erkennen, dass die letzten beiden Zeichen in allen Sätzen identisch sind, sie bilden das Verb: [du:st dǿ:rad], „liebt“. Das Verb steht im Persischen obligatorisch am Ende. Graphemisch kann man entdecken, dass der Akkusativ mit einem Akkusativ-Suffix gebildet wird. Auch das indoiranische Dari, eine der Hauptsprachen in Afghanistan, benutzt einen suffligierten Akkusativ. Der Artikel. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik 117 Abb. 4: nepali Die Buchstabenschrift, die im Sanskrit und im Nepalesischen benutzt wird, heißt Devanagarik9. Dass diese Schrift von links nach rechts geschrieben wird, ist an den senkrechten Strichen rechts zu sehen, die den Satz beenden. Striche über den einzelnen Buchstabenverbindungen „bedachen“ gleichsam das einzelne Wort. − Wie im Armenischen werden Nominativ und Akkusativ durch bestimmte Suffixe gekennzeichnet. [buwa], der Vater, und [t]ǿ:ra:], der Sohn, benötigen in ihrer substantivischen Form ein Suffix. Diese Operation ist relativ einfach und ermöglicht eine wortgetreue Übertragung der Taxonomie. Die nepalesischen Spezifika liegen im verbalen Ausdruck: Die beiden letzten Wörter der Sätze bilden das Verb, wobei der erste Teil des Verbs, also das drittletzte Zeichen, in allen vier Sätzen identisch ist und eine Art Stamm bildet. Das letzte Zeichen ist ein Indikator für das Hierarchiegefälle zwischen den einzelnen Agenten. Wenn vom Vater eine Aussage gemacht wird, so muss dies verbal in einer distinkten Formel der Ehrerbietung zum Ausdruck gebracht werden. Dieses Referenzsystem bringt in unserer Taxonomie zwei unterschiedliche Verbformen hervor: [ma:ja gǿrnu:huntſ für den Vater und [ma.ja gǿrtſ] für den Sohn. Die Aktantenreferenz verlangt auch eine andere Verbalform für die Tochter – mit der Klassifikation „3. Person Singular“ ist es also im Nepalesischen nicht getan, das Signifikat muss nach Hierarchieund Genderkriterien identifiziert werden. Als letzter Vertreter der indogermanischen Sprachfamilie vermittelt das Urdu, wo die Scharnierstellen zwischen den einzelnen Satzgliedern lokalisiert sind, wenn kein Artikel verfügbar und die Subjekt-Objekt-Abschnitte nicht durch das Verb getrennt werden. 9 Zu Deutsch „Bürger Gottes“. Isolde Mozer 118 Urdu wird in arabischer Schrift, also von rechts nach links geschrieben. Das Verb steht am Ende und besteht aus drei Teilen. Wieder ganz modulhaft wird der Akkusativ mit der Postposition (se) markiert: Abb. 5: urdu Zur erleichterten Lesart hier die Übersetzung der ersten beiden Sätze: 1. Bap Bete se piar karta he. 2. Bete se Bap piar karta he. Nun verlassen wir die indogermanische Sprachfamilie und kommen zu einem sehr komplizierten Sprachtypus, dem Finno-Ugrischen. Diese Sprachen agglutinieren, d.h., viele Morpheme, die in anderen Sprachen durch eigene Wortklassen gebildet werden, müssen als Suffix an das betreffende Substantiv angehängt werden. Die maximale Suffixtiefe beträgt im Ungarischen sieben; einen so komplizierten Fall haben wir hier nicht vor uns, aber das Strukturprinzip erhellt auch aus einem einfacheren Beispiel: 1. 2. 3. 4. Au apa szereti a fiát. A fiát szereti az apa. A fiú szereti az apát. Az apát szereti a fiú. Im Türkischen genügt nicht einfach der Akkusativ; der Subjekt-Objekt-Bezug muss zusätzlich durch ein Possessivsuffix hergestellt werden. Eine generalisierende Aussage wie die vorgegebene (Im allgemeinen liebt der Vater den Sohn.) lässt sich also im Türkischen nicht ausdrücken, immer ist eine solche Konstruktion personalisiert; je nach Hierarchieverhältnis muss dabei schon das Subjekt das Possessiv-Suffix enthalten; so heißt „der Sohn“ als isolierte Vokabel „oğul“; wird aber eine Beziehung zu seinem Vater ausgedrückt, so heißt das Substantiv „sein Sohn“ (oğlu). Satz 3 heißt also in Interlinearversion: Sein Sohn liebt den seinen Vater. 1. 2. 3. 4. Baba oğlunu seviyor. Oğlunu babası seviyor. Oğlu babasını seviyor. Babasını oğlu seviyor. Der Artikel. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik 119 Zu den eigenen Zweigen der Altai-Sprachen gehören das Mongolische und das Koreanische. Auch das Mongolische, das in kyrillischer Sprache geschrieben wird, kennt den Artikel nicht und dekliniert die Nomina: 1. 2. 3. 4. Aab ууg Хууg ааb Хуу ааbg Ааbg уу аŭȋȍаŭ. аŭȋȍаŭ. аŭȋȍаŭ. аŭȋȍаŭ. Ein verwirrendes Bild gibt zunächst das Koreanische mit seiner phonetischen Schrift. Abb. 6: koreanisch Doch gleich erkennbar ist, dass die Perioden aus drei Wörtern bestehen. Das letzte Wort im ersten und dritten Satz ist das Verb, es wechselt seine Position, wenn das Objekt betont wird. Das wichtigste Wort steht am Ende des Satzes, im 2. Satz also das Wort „der Sohn“. Auch im Koreanischen muss der Nominativ extra markiert werden; dafür gibt es ein Set von Modulen − ebenso für den Akkusativ. Auch das Georgische, eine kaukasische Sprache mit 7 Flexionsstufen, verfügt über ein eigenes Alphabet und hat keinen Artikel. An zweiter Stelle im Satz steht das Prädkat, die Nomina werden dekliniert – aber, wie mir die georgische Studentin erklärte, sei eine Umstellung nicht möglich, weil die Spitzenstellung dem Subjekt vorbehalten sei.10 10 An dieser Stelle seien Vorbehalte gegenüber den studentischen Auskünften (und damit auch gegenüber den wiedergegebenen Darstellungen) angemerkt. Im DaF-Unterricht muss damit gerechnet werden, dass die grammatikalischen Kenntnisse der Studenten unzulänglich sind. Diese Defizite treten dann besonders deutlich zu Tage, wenn – wie in der hier vorgeschlagenen Unterrichtseinheit − alle Studenten zur Sprache kommen. – Darüber hinaus repräsentieren die Aussagen der Studenten deren jeweiliges individuelles Sprachgefühl und möglicherweise auch eine restringierte Sprachpraxis. Mit diesem Phänomen sind wir inzwischen fast vertraut: Beim Schwund des (auch syntaktischen) Formenreichtums entspräche die Linksstellung des Objekts auch im Deutschen nicht der gängigen mündlichen Sprachpraxis. 120 Isolde Mozer Abb. 7: georgisch Das Chinesische gehört zu den sino-tibetischen Sprachen und existiert in verschiedenen Dialekten. Abb. 8: mandarin Mandarin ist der alte Begriff für Hochchinesisch. Es handelt sich um eine ideographische, kalligraphische Schrift, die nach einer Schriftreform nicht mehr von oben nach unten, sondern von links nach rechts geschrieben wird. Auch hier entscheidet die Reihenfolge alles, da es keinen Artikel und keine Flexionen gibt. Die beiden Zeichen links bedeuten Vater, es folgt das Prädikat und die Zeichen für Sohn. Der Artikel. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik 121 Kalligraphie nicht als intellektuelle Disziplin, sondern als Kompensation des religiösen Bilderverbots begegnet im Arabischen, einer semitischen Sprache. Wir haben hier die Standardvarietät des Koranarabisch in der iranischen Form. Abb. 9: arabisch Satz 2 und 4 der Vorgabe sind hier mit dem Passiv übersetzt, sie können im Arabischen nicht ausgesagt werden, obwohl es den bestimmten Artikel gibt und obwohl er dekliniert wird und obwohl auch die Nomina dekliniert werden. Der bestimmte Artikel masculinum Nominativ heißt „el“, im Akkusativ „al“. Die Deklinationen sind an den unterschiedlichen diakritischen Zeichen zu erkennen: an den Häkchen oder Strichen ober- oder unterhalb der Zeichen. So heißen die beiden Sätze: 1. El abo yohibo al ibna. 3. El ibno yohibo al aba. 122 Isolde Mozer Abb. 10: vietnamesisch Das Vietnamesische kennt keinen Artikel und keine Deklinationen; auch die vietnamesische Studentin hat Satz 2 und 4 der Vorgabe ins Passiv übersetzt, um eine Kompensation für die Linksstellung des Objekts konstruieren zu können.Interessant natürlich die Sonderzeichen, die für das Passiv gebraucht werden – als hätten sich in einer Art Palimpsest verschiedene Sprachtraditionen übereinander gelegt. Auch im Malaiischen gibt es keinen Artikel und keine Deklinationen, folglich auch keine syntaktische Varianz. 1. Bapa cintai anak lelakinya. 3. Anak lelaki cintai bapanya. Unsere letzte Station führt uns auf den afrikanischen Kontinent, zu den Niger-KongoSprachen mit der Unterabteilung Bantu-Sprachen. Einer der über 220 Dialekte in Kamerun ist das Yembá.11 Unmittelbar evident wird der Modulcharakter: Die syntaktische Position des Nomens entscheidet auch hier über dessen Funktion. 1. Mpa’a con ma’a. 3. Ma’a con mpa’a. 11 Diese Dialekte werden nur im familiären oder im Freundeskreis gesprochen. Im halboffiziellen Diskurs kursiert auch eine Mischsprache aus Französisch und Englisch. Landessprache (und vor allem Schriftsprache) ist das Französische. Studenten aus Afrika sind meistens Experten in mehreren Muttersprachen. Der Artikel. Ein methodischer Vorschlag zur Grammatik 123 Die spezifischen Typologien der fremden Sprachen sind überwältigend; von einer derartigen Methode wird deshalb vom Dozenten ein hohes Maß an Flexibilität der Fragestellung und der Beobachtung verlangt. Die Fokussierung auf den Artikel vernachlässigt andere Sprachphänomene, wie etwa das der possessivischen Referenz, der Semantik des Verbs und der hierarchischen Beziehung unter den Aktanten. Die Grenzen unserer Sprache setzen hier die Grenzen des Denkens. Doch das Experiment lohnt sich; und die Hypothese von der Plastizität der Libido soll sich schließlich auch an der Unlust-Umkehrung des Dozenten beweisen: Ganz sicherlich wird dessen Geduld im Hinblick auf Fehlerkorrekturen wachsen. Denn Fehler werden weiterhin auftauchen − dann jedoch nicht mehr als Ausweis einer grundsätzlichen Unlust am Artikel. Sind die Leistungen des deutschen Artikels einmal erkannt, dann können die Feinheiten der Formenbildung ohne große Widerstände eingeübt werden. Literatur Adam, Konrad (2006): Die alten Griechen. Berlin: Rowohlt Verlag. Adorno, Theodor W. (1977): Tabus über dem Lehrerberuf. In: Rolf Tiedemann (Hrsg.), Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Band 10.2, Kulturkritik und Gesellschaft II. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ahrenholz, Bernt (2007): Verweise mit Demonstrativa im gesprochenen Deutsch. Grammatik, Zweitsprachenerwerb und Deutsch als Fremdsprache. 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München: Max Hueber Verlag. Training von Lernstrategien für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 125-140. Sebastian Chudak (Poznań) Training von Lernstrategien und -techniken für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken für den DaF-Unterricht Einleitung Der Fremdsprachenunterricht ist einerseits von bestimmten Traditionen geprägt, unterliegt aber andererseits ständigen Veränderungen, die u.a. durch die Entwicklung neuer oder die Revision und Modifizierung bereits etablierter Unterrichtsmethoden ausgelöst werden. Auch neue Lerntheorien – wie die kognitiven und konstruktivistischen – bleiben nicht ohne Einfluss auf die Unterrichtspraxis. Die Situation des Unterrichts ändert sich. Das bedeutet u.a., dass seine Ziele teilweise neu definiert werden. Zwar bleibt nach wie vor die kommunikative Kompetenz das Hauptziel des Fremdsprachenunterrichts, es wird aber auch auf andere Kompetenzen hingewiesen, z.B. auf die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen (Lernerautonomie). Die Lernkompetenz wird zu den Schlüsselqualifikationen gezählt, die es unabhängig von der aktuell zu lernenden Fremdsprache zu trainieren gilt (vgl. Europarat 2001). 1. Förderung der Lernerautonomie und Fremdsprachenlehrwerke In letzter Zeit werden auch immer häufiger Überlegungen darüber angestellt, wie Fremdsprachenlehrwerke (darunter auch Lehrwerke für den DaF-Unterricht) bei der Erreichung der oben genannten (neuen) Ziele helfen können. Es wird darüber 126 Sebastian Chudak diskutiert, wie man den Trend zur Lernerzentriertheit und Lernerautonomie in der Unterrichtspraxis und eben in den im Unterricht und außerhalb des Unterrichts verwendeten Lehrwerken als wichtigsten Lehr-/ Lernmitteln umsetzen könnte bzw. sollte. Besonders in den letzten Jahren wurden viele neue Konzeptionen für die Gestaltung von Lehrwerken entwickelt, die als wegweisend bezeichnet werden können (vgl. Gick 1989, Schneider 1989, Nodari 1995, Kieweg 1999 u.a.). Welche Kriterien ein Autonomie förderndes Lehrwerk erfüllen soll, hat man allerdings bis heute nicht endgültig festgelegt. Die Liste der zu erfüllenden Anforderungen ist lang und bestimmt immer noch offen (vgl. Chudak 2007a: 178ff.). Die Zusammenhänge zwischen dem Lehrwerk und der Entwicklung der Lernerautonomie liegen aber klar auf der Hand. Und so ist von Lehrwerken u.a. zu verlangen, dass sie den Lernern Gelegenheit dazu bieten über ihre persönlichen Lernziele, -weisen, -techniken und -strategien, -erfolgskontrollen usw. zu reflektieren, sie kritisch zu hinterfragen und zu überdenken. Das Lernen muss also im Lehrwerk unbedingt thematisiert werden. Lernstrategien und -techniken müssen sowohl implizit als auch explizit vermittelt und trainiert werden, so dass die mit dem gegebenen Lehrwerk arbeitenden Lerner dazu befähigt werden, ihr Lernen (zumindest teilweise) selbst in den Griff zu bekommen. 2. Die Rolle der Vermittlung und des Trainings von Lernstrategien und -techniken im Kontext der Förderung der Lernerautonomie Lernstrategien und -techniken stellen im Kontext der Förderung der Lernerautonomie einen äußerst wichtigen Faktor dar. Es wird behauptet, dass sie die wichtigsten „Bausteine“ (Bimmel; Rampillon 2000: 44f.) sind, die selbstgesteuertes Lernen überhaupt ermöglichen, dass sie ein „konstituierendes Element selbstregulierten Lernens“ (Artelt 2000: 16f.) sind. Man ist davon überzeugt in ihnen ein Mittel gefunden zu haben, das das Fremdsprachenlernen effektiver machen kann. Der fest in den kognitiven und konstruktivistischen Lerntheorien verankerte Begriff ‘Lernstrategie’ ist derzeit allerdings immer noch nicht ganz eindeutig definierbar und wird daher auch sehr heterogen verwendet. Eine Lernstrategie wird aber meistens als ein (Handlungs-) Plan, eine Bedingungs-Handlungs-Kombination aufgefasst (vgl. Bimmel; Rampillon 2000: 53, Müller; Wertenschlag 2002: 51). Eine Lerntechnik ist wiederum die Fähigkeit, die in der Lernstrategie enthaltene Handlung auszuführen. Sie ist somit die Voraussetzung für die praktische Umsetzung oder ein Werkzeug für die Realisierung des in der Lernstrategie enthaltenen Plans.1 Zwar bleibt der Begriff ‘Lernstrategie’ nur ungenau definiert, wenn man aber die verschiedenen Lernstrategiedefinitionen analysiert, erkennt man, was für eine wichtige Rolle Lernstrategien beim Fremdsprachenlernen spielen. Man könnte sogar die Feststellung wagen, dass derjenige Lerner, der ein reiches Repertoire an Lernstrategien und gleichzeitig auch der zu ihrer Ausführung notwendigen Lerntechniken entwickelt hat, 1 Zu einer ausführlichen Definitionsübersicht vgl. Droździał-Szelest (1997: 28ff.) sowie Chudak (2007a: 56ff.). Training von Lernstrategien für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken 127 eine viel größere Chance hat, ein erfolgreicher Lerner zu sein als ein solcher Lerner, der über keine bzw. nur wenige Lernstrategien und -techniken verfügt. Wie kann ein Lerner ohne ein gewisses strategisches Wissen mit all den Aufgaben und Anforderungen, mit denen er sich beim Fremdsprachenlernen konfrontiert sieht, zurecht kommen? Egal ob man neue Wörter oder Wendungen erlernen, grammatische Regeln erschließen oder sich einprägen, bestimmte Informationen einem Hör- oder Lesetext entnehmen möchte, eine Aussage zu einem gegeben Thema gestalten will, Ssets ist die Frage nach der Vorgehensweise im Spiel. Und ist man sich dann der möglichen zu dem gesetzten Ziel führenden Wege nicht bewusst, so kann der Lernerfolg entweder erschwert werden oder sogar auf der Strecke bleiben. Verfügt man aber über reiches Strategiewissen, so kann man mehr und schneller lernen. Patentrezepte dafür, wie man zu einem erfolgreichen Lerner wird, gibt es allerdings nicht. Bei der Vielfalt der Lernstrategien und -techniken, von denen es ja eine sehr große Anzahl geben kann, da schließlich jeder einzelne Lerner beliebig viele davon konzipieren kann, ist es viel sinnvoller, den Lernenden Beispiele und Verwendungsmöglichkeiten von Strategien und Techniken zu zeigen, als zu versuchen ihnen fertige Rezepte zu liefern. Viel wichtiger und sinnvoller sind hier die Bewusstmachung der eigenen Lernwege und das Training von Strategien und Techniken. Ein solches Vorgehen kann einerseits zur Steigerung der Effizienz des Lernens und andererseits aber auch zur Stärkung der Motivation und des Selbstvertrauens der Lerner, zum Abbau des Leistungsstresses beitragen und so beim selbständigen Weiterlernen helfen (oder es gar erst ermöglichen).2 Ebenfalls wichtig ist, dass die Vermittlung und Bewusstmachung der Lernstrategien im Fremdsprachenunterricht dabei helfen kann, ineffektiven Lernroutinen vorzubeugen, Leistungsschwächen abzubauen usw. Daher sind Angebote von Lern- und Arbeitstechniken, die zur Herausbildung autonomer Lernformen und -strategien führen können, von besonderer Bedeutung (vgl. Beirat DaF 1997: 21). Dies gilt selbstverständlich auch für die Arbeit an der Grammatik, die nicht selten für einen besonders schwierigen Lerngegenstand gehalten wird. Im Kontext der Arbeit an der Grammatik sind das vor allem die in die Gruppe der direkten Strategien gehörenden Strategien, d.h. „strategies for dealing with the new language“ (Oxford 1990: 15ff.)3, die im Unterricht thematisiert werden müssten. Es sind vor allem Gedächtnisstrategien, die beim Speichern, Finden und Abrufen von Informationen behilflich 2 3 In der Fachliteratur besteht in Bezug auf die Frage danach, ob Lernstrategien und -techniken lernbar und vor allem aber lehrbar sind, weder Klarheit noch Einigkeit. So befürchtet man, dass es sich hierbei um eine weitere Mode in der Fremdsprachendidaktik handeln könnte, rät zur Zurückhaltung und weist darauf hin, dass es „noch eines erheblichen Forschungsaufwands bedürfen wird, um unterrichtstragfähige Konzepte zu entwickeln“ und dass „[…] erst einmal festzustellen ist, ob bzw. inwieweit ‘Strategien’ überhaupt vermittelt werden müssen“ (Zimmermann 1997: 109). Es ist ja schließlich noch nicht bewiesen worden, dass eine explizite Vermittlung der Lernstrategien und -techniken zu erwarteten Ergebnissen (vor allem zur Verbesserung der Lernergebnisse) führt. Dabei ist unbestritten, dass Förderungsprogramme Effekte bringen, aber – wie Krapp (1993: 304) feststellt – „Ausmaß und Stabilität der Veränderungen lassen sehr zu wünschen übrig.“ Zu verschiedenen Klassifikationsvorschlägen von Lernstrategien vgl. Chudak (2007a: 62ff.). 128 Sebastian Chudak sind, und kognitive Strategien, die dem Lerner ermöglichen, die Sprache rezeptiv und produktiv zu verwenden. Die Entwicklung des autonomen Lernens samt der Bewusstmachung, der Vermittlung und dem Training der Lernstrategien und -techniken ist zwar eine schwierige, aber doch notwendige Aufgabe, die „nicht über einige allgemeine Trainingsprogramme, sondern nur über eine Vielzahl kleiner, mehr oder minder fachspezifischer, didaktisch gelenkter Übungen zu lösen ist“ (Artelt 2000: 16).4 Es ist dabei zu betonen, dass es keineswegs nur Hinweise im Sinne von „was man machen muss, wenn man etwas lernen möchte“ (Metzig; Schuster 2000: 5) sein sollen, sondern vielmehr „ein Angebot für den Lernenden“ (Desselmann 1988: 150), d.h. „was man machen könnte, um den Lernprozess effizienter zu gestalten und seine Ergebnisse zu verbessern“. Entsprechende Angebote müssen auf die gesamte vorgesehene Lernzeit verteilt werden, schrittweise und systematisch in jede Unterrichtsstunde, in alle Unterrichtsphasen eingebaut sowie gezielt geübt, kontinuierlich wiederholt und regelmäßig kontrolliert werden. Bei ihrer Einführung sollen die Lerner vom Lehrer – selbst wenn er erfahrener ist und einen Überblick über die Vielfalt der Lernstrategien hat – nicht belehrt werden. Vielmehr soll ihre Initiative, ihre Erfahrung miteinbezogen werden. Gefordert wird der integrative Einsatz, was bedeutet, dass Lerntechniken handelnd erworben, anstatt in Theorielektionen gelernt werden müssen (vgl. Rampillon 1993: 18, 1994: 75ff.,1996: 124ff.). So haben diejenigen Trainingsprogramme die besten Erfolgschancen, in denen die Lerner sowohl den Einsatz der Strategie üben („blind training“), als auch in Kenntnis dessen gesetzt werden, wie ihr Aufbau und ihre Wirkung ist, in welchen Bereichen sie anzuwenden ist und welche Transfermöglichkeiten der Strategie es gibt („informed training“) (vgl. Bimmel 1993: 10, Drozdział-Szelest 1998: 57). Die Förderung der Lernerautonomie und die Entwicklung individueller Lernstrategien und -techniken ist nur dann möglich, „wenn die Lerner angehalten und befähigt werden, über die (eigenen) Lernwege nachzudenken, Selbstbeobachtungen anzustellen, ihre Gedächtnisleistung zu reflektieren, über die Zweckmäßigkeit des Lernens im unterrichtlichen Erfahrungsaustausch zu reden“ (Löschmann 1993: 59) und nicht nur gelenkt bestimmte Lernhandlungen nachahmen oder bestimmte Lösungswege verbal vermittelt bekommen (vgl. Desselmann 1988: 153). 3. Lernstrategien und -techniken und die Arbeit an der Grammatik Die Stellung der Grammatik im Fremdspracheunterricht hat sich in der Vergangenheit je nach vorherrschender Unterrichtsmethode immer wieder geändert (vgl. Neuner; Hunfeld 1993). Im heute immer noch aktuellen kommunikativen Ansatz ist nicht das Beherrschen der Grammatik das Hauptziel des Unterrichts, sondern die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz des Lerners. Dies bedeutet aber nicht den völligen Verzicht auf die Arbeit an den Grammatikkenntnissen, da schließlich der Mangel an entsprechendem Wissen die Kommunikation stören kann. Um sich in einer Fremdspra4 Vgl. z.B. die Aufgabentypologie zum autonomen Lernen von Rampillon (2000). Training von Lernstrategien für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken 129 che verständigen zu können genügt selbstverständlich nicht alleine ein reicher Wortschatz. Notwendig ist auch ein bestimmtes aktives grammatisches Wissen, um richtige Sätze bilden, verstehen und miteinander verknüpfen zu können. Da die Grammatik, im Sinne der Beschreibung des sprachinneren Regelsystems, Hilfen zum Erwerb und zur Anwendung einer Sprache und Einsichten in sprachliche Gesetzmäßigkeiten gibt, ist sie im Fremdsprachenunterricht unverzichtbar. Sie kann allerdings – wie u.a. Huneke und Steinig (2002: 154ff.) bemerken – für verschiedene Lerntypen einen unterschiedlichen Stellenwert haben, z.B. wird bei den kognitiv-analytisch geprägten Lernern die Forderung nach Grammatik stärker sein als bei den imitativ-ganzheitlich geprägten. Im Übrigen kann es im lernerzentrierten und auf die Entwicklung der Lernerautonomie gerichteten Fremdsprachenunterricht die angemessene Zugriffsweise auf Grammatikarbeit nicht geben. Grammatische Regeln lassen sich auf verschiedene Art und Weise finden. Im Kontext der Förderung der Lernerautonomie scheinen der induktive Weg, also das selbständige Herausfinden der Regel durch die Lerner, bzw. die gelenkte Induktion, bei der die Induktion der Lerner vom Lehrer gesteuert wird, optimal zu sein. Rampillon (1996: 51) bezweifelt jedoch, dass selbstständige Lerner einen solchen Weg gehen, wenn sie nicht in der zielsprachlichen Umgebung leben. Sie behauptet sogar etwas provokativ, dass „selbständig lernende Schüler einen anderen Weg gehen: sie schlagen in einer Grammatik oder in einem anderen Werk nach, d.h. sie arbeiten deduktiv.“ Es ist also gar nicht ihr Ziel, die grammatische Regel selbständig herauszufinden. Sie wollen lediglich diese Regel finden (durch Nachschlagen) oder wiederholen, möglichst gut und schnell behalten bzw. festigen und anwenden. Damit das möglich ist, müssen sie aber über bestimmte Kenntnisse und Techniken verfügen, wie z.B.: • verschiedene Arten von grammatischen Nachschlagewerken5 kennen (grammatische Übersichten innerhalb der Schulbuchlektion, in das Lehrwerk integrierte Grammatiken, lehrwerkunabhängige Grammatiken sowie grammatische Übungshefte), • den Aufbau dieser Nachschlagewerke nach grammatischen Bereichen sowie die Funktion ihrer Teile (Beispielsätze, Regelformulierung, Ausnahmeregelungen) kennen, • Inhalts- und Stichwortverzeichnisse benutzen können, • verschiedene Darstellungstechniken6 (Symbole, Druckarten, Diagramme, Tabellen, „visuelle Metaphern“ etc.) zu interpretieren und anzuwenden wissen, 5 6 Zimmermann (1985: 13ff.) hält im Kontext des autonomen Lernens eine „Selbstlerngrammatik” für die beste Variante, da sie durch Einfachheit (Verwendung geläufiger Wörter, kurze Sätze bzw. Satzteile, anschauliche und konkrete Ausdrucksweise, etc.), Übersichtlichkeit und Ordnung in der Gliederung, Kürze und Prägnanz und zusätzliche Stimulanz (verständnisfördernde Merkmale, Stilmittel, die den Leser anregen und persönliche Anteilnahme hervorrufen) gekennzeichnet ist. Eine solche Selbstlerngrammatik bietet dem Lerner vor allem aber auch noch die Möglichkeit zur selbständigen Zielsetzung (produktive und rezeptive Ziele). Vgl. auch Heyd (1997: 77ff.) zu den Eigenschaften, über die eine „Selbstlerngrammatik“ verfügen sollte („Anschaulichkeit der Darstellung und Konkretheit durch Verwendung von Abbildungen, Ausführlichkeit in der Darstellung der als wichtig erachteten Elemente und damit Verständlichkeit, Behaltbarkeit, Anwendbarkeit“). Vgl. Funk; Koenig (1991: 73ff.) zu den Möglichkeiten und zur Bedeutung der Visualisierung grammatischer Strukturen sowie Blei (1996: 123f.) zu Mnemotechniken und insbesondere sog. Zeichenverfahren. 130 Sebastian Chudak • grammatische Terminologie (mindestens die elementaren grammatischen Bezeichnungen und Fachausdrücke) kennen bzw. erkennen, • grammatische Regeln lesen und ihre Darstellungen (Muster, „Eselsbrücken“, Schemata, etc.) deuten können, • sich mit sog. „Eselsbrücken“ bzw. „Merkversen“7 (sowohl akustischer als auch optischer und systematischer Art) zu helfen wissen, • verschiedene Übungsformen und Spiele8 kennen, • Mind-Maps anfertigen können9, • ein grammatisches Merkheft führen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig und lohnend, die Lerner selbständig Gesetzmäßigkeiten finden zu lassen, da letztendlich die so gefundenen Regeln schneller und besser behalten werden. Außerdem weisen Funk und Koenig (1991: 114ff.) darauf hin, dass man so einigen Problemen im Unterricht vorbeugen kann, die dadurch entstehen, dass die Erklärungen in Lehr- und Nachschlagewerken sprachlich kompliziert sind, Begriffe enthalten, die den Lernern unbekannt sind, knapp gehalten werden, demotivierend gestaltet sowie abstrakt und ohne zusätzliche Hinweise for muliert sind.10 Weiterhin behaupten sie, dass „praktisch alle Formen der Regeldarstellung für bestimmte Lernertypen Nachteile bringen und damit nicht ideal sind. Warum also nicht eine eigene Version der Lerner zulassen oder zumindest einen Prozess der Regelfindung ermöglichen, der in seiner Transparenz schon während der Entstehung ein Verstehen sicherstellt?“ (ebd.). In diesem Zusammenhang postuliert Rampillon (1996: 60) ein sog. „Sechs-SchritteProgramm“, das man im Unterricht den Lernern vorschlagen kann und das sich in Kürze so darstellen lässt: 1. Vergleichen der Beispielsätze, 2. Heraussuchen der Ähnlichkeiten, 3. Herausschreiben und Segmentierung der als ähnlich identifizierten Sätze, 4. Ordnen der einander entsprechenden Satzelemente, 5. Markieren der Schlüsselwörter, 6. Formulierung der Regel sowie ggf. der Ausnahmeregel. Funk und Koenig (1991: 124) 7 8 9 10 Z.B. Eselsbrücken zur Findung des Genus des Substantivs „Tum-chen-ma-ment-um“ oder „Heit-keitschaft-ion-ung“ (Huneke; Steinig 2002: 159); Eine ähnliche Funktion erfüllen Merksätze mit Phantasienamen für untrennbare Verbpräfixe er-, ver-, miss-, emp-, be-, zer-, ge-, wie z.B.: „Er vermisst Empezerge.“ (Sperber 1993: 24) oder Merkverse wie „mit, nach, von, zu, aus, seit, bei – bestimmen stets den Fall Nummer drei“ (Blei 1995: 58); Vgl. auch Nordkämper-Schleicher (1998: 83ff.) sowie Sperber (1993: 19ff., 1989) zu visuellen und akustischen Mnemotechniken. Interessante Beispiele hierfür liefern Funk; Koenig (1991: 94:ff.). Krekeler (1997: 77ff.) vertritt die Ansicht, dass „Mind-Maps zur Veranschaulichung von grammatischen Problemen und zur gedächtnisfreundlichen Darstellung von Zusammenhängen verwendet werden können.“ Die Lerner können aufgefordert werden, die selbständig erschlossene Regel in dieser Form festzuhalten. Mit Hilfe der Mind-Maps werden – ähnlich wie bei der Wortschatzarbeit – bestimmte Informationen deutlich zusammengefasst, akzentuiert und besser memorierbar gemacht. Vgl. auch Lewis (2000: 173f.). Butzkamm (2004: 198ff.) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass „hier [...] manche Lehrer wie Ärzte [sind], die ihre Patienten erst recht krank machen.“ Die Bestätigung seiner Hypothese sieht Butzkamm u.a. in den folgenden Aussagen von Fremdsprachenlernern: „Vieles hätte ich verstanden, wenn man es mir nicht erklärt hätte.” (S.J. Lec), „I wish he [Coleridge] could explain his explanation.” (Byron), „Grammar was explained in the mother tongue but the more she explained, the less we understood.” (Dorothea S.). Training von Lernstrategien für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken 131 formulieren es noch kompakter: „Sammeln – Ordnen – Systematisieren“ (SOS), wobei Funk (1993: 142f.) hierfür die folgende Vorgehensweise vorschlägt: 1. Beispiele: sammeln (z.B. aus Texten entnehmen, markieren, etc.) – analysieren (Analogien erkennen), ordnen (nach vorgegebenen oder selbsterfundenen Kriterien) – systematisieren (z.B. zusammenstellen in Listen), 2. Regeln: erkennen (durch Ordnen der Beispiele) – formulieren (Hypothesen in Bezug auf die mögliche Regel aufstellen) – überprüfen (die aufgestellte Hypothese z.B. mit anderen Lernern besprechen, mit der Regel in einem grammatischen Nachschlagewerk oder im Lehrwerk vergleichen und ggf. verifizieren), 3. Übungen: Ziel und Weg verstehen – durchführen – kontrollieren. Da das autonome Lernen nicht das Lernen in Einsamkeit bedeutet, muss man auch an dieser Stelle darauf hinweisen, dass genauso wichtig wie die selbständige Suche nach der Regel auch die Zusammenarbeit mit anderen Lernern bei der Erreichung dieses Ziels hilfreich und effektiv sein kann. Und so schlägt Heyd (1991: 175) ein Modell zur Einführung grammatischer Erscheinungen im lernerzentrierten Unterricht vor, das im Großen und Ganzen dem von Rampillon (vgl. oben) ähnlich ist, das aber z.B. um den Meinungsaustausch11 in der Muttersprache12 über die selbstgefundene Regel ergänzt wird. Auch bei Keller (1997: 28) findet man einen Hinweis auf die Verwendung der Muttersprache, die bei der Erschließung der Regel helfen kann (der Lerner kann nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen der Muttersprache und der Zielsprache suchen) wie auch auf die Verwendung der Partner- bzw. Gruppenarbeit (erstellen von Aufgaben für Klassenkammeraden).13 Angebracht ist an dieser Stelle auch die Reflexion darüber, wie man sich die grammatische Regel am effektivsten und gleichzeitig vielleicht auch am leichtesten aneignen kann. Nach Rampillon (1996: 61) sind dabei folgende Schritte möglich: 1. die Regel lesen und zu verstehen versuchen, 2. die Regel mit Beispielsätzen vergleichen, 3. das jeweils Wichtigste markieren, 4. die Beispielsätze abschreiben und selbständig segmentieren, 5. Markierungen vornehmen, 6. die Beispielsätze laut vorlesen und zu behalten versuchen, 7. nach weiteren Beispielen suchen (z.B. im Lehrbuch), 8. die Regel samt den Beispielen in das grammatische Merkheft eintragen. Einen anderen Vorschlag macht die Arbeitsgruppe „Deutsch Konkret“ (1993: 44f.): Die Lerner sollten Spickzettel erstellen (sog. „Spickatik“), da sie in der Regel so konzipiert werden, dass sie für die Lerner übersichtlicher sind als Grammatikdarstellungen in 11 12 13 Einen interessanten Vorschlag für die Arbeit an besonders schwierigen grammatischen Strukturen beschreibt Wilczyńska (1999: 241f.), die u.a. darauf hinweist, dass es sinnvoll ist, über den Stellenwert, den die Lerner der Grammatik zuschreiben, sowie über die Funktion der Grammatik oder mögliche Arbeitsweisen an ihr zu diskutieren. Besonders bei weniger fortgeschrittenen Lernern ist der Einsatz der Muttersprache zu befürworten, da dies die Möglichkeit schafft, „durch bewusste Sprachvergleiche rationeller zu lernen und Fehler zu vermeiden” (Funk; Koenig 1991: 54) und die Interferenzgefahr zu mindern. Bimmel; Rampillon (2000: 70) merken hier an, dass es relativ selten passiert, dass Elemente der Zielsprache und der Muttersprache identisch oder parallel sind. Ihrer Ansicht nach ist diese Strategie nur mit Vorsicht anzuwenden, bzw. sie soll verwendet werden, um Unterschiede zwischen den Sprachen deutlich zu machen. 132 Sebastian Chudak einem Lehrbuch. Die Lerner, die so eine persönliche Grammatikdarstellung anfertigen, beherrschen den Stoff nicht nur schneller, sondern analysieren ihn auch, erfassen ihre individuellen Lernschwierigkeiten, stellen den Lernstoff ökonomischer dar, sparen so Zeit bei der Wiederholung und stärken ihr Selbstbewusstsein. Auch Sperber (1993: 19ff., 1989) liefert einige Anregungen für Techniken, die die Gedächtnisleistung steigern können. Er schlägt vor, für bestimmte grammatische Phänomene gleichbleibende Symbole zu wählen und sie bei Lernproblemen in eine assoziative Verbindung mit dem zu erlernenden Stoff zu bringen (z.B. einen Gewichtsheber für starke Verben)14. Andere mögliche Techniken sind: das Anfertigen von Kontrastivzeichnungen (sie sollen z.B. den Gebrauch des Hilfsverbs ‘sein’ begründen), pantomimische Darstellung (so kann man z.B. die Handlung von sog. ‘sein’-Verben darstellen) oder der Einsatz von Sprichwörtern und Sprüchen (da Reim und Rhythmus zusätzlich eine gedächtnisunterstützende Funktion haben). So entstehen interaktive Gedächtnisbilder, die eine sehr zuverlässige Gedächtnisspur hinterlassen und Assoziationen zwischen bestimmten Wörtern und einer grammatischen Regel erleichtern.15 Selbstverständlich darf man beim Lernen grammatischer Regeln weder auf Übungen noch auf Wiederholung oder auf den kommunikativen Gebrauch verzichten, denn „auch Grammatik muss sich erst einschleifen, wenn man sich souverän in einer fremden Sprache ausdrücken will“ (Ahrenholz; Ladenburger 1993: 34).16 Zusammenfassend kann man sagen, dass folgende Lernstrategien und Lerntechniken für die Arbeit an der Grammatik den Lernern im Fremdsprachenunterricht vermittelt bzw. bewusst gemacht sowie implizit und explizit trainiert werden sollten: 14 15 16 Sperber (1993: 20ff.) nennt zahlreiche Beispiele von Mnemotechniken für das Behalten der Stammformen der unregelmäßigen Verben, Verben mit sein als Hilfsverb, Verben mit Dativ-Ergänzung. Vgl. auch Prokop (1993: 16) und Chudak (2007b). Vgl. auch Nordkämper-Schleicher (1998: 83ff.) sowie Chudak (2007b: 4ff.). Vgl. Heyd (1991: 180ff.) u.a. zu der Rolle und zu den Arten der Grammatikübungen. 133 Lerntechnik In einer Grammatik nachschlagen Arten der Nachschlagewerke kennen lernen (Übersichten, Register im Lehrwerk, lehrwerkunabhängige Grammatik, etc.) Aufbau der Nachschlagewerke kennen lernen (Verzeichnisse, Teile, Beispiele, Regeln, Symbole, Darstellungstechniken, Terminologie, etc.) Umgang mit Nachschlagewerken üben Regeln selbstständig herausfinden Beispiele sammeln, vergleichen, ordnen (z.B. „Sechs-Schritte-Programm“ oder „SOS-Methode“) Regelmäßigkeiten herausfinden, markieren Lerntechnik Herausfinden grammatischer Regeln Training von Lernstrategien für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken Regel bzw. Ausnahmeregel formulieren, überprüfen und ggf. revidieren Lerntechnik Behalten/Üben Regeln und/oder Beispiele laut lesen/ wiederholen Nach weiteren Beispielen suchen Regeln/ Paradigmen/ Beispiele auswendig lernen Eselsbrücken/ Merkverse suchen/erfinden Grammatikübungen lösen Lösungsschlüssel zu Grammatikübungen verwenden mit der Muttersprache/anderen Fremdsprachen vergleichen Mind-Maps oder andere graphische Hilfen anfertigen Grammatikspiele spielen Grammatikheft/ Merkheft führen Grammatiklernkarten anfertigen und damit üben „Grammatikspickzettel“ anlegen kontextgebunden lernen (z.B. Geschichten erfinden) mnemotechnische Lernhilfen (interaktive Gedächtnisbilder) suchen/ verwenden sich gegenseitig abfragen eigene Übungen entwerfen Tab. 1: Lernstrategien und Lerntechniken 4. Training der Lernstrategien und -techniken für die Arbeit an der Grammatik in ausgewählten Grund- und Mittelstufenlehrwerken für DaF Im Folgenden wird die Zusammenfassung der Ergebnisse der Analyse einiger Grundund Mittelstufenlehrwerke für DaF präsentiert, die von den jeweiligen Verlagen allesamt wegen systematischer Vermittlung von Lernstrategien und -techniken, der Einführung in das Thema „Lernen lernen“, der Förderung des eigenständigen und effizienten Lernens, der Heranführung der Lerner an die Übernahme der Verantwortung für das Lernen sowie zur systematischen und selbständigen Evaluierung des Gelernten und wegen Transparenz sowie einer übersichtlichen und klaren Struktur angepriesen werden17: „Stufen International“ (Klett 1995), „Delfin“ (Hueber 2001), „Berliner Platz“ (Langenscheidt 17 Vgl. entsprechende Verlagsprospekte. 134 Sebastian Chudak 2002), „Sowieso“ (Langenscheidt 1994), „Geni@l“ (Langenscheidt 2002), „Optimal“ (Langenscheidt 2004), „em“ (Hueber 1997), „Unterwegs“ (Langenscheidt 1998). Für die Untersuchung galt die Hypothese: Die analysierten Lehrwerke leisten einen Beitrag zur Förderung des autonomen Lernens im Bereich der Grammatik. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei dem Training von entsprechenden Lernstrategien und -techniken (s. Übersicht in 3.). Es sollte einerseits eine quantitative (Anzahl entsprechender Inhalte und Häufigkeit ihres Vorkommens) und andererseits eine qualitative Analyse (Art und Weise der Gestaltung entsprechender Angebote) sein. Die folgenden Fragen sollten dabei beantwortet werden: Wird die Arbeit an der Grammatik in den gewählten Lehrwerken thematisiert? Werden die Lerner an die selbständige Arbeit an der Grammatik herangeführt, indem ihnen Lernstrategien und -techniken implizit und explizit vermittelt werden? Sind die entsprechenden Angebote adressatengerecht, d.h. an Möglichkeiten und Bedürfnisse erwachsener Lerner angepasst? Im Anschluss an die Analyse der Lehrwerke sollte auch noch überlegt werden, ob und wie die ggf. aufgedeckten Defizite behoben werden könnten.18 Die durchgeführte Analyse der ausgewählten Lehrwerke hat die Annahme bestätigt, dass diese Lehrwerke zur Förderung der Lernerautonomie im Bereich der Grammatik beitragen. Die Ergebnisse der Untersuchung sind dabei ein Beweis dafür, dass dies nicht immer optimal geschieht. Zwar wird in den untersuchten Lehrwerken das Lernen der Grammatik thematisiert, zwar spricht man hier explizit über entsprechende Lernstrategien und -techniken, dennoch aber muss man feststellen, dass entsprechende Angebote entweder nicht systematisch bzw. ausreichend häufig vorzufinden sind oder sie weisen Mängel auf, die allerdings mit relativ einfachen Mitteln behoben werden können. Viele Angebote sind obendrein nicht adressatengerecht. Dennoch sind die untersuchten Lehrwerke (hier vor allem „Stufen International“, „Berliner Platz“, „Sowieso“, „em“, „Geni@l“, „Optimal“ und „Unterwegs“) im Großen und Ganzen als eine recht gute Hilfe bei der Förderung der Autonomie im Bereich des Grammatiklernens zu bewerten. 4.1 Explizites Training von Lernstrategien und -techniken für die Arbeit an der Grammatik Das Lernen der Grammatik wird in sieben der acht Lehrwerke thematisiert. Dies erfolgt sowohl in speziellen, dem Thema „Lernen“ gewidmeten, Zwischenkapiteln, in Form von im ganzen Lehrwerk verstreuten Lerntipps, in Lektionen zum Thema „Ein Leben lang lernen“ u.a.. Eine Ausnahme stellt lediglich das Lehrwerk „Delfin“ dar, da man hier keinen einzigen expliziten Hinweis auf entsprechende Strategien bzw. Techniken 18 Es ist anzumerken, dass eine auf diese Art und Weise durchgeführte Untersuchung und Beurteilung von Lehrwerken – selbst wenn noch so detailliert und sorgfältig erarbeitet – weitgehend subjektiv bleibt. Dem Autor ist durchaus bewusst, dass die Methoden-Triangulation, d.h. die Ergänzung der anhand von Kriterienlisten durchgeführten Analyse und Beurteilung um beispielsweise eine Befragung von Lernenden und Lehrenden, zur Reliabilität der Ergebnisse beitragen würde. Auf eine derartige Vorgehensweise wurde hier jedoch bewusst verzichtet, da die Darstellung und Auswertung der Ergebnisse zusätzlicher Untersuchungen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Training von Lernstrategien für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken 135 findet. Zwischen den Lehrwerken „Stufen International“, „Berliner Platz“, „Sowieso“, „Geni@l“, „Optimal“, „em“, und „Unterwegs“ gibt es aber deutliche Unterschiede in der Intensität und der Art und Weise der Behandlung dieses Themas. Die verschiedenen Arten sowie der Aufbau von (lehrwerkunabhängigen) grammatischen Nachschlagewerken werden nur in „Sowieso“ (s. Arbeitsbuch 1: 128f.; Arbeitsbuch 2: 120f.; Arbeitsbuch 3: 122f.), „Geni@l“ (Lehrbuch A1: 97), „em“ (Brückenkurs-Arbeitsbuch: 29; Hauptkurs-Lehrbuch: 62f.) und „Unterwegs“ (Kursbuch: 182) besprochen. Der Umgang mit ihnen wird allerdings nur in „Sowieso“, „em“ und „Unterwegs“ trainiert. Meistens wird aber nicht einmal auf die Funktionen und Einsatzmöglichkeiten der in den Lehrwerken enthaltenen Grammatikübersichten hingewiesen. Die Erläuterung der grammatischen Terminologie ist – sofern überhaupt vorhanden – eher knapp gehalten (Ausnahme: „Sowieso“). Das selbständige Herausfinden grammatischer Regelmäßigkeiten wird nur in „Sowieso“ (Lehrbuch 1: 16), „Geni@l“ (Lehrbuch A1, S. 38) und „em“ (Brückenkurs-Arbeitsbuch: 53; Hauptkurs-Lehrbuch, S. 63) für die Lerner thematisiert. Nur in „Sowieso“ und „Geni@l“ ist dabei die Rede von der „SOS-Methode“. Techniken, die beim Behalten und Üben der Grammatik ihre Anwendung finden können (s. Übersicht in 3.), findet man wiederum sowohl in „Stufen International“ (Lehr- und Arbeitsbuch 2, S. 153) als auch in „Berliner Platz“ (Lehr- und Arbeitsbuch 1, S.110), „Sowieso“ (Lehrbuch 1: 19; Lehrbuch 2: 40; Arbeitsbuch 1: 10-17, 132; Arbeitsbuch 2: 4, 6, 8, 119; Arbeitsbuch 3: 8ff.), „Geni@l“ (Lehrbuch A1: 20, 22, 35, 51; Lehrbuch A2: 51, 70f.), „Optimal“ (Lehrbuch A1: 81), „em“ (Brückenkurs-Arbeitsbuch: 52; Hauptkurs-Lehrbuch: 63) und „Unterwegs“ (Kursbuch: 36). Die entsprechenden Lernstrategien und -techniken werden (selbst wenn sie vorhanden sind) nicht wirklich ausführlich behandelt. Oft ist die Beschreibung sehr lapidar, z.B.: „Mit Lernkarten können Sie Grammatik üben“ (Berliner Platz, Lehr- und Arbeitsbuch 1, S. 110) oder „Grammatische Strukturen oder Regeln werden normalerweise mit grammatischen Begriffen formuliert. Deshalb ist es wichtig, die Bedeutung dieser Begriffe zu kennen“ (em Brückenkurs-Arbeitsbuch: 29). Die Qualität vieler sog. Lerntipps lässt leider zu wünschen übrig. Was nützt schließlich dem Lerner der Hinweis, dass er etwas lernen soll, wenn er nicht weiß, wie er dies nun anstellen kann, wie z.B. „Nomen immer mit Artikel lernen“ (Berliner Platz, Lehr- und Arbeitsbuch 1: 35), „Die unregelmäßigen Verben immer mit Infinitiv und Partizip II lernen“ (Berliner Platz, Lehr- und Arbeitsbuch 1: 121) usw. Ihre Form ist obendrein nicht selten so, dass sie eher als implizite Strategie-/Technik-Verwendung und nicht als explizite Hinweise auf Lernstrategien/-techniken gedeutet werden müssen. Es mangelt häufig an Beispielen. So z.B. lesen die Lerner in „Unterwegs“ (Kursbuch: 36): „Gerade die Adjektiv-Deklination gehört zu den Dingen im Deutschen, die man immer wieder vergisst. Versuchen Sie es doch mal mit folgender Methode: Lernen Sie Beispielsätze auswendig! [...] Sei es eine Liedzeile, ein Zitat, ein Spruch, ein Sprichwort oder einfach ein Satz, der Ihnen gefallen hat!“ Beispiele von Merkversen u.Ä. findet man hier aber nicht. Lediglich einige wenige 136 Sebastian Chudak Beispiele von „Sprüchen“, die beim Lernen behilflich sein sollen, z.B.: „Es gibt auf der Welt mehr Dumme als Kluge.“; „Nicht alle Dummen sind auch hässlich.“(sic!). Hinweise auf die Möglichkeiten der Verwendung mnemotechnischer Lernhilfen sind in den analysierten Lehrwerken äußerst rar. Einen entsprechenden Tipp für das Grammatiklernen findet man in „Stufen International“ (hier sind das „interaktive Gedächtnisbilder“: der Löwe – das Feuer – die Königin), „Sowieso“ (hier: der Elefant – das Buch – die Tänzerin), „Berliner Platz“ (hier: „Artikel-Bilder“), „Optimal“ (hier: farbige Markierungen), „Geni@l“ (hier: der Elefant – das Auto – die Blume). Merkverse/ Eselsbrücken werden explizit nur in „em“ erwähnt (Merkhilfe für die Reihenfolge der freien Angaben im Hauptsatz: „tekamolo = temporal, kausal, modal, lokal oder Tanzen kann man lernen.“). Dabei wären gerade diese Lernstrategien und -techniken für die Adressaten dieser Lehrwerke, d.h. für erwachsene Lerner von größter Relevanz. Schließlich deuten Untersuchungen und Analysen des Lernstrategiegebrauchs bei erwachsenen Lernern darauf hin, dass das strategische Wissen dieser Lernenden zuweilen recht verkümmert ist, was u.a. auf die weit zurück liegende Schulzeit und bestimmte Lerntraditionen zurückgeführt werden kann.19 Es ist also zu fordern, dass Mnemotechniken (z.B. interaktive Gedächtnisbilder, Eselsbrücken, Merkverse) oder die Auswahl und der Umgang mit Grammatiknachschlagewerken sowie induktives Herausfinden der Regeln und Techniken für ihr Behalten in allen Fremdsprachenlehrwerken zur Sprache gebracht werden. 4.2 Implizites Training von Lernstrategien für die Arbeit an der Grammatik Ähnlich wie mit der expliziten Vermittlung sieht es in den untersuchten Lehrwerken mit dem impliziten Training entsprechender Strategien und Techniken aus, die mit Hilfe von Übungen und/oder Aufgaben trainiert werden. Bei der Arbeit an der Grammatik erhalten die Lerner neben Lernhilfen (meistens sind das Grammatikregister- und/oder übersichten), diversen Übungen und/oder Aufgaben (dabei sind Differenzierungsangebote in der Regel nicht vorhanden), in denen sie beispielsweise im selbständigen induktiven Herausfinden grammatischer Regelmäßigkeiten trainiert werden (besonders positiv fällt dabei das Lehrwerk „Optimal“ auf, in dem der Prozess der Regelfindung besonders transparent ist), auch recht viele mnemotechnische Hilfen, z.B. Zeichnungen und Diagramme, prägnante Merksprüche, Grammatiklieder usw. Das in diesem Zusammenhang beste Lehrwerk ist „Stufen International“. In keinem anderen der untersuchten Lehrwerke ist man so kreativ gewesen und hat sich so viele Hilfen (darunter z.B. auch für den auditiven und haptischen Lerntyp) überlegt, wie das eben hier der Fall ist, z.B.: „Tempomonster“ – Lernhilfe für die Zeitangaben (Lehr- und Arbeitsbuch 1: 101), „Te(e)kam(e)l“ – Lernhilfe für die Grundposition der Angaben im Satz (Lehr- und Arbeitsbuch 2: 18), „Scherengrafik“ – Lernhilfe zur Veranschaulichung der Stellung der Teile der trennbar zusammengesetzten Verben (Lehr- und Arbeitsbuch 1: 103), Akkusativlied (Lehr- und Arbeitsbuch 1: 137). 19 Vgl. die Ergebnisse der Untersuchung des Strategiegebrauchs von erwachsenen Fremdsprachenlernern bei Chudak (2007a: 128ff.) und Droździał-Szelest (1998). Training von Lernstrategien für die Arbeit an der Grammatik in Lehrwerken 137 Die vergleichsweise schlechtesten Lehrwerke sind hier „Delfin“, „Optimal“, „em“ und „Unterwegs“. Mnemotechnische u.a. Hilfen für das Behalten des Grammatikstoffes findet man hier nicht. Lediglich tabellarische Übersichten und die Verwendung des Fettdrucks zur Markierung des Regelhaften können hier als Lernhilfe gewertet werden. Auch in „Berliner Platz“, „Sowieso“, „Geni@l“ ist das Angebot sehr beschränkt. Man findet hier meistens Lernhilfen für Präpositionen mit Dativ: „Von AUSBEIMIT NACH VONSEITZU fährst immer mit dem Dativ du.“/ „Von AUSBEIMIT NACH VONSEITZU fährst immer mit dem Dativ du.“ 5. Rekapitulation und Ausblick Zusammenfassend kann man sagen, dass es vor allem den Autoren von „Stufen International“, „Berliner Platz“, „Sowieso“, „Geni@l“ , „em“ und „Unterwegs“ gelungen ist, das Gleichgewicht zwischen der im- und expliziten Ver mittlung der Lernstrategien und -techniken für die Arbeit an der Grammatik zu finden. Keines der untersuchten Lehrwerke ist nämlich zu einem Ratgeber ausgeartet. Sie alle haben den Charakter eines Lehrwerks behalten und die entsprechenden Inhalte passen sich organisch in die Konzeption der Lehrwerke ein. Nur zwei Probleme machen sich im Kontext der (vor allem expliziten) Vermittlung bzw. Bewusstmachung der Lernstrategien und -techniken bemerkbar: 1. der Zeitpunkt und die Reihenfolge des Auftretens entsprechender Inhalte im Laufe des Kurses (insbesondere bei den Grundstufenlehrwerken, in denen z.B. der explizite Hinweis auf die Techniken, die das Behalten des Grammatikstoffes erleichtern können, erst sehr spät kommt); 2. die fehlenden oder unzureichenden Erläuterungen (besonders bei Lernstrategien und -techniken, die eher unkonventionell sind, wie z.B. interaktive Gedächtnisbilder, Eselsbrücken, Grammatiklieder). Auch die Tatsache, dass die Lerner bereits über einige Lernstrategien und -techniken verfügen (z.B. Grammatiklernkarten) und sich somit deren Vermittlung (besonders in der Arbeit mit erwachsenen und lernerfahrenen den Mittelstufenlernern) evtl. erübrigt, bleibt offenbar unberücksichtigt. Es bedarf vielleicht eher nur einer Art Erinnerung an sie oder der Reflexion über ihre jeweiligen Vor- und Nachteile usw. Eine Lösung dieser beiden Probleme wäre vielleicht die Verlagerung der entsprechenden Angebote in ein „Lernerhandbuch“, das einerseits selbstverständlich mit dem jeweiligen Lehrwerk eng verbunden wäre (z.B. durch Beispiele, Verweise auf Übungen und/oder Aufgaben u.a.), andererseits aber auch lehrwerkunabhängig bzw. unabhängig von der Progression im Kurs einsetzbar wäre. So könnten die Lerner auf die sie interessierenden Informationen dann zurückgreifen, wenn sie das Bedürfnis danach verspüren würden oder wenn die aktuelle Lernsituation dies verlangen würde. Nah an diesem Vorschlag ist der Abschnitt „Lernen“ in „Sowieso“ und der „Ratgeber Lernen“ in „Unterwegs“. Sie erfüllen fast genau so eine Funktion. Die Zwischenkapitel „Eine Fremdsprache lernen“ in „Stufen International“, „Raststätte“ in „Berliner Platz“ oder die Rubrik „Lerntechnik“ in „em“ erfüllen zwar ähnliche Funktionen; dadurch 138 Sebastian Chudak aber, dass sie auf bestimmte Stellen innerhalb der Lehr- und/oder Arbeitsbücher verteilt sind, erwecken sie den Eindruck, dass man sie nicht beliebig umstellen kann und eher der Reihe nach bearbeiten sollte. Außerdem macht die steigende Komplexität der metasprachlichen Erläuterungen in den beiden Grundstufenlehrwerken eine derartige Umstellung unmöglich. In diesem Kontext ist auch auf die Rolle der Lehrperson hinzuweisen, die bei der Arbeit an der Grammatik immer wieder helfend eingreifen muss. Besonders bei der Arbeit mit Grundstufenlernern ist ihre Hilfe unverzichtbar. Zum Glück hat man in allen untersuchten Lehrwerken für ausreichend Hilfen und Didaktisierungsvorschläge für die Lehrkräfte gesorgt. Manchmal ist die auf der Lehrperson lastende Verantwortung auch enorm. Dies ist vor allem im Falle derjenigen Lehrwerke deutlich zu sehen, die (wie „Delfin“) weder explizite Hinweise auf Lernstrategien und -techniken noch implizite Anregungen für die Lerner in ausreichendem Maße enthalten. Abschließend lässt sich sagen, dass die Mehrheit der untersuchten Lehrwerke die Anforderungen, die an Lernerautonomie fördernde Lehrwerke im Bereich der Grammatikarbeit gestellt werden, erfüllt. Eine Ausnahme stellt lediglich „Delfin“ dar. In den insgesamt positiv zu bewertenden Lehrwerken dagegen lassen sich wirklich schwerwiegende Fehler nicht feststellen. Geringfügige Mängel oder Gewichtsverschiebungen können hier ohne weiteres – falls nötig – durch die Lehrperson ausgeglichen oder in künftigen Ausgaben der Lehrwerke beseitigt werden. Literatur Ahrenholz, Bernd; Ladenburger, Ursula (1993): Brief an unsere Studenten. Nützliche Tipps zum Thema. In: Fremdsprache Deutsch 8, 29-34. 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(Hrsg.), Grammatik: lehren – lernen – selbst lernen: zur Optimierung grammatikalischer Texte im Fremdsprachenunterricht. München/ Ismaning: Max Hueber Verlag, 10-64. Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 141-158. Mi-Young Lee (Hamburg) Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln – Neue didaktische Perspektiven im DaF-Unterricht Einleitung Ein besonders schwieriges Kapitel für jeden DaF-Lerner sind die Wortstellungsregeln. „Morgen ich gehe ins Kino“ oder „Ich habe vergessen, dass ich gehe morgen ins Kino.“ Solche Fehler treten häufig auf. Doch nicht nur den Lernern bereiten die Wortstellungsregeln Probleme. Auch die Lehrenden müssen sich diesem Thema stellen und zeigen erfahrungsgemäß oft eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der hartnäckigen Wortstellungsfehler ihrer Schüler. So wird im Unterricht wohl vielfach einfach darauf vertraut, dass sich die Fehlerquote im Laufe der Zeit schon reduzieren wird. In der vorliegenden Studie, die im Rahmen meiner Dissertation durchgeführt wurde, wird deshalb zunächst der Frage nachgegangen, was den Erwerb bzw. die Anwendung1 bestimmter Wortstellungsregeln, insbesondere der Nebensatzwortstellung, für den DaF-Lerner so schwierig macht. Hierbei wurde versucht, eine alternative Erklärungshypothese zu so genannten Erwerbssequenzen der deutschen Wortstellungsregeln zu formulieren. Auf dieser Grundlage und unter Berücksichtigung von Erkenntnissen aus der 1 Wenn Spracherwerb anhand von Sprachproduktion festgestellt wird, müssen dabei die beiden Aspekte „Kompetenz“ und „Kontrolle“ (Sharwood Smith 1986) bzw. „Wissen“ und „Prozeduren“ (Edmondson 2003) berücksichtigt werden. Unter der in der vorliegenden Studie oft gebrauchten Wortkombination Erwerb bzw. Anwendung ist der Erwerb im Sinne neu gewonnenen Wissens (z.B. Regelwissen) und Anwendung im Sinne der Verfügbarkeit dieses Wissens zu verstehen. 142 Mi-Young Lee Pausologieforschung wurde ein didaktisches Konzept zur Vermittlung der deutschen Nebensätze entwickelt. Die Kernidee hierbei ist die didaktische Verknüpfung von Syntax und Prosodie. In einem weiteren Schritt wurde versucht, die nach diesem Konzept entwickelten Lernmaterialien in der Praxis einzusetzen und deren Effektivität in einer quasie-xperimentellen Forschung zu überprüfen und Optimierungsmöglichkeiten der Vermittlung zu ermitteln. 1. Erwerbssequenzen der deutschen Wortstellungsregeln Der Erwerb der deutschen Wortstellungsregeln bei L2-Lernern2 wurde seit den 80er Jahren intensiv erforscht. Dabei zeigte sich, dass die Wortstellungsregeln offenbar in einer ganz bestimmten Reihenfolge erworben werden, und zwar unabhängig von verschiedenen Parametern, nämlich a) L1 des Lerners, b) Alter des Lerners (sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen beim L2-Erwerb) und c) Erwerbskontext (sowohl im gesteuerten als auch nicht-gesteuerten Erwerbskontext).3 Diese Erwerbsreihenfolge stellt sich wie folgt dar: SVO (Subjekt-Verb-Objekt) Ich gehe morgen ins Kino. Adverb-Vorn4 Stufe II: * Morgen ich gehe ins Kino. Klammer (Trennung von finiten und infiniten Teilen des Prädikats) Stufe III: Ich bin gestern ins Kino gegangen. Inversion (Verb-Subjekt) Stufe IV: Morgen gehe ich ins Kino. V-Ende (Endstellung des finiten Verbs in Nebensätzen) Stufe V: ...., weil ich morgen ins Kino gehe. Tab. 1: Erwerbsreihenfolge 4 Stufe I: Clahsen; Meisel; Pienemann (1983: 38) sehen diese Erwerbssequenzen als invariante, d.h. allgemeingültige Dimension des Erwerbs, die bei allen Lernern festzustellen ist. Ferner nimmt Pienemann in seiner Teachability-Theorie (Pienemann 1984) und Processability-Theorie (Pienemann 1998) sogar an, dass der Erwerb der Wortstellungsregeln implikationell erfolgt, d.h. eine Struktur (z.B. Inversion) erst erworben werden kann, wenn der Lerner die auf der Stufenfolge der Erwerbssequenzen unmittelbar vorausgehende Struktur (in diesem Fall also: Klammer) bereits erworben hat. Und diese Reihenfolge könne auch durch didaktische Steuerung, z.B. eine bestimmte Reihenfolge der Einführung oder die besondere Gewichtung der Regeln, nicht verändert werden (Pienemann 1987 und Ellis 1989). Anders als die Studien von Pienemann und Ellis 2 3 4 In dieser Studie werden folgende Abkürzungen benutzt: L1: Muttersprache, L2: Nicht-Muttersprache (Fremdsprache oder Zweitsprache). Vgl. hierzu auch (Meerholz-Härle; Tschirner 2001: 156-157). Die Voranstellung adverbialer Ausdrücke bei Beibehaltung der Subjekt-Verb-Struktur ist eine Zwischenstufe in der Entwicklung der Lernersprache. Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln 143 es darstellen, sollte didaktische Steuerung meiner Ansicht nach aber mehr sein als die bloße Aufstellung einer Vermittlungsreihenfolge oder Gewichtung der Regeln. Um angemessene und vor allem didaktisch taugliche Maßnahmen zu entwickeln, müssen jedoch zunächst einmal Ursachen für diese bestimmte Erwerbsreihenfolge geklärt werden, d.h. die Frage, was den Erwerb bzw. die Anwendung bestimmter Regeln (insbesondere V-Ende) so schwierig macht. Denn trotz vielfacher Bemühungen (Clahsen; Meisel; Pienemann 1983, Clahsen 1984 und Pienemann 1998) bleiben die Gründe für die besondere Schwierigkeit des Erwerbs der Nebensatzwortstellung in den bisherigen Untersuchungen weitgehend unklar. Besonders fragwürdig ist in diesen Studien auch die Tatsache, dass die Struktur SVO als sogenannte kanonische Wortstellung, also als Ausgangsstruktur angesehen wird, die keine Erwerbsschwierigkeiten bereitet. Die Gründe dafür wurden aber leider nicht weiter hintergefragt. Es wird einfach davon ausgegangen, das SVO die konzeptuelle Tiefenstruktur (Agens-Aktion-Patiens) an der linguistischen Oberfläche direkt abbildet. Begründet wird diese Annahme mit den Ergebnissen einiger Studien zum Verstehensprozess bei englischsprachigen Muttersprachlern (Fodor; Bever; Garrett 1974 und Osgood; Bock 1977). Meiner Ansicht nach ist es äußerst problematisch, den offenbar zugrunde liegenden Verstehensprozess, der bei englischsprachigen Muttersprachlern selbstverständlich und automatisiert abläuft, ohne weiteres auf die Produktion beim L2-Erwerb zu übertragen. Denn die Verarbeitungsprozesse bei den Lernern, deren L1 eine andere Grundwortstellung erlaubt, wie z.B. Japanisch, Koreanisch, Türkisch (SOV) oder Arabisch (VSO), können ganz anders automatisiert sein. Unterschiede in der Verarbeitung sind umso wahrscheinlicher, als hier vom Anfangsstadium des L2-Erwerbs die Rede ist. All diese Punkte machen es m.E. notwendig, sich der gesamten Problematik um den Wortstellungserwerb aus einer völlig anderen Perspektive zu nähern, welche sowohl die Gründe für unproblematischen Regelerwerb (im Falle der Regel SVO) als auch für Erwerbsschwierigkeiten (im Falle der Regel V-Ende) bestimmter Wortstellungsregeln plausibel erklären kann. 2. Erklärungshypothese zu den Erwerbssequenzen Um zunächst die Gründe für die Erwerbsschwierigkeiten der Nebensätze zu finden, können wir ein kleines Gedankenspiel unternehmen: Wenn diese Wortstellung für alle Lerner unabhängig von anderen Faktoren (L1, Alter, Lernkontext) die schwierigste Regel ist, kann dies nur an der Sprache an sich liegen. Dann können wir uns fragen, was denn das Besondere an der Nebensatzwortstellung ist. Die Antwort lautet: Das Verb steht am Ende des Satzes. Ist es also diese Endstellung des Verbs, die Schwierigkeiten bereitet? Tatsächlich scheint mir die Endstellung des Verbs an sich kein großes Problem zu sein, denn die Wortstellung Klammer, bei der das Verb (in diesem Fall das Vollverb) ebenfalls am Satzende steht, wird vom Lerner recht früh erworben. Außerdem produzieren Lerner im Alltagsgespräch Äußerungen wie „Heute ins Kino gehen!“ anstatt zu sagen „Ich werde heute ins Kino gehen.“ Hier steht das Verb auch am Ende. Solche Reduzierungen werden aber interessanterweise von den weniger fortgeschrittenen Lernern bevorzugt. 144 Mi-Young Lee Darüber hinaus zeigt sich, dass z.B. englische Muttersprachler mit SVO-Hintergrund keine Probleme mit der Wortstellung haben, wenn sie Japanisch oder Koreanisch lernen, wo das Verb grundsätzlich am Ende des Satzes steht (vgl. Huter 1997 und Kawaguchi 2002). Kann man also die deutsche Nebensatzwortstellung und die Wortstellung im Japanischen oder Koreanischen einfach als SOV-Wortstellung gleichsetzen, wie dies in der Syntaxanalyse oft geschieht? Übersehen werden hierbei oft die morphologischen Besonderheiten des Deutschen als flektierende Sprache. Im Deutschen steht das Verb im Nebensatz nicht nur am Ende, sondern es muss auch noch konjugiert werden. Dies ist im Japanischen oder Koreanischen nicht der Fall. Dies bedeutet, dass im Deutschen aufgrund der SV-Kongruenz eine starke morphosyntaktische Verbindung zwischen dem Subjekt und Verb entsteht und zwar in der Form S-V, weil die Verarbeitung hierbei immer vom Subjekt ausgeht, das die für die Auswahl der Verbflexionsmorpheme ausschlaggebenden Merkmale, d.h. Numerus und Person, enthält. Dagegen hängen im Japanischen und Koreanischen das Subjekt und das Verb nur semantisch miteinander zusammen. Somit ist anzunehmen, dass im Deutschen Subjekt und Verb morphologisch eine Einheit bilden. Und dadurch ist die SVO-Wortstellung dann die am einfachsten zu verarbeitende Wortstellung, weil hier das Subjekt, das für die Verbindung entscheidend ist, direkt vor dem Verb steht. In der Tat wird der Lerner im DaF-Unterricht für dieses Kongruenzphänomen in einer sehr frühen Phase des Erwerbs sensibilisiert, denn oftmals ist es ja sogar der erste Lerngegenstand z.B. im Zusammenhang mit Selbstvorstellung: „Ich heiße/bin Sandra.“, „Du heißt/bist Peter.“, „Er heißt/ist Andre.“ usw. Das SV-Kongruenzphänomen wird auch vom Lerner wichtig genommen, auch wenn er hier anfangs oft Fehler macht. Wie ich auch aus meiner eigenen Erfahrung als DaF-Lernerin weiß, ist es Lernern sehr peinlich, im Bereich der SV-Kongruenz Fehler zu machen. So wird sehr früh ein Bewusstsein hierfür entwickelt und die vom Subjekt ausgehende Verarbeitung (nämlich die Form SVO) beim Satzbilden begünstigt und frühzeitig automatisiert. Aber die Anwendung der deutschen Wortstellungsregeln, vor allem Inversion und V-Ende, führt oft zu ungünstigen Konstellationen für die Verarbeitung. Denn hier steht das Verb nicht direkt nach dem Subjekt, sondern im Fall von Inversion in verdrehter Position oder im Fall V-Ende weit entfernt von dem Subjekt ganz am Satzende. Man kann den Verarbeitungsprozess bei der Produktion eines Nebensatzes beim Lerner damit vergleichen, dass man das linke Ende eines Gummibandes mit einer Hand festhält und das rechte Ende mit der anderen Hand nach rechts zieht. Im Falle der Inversion muss der Lerner dann das Verb verdrehen. In solchen Fällen braucht man Kraft, weil beide Enden des Gummibandes verbunden sind. (Hier entsteht ein morphosyntaktisches Spannungsfeld.) Und diese Kraft bedeutet dann die kognitive Anstrengung, die vom Lerner bei der Bildung eines Inversionssatzes oder eines Nebensatzes benötigt wird. Zu vermuten ist hierbei, dass die Spannung und der kognitive Aufwand um so größer werden, je weiter das Verb vom Subjekt entfernt wird; der Lerner muss nicht nur das Verb sondern auch das Subjekt im Falle von V-Ende bis zum Satzende im Gedächtnis behalten, um für SV-Kongruenz zu sorgen. Und dies ist meiner Ansicht nach der Grund, warum die Regel V-Ende so schwer erlernbar und SVO einfacher ist. Dies bedeutet dann, dass sich Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln 145 bestimmte Wortstellungsregeln, bei denen das Verb nicht direkt nach dem Subjekt steht, und das SV-Kongruenzphänomen in der Produktion gegenseitig behindern.5 Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist, ist, dass das Verb immer dazu tendiert, in die alte Position zurückzufallen, wenn das Verb ans Ende des Satzes gezogen wird, und dadurch ein Spannungsfeld zwischen S und V entsteht. So produziert der Lerner bei der Bildung eines Nebensatzes häufig SVO-Wortstellung, auch wenn er die Regel (Verb ans Ende) sehr wohl kennt. Diese Spannung kann als morphosyntaktische Spannung bezeichnet werden. Aber diese Spannung verschwindet, wenn das Subjekt weggelassen und das Verb in der Infinitiv-Form ans Ende des Satzes gestellt wird. Dies bedeutet für den Lerner dann kognitive Erleichterung und so ist der häufige Einsatz von Strukturen wie „Heute ins Kino gehen“ anstatt „Ich gehe heute ins Kino“ bei weniger fortgeschrittenen Lernern zu erklären.6 Die bislang ausgeführte Diskussion über morphosyntaktische Verbindung zwischen Subjekt und Verb und Entstehung eines morphosyntaktischen Spannungsfeldes bei der Anwendung der verschiedenen Wortstellungsregeln (insbesondere Inversion und V-Ende) kann wie folgt graphisch dargestellt werden: Ic h ge he M o rg e n … weil i ns K i no i ns K ino ge he ic h ge he i ns ic h g e he i ns K i no K i no g e he g e he n : d ie vo m S ub je k t a us g e h e nd e V e r a r b e it u ng : d ie T e nd e n z d e s V e r b s z u m Z ur ü c k fa lle n in d ie a lte P o s itio n a ufg r u n d d e s S p a n n u ng s fe ld e s Abb. 1: morphosyntaktische Verbindung zwischen Subjekt und Verb und Entstehung eines morphosyntaktischen Spannungsfeldes bei der Anwendung verschiedener Wortstellungsregeln 5 6 In der Spracherwerbsforschung, die vor allem auf der Universalgrammatiktheorie und der Parametertheorie basiert, und auch bei Pienemann (1998) wird der Erwerb der V2-Stellung mit dem Erwerb der Finitheit des Verbs in Verbindung gebracht, aber in Bezug auf den L2-Erwerb ist es sehr umstritten mit welcher Wortstellung der Erwerb des SV-Kongruenzphänomens zusammenhängt. (vgl. Jansen 2000: 28-29 und Meerholz-Härlle; Tschirner 2001: 169-172). Interessanterweise habe ich in einer früheren Studie im Rahmen meiner Magisterarbeit beobachtet, dass die Fehlerquote im Zusammenhang mit dem SV-Kongruenzphänomen bei der erfolgreichen Anwendung der Regel V-Ende bei DaF-Lernern deutlich zugenommen hat. Außerdem finden sich auch bei den deutschen Muttersprachlern gelegentlich SV-Kongruenzfehler in Nebensätzen. Es scheint mir, dass dieser morphosyntaktische Konflikt eher als ein allgemeines kognitives Problem zu verstehen ist. Dies erklärt auch, warum die Endstellung des Verbs im Japanischen und Koreanischen den Lernern kein Problem bereitet. 146 Mi-Young Lee Vor diesem Hintergrund erschließen sich die bisher ungeklärten Ursachen für die Erwerbs- bzw. Beherrschungsreihenfolge der Regeln SVO < Klammer7 < Inversion < V-Ende. Dies bedeutet nicht, wie Pienemann (1987: 5 und 1998: 87) annimmt, dass alle Regeln im implikationellen Verhältnis zueinander stehen (der Erwerb der einen Regel ist die notwendige Voraussetzung für den Erwerb der nachfolgenden Regel), sondern der ausschlaggebende Faktor für diese Reihenfolge ist der jeweilige Verarbeitungsaufwand jeder Regel. 3. Entwicklung didaktischer Maßnahmen Nun ist zu überlegen, wie man mit den oben bereits dargestellten morphosyntaktischen Spannungen bei der Vermittlung der deutschen Wortstellungsregeln umgehen kann und dies im Unterricht konkret fördern kann. 3.1 Wortstellungsregeln und Prosodie Man kann davon ausgehen, dass sich die im vorigen Abschnitt erwähnte Verbindung zwischen Subjekt und Verb und deren Bruch auf der Verarbeitungsebene bei der Produktion vermutlich auch auf prosodischer (insbesondere pausologischer) Ebene widerspiegelt. Denn wenn man einmal Sprachrhythmus und Intonation zwischen Nebensätzen (subordinierten Sätzen) und koordinierten Sätzen betrachtet, erkennt man folgende Unterschiede: In Nebensätzen wird a) die Folge von Konjunktion und Subjekt normalerweise dicht hintereinander gesprochen, b) nach dem Subjekt oft eine kleine Pause gemacht (wodurch die Verbindung zwischen Subjekt und Verb unterbrochen wird) und c) eine schwebende Intonation verwendet, die durch die enge Folge von Konjunktion und Subjekt ausgelöst wird, und die das Gefühl vermittelt, dass die Verbindung zwischen Subjekt und Verb gedehnt wird (vgl. Beispielsatz (1) und (2)). In koordinierten Sätzen dagegen wird a) eher direkt nach der Konjunktion eine kleine Pause gemacht, b) die Folge von Subjekt und Verb dicht nacheinander realisiert und c) nach Konjunktion eine deklarativ gefärbte Intonation gewählt (vgl. (4)). Ähnlich verhält es sich mit den WeilSätzen, bei denen der Konjunktion „weil“ die Wortstellung SVO folgt (vgl. (3)). Dies gilt auch für weitere Sprachen, welche die Wortstellung SVO in Nebensätzen beibehalten [vgl. (5) und (6)]: 7 In einer Klammer-Konstruktion, z.B. „Ich bin gestern ins Kino gegangen.“, bilden das Hilfsverb und das Vollverb zwar auch eine Einheit (die das Konzept Vergangenheit ausdrückt), aber im Falle der SV-Kongruenz ist das Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem Verb enger und spezifischer, da hier das eine Element (das Subjekt) die Form des anderen (die Endung des Verbs) bestimmt. Daher ist zu vermuten, dass die Spannung, die bei der Anwendung der Regel Klammer entsteht, geringer sein wird als die bei der Anwendung von Regeln, durch welche die SV-Verbindung gestört wird. Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln (1) (2) (3) (4) (5) (6) Ich dachte, Ich kann dieses Buch nicht kaufen, Ich kann dieses Buch nicht kaufen, Ich kann dieses Buch nicht kaufen, I cannot buy this book Je ne peux pas acheter ce livre dass-du8 weil-ich weil denn because parce que … … … … … … 147 schon zu Hause bist. nicht genug Geld habe. ich-habe nicht genug Geld. ich-habe nicht genug Geld. I-don’t have enough money. je-n’ai-pas assez d’argent. Tab. 2: Wortstellung im Nebensatz 8 Der spezifische Rhythmus, nämlich Segmentierung durch Pausierung, ist in allen deutschen Nebensatztypen feststellbar, z.B. in Relativsätzen und indirekten Fragesätzen, wie in der Abbildung 2 dargestellt. Zu beachten ist, dass eine Pause in der Tabelle immer nach dem Subjekt erfolgt. Ich dachte, dass du … schon zu Hause bist. Ich kann das nicht kaufen, weil ich … nicht genug Geld habe. Die Frau, die ich … gestern gesehen habe, Die Frau, die … eine blaue Tasche trägt, Ich weiß nicht, mit wem ich … morgen auf die Party gehe. Ich weiß nicht, wer … mein Fahrrad geklaut hat. Tab. 3: Segmentierung der deutschen Nebensätze nach der Sprachrhythmik Hierbei wirkt die Pause meines Erachtens ähnlich wie eine Art Schere, die die morphosyntaktische Verbindung zwischen Subjekt und Verb zerschneidet, und dies erleichtert dann die Positionierung des Verbs ans Ende des Satzes. Einige empirische Belege im Bereich der Pausologieforschung unterstützen diese Feststellungen. Royé (1983) hat in einer experimentell-phonetisch angelegten Untersuchung ein Fernsehdiskussionsgespräch aufgezeichnet und die Pausenstellung identifiziert, um Zusammenhänge zwischen syntaktischer und prosodischer Segmentierung herauszufinden. Sein Korpus wurde von mir vor dem spezifischen Hintergrund der Frage, wo in Nebensätzen und SVO-Sätzen Pausen vorkommen, erneut analysiert. Hierbei stellte sich heraus, dass bei der Produktion eines Nebensatzes Pausen nach dem Subjekt zwar nicht obligatorisch, aber doch wesentlich häufiger (22.7%) als vor dem Subjekt (5%) vorkommen. In den SVO-Sätzen dagegen wird eine Pause nach dem Subjekt eher selten festgestellt. Die Studie von Birkner (2004), in der prosodische Anbindung von Relativsätzen im gesprochenen Alltagsdeutsch untersucht wurde, zeigt, dass eine Pause selten zwischen dem Bezugsnomen und dem Relativpronomen vorkommt, sondern entweder vor dem Bezugsnomen oder nach dem Relativpronomen. Anzumerken ist, dass es sich hierbei um Relativpronomen im Nominativ, also um das Subjekt des Relativsatzes handelt (wie z.B. im Satz „wir haben nichts was eh / mit Batterie benutzt werden darf“). Hinweise auf die enge Verbindung zwischen Subjekt und Verb bei der mündlichen Sprachproduktion finden sich auch in empirischen Studien über andere Sprachen, die 8 Der Bindestrich zeigt an, dass Konjunktion und Subjekt dicht nacheinander gesprochen werden. 148 Mi-Young Lee SVO als Grundwortstellung haben und Kongruenz zwischen Subjekt und Verb kennen, z.B. Englisch (Little 19639) oder Schwedisch (Hansson 1998). Meiner Interpretation nach liefern oben diskutierte Studienergebnisse wichtige Hinweise zum engen Zusammenhang zwischen Prosodie und Morphosyntax, der in anderen Studien (z.B. Birkner 2004) als nicht eindeutig geklärt gilt. Die Nicht-Eindeutigkeit in solchen Studien ist meiner Ansicht nach darauf zurückzuführen, dass sie sich bei der Phrasierung der spontan gesprochenen Sätze hauptsächlich an einer grammatischen Analyse orientieren, der zufolge sich die Phrasenstruktur aus Phrasenkopf und dessen Komplementen ergibt. Beispielsweise wird in der Grammatik die Beziehung zwischen Verb und Objekt, die zusammen Verb-Phrasen bilden, als enger betrachtet als die Beziehung zwischen Subjekt und Verb. Interessant ist nun, wie oben bereits erwähnt, dass bei der spontan gesprochenen Produktion in SVO-Strukturen die Pause nicht zwischen Subjekt und Verb, sondern eher zwischen Verb und Objekt gesetzt wird. Es ist ferner davon auszugehen, dass diese prosodischen Merkmale als Wissensbestände beim Erwerb morphosyntaktischer Regeln von Muttersprachlern miterworben werden. Ein indirekter Hinweis dafür findet sich in der Studie von Rothweiler (1993: 43-50), die belegt, dass Kinder eine Vor-Nebensatz-Phase durchlaufen, die sich mit folgenden Merkmalen charakterisieren lässt10: Kinder bilden Nebensätze erst ohne Konjunktionen11; (7) „xxx iss das, wir wieder komm“ ( xxx iss das, bis wir wieder kommen.) Konjunktionen werden oft mit dem Subjekt zusammen weggelassen; (8) „dann muss du wieder wein, ganz weg bi“ ( dann musst du wieder weinen, wenn ich ganz weg bin). Konjunktionen und Subjekt werden oft zusammen durch einen Laut ersetzt; (9) „ene so krank si, dann geht xxx.“ ( wenn sie so krank ist, dann geht xxx) Abb. 2: Beispiele von Rothweiler (1993: 237) 11 Hierbei ist zu vermuten, dass die Konjunktion und das Subjekt von den Kindern häufig zusammen weggelassen (8) oder ersetzt (9) werden, weil sie relativ schnell wie eine Einheit hintereinander gesprochen werden. Die Tatsache, dass Kinder beim Erwerb der Nebensatzwortstellung die prosodischen Phänomene miterwerben, kann möglicherweise erklären, warum Kinder beim L1-Erwerb anders als beim L2-Erwerb ohne große Probleme Nebensätze produzieren können. 9 10 11 Hinweis von O’Connel and Kowal (1983: 237) Beispiele stammen aus Rothweiler (1993: 171) Nach Rothweiler (1993) kann man solche Sätze anhand der Wortstellungen und auch der Prosodie als Nebensätze interpretieren. Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln 149 Die Zusammenhänge von Morphosyntax und Prosodie wurden in dieser Studie nur ansatzweise diskutiert; in diesem Bereich besteht noch Bedarf an genauerer Forschung. 3.2 Mögliche didaktische Maßnahmen für DaF-Unterricht Vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse scheint es mir sinnvoll, die Aufmerksamkeit des Lerners im DaF-Unterricht gezielt auf prosodische Phänomene (Sprachrhythmus und Intonation) zu lenken, wenn die Wortstellungsregeln im Unterricht eingeführt werden. Die Vermittlung der prosodischen Merkmale ist insofern notwendig, als diese vom DaF-Lerner (vor allem von erwachsenen Lernern) meist vernachlässigt und im Input nur sehr schwer wahrgenommen und erworben werden. So tritt in diesem Bereich ein Transfer aus der L1 besonders häufig auf (Odlin 1989: 117-119). Um die Anwendung der offenbar besonders schwierigen Regel V-Ende zu erleichtern, könnte man auf folgende Maßnahmen zurückgreifen: i) Wahrnehmen: Der Lerner sollte anhand speziell entwickelter Audiomaterialien herausfinden, wie deutsche Nebensätze auf der rhythmischen Ebene z.B. durch Pause und Intonation segmentiert werden. ii) Vergleichen: a) Der Lerner sollte die bei der Aufgabe i) wahrgenommenen Aspekte mit denen in seiner L1 oder in der bereits erlernten L2, z.B. im Englischen, vergleichen. b) Der Lerner sollte im Deutschen prosodische Unterschiede zwischen Hauptsätzen (und auch koordinierten Sätzen, die durch „und“, „aber“, „oder“ und „denn“ eingeleitet sind) und Nebensätzen vergleichen. Wichtig ist hierbei, dass der Lerner erkennt, dass man in Hauptsätzen die Pause eher nach der Konjunktion macht, in Nebensätzen dagegen das Subjekt direkt an die Konjunktion anfügt und die Pause eher nach dem Subjekt macht. iii) Einüben: Der Lerner sollte versuchen diese Regeln im Rahmen von Produktionsaufgaben anzuwenden und einzuüben. So kann die SV-Verbindung bei der Anwendung der Regel V-Ende unterbrochen werden und der Lerner gewinnt Zeit, die Regel zu aktivieren und einzusetzen. Dies kann eine wichtige Hilfe sein, wenn man bedenkt, dass SVO bei der mündlichen Produktion meistens fast automatisch aktiviert wird, bevor der Lerner V-Ende aktivieren kann.12 Wie häufig auch bei Muttersprachlern zu beobachten ist, beeinträchtigen selbst lange Pausen die Kommunikation kaum, vorausgesetzt, sie werden an der richtigen Stelle gemacht. 4. Überprüfung der Effektivität des entwickelten NebensatzVermittlungskonzepts Nach dem oben dargestellten didaktischen Konzept wurden Lehrmaterialien entwickelt und im Wintersemester 2006/2007 in den DaF-Kursen an der Universität Kiel eingesetzt, um deren Effektivität zu überprüfen. Hierfür wurde ein Experiment mit zwei 12 Dies wurde in der dieser Untersuchung vorausgegangenen Studie (im Rahmen meiner Magisterarbeit) festgestellt. Mi-Young Lee 150 Experimentsgruppen (EG) und zwei Kontrollgruppen (KG) durchgeführt. Getestet wurde hierbei folgende Hypothese: Die Lernergruppe (EG), die für die prosodischen Merkmale sensibilisiert wird, wird bei der mündlichen Produktion der Nebensätze in einer Kommunikationssituation besser abschneiden als die Lernergruppe (KG), die nur konventionell unterrichtet worden ist. 4.1 Verlauf des Experiments Als Probandengruppe wurden vier DaF-Kurse des Erasmus-Programms an der Universität Kiel ausgewählt13: zwei G3-Klassen und zwei M1-Klassen. Die G3-Gruppen entsprechen nach dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen vom Niveau her ungefähr der Stufe A2 und die M1-Gruppen B1. Jede Gruppe besteht aus etwa 15 Lernern im Alter von etwa 20 bis 35 Jahren mit unterschiedlichem L1-Hintergrund, aber sie haben alle gemeinsam, dass ihnen Englisch als Kommunikationssprache im Universitätsalltag dient. Die Abb. 3 stellt den Verlauf des Experiments am Beispiel der G3-Gruppen dar: 2. SW 3. 5. Vermittlung 1 (weil, dass, wenn) Vorstellung Vortest +/Prosodie Tab. 4: Verlauf des Experiments 6. 14. u. 15. Vermittlung 2 (G: indirekte FS) (M: weitere Konjunktionen) Nachtest 1 u. 2 Introspektives Interview In der zweiten Semesterwoche habe ich an dem ersten Teil des jeweiligen Kurses teilgenommen, mich vorgestellt und die Lerner gebeten, mir zu einem festgelegten Zeitpunkt für ein Interview zur Verfügung zu stehen. In der dritten Woche wurde mit jedem einzelnen Lerner ein ca. zehnminütiges Interview zum Thema „Wohnen und Studieren“ in Kiel durchgeführt, was als Vortest diente. In der fünften Woche wurden dann die Nebensätze mit den Konjunktionen „weil“, „dass“ und „wenn“ vermittelt und in der sechsten Woche indirekte Fragesätze. Hierbei erhielt die Experimentsgruppe die nach dem dargestellten Konzept entwickelten Materialien, d.h. mit Hinweisen auf die Prosodie, wohingegen die Kontrollgruppe ohne Prosodie aber inhaltlich mit den gleichen Materialien wie die Experimentsgruppe unterrichtet wurde. Am Ende des Semesters (in der 14. und 15. Woche) haben mir die Lerner nochmals ein Interview gegeben, diesmal zum Thema „Essen und Studieren in Kiel“, was dann als Nachtest diente. Anschließend wurde ein schriftlicher Test durchgeführt, in dem es um verschiedene Wortstellungsregeln ging. Zum Schluss wurden ein paar Fragen in Bezug auf das deutsche Nebensätze-Lernen- und Sprechen gestellt und die Lerner haben sich über ihre Probleme geäußert. Gefragt wurde bei den Experimentsgruppen auch, ob die Pausenregel ihnen geholfen hat. Die Interviews, die als Vor- und Nachtest dienten, und die introspektiven Interviews wurden mit einem Aufnahmegerät aufgenommen. Bei den Mittelstufenkursen lief das Experiment nach identischem Muster ab. 13 Bei den Erasmuskursen handelt es sich um eine Art Sondersprachkurs für Studierende, Doktoranden sowie Gastwissenschaftler im Rahmen des Erasmus-Programms an der Universität Kiel. Es gibt 6 Niveaustufen in diesen Kursen: G (Grundstufe) 1, 2 und 3 sowie M (Mittelstufe) 1, 2 und 3. Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln 151 4.2 Ergebnisse Die mündlichen Produktionsdaten von Vor- und Nachtest wurden zur Analyse transkribiert und im Hinblick auf den Korrektheitsgrad der produzierten Nebensätze analysiert.14 Die Ergebnisse finden sich in Tab. 6 a und b. In der Spalte „Anzahl der NS“ sieht man, wie viele Nebensätze der Lerner produziert hat und wie viele davon richtig sind. Dies wurde direkt daneben in Prozentzahlen berechnet. Die Spalte „Fortschritt“ zeigt den Unterschied zwischen den Prozentzahlen beim Vor- und Nachtest. In der Spalte „Pausenregel“ ganz rechts ist angegeben, ob der Lerner beim Interview zum Thema Nebensätze die Pausenstellung in Nebensätzen richtig identifizieren konnte oder nicht. In der G3-Experimentgruppe gab es insgesamt 9 Lerner, die bei allen drei Terminen (Vortest, Vermittlung und Nachtest) anwesend waren, und in der G3-Kontrollgruppe insgesamt 8 Lerner. Anzahl der NS: Die Anzahl der vom Probanden produzierten Nebensätze15 ?: Der Korrektheitsgrad (in Prozent) ist aufgrund der geringen Anzahl der produzierten Nebensätze unklar. Fortschritt (?): Der Wert des Fortschritts ist nicht ermittelbar. Pausenregel (X): Der Proband konnte die vermittelte Pausenstellung richtig identifizieren. Pausenregel (/): Der Proband konnte die vermittelte Pausenstellung nicht richtig identifizieren. 15 a) G3-Experimentsgruppe Name (L1) 1. Tina (Englisch) 2. Juri (Russisch) 3. Antonella (Italienisch) 4. Ewa (Polnisch) 5. Emra (Türkisch) 6. Justyna (Polnisch) 7. Marie (Französisch) 8. Mahi (Panjabi) 9. Laura (Englisch) 14 15 Vortest Anzahl der NS 4/8 2/4 1/6 3/7 1/8 0/4 0/7 1/12 0/1 % 50 50 16.7 42.9 12.5 0 0 8.3 ? Nachtest Anzahl der NS 5/6 4/5 3/11 2/5 1/7 0/8 0/5 0/4 9/10 Fortschritt % % 83,3 80 27.3 40 14.3 0 0 0 90 +33.3 +30 +10.6 -2,9 +1.8 0 0 -8.3 ? Pausenregel X X X / / / X X X Nicht berücksichtigt wurden hierbei indirekte Fragesätze aufgrund der Identifizierungsschwierigkeit. Beispielsweise bedeutet die Angabe 3/7, dass der Lerner insgesamt 7 Nebensätze produziert hat, aber nur drei davon richtig sind. Mi-Young Lee 152 b) G3-Kontrollgruppe Vortest Anzahl % der NS 1. Antonio (Portugiesisch) 2/5 40 2. Kostas (Griechisch) 0/9 0 3. Larissa (Russisch) 0/5 0 4. Laszlo (Ungarisch) 0/4 0 5. Joszef (Polnisch) 0/3 0 6. Tony (Englisch) 0/1 ? 7. Irina (Ukrainisch) 0/1 ? 8. Tamarin (Thailändisch) 0/0 ? Tab. 5: Analyseergebnisse bei den G3-Gruppen Name (L1) Nachtest Anzahl der NS 2/5 1/13 0/5 0/2 0/2 0/3 0/11 0/1 Fortschritt % % 40 7.7 0 0 0 0 0 ? 0 +7.7 0 0 0 0 0 ? Die obigen Tabellen zeigen, dass ein Drittel der Probanden in der Experimentsgruppe nach der Vermittlung Fortschritte von 10 – 30% erzielt hat, wohingegen kein Lerner der Kontrollgruppe bedeutende Fortschritte erzielt hat. Der Unterschied zwischen Experimentsgruppe und Kontrollgruppe wird, wie die Abbildung 5 zeigt, in den M1-Gruppen im Bezug auf den Korrektheitsgrad nach der Vermittlung noch deutlicher. a) M1- Experimentsgruppe Name (L1) 1. Paolo (Italienisch) 2. Sophie (Französisch) 3. Diana (Litauisch) 4. Franca (Italienisch) 5. Basel (Arabisch ) 6. Alwin (Indonesisch) 7. Grazyna (Polnisch) Vortest Anzahl der NS 3/12 2/10 3/6 2/14 1/12 0/5 4/21 % 25 20 50 14.3 8.3 0 19.5 Nachtest Anzahl der NS 11/11 10/14 6/7 10/31 2/9 0/5 3/24 Fortschritt Pausenregel % % 100 73.3 85.7 32.3 22.2 0 12.5 +75 +53.3 +35.7 +18 +13.9 0 -7 X X X X X X X Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln 153 b) M1-Kontrolgruppe Vortest Anzahl % der NS 1. Pawlina (Polnisch) 2/9 22.2 2. Masako (Japanisch) 1/4 25 3. Fabienne (Französisch) 1/7 14.3 ? 4. Edita (Litauisch) ?16 5. Piotr (Polnisch) 0/8 0 ? 6. Yelena (Russisch) 1/117 Tab. 6: Analyseergebnisse der M1-Gruppen16, 17 Name (L1) Nachtest Anzahl der NS 5/16 1/5 0/15 1/12 0/5 5/6 Fortschritt % % 31.2 20 0 8.3 0 83.3 +9 -5 -14.3 ? 0 ? In der M1-Experimentsgruppe haben manche Probanden einen Fortschritt von 1375% gemacht. Paulo konnte beim Nachtest alle Nebensätze richtig produzieren. Und der Fortschritt bei Sophie ist ebenfalls bemerkenswert. In der Kontrollgruppe konnte ich lediglich bei Pawlina eine Steigerung im Umfang von 9 Prozent feststellen. Die dargestellten Ergebnisse zeigen, dass die Lerner in den Experimentsgruppen (also in den Prosodie-Gruppen) nach der Vermittlung sowohl auf A2-Niveau als auch B1-Niveau Fortschritte (einige Lerner sogar sehr bemerkenswerte Fortschritte) gemacht haben, diejenigen in den Kontrollgruppen dagegen kaum Fortschritte gemacht haben. In beiden Experimentsgruppen wurden bei einigen Probanden bei der Produktion der Nebensätze deutliche Unterschiede zwischen Vor- und Nachtest beobachtet. Beim Vortest machten die Lerner, die den Nebensatz nicht korrekt bilden konnten, die Pause oft vor dem Subjekt, und Subjekt und Verb wurden dann in dieser Reihenfolge direkt hintereinander gesprochen wie bei Sophie (12). Ein weiteres häufig beobachtetes Muster beim Vortest war, dass in Nebensätzen Konjunktion, Subjekt und Verb ohne Pause fast wie eine Einheit dicht hintereinander gesprochen wurden. Eine Pause erfolgte dann erst nach dieser Einheit, d.h. nach dem Verb, wie bei Tina (10) und Paolo (16). Beim Nachtest jedoch haben diese Probanden die Pause, wie im Unterricht vermittelt, oft nach dem Subjekt gemacht und die Regel korrekt angewendet, vgl. (11), (13) und (17). Die Äußerungen von Paolo (15) zeigen deutlich, dass er sich in einer Übergangsphase zwischen der alten Gewohnheit (eine Pause nach der Konjunktion bzw. vor dem Subjekt zu machen) und der neuen Sprechweise (eine Pause nach dem Subjekt zu machen) befindet: (10) „ich finde das ah_ gut ahm_ ahm_ weil-ich-habe_ nicht viel @ Dinge“ 18 (Tina-VT) (11) „normalerweise gehe ich ah_in Pennymarkt weil es ahm billig ist“ (Tina-NT) (12) „ja wenn • ich-war in Frankreich ich war • mit einer Freundin“ (Sophie-VT) 16 17 18 Bei Edita ist die Aufnahme beim Vortest leider nicht gelungen. Yelena hat beim Vortest eigentlich noch fünf zusätzliche Nebensätze produziert, wo das Verb ans Ende des Satzes gestellt wurde, aber die Konjunktion (dass) fehlte: „Ich glaube_ die Wohnungen_ gleich sind“. Somit kann man vermuten, dass Yelena die Regel V-Ende schon zum Zeitpunkt des Vortests weitgehend anwenden konnte. Zu den Transkriptionssymbolen: VT: Vortest, NT: Nachtest, _: die Silbe lang gezogen, -: dicht hintereinander gesprochen, •: ungefüllte Pause, /: abgebrochen, @: Lachen 154 Mi-Young Lee (13) „ein San/Sandwich • wenn-ich ähm_ andere Vorlesungen nachher habe“ (Sophie-NT) (14) „ich-denke-dass diese_ ja die_ die Möglichkeit in_ um_ in einer Wo/Wohnung zu zu wohnen ist_ • sehr_ sehr sehr gut“ (Paolo-VT) (15) „ich-denke-dass • dass-es so gut ist hier“ (Paolo-NT) (16) „ich denke dass_ wenn-du-hast • vielleicht Freundin ok wenn-du-hast zum Beispiel • Internetfreundin“ (Paolo-VT) (17) „wenn-ich_ hm • nach Hause_ zurückkommen muss“ (Paolo-NT) Aber nicht alle Lerner der Experimentsgruppen konnten diesen Fortschritt erzielen und auch unter den Lernern, bei denen Fortschritte festgestellt wurden, ist das Ausmaß der Fortschritte sehr unterschiedlich (zwischen 10 und 75%). Die introspektiven Interviewdaten scheinen hierfür die Erklärung zu liefern. Denn man kann feststellen, dass eine Korrelation zwischen der Größe der Fortschritte und dem positiven Feedback zu der vermittelten Pausenregel besteht. Manche Lerner, bei denen ein deutlicher Fortschritt (von 30-75 Prozent) festgestellt wurde, haben geäußert, dass die Pausenregel für sie hilfreich war. Zu diesen Probanden gehören Tina und Juri in der G3-EG sowie Paolo und Sophie in der M1-EG. Mit Hilfe der Pausenregel konnten sie sich besser an die Wortstellungsregel erinnern bzw. vergaßen weniger, dass das Verb am Ende des Satzes stehen muss. Paulo aus der M1-EG stellte ferner fest, dass seine Gesprächspartner ihn besser verstehen, wenn er die Pausenregel beachtet. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass die durch die Pause entstehende Rhythmik dem Gesprächspartner deutlich signalisiert, dass es sich um einen Nebensatz handelt, was den Verstehensprozess des Hörers erleichtert. Im Vergleich zu den Probanden, die eindeutige Fortschritte nachweisen konnten, haben einige Lerner in den Experimentsgruppen keinen Fortschritt erzielt (Marie und Mahi in der G3-EG sowie Grazyna in der M1-EG), obwohl sie die Pausenstellung, wie sie im Unterricht vermittelt wurde, identifizieren konnten. Franca und Basel in der M1-EG haben zwar Fortschritte erzielt, aber dieser Wert ist niedrig im Vergleich zu Paolo und Sophie in derselben Gruppe. Manche dieser Probanden (Marie und Antonella in G3-EG sowie Franca und Basel in M1-EG) hatten eine sehr negative Einstellung gegenüber Pausen beim Sprechen. Sie waren der Auffassung, dass ein guter Sprecher keine Pause macht, oder sie vermieden Sprechpausen aus Angst, dass sie damit ihren Gesprächspartner langweilen könnten. Außerdem haben Antonella und Marie in der G3-EG die Tendenz, zunächst in ihrer Muttersprache zu denken, wenn sie Deutsch sprechen. Und dementsprechend machen sie die Pause – wie in ihrer Muttersprache – eher nach der Konjunktion (also vor dem Subjekt). Es ist für sie nicht einfach, diese Gewohnheit zu ändern. Dies deutet darauf hin, dass die L1 beim Erwerb der Wortstellungsregeln eine Rolle spielt, die aber nicht nur mit der bloßen Wortstellung, sondern auch mit pausologischen Phänomenen zusammenhängt. Emra und Justyna in der G3-EG konnten die vermittelte Pausenstellung nicht identifizieren und keinen Fortschritt erzielen. Der ausgebliebene Fortschritt erklärt sich möglicherweise dadurch, dass sie die im Unterricht vermittelten prosodischen Merkmale nicht erworben haben. Für Justyna scheint die Orthographie eine Rolle gespielt Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln 155 zu haben. Für sie ist die Pause dort, wo das Komma steht. Daher war die vermittelte Pausenstellung für sie merkwürdig. Es ist zu vermuten, dass bei den Probanden, die entweder eine negative Einstellung gegenüber Sprechpausen haben oder sich stark an der Orthographie orientieren, die Vermittlung der Sprechpausen bei der Produktion der Nebensätze im Unterricht nicht gut angekommen ist. Auch besteht die Gefahr, dass die Pausenregel einfach wie eine abstrakte Regel gelernt wird, an die man sich erinnern muss um sie anwenden zu können. Beispielsweise kann sich Grazyna in der G3-EG nicht gefühlsmäßig darauf verlassen, die Pause an der richtigen Stelle zu machen. Wenn sie sich mit anderen unterhält, vergisst sie nach eigenen Worten immer die Regeln (auch die Pausenregel) anzuwenden. Es scheint, dass die Probanden, die beim Vortest die Regel (V-Ende) nicht anwenden konnten, nach der Vermittlung sowohl in der Experimentsgruppe als auch in der Kontrollgruppe keinen Fortschritt gemacht haben. Dies könnte dahingehend interpretiert werden, dass die Vermittlung der Prosodie nur demjenigen Lerner hilft, der bereits angefangen hat, die Regel anzuwenden. Das hieße, man könnte nur zu einer Erhöhung des Korrektheitsgrades beitragen, nicht aber die Erwerbsreihenfolge als solche beeinflussen. Aber die Ergebnisse zeigen, dass es durchaus auch möglich ist, die Regel VEnde korrekt zu produzieren, ohne die Regel Inversion bei der Produktion anwenden zu können. Tina in der G3-EG ist ein klares Beispiel dafür. Sie konnte beim Vortest die Regel V-Ende, wie man in der Abbildung 6 ablesen kann, zu 50% richtig anwenden, die Inversion dagegen (einen Fragesatz ausgenommen19) kein einziges Mal. Regel Vortest Nachtest Inversion 0/15 0% 2/9 22.2 % V-Ende 4/8 50 % 5/6 83.3 % Tab. 7: Korrektheitsgrad bei der Regelanwendung bei Tina in der G3-EG Tina scheint aber die für Nebensätze charakteristische Sprachrhythmik vor dem Vortest bereits implizit erworben zu haben. Sie hat in allen vier Fällen, in denen sie die Regel V-Ende richtig angewandt hat, eine kurze Pause vor dem Subjekt gemacht, und dagegen in anderen vier Fällen, in denen ihr die Anwendung der Regel V-Ende nicht gelang, eine Pause entweder vor dem Subjekt (bzw. direkt nach der Konjunktion) gemacht, oder erst nach dem Komplex von Konjunktion, Subjekt und Verb. Zu spekulieren ist, dass bei Tina der Erwerb der sprachrhythmischen Merkmale in einigen Fällen zur Reduzierung des kognitiven Aufwands, der bei der Anwendung der Regel V-Ende entsteht (vgl. Kapitel 3), geführt und somit zur richtigen Anwendung der Regel V-Ende beigetragen hat. All diese Indizien deuten drauf hin, dass der Erwerb der verschiedenen Wortstellungsregeln keineswegs implikationell zusammenhängt und auch die Erwerbsreihenfolge keineswegs unabänderlich ist. Diese Reihenfolge gibt uns vielmehr indirekte20 Hinweise darauf, wie hoch der Verarbeitungsaufwand der einzelnen Regeln bei der Produktion ist. Doch lässt sie durchaus individuelle Unterschiede zu und kann 19 20 „Wer kann die Abwaschen machen?“: Dieser Fragesatz ist aber von der Struktur her ein KlammerSatz. Indirekt, weil man die Größe des benötigten kognitiven Aufwandes in der Reihenfolge nur im relativen Verhältnis erkennen kann. 156 Mi-Young Lee beeinflusst und verändert werden, was dann eine aktive Steuerungsmöglichkeit des Spracherwerbs im Unterricht durch angemessene didaktische Maßnahmen impliziert. Ferner scheint das Problem bei der Anwendung der Regel V-Ende in großem Maße mit der Regelaktivierungsschwierigkeit verbunden zu sein, d.h. die Wortstellung SVO wird automatisch aktiviert, bevor z.B. die Regel V-Ende aktiviert werden kann. In meiner Studie haben viele Lerner berichtet, dass sie die Wortstellungsregel in Nebensätzen (das Verb am Ende) als nicht schwer erlernbar empfinden und deren Anwendung ihnen beim Schreiben nicht allzu große Schwierigkeiten bereitet. Schwierig wird sie erst beim Sprechen. So hat z.B. Tony (18 und 19) in der G3-KG sowohl beim Vortest als auch beim Nachtest keinen einzigen Nebensatz und Kostas (20) aus der gleichen Gruppe lediglich einen einzigen korrekten Nebensatz im Nachtest produziert, aber beide konnten ein paar Nebensätze beim introspektiven Interview richtig produzieren, als das Gespräch auf deutsche Nebensätze und deren Wortstellung fokussiert war: (18) „weil @ das ist schwer weil @ ah_ man • nicht genug Zeit • für ein Sätze@ • kann@“ (19) „vielleicht nächstes • wenn_ • ich • mehr Zeit • practice haben@“ (20) „aber äh ist schwierig wenn ich mich Deutsch ähm_ sprechen“ Gerade für diese Lerner wird die bei den Experimentsgruppen vermittelte Pausenregel zur Regelaktivierung vermutlich hilfreich sein. 5. Schlussfolgerungen Die dargestellten Ergebnisse zeigen, dass die Lerner in den Experimentsgruppen (in den Prosodie-Gruppen) nach der Vermittlung eindeutig größere Fortschritte (einige Lerner sogar sehr bemerkenswerte Fortschritte) gemacht haben als die in den Kontrollgruppen, sowohl auf A2-Niveau als auch B1-Niveau. Somit kann behauptet werden, dass sich das didaktische Konzept (Vermittlung der Nebensätze mit prosodischen Merkmalen) als effektiv erwiesen hat. Ferner ist meine Erklärungshypothese bestätigt, die besagt, dass die Schwierigkeit beim Lernen der Nebensätze (genau gesagt, das Stellen des Verbs ans Ende des Nebensatzes) auf dem SV-Kongruenzphänomen im Deutschen beruht. Allerdings ist die Verallgemeinerbarkeit dieses Ergebnisses insofern begrenzt, als die Anzahl der Probanden und der von ihnen produzierten Nebensätze in meiner Studie recht gering ist. 6. Verbesserungsmöglichkeiten bei der zukünftigen Vermittlung der Nebensätze mit der Prosodie in der Praxis Hinsichtlich der Vermittlung von Nebensätzen werden nach meinem Konzept verschiedene Punkte sichtbar, die in der Zukunft verbessert bzw. optimiert werden sollten: Angesicht der sehr negativen Einstellung über Sprechpausen muss klar gemacht werden, dass Sprechpausen ein natürliches Phänomen sind und die Kommunikation nicht stören, wenn sie an angemessener Stelle gemacht werden. Ferner sollte man den Lerner darauf hinweisen, dass jede Sprache ihre eigene Rhythmik hat, Sprechpausen zur Determinierung des Sprachrhythmus wesentlich beitragen Nutzung prosodischer Merkmale beim Erwerb von deutschen Wortstellungsregeln 157 und man mithilfe einer angemessenen Sprachrhythmik seine Äußerungen dem Gesprächspartner in viel verständlicherer Form vermitteln kann. So kann man die Lerner motivieren die Pausenregel im Alltag anzuwenden. Um zu vermeiden, dass der Lerner die Pausenregel als eine zusätzliche abstrakte Regel betrachtet, die er nur dann anwenden kann, wenn er sich daran erinnert, kann man Sprachlaborübungen in der Einübungsphase einbauen und die Übungen regelmäßig wiederholen. Somit kann sich der Lerner an die Sprachrhythmik besser gewöhnen. Literatur Bever, Thomas. G. (1970): The cognitive basis for linguistic structures. In: Hayes, John R. (Hrsg.): Cognition and the development of language. New York: Wiley, 294-299. Birkner, Karin (2004): Die prosodische Anbindung von Relativsätzen im Gesprochenen Deutsch – eine Form der semantischen Differenzierung restriktiv/nicht-restriktiv? http://fips.igl.uni-freiburg.de/auer/download/relativsaetze.pdf (17.02.2006). Clahsen, Harald; Meisel, Jürgen; Pienemann, Manfred (1983): Deutsch als Zweitsprache. Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen: Narr. Clahsen, Harald (1984): The acquisition of German word order. 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Susanne Krauß (Canterbury) & Sabine Jentges (Marburg) Spielerisch Grammatik entdecken und festigen Einleitung Die Vermittlung bzw. der Erwerb der Grammatik im Deutsch-als-Fremdsprache1-Unterricht wird anscheinend von vielen, um nicht zu sagen den allermeisten Lernenden, aber auch von (vielen) Lehrenden als besonders schwierig eingestuft. Schon Mark Twain berichtete über die „schreckliche deutsche Sprache“ und prangerte insbesondere den grammatischen Formbestand und eine unmöglich zu merkende Vielzahl an Ausnahmen an (Deklination, Kasus und Genus und somit Artikel- und Adjektivendungen, trennbare Verben usw.): „Ganz bestimmt gibt es keine andere Sprache, die so ungeordnet und unsystematisch, so schlüpfrig und unfaßbar ist, man treibt völlig hilflos in ihr herum, hierhin und dahin, und wenn man schließlich glaubt, man hätte eine Regel erwischt, die festen Boden böte, auf dem man inmitten der allgemeinen Unruhe und Raserei der zehn Wortarten ausruhen könne, blättere man um und liest: ‘Der Schüler beachte sorgfältig folgende Ausnahmen.’“ (Twain o.J.: 7f) Aber nicht nur Twain beklagt die Schwierigkeiten beim Erwerb und der Anwendung der deutschen Grammatik für einen DaF-Lernenden. Auch eine von uns in den letzten fünf Jahren unter knapp 50 taiwanesischen Austauschstudierenden (A2-B2-Niveau) durchgeführte offene Befragung zum Thema „Was ist für dich beim Deutschlernen besonders einfach, was ist besonders schwer?“ bestätigte Folgendes: 41 der 47 Teilnehmenden waren der Meinung, dass Grammatik beim Deutschlernen besonders schwer sei. An zweiter Stelle wurde mit 15 Stimmen das Sprechen genannt. Nur drei Teilnehmende 1 Deutsch als Fremdsprache wird im Folgenden mit dem Kürzel DaF angegeben. 160 Susanne Krauß, Sabine Jentges waren der Auffassung, Grammatik sei eher einfach. Die Schwierigkeiten mit dem Erwerb bzw. der Anwendung der deutschen Grammatik wurden v.a. damit kommentiert, dass es zu viele Regeln gibt, die sich in dieser Fülle kaum merken lassen, so gaben die Studierenden beispielsweise an: „Die Grammatik ist so kompliziert und viel, dass ich sie nie verstehe und nicht auswendig lernen kann“. „Ich glaube, was im Deutschen am schwierigsten ist, ist, dass es drei Artikel (der, die, das) gibt. Sie haben keine Regeln, aber sind so wichtig, damit man den ganzen Satzbauplan richtig entwickeln kann. Und die Änderung der Formen bringt mich oft durcheinander.“ (Anonyme Teilnehmendenzitate aus den Befragungen) Allerdings war unter den drei Nennungen, die Grammatik als leicht einstuften, auch folgende Aussage zu finden: „Wenn Grammatik sehr klar erklärt [ist], ist es nicht so schwer für mich.“ (Anonymes Teilnehmendenzitat aus den Befragungen) Auch wenn die Befragungen nicht als repräsentativ betrachtet werden können und wir keineswegs die Meinung vertreten, dass die deutsche Grammatik verglichen mit anderen Sprachen besonders schwierig sei, so zeigen die Aussagen doch, dass diese Haltung in den Köpfen vieler Lernenden (und wohl auch Lehrenden) immer noch verankert ist. Das letzte Zitat betont jedoch, dass die Art der Vermittlung eine erhebliche Rolle spielt und dem ‚unbeliebten Grammatikunterricht’ seinen negativen Beigeschmack nehmen kann. Wir wollen in diesem Beitrag Beispiele vorstellen, die zeigen, wie durch gute Präsentation sowie die Auswahl von motivierenden, spielerischen Übungsformen und kontextbezogenen Aktivitäten eine ‘schreckensfreie’ und lustvolle, motivierende Grammatikvermittlung möglich ist. Dabei müssen natürlich einige Grundprinzipien einer lernerfreundlichen Grammatikvermittlung bedacht werden. Selbstverständlich sollte die Erklärung (soweit möglich) korrekt sein, allerdings sollte auch beachtet werden, dass: nicht die Ausnahme, sondern die Regel im Mittelpunkt steht (die Regel also immer vor der Ausnahme und somit auch eine Progression vom Leichten zum Schweren). die Regel merkbar ist. die Regel – sofern möglich – von Lernenden selbst entdeckt wird. das grammatische Phänomen in möglichst realen Kommunikationssituationen präsentiert wird (um Lernenden kommunikative Relevanz und auch Kontext zu vermitteln). 1. Spiele im Grammatikunterricht Ein Hilfsmittel für einen motivierenden Grammatikunterricht sind z.B. Grammatikspiele. In der Unterrichtspraxis und auch in Materialienpublikationen sowie Lehrwer- Spielerisch Grammatik entdecken und festigen 161 ken2 werden Spiele in Verbindung mit fremdsprachlichen Lernzielen3 vor allem zur Förderung der Kommunikation bzw. Sprechfertigkeit eingesetzt (je nach Spielart auch bezogen auf senso-motorische und gestisch-mimische Aspekte) sowie für Wortschatzarbeit. Häufig haben sie auch nur die Funktion einer Belohnung, eines Lücken- oder Pausenfüllers oder sollen die Aufmerksamkeit der Lernenden wieder wecken. Der Einsatz von Spielen im Grammatikunterricht ist eher selten, dies zeigt sich sowohl in den gängigen DaF-Lehrwerken als auch in den ansonsten durchaus zahlreichen Materialiensammlungen für den Einsatz von Spielen im DaF-Unterricht. Materialiensammlungen, die explizit Spiele bzw. spielerische Aktivitäten für den Grammatikunterricht vorschlagen, kommen v.a. aus dem angelsächsischen Sprachraum und sind für English as a Foreign Language (EFL) konzipiert, allen voran seien hier die Publikationen von Mario Rinvolucri (1984, 2003) sowie seine Ko-Publikationen mit Paul Davis (1995, 1998, 42002) 4 und mit Christine Frank (1983) genannt. Mario Rinvolucri und Paul Davis beziehen sich bei ihren Vorschlägen immer wieder auf dramapädagogische Ansätze. Diese wurden inzwischen von Susanne Even (2003) unter dem Titel „Drama Grammatik“ für den Einsatz im fremdsprachigen Grammatikunterricht weiter entwickelt. In einigen deutschsprachigen Spiele-Materialienbänden werden spielerische Aktivitäten und Spiele angeboten, die jedoch hauptsächlich dem Üben und Festigen von Grammatik dienen, das spielerische Einführen neuer grammatischer Phänomene erfolgt eher selten. Durchaus gelungene Anregungen für diese finden sich etwa in den Bänden von Dreke; Lind (1986), Dreke; Salgueiro (2002); Macedonia (2000 sowie 2004), Pfau; Schmidt (2001), Piel (2002), Sánchez u.a. (72004), Wicke (61999).5 1.1 Grammatik mit Spielen lernen? Mit Spielen zu lernen kann durchaus als umstritten bezeichnet werden. Aristoteles war beispielsweise der Meinung: „Mit Spielen lernt man nicht, Lernen tut weh“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik X, 6: 1339a, 28, zitiert bei Vonessen 1976: 20). Und noch heute ist diese Haltung anscheinend in den Köpfen vieler Lernender, aber auch Lehrender verankert. Daraus resultiert häufig ein auch von Klippel formulierter „Zwang zur Rechtfertigung spielerischen Lernens. Zwar erkennt man allenthalben an, daß das Spiel ein alle Menschen betreffendes Phänomen sei, doch will man zumeist nur Kindern gestatten, durch Spiele zu lernen. Sicherlich hängt dies mit der alten Gegenüber2 3 4 5 Mit der generellen Einschränkung, dass in den gängigen DaF-Lehrwerken – zumindest denen, die sich nicht explizit an Kinder richten – relativ wenig Spiele zu finden sind. Mit dem Einsatz von Sprachlernspielen im Unterricht werden insbesondere persönlichkeitsbildende sowie soziale Lernziele verfolgt, vor allem soll das Spiel die Lernenden-Motivation steigern. Inwiefern solche Aspekte den Einsatz von Sprachlernspielen im Fremdsprachenunterricht, insbesondere in der außerschulischen Erwachsenenbildung rechtfertigen, ist umstritten (vgl. Jentges 2007: 1). In dem deutschsprachigen Band „66 Grammatik-Spiele Deutsch als Fremdsprache“ (Rinvolucri; Davis 4 2002) werden Auszüge aus den beiden „Grammar Games“-Bänden (Rinvolucri 1984, Rinvolucri; Davis 1995) in übersetzter und ans Deutsche angepasster Version präsentiert. Außerdem sei hier auf einige Bände hingewiesen, die zwar nicht explizit Spiele, aber spielerische und kreative Grammatikarbeit vorschlagen, nämlich Brinitzer (2003), Dreke; Salgueiro (2004), Gerngroß u.a. (1999), Swerlowa (2003 sowie 2006). Susanne Krauß, Sabine Jentges 162 stellung von Spiel und Arbeit zusammen: Kinder spielen – Erwachsene arbeiten. Auch das zweite Moment ist hiermit verknüpft. Lernen ist im Verständnis vieler Pädagogen mit Arbeit verbunden, deshalb schließen sich Spiel und Lernen ebenso aus wie Spielfreude und Lerneffektivität.“ (Klippel 1980: 90) Wenn schon das Lernen mit Spielen an sich angezweifelt wird, so liegt die Vermutung nah, dass eine angeblich so komplizierte und oft mit negativen Assoziationen belegte Sache wie die Grammatik im DaF-Unterricht nicht mit Spaß und Freude spielerisch vermittelt werden könnte. Entgegen der hier knapp aufgerissenen Diskrepanz zwischen Spielen und Lernen sind wir jedoch der Überzeugung, dass insbesondere der Grammatikunterricht, der meist ein kognitiv orientierter Bestandteil des Unterrichts ist, so motivierend wie nur irgend möglich gestaltet werden sollte und hierbei Spiele sowie spielerische Aktivitäten eine ernst zu nehmende Alternative darstellen. Schon John Locke, wie auch bei Klippel (1980: 90) zu lesen ist, „begründet seine Vorschläge zum spielenden Lernen damit, dass der Zögling im Spiel mehr lerne, als wenn er dazu gezwungen werde.“ Insbesondere da in Studien zur Lerneffizienz mit Spielen deren positiver Effekt auf den konkreten Sprachenerwerb nachgewiesen werden konnte (vgl. Jentges 2007), halten wir das Misstrauen dem Spieleinsatz im unterrichtlichen Kontext gegenüber für unbegründet und möchten im Folgenden konkrete, praktische und von uns erprobte Aktivitäten vorstellen, um spielerisch Grammatik zu entdecken und zu festigen. Dabei stellen wir eine Auswahl an spielerischen Aktivitäten, Spielen, v.a. in Form von game (im Sinne von Regelspielen), und Formen kooperativer Spiele vor, insbesondere aber solche Spiele und spielerische Aktivitäten, die für das zu vermittelnde sprachliche Phänomen sinnvoll und effizient, das heißt lernzielorientiert und lernergruppenorientiert, erscheinen. Bei den im Folgenden präsentierten Spielideen, die von uns entwickelt6 und erprobt wurden, steht die Einführung und Übung des Perfekts im Mittelpunkt. Die Spielideen lassen sich aber leicht auch zur Einführung und Übung anderer grammatischer Phänomene einsetzen. 2. Perfekt Perfekt ist – zumindest in einem kommunikativ orientierten DaF-Unterricht – das erste Vergangenheitstempus, das eingeführt wird. Dies geschieht in aller Regel sehr früh, also auf Niveau A1 (GER). Soll Perfekt eingeführt werden, muss sowohl Gebrauch als auch Bildung des Perfekts bedacht werden. Der Gebrauch des Perfekts im Deutschen ist recht unkompliziert, Perfekt und Präteritum können in den allermeisten Fällen ausgetauscht werden, lediglich Modalverben sowie haben und sein werden bevorzugt im Präteritum benutzt und sollten insofern nicht als erstes in Perfekt als Vergangenheitsform eingeführt werden. Natürlich gibt es Beispiele, in denen Perfekt und Präteritum nicht bedeutungsidentisch ausgetauscht werden können, da dies aber nur sehr selten der Fall ist, muss bei der Einführung nicht weiter darauf eingegangen werden. Darüber hinaus basiert die unterschiedliche Verwendung eher auf regionalen Präferenzen so6 Wir möchte außerdem ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir, soweit uns Quellen für die Grundideen der von uns vorgeschlagenen Aktivitäten bekannt sind, diese angegeben haben. Spielerisch Grammatik entdecken und festigen 163 wie der Tendenz, Perfekt eher im Mündlichen und Präteritum eher im Schriftlichen zu verwenden. Unserer Ansicht nach sollte dies aber erst bei der Einführung des zweiten Vergangenheitstempus thematisiert werden. Schwieriger ist es, die Bildung des Perfekts zu vermitteln, da hier gleich mehrere Aspekte berücksichtigt werden müssen, nämlich die Hilfsverbenwahl, die Bildung des Partizip II sowie die Satzklammer, falls diese nicht beispielsweise bereits von Modalverben bekannt ist. Die darüber hinaus erforderliche Konjugation von haben und sein im Präsens kann als bekannt vorausgesetzt werden. Das bedeutet für die Einführung, dass zunächst die Bildung der Partizipien für regelmäßige Verben erklärt werden muss, bei unregelmäßigen Verben wird meist und sinnvollerweise auf lexikalisches Lernen zurückgegriffen.7 Die Satzklammer kann, da es um eine eindeutige Regel geht, sehr einfach vermittelt werden. Schwieriger ist es mit der Hilfsverbenwahl: Eine merkbare und tatsächlich zutreffende Regel ist kaum aufzustellen. Das bedeutet als Konsequenz für den DaF-Unterricht, dass z.B. das haben-Perfekt aufgrund der höheren Häufigkeit zur Hilfestellung als ‘normale’ Perfektform eingeführt werden sollte und die Fälle mit sein im Anschluss als Ausnahmen beschrieben und erläutert werden könnten. Dann erreicht man zumindest in einer groben Näherung eine Erklärung, die auch im Unterricht zu verwenden ist. Wir würden deshalb für eine erste Vermittlungsphase dazu raten, zunächst nur die Bildung des Perfekts mit haben einzuführen und die sein-Verben erst, nachdem das Perfekt mit haben gefestigt ist. 2.1 Perfekt mit haben Folgende Schritte wären jetzt sinnvoll: a) Wiederholung der Präsensformen von haben b) Wiederholung der Verbzweitstellung in ‘Regel’sätzen c) Sensibilisierung für Sätze im Perfekt (Satzstellung und regelmäßige Bildung mit haben) d) Üben und Festigen a) Wiederholung der Präsensformen von haben Verbenwürfel (u.a. nach Piel 2002: 164) In Partnerarbeit: A würfelt und muss die der Augenzahl entsprechende Personalform von haben bilden. B muss diese nun in einen vollständigen Satz einbauen. Danach umgekehrt. (s. Abb. 1) In Gruppenarbeit: A würfelt und bildet einen Satz mit der der Augenzahl entsprechenden Form von haben. Die anderen Spieler entscheiden, ob der Satz richtig ist. Wenn ja, darf A auf dem Spielfeld weiterrücken. Variation: Statt mit Würfeln kann man diese Übung auch als Memoryspiel oder Domino gestalten. 7 Wobei hier Verben – z.B. mit gleichem Vokalwechsel – in Gruppen präsentiert werden sollten, wie beispielsweise bei Kars; Häussermann (51997: 275). 164 Susanne Krauß, Sabine Jentges Abb. 1: Verbenwürfel – Die Augenzahl entspricht den jeweiligen Personalpronomen b) Wiederholung der Verbzweitstellung in ‘Regel’sätzen Den Lernenden wird ein kurzer Text vorgelegt, der keine Satzzeichen beinhaltet und auf Großschreibung verzichtet. Die Lernenden sollen die Rechtschreibung berichtigen und bei dem Setzen der Satzzeichen auf die Verbzweitstellung achten. felix frühstückt seine freundin macht kaffee und regen meldet das radio8 c) Sensibilisierung für Sätze im Perfekt Der zuvor eingesetzte Text wird jetzt ins Perfekt umgewandelt. In unserem Beispiel frühstückt Felix also nicht heute, sondern hat gestern gefrühstückt. Hierzu erhalten die Lernenden farbige Kärtchen, die sinnvoll und entsprechend des bereits bekannten Textes zusammengesetzt werden sollen. (s. Abb. 2) Abb. 2: Beispiel für ein einfaches Zuordnungsspiel für die Verdeutlichung der Satzklammer im Perfekt und dessen Bildung. 8 Felix frühstückt nicht seine Freundin, sondern er frühstückt und seine Freundin macht Kaffee. Spielerisch Grammatik entdecken und festigen 165 d) Üben und Anwenden Nach diesen ersten Schritten, bei denen sowohl Satzklammer als auch regelmäßige Partizipien-Bildung9 des Perfekts mit haben von den Lernenden selbst entdeckt werden konnten, ist es sinnvoll, dies zunächst zu trainieren, bevor auch die unregelmäßige Partizipien-Bildung sowie die Perfektbildung mit sein eingeführt wird.10 2.2 Perfekt mit sein Nachdem die neuen Formen in Übungen angewendet und gefestigt wurden, könnte sich die Erklärung für das Perfekt mit sein anschließen. Dazu gibt es in Lehr- und Grammatikbüchern verschiedene Ansätze, die allerdings leider zu oft mehr Verbgruppen ausschließen, als sie in der Ausnahme vereinen.11 Zwar gibt es unseres Wissens keine Erklärung, die alle Ausnahmen in sich berücksichtigt, aber mit folgender ist die Anzahl der übrig bleibenden zumindest auf ein lernbares Minimum reduziert12: A A Abb. 3: Mögliche Erklärung der Verben, die das Perfekt mit „sein“ bilden. Da Transitivität und Transformativität linguistische Merkmale sind, die den Lernenden mit großer Wahrscheinlichkeit selbst aus ihrer Muttersprache nicht bekannt sind, sollte dafür unbedingt sensibilisiert werden. Dabei bietet sich z.B. folgende Vorgehensweise an, die auch in der dargestellten Reihenfolge durchgeführt werden sollte, falls Transformativität noch nicht bekannt ist. a) Transformativität Der Lehrende hat Bildkarten von transformativen Verben vorbereitet (s. Abb. 4)13. Ein Lernender umschreibt nun die auf der Karte abgebildete Aktion und die anderen Teilnehmenden müssen das Verb erraten. Nachdem alle Karten verspielt sind, werden sie in Kleingruppen an die Lernenden ausgeteilt, die diese nun umdrehen. Auf der Rückseite jeder Karte stehen zwei entsprechende Sätze im Perfekt (s. Abb. 5) – einmal mit sein 9 10 11 12 13 Wenn im Folgenden von „Partizip“ die Rede ist, ist immer das Partizip II gemeint. Wir haben unter 3.3 zahlreiche Spielvorschläge zusammengestellt, die sich für die verschiedenen Bereiche bei der Perfektübung und -wiederholung anbieten und die sich leicht dem jeweiligen Kenntnisstand der Lernenden anpassen lassen. Wenn diese Übungen für nur eine Perfektform (also entweder mit haben oder mit sein) angewendet werden, muss die Verbwahl selbstverständlich daraufhin angepasst werden. Wenn die Regel für sein sich z.B. nur auf eine Veränderung (Transformativität) stützt, wäre nicht eindeutig, warum a) auch möglich ist. a) Ich habe gut geschlafen. b) Er ist im Unterricht eingeschlafen. Ergänzt man sie aber durch den Faktor der Intransitivität so kann eindeutig zwischen den beiden Beispielen unterschieden werden. In b) ist nämlich gegenüber zu a) die Transitivität nicht gegeben. Übrig bleiben Verben wie rollen, herumschwimmen, unterlaufen, begegnen, einen Vertrag/Pakt eingehen, etwas loswerden u.a.m. Hier eignet sich die Sammlung von Macedonia. 166 Susanne Krauß, Sabine Jentges und einmal mit haben. Die Kleingruppen sollen nun überlegen, was der Unterschied in der Verwendung ist. Als Hilfestellung kann man die Lernenden bitten, ein Bild für den Perfekt-Satz mit sein zu malen, um zu erkennen, dass das Ergebnis ein anderes ist. Variante: Falls die induktive Regelfindung für die Gruppe zu schwer ist, bietet es sich auch an, im Anschluss an die Präsentation eine Regelformulierung als Lückentext anzubieten, die die Lernenden dann gemeinsam vervollständigen sollen. Abb. 4: Vorderseite einer möglichen für Spielkarte das Perfekt. Abb. 5: Rückseite einer möglichen Spielkarte für das Perfekt. b) Transitivität Der Lehrende hat zu Verben, die transitiv und intransitiv vorkommen können14, jeweils zwei kurze Sätze als Satzpuzzle vorbereitet (s. Abb. 6). Jede Kleingruppe (3-4 Personen) bekommt nun die Puzzleteile von zwei Sätzen zu einem Verb und soll die Sätze wiederherstellen. Danach werden die Lernenden gebeten, sich die Sätze genau anzusehen und nach einer Erklärung für die Verwendung von sein und haben zu suchen. Die gefundenen Regeln werden dann an den Sätzen der anderen Gruppen ausprobiert, bis man bei dem oben stehenden Merksatz angekommen ist. 14 Weitere Beispiele zu Verben, die ihr Perfekt mit haben und sein bilden, finden sich auch in Helbig; Buscha (2001: 51f). Spielerisch Grammatik entdecken und festigen 167 Abb. 6: Satzpuzzle zur Transitivität. 2.3 Übung der Formen Die folgenden Übungen und Aktivitäten sollen Anregungen für eine spielerische Festigung des grammatischen Phänomens liefern. Dabei sei angemerkt, dass die Lernenden sich durchaus an der Herstellung geeigneter Spiele beteiligen sollten, da dies nicht nur motivationsfördernd, sondern auch der Lehrkraft gegenüber zeitsparend ist. Außerdem besteht die Möglichkeit, Spiele im Klassenzimmer zu verteilen und die Lernenden je nach Übungsbedarf und Lust selbst entscheiden zu lassen, mit welchem Spiel sie üben möchten.15 An die Tafel rennen Der Kurs wird in drei oder vier Gruppen geteilt. Ein Spieler aus jeder Gruppe geht an die Tafel. Der Lehrende diktiert Buchstaben, die groß untereinander geschrieben werden. Der erste Spieler schreibt einen Infinitiv an die Tafel, der mit dem ersten Buchstaben anfängt. Wenn er fertig ist, setzt er sich hin. Erst dann darf der zweite Spieler an die Tafel rennen und das passende Partizip zu dem Infinitiv aufschreiben. Sobald er sich setzt, darf der nächste Spieler an die Tafel und ein Verb aufschreiben, das mit dem zweitem Buchstaben anfängt. Wenn ein Spieler seinen Infinitiv oder sein Partizip nicht richtig gebildet bzw. geschrieben hat, darf der nächste Spieler, der an der Reihe ist, das Wort verbessern. Gewonnen hat die Gruppe, die am schnellsten die meisten korrekten Infinitive und Partizipien gebildet hat. 15 Diese Methode ist auch unter dem so genannten ‘Stationenlernen’ bekannt. Es stellt eine Variante dar, die den Lernenden mehr Autonomie über ihr Lernverhalten überträgt und es der Lehrperson außerdem ermöglicht, sich in der Zwischenzeit intensiv mit besonders schwachen Schülern zu beschäftigen. Susanne Krauß, Sabine Jentges 168 Domino Die Domino-Karten müssen so zusammengelegt werden, dass an jeden Infinitiv das passende Partizip angelegt wird und sich so eine Dominokartenkette bildet. Ein solches Domino kann auch u.a. zur Einführung neuer (unregelmäßiger) Partizipien genutzt werden. Im illustrierten Beispiel (s. Abb. 7) sind Karten für die gängigen Bewegungsverben, die mit sein gebildet werden, zusammengestellt. Alternativ dazu können auch Bildkarten verwendet werden, die dem passenden Partizip zugeordnet werden müssen. gelaufen gehen gegangen rennen gerannt schwimmen geschwommen springen gesprungen fahren gefahren fliegen geflogen gekrochen laufen kriechen Abb. 7: Partizipien-Domino Als Variante wären hier noch Verbdreiecke (nach Piel 2002: 165) zu nennen. Hier erstellen die Lernenden ihr ‘Triomino’ selbst (s. Abb.). Jede Gruppe erhält mindestens acht Papierdreiecke und beschreibt jede Kante mit Infinitiven bzw. Partizipien, wobei es zu jedem Infinitiv ein passendes Puzzleteil mit dem richtigen Infinitiv geben muss. Dann werden die Puzzleteile einer anderen Gruppe gegeben, die nun versucht, die Teile wieder richtig zusammenzupuzzeln. Abb. 6: „Triomino“ – Dreieck-Domino zu den Partizipien Perfekt-Bingo16 Die Lernenden werden gebeten, sich ein Raster von 3x3 zu zeichnen. Der Kursleitende schreibt mindestens 15 Infinitive an die Tafel und legt fest, wie die Infinitive konjugiert werden sollen (z.B. 3. Person Singular). Die Lernenden wählen nun neun beliebige Verben aus und schreiben die konjugierte Form mit Hilfsverb je eines Verbs in je ein 16 Eine ausführliche Beschreibung mit Beispielinfinitiven findet sich online unter www.4teachers.de unter der Rubrik Unterricht Arbeitsmaterialien DaF/DaZ Grammatik Wortarten Verben. Spielerisch Grammatik entdecken und festigen 169 Feld des Rasters. Der Kursleitende ruft nun wahllos Infinitive auf, die Lernenden kreuzen ab, wenn sie das besagte Verb im Raster haben. Wer zuerst eine Dreierreihe hat, ruft Bingo! und liest die Formen vor. Sind sie korrekt, bekommt er einen kleinen Preis. Gibt es Fehler, geht es weiter, bis ein anderer Lernender Bingo! ruft. Tageszeiten. Was hast du gestern gemacht? (nach Rinvolucri 1984, hier: 97ff: Times of day) START: 6:00 … 6:15 8:30 6:30 8:15 6:45 8:00 … 21:00 21:15 21:30 Abb. 9: Beispiel für einen Spielplan zum Spiel „Tageszeiten“ 7:00 7:45 7:15 7:30 21:45 22:00 Ziel Die Lernenden arbeiten zu viert mit einem Würfel und einem Spielplan zusammen, jeder Lernende erhält eine Spielfigur. Die Spielfiguren werden auf das Spielfeld (s. Abb. 9) mit der Uhrzeit gestellt, an der die Lernenden am Tag zuvor aufgestanden sind. Durch Würfeln werden die Spielfiguren über das Spielfeld bewegt. Die Spieler müssen für jedes Spielfeld, auf dem sich ihre Spielfigur befindet, einen entsprechenden Satz bilden, z.B.: Um 8.oo habe ich gefrühstückt. Um 9.oo bin ich zur Universität gegangen. usw. Die Sätze werden aufgeschrieben und nach Spielende korrigiert. Ziel ist es, möglichst viele korrekte Sätze bis zum Zielfeld zu sammeln. Diverse Varianten sind möglich, z.B. indem von einer anderen Person berichtet werden muss. Hierbei kann die gewürfelte Augenzahl die Person in der Gruppe bestimmen oder es werden Bildkärtchen mit Tätigkeiten gezogen, hierzu eignen sich ebenfalls z.B. die Karten von Manuela Macedonia. Musical chairs/Reise nach Jerusalem (nach u.a. Jentges 2007) Eine Variante des bekannten Kinderspiels ‘Die Reise nach Jerusalem’ (= engl. musical chairs). Dieses Spiel eignet sich besonders für Gruppen, die auch Bewegungsspielen gegenüber offen sind. Es werden pro Gruppe der Teilnehmerzahl -1 (minus eins) entsprechend viele Stühle abwechselnd nach vorne und nach hinten offen in einer Reihe aufgestellt. Die Lehrperson zieht eine Karte mit der Abbildung einer Verbhandlung/ -bedeutung, die allen gezeigt wird, ohne den Namen des abgebildeten Verbs zu nennen. Die Lehrperson nennt nun beliebig viele Partizipien, je ähnlicher sich die genannten Partizipien sind, desto schwerer wird das Spiel. Wird das Partizip des auf der gezogenen Karte abgebildeten Verbs ausgesprochen, müssen sich die Lernenden, die zuvor um die Stühle herumgelaufen sind, setzen. Derjenige, der keinen Platz mehr bekommt, scheidet aus. Es wird ein Stuhl weggenommen, der Ausgeschiedene zieht eine neue Verbkarte, zeigt diese wieder allen Lernenden und beginnt mit der Nennung beliebiger Partizipien. 170 Susanne Krauß, Sabine Jentges Fliegenklatsche Abb. 10: Fliegenklatsche-Spiel Das Spiel umfasst (je nach Gruppengröße mindestens 13) Vorgabekarten, auf denen die Konjugationsaufgabe steht (Verb und Numerus) sowie Spielkärtchen, die zu jeder Vorgabekarte eine richtige Antwort und zwei falsche geben. Zur Vereinfachung sind die Rückseiten mit den Worten richtig und falsch beschriftet. Außerdem gibt es eine Kontrollkarte, auf der alle im Spiel angewendeten Verben mit der entsprechend korrekten Konjugation aufgelistet sind, und für alle Mitspielenden Spielklatschen (Fliegenklatschen, die mit einem Saugnoppen versehen sind, s. Abb. 10). Zuerst werden die Vorgabekarten gemischt. Die Spieler bekommen jeweils eine Spielklatsche zugeteilt. Nun werden die Spielkärtchen mit der Verbform nach oben, willkürlich und großflächig auf einem Tisch verteilt, um welchen sich die Gruppe versammelt. Die Lehrperson oder der Spielleitende nimmt eine Vorgabekarte, liest sie laut vor und legt sie für alle sichtbar auf dem Tisch ab. Alle Mitspieler müssen nun gleichzeitig das Spielkärtchen mit der betreffenden richtigen Verbform suchen und es mit der Spielklatsche abschlagen. Sobald ein Spielkärtchen abgeschlagen wurde, wird dieses umgedreht und kontrolliert, ob es das richtige Spielkärtchen war. Hat der Spieler das richtige Spielkärtchen erwischt, nimmt er es an sich und legt es vor sich auf dem Tisch ab. Danach liest der Spielleitende die nächste Vorgabekarte vor und das Spiel geht weiter. Wurde ein falsches Spielkärtchen abgeschlagen, so wird es zurück ins Spiel gelegt und die Suche geht weiter. Ein Spieler, der ein falsches Kärtchen abgeschlagen hat, scheidet für diese Runde aus, sobald jedoch eine neue Vorgabekarte vorgelesen wird, spielt er wieder mit. Das Spiel endet, wenn alle gesuchten Verbformen gefunden wurden. Gewinner ist, wer die meisten Spielkärtchen richtig abgeklatscht hat. Spielerisch Grammatik entdecken und festigen 171 Was ist passiert? (vgl. Behme 1985: 74) Den Lernenden wird folgende Information gegeben, z.B.: Das Fenster ist weit geöffnet. Mario liegt auf dem nassen Fußboden und ist tot. Was ist passiert?17 oder Jemand hat einen Stein auf eine Straße gelegt und EUR 20.000 dafür bezahlt. Warum?18 Die Lehrperson oder ein Lernender der Gruppe weiß die Antwort. Die anderen Lernenden müssen durch Ja/NeinFragen im Perfekt versuchen herauszufinden, was passiert ist. Andere Detektivspiele sind außerdem bei Rinvolucri (1984: 106f.) zu finden. 3. Fazit Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass der Grammatikunterricht, wenn in spielerische Aktivitäten eingebunden, von den Lernenden sehr viel positiver aufgenommen wird. Die Vorteile des Lernens ohne Angst oder Frust liegen auf der Hand. Die Integration von induktiver Regelfindung und der Beteiligung der Lernenden an der Herstellung von Spielen sind weitere, den Lern- und Behaltensprozess fördernde Momente. Insbesondere letzteres sollte, so es die Zeit erlaubt, nicht nur zur Entlastung der Lehrkraft auf die Lernenden übertragen werden. Um ein oft genanntes Argument gegen den Einsatz von Spielen im Unterricht zu entschärfen, nämlich, dass nie genug Zeit zur Verfügung steht, sei noch zu sagen, dass Spiele auch parallel in Gruppen durchgeführt werden können, entweder nach individuellem Übungsbedarf oder nach Lust und Laune der Lernenden. Wir hoffen, mit diesem Artikel und der Auswahl an spielerischen Aktivitäten Interesse und Anregungen für den eigenen Grammatikunterricht gegeben zu haben. Abschließend hier noch einige wichtige Punkte, die beim Einsatz von Spielen im Unterricht beachtet werden sollten (nach Grätz 2001: 8): - Welches sprachliche Ziel verfolge ich mit dem Spiel? - Ist die Regel einfach erklärt? Kann sie adaptiert werden? - Welche Voraussetzungen müssen die Lernenden mitbringen? (z.B. auch kulturell unterschiedliches Regelverständnis, Spielkompetenz usw.) Literatur Aristoteles (2004): Nikomachische Ethik, München: dtv (ursprünglich: ca. 350 v. Chr.). Brinitzer, Michaela; Damm, Verena (2003): Grammatik sehen. Ismaning: Hueber. Behme, Helma (1985): Miteinander reden lernen. München: iudicium. Davis, Paul; Garside, Barbara; Rinvolucri, Mario (1998): Ways of doing. Students explore their everyday and classroom processes. Cambridge: University Press. Dreke, Michael; Lind, Wolfgang (1986): Wechselspiel. Interaktive Arbeitsblätter für die Partnerarbeit im Deutschunterricht. Berlin: Langenscheidt. Dreke, Michael; Salgueiro, S. Prestes (2002): Wechselspiel junior – Bilder und mehr. Interaktive Arbeitsblätter für junge Deutschlernende. Berlin: Langenscheidt. Dreke, Michael; Salgueiro, S. Prestes (2004): Wortschatz und Grammatik – Üben mit Bildern. Berlin: Langenscheidt. 17 18 Mario ist ein Fisch. Sein Fischglas stand auf dem Fensterbrett. Ein heftiger Wind hat es aufgestoßen und es ist auf den Boden gefallen, zerbrochen und Mario ist gestorben. Er hat die Schlossallee beim Monopoly-Spiel gekauft. 172 Susanne Krauß, Sabine Jentges Even, Susanne (2003): Drama Grammatik. Dramapädagogische Ansätze für den Grammatikunterricht Deutsch als Fremdsprache. München: iudicum. Frank, Christine; Rinvolucri, Mario (1983): Grammar in action. Awarness activities for language learning. München: Hueber. Gerngroß, Günter; Wilfried Krenn; Herbert Puchta (1999): Grammatik kreativ. Berlin: Langenscheidt. Grätz, Ronald (2001): Vom Spielen, Leben, Lernen. In: Fremdsprache Deutsch 25, 5-8. Helbig, Gerhard; Buscha, Joachim (2001): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin: Langenscheidt. Jentges, Sabine (2007) Effektivität von Sprachlernspielen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Kars, Jürgen; Häussermann, Ulrich (1997): Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt: Diesterweg. Klippel, Friederike (1980): Spieltheoretische und pädagogische Grundlagen des Lernspieleinsatzes im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt: Lang. 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Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 173-186. Gisella Ferraresi (Frankfurt) Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis Einleitung Das Erscheinen des 2004 vom Institut der deutschen Sprache in Mannheim herausgegebenen Handbuchs der deutschen Konnektoren hat das in den letzten Jahren neu erwachte Interesse an Konnektoren deutlich gezeigt, das eine Welle neuer – insbesondere sprachwissenschaftlich orientierter – Veröffentlichungen über Konnektoren hervorgebracht hat. In den 80er Jahren war die Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Kohärenzbedingungen der Diskurssegmente gerichtet, wobei eher die Art der Konnexion als die Analyse der Konnektoren im Mittelpunkt stand. Inzwischen konzentriert sich die Konnektorenforschung vermehrt auf das Zusammenspiel der verschiedenen grammatischen Bereiche. Insbesondere beschäftigen sich die Forschungen mit Fragen, die die Interaktion von Syntax, Semantik und Prosodie mit der Pragmatik sowie die Gebrauchsbedingungen betreffen, denen Konnektoren unterliegen. In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, ob durch die wiederbelebte Diskussion in diesem traditionellen Bereich der Grammatik neue Erkenntnisse aus dem Blickwinkel der Sprachvermittlung im DaF-Bereich zu gewinnen sind. Da der Bereich ‘Konnektoren’ zu umfangreich ist, werde ich mich auf sogenannte ‘Adverbkonnektoren’ beschränken. Diese verbinden wie Satzkonnektoren zwei Sätze. Allerdings leiten sie im Unterschied zu Satzkonnektoren als zweites Konnekt keinen Nebensatz, sondern einen unabhängigen Satz ein wie in dem folgenden Beispiel: (1) Er hatte viele Affären, und nun hat er sogar die Frau fürs Leben gefunden. Trotzdem ist Emanuel mit seinem Leben unzufrieden, (L99/JAN.00551 Berliner Morgenpost, 21.01.1999) Gisela Ferraresi 174 Trotzdem verknüpft in diesem Satz die zwei Konnekte ‘er hat sogar die Frau fürs Leben gefunden’ und ‘Emanuel ist mit seinem Leben unzufrieden’ und stellt zwischen ihnen eine explizit konzessive Relation her. Eine solche semantische Relation kann auch durch einen Satzkonnektor wie obwohl hergestellt werden, der dann einen Nebensatz einführt: (2) Obwohl er sogar die Frau fürs Leben gefunden hat, ist Emanuel mit seinem Leben unzufrieden. Sowohl durch trotzdem als auch durch obwohl wird die Bedeutung ausgedrückt, dass Emanuel entgegen der Erwartung, dass er aufgrund seines Liebeslebens mit seinem Leben zufrieden sein sollte, unzufrieden ist. Dass das zweite durch obwohl eingeführte Konnekt ein Nebensatz ist, erkennt man an der Position des finiten Verbs ‘gefunden hat’ in Satzendstellung. Im Unterschied zu den meisten Arbeiten zu Konnektoren, die sich vorwiegend mit Semantik beschäftigen, wird im Handbuch das syntaktische Verhalten dieser Elemente in den Vordergrund gerückt. Das zugrunde gelegte Modell ist das Stellungsfeldermodell. In diesem Modell bilden der finite und der nicht-finite Verbteil, wie in (3) dargestellt, jeweils die linke und die rechte Satzklammer, die unterschiedliche Felder markieren. Das Feld vor der linken Klammer wird ‘Vorfeld’ genannt, zwischen den beiden Klammern steht das ‘Mittelfeld’ und nach der rechten Klammer das ‘Nachfeld’: (3) Vorfeld Hans Hans Hans Wer linke Satzklammer Mittelfeld rechte Satzklammer Nachfeld hat Rosa angerufen, als sie in Rom war ruft Rosa an, wenn er in Rom ist telefoniert mit Rosa, wenn er in Rom ist hat eigentlich Rosa angerufen gestern? Soll Hans Rosa anrufen, wenn er in Rom ist? Ruf doch Rosa mal an, wenn du in Rom bist! Tab. 1: Stellungsfelder im Deutschen nach dem Handbuch der deutschen Konnektoren (R. Pasch et al. 2003: 67 ff.) Subordinierende Konjunktionen besetzen in diesem Modell die linke Satzklammer. Das finite Verb steht dann in der rechten Satzklammer: (4) linke Satzklammer (Subordinator) weil obwohl während Tab. 2 Mittelfeld rechte Satzklammer Nachfeld Hans Rosa nicht Hans immer Rosa das nicht anruft, angerufen hat, wusste wenn er in Rom ist früher damals Die Besonderheit der Adverbkonnektoren ist, dass sie im Unterschied zu subordinierenden Konjunktionen nicht nur an einem Platz, sondern in verschiedenen Positionen auftreten können. Im Beispiel (1) steht trotzdem im Vorfeld, aber trotzdem kann auch im Mittelfeld (5a) und in der sogenannten Nullposition erscheinen (5b). Dies zeigt sich Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis 175 dadurch, dass das finite Verb in der linken Satzklammer erscheint und davor nicht nur der Adverbkonnektor steht, sondern auch das Subjekt: (5) a. Mittelfeld: Und der Wahlkampf findet trotzdem statt (A99/OKT.73259 St. Galler Tagblatt, 19.10.1999) b. Nullposition: Viermal hat «Vati» eine Berufslehre begonnen, die Ausbildung aber jedesmal nach kurzer Zeit abgebrochen. «Einmal lag die Schuld beim Lehrmeister, dreimal lag sie bei mir», gibt «Vati» zu. Trotzdem: Um sich seinen Wunsch von einer eigenen Wohnung erfüllen zu können, würde er jetzt auch gerne eine Festanstellung annehmen. (A98/JAN.00012 St. Galler Tagblatt, 03.01.1998) (6) Nullposi- VorerstVorfeld tion position Aber Trotzdem Tab. 3 Nacherstposition sogar das neueste Programm freilich nur neue Programme jedenfalls linke SatzMittelfeld klammer keine hundertkann prozentige Sicherheit einiger-maßen bieten Sicherheit rechte Satzklammer garantieren Trotz dieses Unterschieds zu subordinierenden Konjunktionen sind Adverbkonnektoren in den meisten Abhandlungen nach den gleichen Kategorien klassifiziert worden wie subordinierende Konjunktionen. Die Relationen, die durch Konnektoren zwischen zwei Konnekten hergestellt werden können, werden in den traditionellen Textgrammatiken als konzessiv (durch allerdings, immerhin), kausal (durch zumal, nämlich, deshalb, deswegen, darum u.a.), temporal oder adversativ (durch aber, jedoch, dennoch u.a.) gekennzeichnet, und die Konnektoren, die solche Relationen ausdrücken, werden auch in dieselben Klassen eingeteilt. In der Tat haben die meisten Adverbkonnektoren (mit Ausnahme der adversativen) – wie Breindl (2004a) anmerkt – einen entsprechenden Satzkonnektor. Alle obengenannten Relationen werden sprachtypologisch sogar häufiger durch einen Satzkonnekor als durch einen Adverbkonnektor realisiert. Das Bild verkompliziert sich, wenn man geschriebene und gesprochene Sprache miteinander vergleicht. Hier nämlich liegt ein wichtiger Unterschied, der darin besteht, dass die geschriebene Sprache seltener Gebrauch von Adverbkonnektoren macht als die gesprochene. Dafür werden in der geschriebenen Sprache vorwiegend Satzkonnektoren verwendet. Der konzessive Konnektor trotzdem z.B. wird im Jahrgang 1999 der Berliner Morgenpost deutlich seltener realisiert als obwohl: (7) trotzdem 1915 obwohl 2705 Tab. 4: Frequenz von trotzdem und obwohl im Jahrgang 1999 der Berliner Morgenpost Gisela Ferraresi 176 Ein Vergleich mit dem Freiburger Korpus der gesprochenen Sprache zeigt das gegenteilige Verhältnis in der Frequenz von trotzdem und obwohl: (8) trotzdem obwohl 704 420 Tab. 5: Frequenz von trotzdem und obwohl im Freiburger Korpus In der gesprochenen Sprache besteht die Tendenz, bevorzugt ‘unabhängige’ Sätze zu benutzen, weil diese für den Sprecher einfacher zu produzieren und für den Hörer leichter zu verstehen sind (vgl. Schwitalla ²2003: 107ff.). Deshalb ist es sehr wichtig, dass Adverbkonnektoren im DaF-Unterricht neben grundlegenden grammatischen Strukturen wie Tempus oder nominaler Flexion vermittelt werden, und zwar nicht nur aus dem Grund, dass sie generell kohärenzstiftende Elemente in allen Sprachen sind, sondern auch, weil sie ein wichtiges kommunikatives Mittel der gesprochenen Sprache darstellen. Betrachtet man die Daten und die Untersuchungen zum Erwerb von Subordination bei Zweitsprachlern, stellt man fest, dass Koordination früher als Subordination erworben wird, und dass bei subordinierenden Elementen anfangs nur diejenigen verwendet werden, die pragmatisch relevant sind, wie Temporal- oder Kausalkonjunktionen, die den Rahmen des Diskurses festlegen (vgl. Crespi Günther 1999: 74, Giacalone Ramat 1999). Koordinierende Konjunktionen stellen also die anfängliche Stufe beim Erwerb komplexerer Strukturen dar. Nun entsteht die Frage, wie es sich mit Adverbkonnektoren verhält, die einen Zwischenstatus zwischen Koordination und Subordination darstellen. Der Begriff ‘Subordination’ ist bekanntlich schwierig zu definieren, und es sind darüber sehr unterschiedliche Positionen zum Ausdruck gebracht worden. Foley; Van Valin (1984: 239ff.) z.B. bezeichnen Koordination als Ganzes-Ganzes-Relation, da keins der beiden Konjunkte in dem anderen eingebettet ist. Subordination hingegen ist durch Einbettung charakterisiert, was zu einer Teil-Ganzes-Relation führt. Dabei wird allerdings übersehen, dass es auch Strategien der Hypotaxe – wie durch Adverbkonnektoren – gibt, die nicht zur Subordination führen. Das heißt, die oben genannten Relationen können durch verschiedene morphosyntaktische Strategien realisiert werden, die nicht in einer entweder/ oder-Beziehung stehen. Nach Hopper; Traugott (20042) stellen beispielsweise die verschiedenen Satzverknüpfungstypen ein Kontinuum dar, das durch die Merkmale [+/-abhängig] und [+/- eingebettet] charakterisiert werden kann. Während also Koordination wie in Foley & Van Valin (1984) als die Zusammensetzung zweier unabhängiger Hauptsätze bezeichnet wird, wird Subordination von der Hypotaxe unterschieden: letztere ist von der Abhängigkeit vom Hauptsatz gekennzeichnet, die aber nicht zu Einbettung führt, Subordination hingegen ist sowohl durch Abhängigkeit als auch durch Einbettung im Hauptsatz charakterisiert (aus Hopper; Traugott 20042: 178): (9) Parataxe − abhängig − eingebettet Tab. 6 > Hypotaxe + abhängig − eingebettet > Subordination + abhängig + eingebettet Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis 177 Ein kausaler Konnektor wie denn z.B. führt zwar einen abhängigen kausalen Satz ein, aber keinen subordinierten. Wie oben schon erwähnt, tendieren Lerner einer Zweitsprache dazu, in der Anfangsphase Sätze parataktisch zu verbinden, weil diese vom Matrixsatz unabhängig sind, d.h. parataktische Konstruktionen sind einfacher zu parsen und dementsprechend auch einfacher zu lernen als komplexe Sätze mit Einbettung1. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in Lernerdiskursen Relationen wie z.B. Kausalität oder Konzessivität nicht ausgedrückt werden. Hierfür steht insbesondere und als prototypische koordinierende Konjunktion in Basisvarietäten (Klein; Perdue 1997) zur Verfügung, die auch kausal oder konzessiv interpretiert werden kann: (10) a. Der Klingel klingelte und ich habe mich erschrocken b. Ich habe mich erschrocken, weil der Klingel klingelte c. Es regnet und Peter geht spazieren d. Peter geht spazieren, obwohl es regnete In diesem Sinne ist und höchst polyfunktional und unterspezifiziert. Erst in einer späteren Lernphase (Post-Basisvarietät) treten adverbiale Konnektoren und subordinierende Konjunktionen auf, die die parataktische Strategie der Anfangsphase vollkommen ersetzen. Wie Crespi Günther (1999) durch ihre empirische Untersuchung gezeigt hat, besteht auch innerhalb der Subordination eine präzise Sequenz beim Erwerb der unterschiedlichen subordinierenden Konjunktionen. Die ersten Konjunktionen, die in den Diskursen von Zweitsprachlern erscheinen, sind kausale und temporale2, die den Rahmen der beschriebenen Ereignisse definieren. Diese Ergebnisse werden auch durch eine schnelle Überprüfung der ZISA-Daten3 bestätigt, die Ende der 70er Jahren erhoben worden sind. 1. Lernerdaten Im Folgenden beziehe ich mich auf die Aufnahmen von Bruno und von Giovanni4, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt wurden und einen Zeitraum von ca. 2 Jahren abdecken. Sowohl in den Daten von Bruno als auch in denen von Giovanni treten Koordinationsstrukturen mit und und aber und Konjunktionen wie weil schon in den 1 2 3 4 Wie Chini (1998) für den Erwerb der verschiedenen Einbettungsstrategien deutlich zeigt, spielt auch die Ausgangssprache eine wichtige Rolle. Deutsche Italienischlerner beispielsweise zeigen besondere Schwierigkeiten beim Erwerb der italienischen nicht-finiten Subordination mit Partizipien und Gerundien, weil diese keine Entsprechung im Deutschen hat. Die Konjunktion wann steht sowohl für wenn als auch für als, die später eintreten. Im ZISA-Projekt (Zweitspracherwerb Italienischer und Spanischer Arbeitnehmer) wurde 1978-1982 eine Langzeitstudie an der Universität Wuppertal unter der Leitung von J.M. Meisel durchgeführt, bei der zwölf Immigranten aus Italien, Spanien und Portugal für ca. 2 Jahre in Abstand von einigen Wochen auf Tonband aufgenommen wurden. Es handelt sich um einstündige Gespräche mit den Interviewern, die dann kodiert und analysiert wurden (vgl. Clahsen; Meisel; Pienemann 1983). Ich möchte an dieser Stelle Jürgen M. Meisel danken, der mir die ZISA-Daten zur Verfügung gestellt hat. Bruno ist ein sechzehnjähriger Italiener, der aus Sizilien stammt. Er wohnt mit seinem Bruder und dessen Frau zusammen, und arbeitet als Hilfsarbeiter in der Packabteilung einer Spülmaschinenfabrik. Seine 29 Aufnahmen beginnen mit der 7. Woche seines Aufenthalts in Deutschland und enden mit der 110. Woche. Giovanni ist 23 Jahre alt, stammt aus Sizilien und arbeitet als Schleifer. Er lebt mit seiner Familie. Die 34 Aufnahmen entstanden im Zeitraum von der 3. bis zur 110. Aufenthaltswoche. 178 Gisela Ferraresi ersten Aufnahmen5 auf. Adverbkonnektoren sind auch in den letzten Aufnahmen gänzlich abwesend. Dieses Ergebnis lässt vermuten, dass Adverbkonnektoren nur zu den fortgeschrittenen Varietäten gehören. In der Tat zeigt eine kursorische Überprüfung der Frequenz von Adverbkonnektoren in fortgeschrittenen geschriebenen Lernervarietäten zunächst, dass solche Elemente zumindest in der geschriebenen Sprache präsent sind, aber sehr selten und oft auch fehlerhaft benutzt werden. Die untersuchten Texte stammen aus dem FALKO-Korpus6, das Essays und Zusammenfassungen enthält, die an verschiedenen Universitäten von fortgeschrittenen Sprechern unterschiedlicher Muttersprachen verfasst wurden. (11) trotzdem obwohl nämlich/deshalb weil Essays 11 21 0 / 56 182 Zusammenfassungen 8 25 0 /4 52 Tab. 7: Frequenz einiger Adverb- und Satzkonnektoren im FALKO-Korpus der fortgeschrittenen Lernervarietäten Ein Vergleich mit den Texten von Muttersprachlern zeigt, dass der Gebrauch von Adverbkonnektoren trotz hohem Sprachkenntnisniveau weiterhin nicht wirklich internalisiert ist. Die Schwierigkeiten, mit denen der Lerner beim Erwerb von Adverbkonnektoren konfrontiert ist, sind sehr unterschiedlich, wie die Daten aus dem FALKO-Korpus zeigen. Sie reichen von der Satzstellung wie in (12) zur Semantik wie in (13-15) (vgl. Breindl 2004). Hier wird immerhin z.B. schlicht und einfach als Temporaladverb immer verwendet, in (14) wird trotzdem wie die Präposition trotz eingesetzt. In (15) wird anstelle von deswegen das Ortsadverbial daher verwendet, das allerdings keine Konnektorfunktion hat; in (15) wird mit jedoch eine konzessive Komponente eingeführt: (12) Diese Frage schlägt vor, dass die wirkliche Welt nur der Beruf heißt, jedoch die wirkliche Welt heißt nicht nur die Karriere, sondern auch andere Bereiche des Lebens. (Text: fk008_ 2006_08) (13) Was jedoch die Studiumabschlüsse praxisorientierter machen würde, wäre ein obligatorisches Praktikum während des Studiums. Das gäbe den Studenten Arbeitserfahrung und die Möglichkeit, wichtige Kontakte zu knüpfen. Denn leider ist es immerhin an vielen Universitäten so, dass die Studenten selbst dafür verantwortlich sind, nach dem Studium ein Praktikum zu finden, was ziemlich schwer sein kann, wenn einem die wichtigen Kontakte fehlen. (Text: hu001_2006_10) (14) Trotzdem der Tat, dass viele Universitätsabschlüsse nicht praxisorientiert sind, ist ein Vorteil. (Text: fk008_2006_08) 5 6 Bei Bruno in der 2., bei Giovanni in der 12. Aufnahme. Das FALKO-Korpus (Fehlerannotiertes Lernerkorpus) enthält an verschiedenen Universitäten verfasste Essays und Zusammenfassungen von fortgeschrittenen Lernern des Deutschen, die die DSH-Prüfung schon bestanden haben. Sie sind im Korpus fehlerannotiert. Das Korpus besteht außerdem aus einem Vergleichkorpus, das aus Zusammenfassungen der gleichen Texte besteht, die aber von Muttersprachlern verfasst worden sind. Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis 179 (15) Widerstand ist ein Form von Kriminalität, da es gegen dem Gesetzt ist, aber daher bedeutet es nicht das es unbedingt negativ gesehen sein sollte, aber hat es auch positive Konnotationen. Ich werde hauptsächlich argumentieren, dass Kriminalität sich nicht auszahlt, aber jedoch werde ich auf positive und negative Fälle von Kriminalität hinweisen. (Text: sa009_2006_09.txt) Hinsichtlich der Stellung im Satz können die meisten Adverbkonnektoren, wie oben bereits erwähnt, an verschiedenen Positionen auftreten. Von dieser Möglichkeit scheinen aber die wenigsten Lerner Gebrauch zu machen. Die meisten setzen Adverbkonnektoren am häufigsten entweder in Anfangsposition ein und verwenden sie wie Konjunktionen (wie in 12) oder im Mittelfeld wie Adverbien: (16) Das mag wie Elitismus aussehen, ich glaube jedoch dass diese Bildungspolitik zum ökonomischen Aufschwung Finlands beigetragen hat. (Text: fk009_2006_08) Die Nullposition wird so gut wie nie benutzt; ebenfalls praktisch ungenutzt sind auch Vorerst- und Nacherstposition. Somit werden wichtige Ausdrucksmöglichkeiten verschenkt, die für die Kohärenz im Diskurs zur Verfügung stünden. Zum Beispiel dient bei einigen Konnektoren die Nacherstposition dazu, ein kontrastives Topik herauszustellen. Dieses wird zu einer relevanten Menge aus dem vorherigen Kontext etabliert und gleichzeitig in Kontrast dazu gestellt: (17) Das möge zwar alles so sein, meinte einer der Langzeitarbeitslosen in Gossau. Er jedoch habe andere, konkretere Probleme, als sie gemeinhin am 1. Mai zu hören seien (A97/ APR.01235 St. Galler Tagblatt, 30.04.1997) In diesem Fall wird das Element vor dem Konnektor durch die sogenannte Hutkontur, die typisch für solche Topiks ist, prosodisch hervorgehoben: (18) ER/ jedoch habe /ANdere, konkretere ProbLEme\, Was könnte der Grund dafür sein, dass selbst bei fortgeschrittenen Lernern Adverbkonnektoren in so geringer Zahl auftreten und wenn, dann oft auch falsch? Eine mögliche Erklärung liefert die Hypothese von Clahsen; Felser (2006), der zufolge L2-Lerner eine andere Verarbeitungsstrategie besitzen als L1-Sprecher. Clahsen; Felser (2006) unterscheiden nämlich zwei unterschiedliche Verarbeitungsmodus bei Lernern, die sie experimentell getestet haben. Die erste nennen sie full parsing, die zweite shallow parsing. Letztere unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass der Lerner dabei keinen direkten Gebrauch von der Grammatik macht, sondern den Satz aufgrund von lexikalischen Informationen interpretiert. L2- Lerner bedienen sich vorwiegend der Strategie des shallow parsing. Somit ist die syntaktische Repräsentation für zu verarbeitende Sätze weniger detailliert und vor allem nicht genau genug, wenn der Satz komplex ist. Dies bedeutet, dass die Struktur komplexer Sätze, die durch das shallow parsing verarbeitet wird, eigentlich nicht erlernt werden kann, weil sie nicht wirklich top down geparst wird. Bedingt durch dieses unterschiedliche parsing folgt, dass L2-Lerner die Bedeutung von Adverbkonnektoren lexikalisch verstehen können, sie jedoch nicht aktiv verwenden können, weil ihnen die dahinterstehende Struktur obskur bleibt. Die zugrundeliegende Struktur bei komplexen Sätzen, die durch Adverbkonnektoren verbunden werden, ist 180 Gisela Ferraresi – wie oben angemerkt – durchaus schwierig zu interpretieren, da der durch den Adverbkonnektor eingeleitete Satz semantisch vom anderen Konnekt abhängig ist, syntaktisch aber nicht eingebettet ist. Eine Interpretation kann nur erfolgen, wenn nicht nur die semantisch-lexikalische Bedeutung der einzelnen Adverbkonnektoren verstanden ist, sondern, wenn auch die zugrundeliegende syntaktische Repräsentation richtig verarbeitet und dementsprechend erworben wird. Dies scheint aber selbst bei fortgeschrittenen Lernern nicht der Fall zu sein. Wie kann dieser Misslichkeit abgeholfen werden? Der Vermittlung von grammatischen Strukturen sollte die Aufgabe anvertraut werden, die Situation zu bessern. Wie ein Überblick zu den gängigen Grammatiken zeigt, ist auch da die Erklärung alles andere als klar. 2. Die Textgrammatiken Konsultiert man die Textgrammatiken, begegnet man der ersten Schwierigkeit bereits bei der Terminologie. Neben den Begriffen ‘Konjunktionaladverbien’ (Helbig; Buscha 2005: 308) und ‘Rangierpartikeln’ (Engel 1996) finden sich auch ‘Konnektivpartikeln’ (Zifonun et al. 1997) und ‘Modaladverbien’ (Duden 2005). Eisenberg (1999: 227) nennt sie ‘Konjunktionaladverbien’ und behandelt sie nur beiläufig. Außer der Terminologie ist auch die Klassifikation unterschiedlich. Helbig; Buscha (2005: 308ff.) benutzen neben der Klasse der ‘Konjunktionaladverbien’ auch andere Klassen wie ‘Pronominaladverbien’ (wobei, dabei usw.), ‘Modaladverbien’ (allerdings, dagegen, immerhin, jedoch usw.) und ‘Kausaladverbien’ (also, nämlich, dennoch, trotzdem usw.). Die folgende Tabelle gibt eine Zusammenfassung darüber wieder: (19) Duden Engel Helbig; Buscha Zifonun et al. Präpositionaladverb Konnektivpartikel: Rangierpartikeln: Pronominaladverbien: (Pronominaladverb): allerdings, immerzwar wobei, dabei wobei, dabei hin, Kommentaradverb Konjunktoren: (Satzadverb, ModalModaladverbien: additiv: und Modalpartikeln: wort): allerdings, dagegen, adversativ: aber allerdings allerdings, immerhin, immerhin explikativ: und jedenfalls zwar Konjunktionaladverb: Adverbien: Nexus-Adverb: kopulativ: zudem kausal: darum, des- indessen, dennoch, kausal: deswegen, halb, deswegen sonst Adverbien: deshalb kausal; daher, konzessiv: trotzdem, darum, deshalb, Konjunktoren: Kausaladverbien: immerhin, allerdings weswegen aber, jedoch, also, nämlich adversativ: indessen, nämlich dennoch, jedoch Tab. 8: Überblick zur Behandlung von Adverbkonnektoren in den Textgrammatiken Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis 181 Hinsichtlich der Funktion der Adverbkonnektoren wird generell behauptet, dass sie als Verbindungselemente mit relationaler Funktion zwischen zwei Sätzen dienen. In der IDS-Grammatik von Zifonun et al. (1997) ist die Funktion von Adverbkonnektoren (=‘Konnektivpartikeln‘) „… die (konzedierende, kontrastierende, substituierende usw.) Relationierung von Sätzen oder kommunikativen Minimaleinheiten zu vorhergehenden Sätzen oder kommunikativen Minimaleinheiten (=KM) des Sprechers oder eines Vorredners“. (Zifonun et al. Bd 1: 59) Für Duden (2006: 579) setzen „Konjunktionaladverbien zwei Sätze in eine Relation zueinander und beziehen sich damit auf zwei oder mehr Sätze“. Wer sich nun die sprachlichen Mitglieder dieser Klassen konkret anschaut, dem springt die extreme Uneinigkeit sofort ins Auge. Zum Problem der Klassifikation schreiben auch die Autoren der Duden-Grammatik (2005: 578), dass die Klassen der Adverbien, und somit auch der Konjunktionaladverbien, sich zugegebenermaßen je nach Semantik, Funktion und Geltungsbereich unterteilen lassen, wobei dann eine gewisse Überlappung unvermeidlich ist. So findet man z.B. allerdings unter Modaladverbien in Helbig; Buscha (2005), im Duden (2005: 591, 592) dagegen sowohl unter konzessiven Konjunktionaladverbien wie auch unter Kommentaradverbien. Keine der didaktischen Grammatiken behandelt explizit und ausführlich die unterschiedlichen syntaktischen Positionen, mit denen auch Bedeutungsunterschiede korrelieren. Ebenfalls wird die Rolle der Prosodie bei der Interpretation verschwiegen. 3. Die didaktischen Grammatiken Auch in den sogenannten didaktischen Grammatiken werden Adverbkonnektoren unter verschiedenen Bezeichnungen untergebracht; es besteht nicht einmal Einigkeit darüber, ob sie unter Koordination (Helbig; Buscha: 308 ‘Konjunktionaladverbien’) oder eher unter Subordination (Hall; Scheiner 2001: 266 ‘Nebenordnende Konjunktionen’) subsumiert werden sollen. 182 Gisela Ferraresi (20) Hall; Scheiner 2001 Helbig; Buscha 2001 Rug; Tomaszewski 2001 Dreyer; Schmitt 2000 Nebenordnende Konjunktionen: Konjunktionen: Typ A : verbindet gleiaber, denn, doch, che Teile) Konjunktionaladjedoch Grund: denn verbien: Konjunktionen: Widerspruch: aber, kausal: darum, desKonjunktionalad- Modaladverbien: sondern allerdings, dagegen, halb, deswegen; verbien: Zeit: und konsekutiv: also, additiv: außerdem, hingegen, immerhin, Typ C: konjunktionale folglich, demnach; ebenfalls, übrigens, jedoch Ausdrücke, die selbstänKausaladverbien: konzessiv: trotzdem, adversativ: dagedige Satzteile sind: daher, darum, dennoch, allerdings gen, vielmehr Grund: deshalb adverbial (Grund, deshalb, deswegen, Widerspruch: trotzdem nämlich Folge, Art und Bedingung: vorausgeWeise): deshalb, setzt trotzdem, dadurch, Folge: also, folglich dabei Pronominaladerläuternd: und verbien: zwar, sozusagen wobei, dabei Tab. 9: Überblick zur Behandlung von Adverbkonnektoren in den didaktischen Grammatiken Die meisten Übungsgrammatiken bieten keine kompakte Darstellung, sondern verteilen den Stoff über mehrere Kapitel wie Hall; Schreiner (2001). Bei den Adverbkonnektoren wird man außerdem im Unterschied zu den entsprechenden subordinierenden Konjunktionen nicht immer darauf aufmerksam gemacht (wie etwa in Kars; Häussermann 1997), dass dadurch bestimmte semantische Relationen zwischen zwei Sätzen hergestellt werden können. Hall; Schreiner (2001) behandeln im Kapitel 13 solche Adverbkonnektoren, die eine Entsprechung als subordinierende Konjunktion haben. Adversative Konnektoren wie hingegen befinden sich in Kap. 17 unter ‘Satzverbindungen’, die eigentlich teilweise schon in Kap. 13 abgehandelt worden sind. Dort sind sie zusammen mit den entsprechenden subordinierenden Konjunktionen und mit den Präpositionen in einer schönen überschaubaren Tabelle nach Typ und Funktion klassifiziert (S. 193). Auch wird nicht in allen Grammatiken auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die meisten adverbialen Konnektoren mehrere Positionen einnehmen können. Nur Dreyer; Schmitt (1987: §23, 25-35) bieten zwei Kapitel mit dem Titel ‘Konjunktionen in der Position Null’ und ‘Konjunktionen in der Position 1’. In Rug; Tomaszewski (2001) wird jedem Kapitel ein kurzer Regelteil vorangestellt. Im Kapitel ‘Zwischen den Sätzen’ werden adverbiale Konnektoren unter der Überschrift ‘Konjunktionen’ behandelt, wobei hier auch subordinierende Konjunktionen mit einbezogen werden sollen. Die Autoren schlagen eine dreigliedrige Klassifikation vor, die sie A, B und C nennen: Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis 183 Konjunktionen des Typs A verbinden gleiche Sätze oder Satzteile wie koordinierende Konjunktionen; Typ B sind die subordinierenden Konjunktionen; Typ C enthält die adverbialen Konnektoren. Dies verschafft dem Lerner einen Überblick über die syntaktische Einteilung. Prosodische Eigenschaften werden auch hier nicht erwähnt. 4. Adverbkonnektoren: Versuch eines Vorschlages für die DaFDidaktik Wie oben gezeigt, werden Adverbkonnektoren sowohl in den Textgrammatiken als auch in den didaktischen Grammatiken oft stiefmütterlich behandelt. Die Erkenntnisse aus der linguistischen Forschung werden in den meisten dieser Grammatiken nicht berücksichtigt, mit dem Ergebnis, dass die Darstellung unvollständig und nicht immer verständlich ist. Insbesondere die adversativ-konzessiven Adverbkonnektoren leiden darunter, dass sie keine Entsprechung unter den Satzkonnektoren haben und somit auch keiner der traditionellen semantischen Klassen angehören. Syntaktische und prosodische Eigenschaften werden nur am Rande oder gar nicht erwähnt; vielmehr beschränkt sich die Behandlung auf eine Auflistung der Adverbkonnektoren in den einzelnen semantischen Klassen. Ferner wäre es wünschenswert, solche Elemente im Kontext, also durch die Anwendung von authentischem Material, zu behandeln, weil sonst ein Teil der Bedeutung nicht erfasst werden kann; ohne Kontext kann auch die Intonation nicht ermittelt werden. Würde man Adverbkonnektoren nun ausführlich behandeln, sollten auf jeden Fall folgende Faktoren mitberücksichtigt werden (vgl. auch Breindl 2004b): a) b) c) d) Position im Satz (bedingt durch den Kontext) Prosodisches Verhalten Vergleichbarkeit/Ersetzbarkeit durch die anderen Mitglieder derselben Klasse (dialogische vs. monologische Textsorte) Adversative Adverbkonnektoren wie allerdings, aber und jedoch können z.B. in Kontexten wie dem folgenden beobachtet werden: (21) Vielleicht ist das Publikum nicht bereit, Bocellis Wandlungen zu folgen? In einem Interview spricht er über seine Sängerfreunde Luciano Pavarotti und Zucchero, denen er den Start seiner Karriere zu verdanken hat. Allerdings hat Andrea Bocelli auch abseits des Musikgeschäfts Freunde, die man in der Schweiz gut kennt. So geht er etwa mit Alberto Tomba gelegentlich skifahren. (St. Galler Tagblatt, 06.05.1997) Hier ist auch jedoch möglich. Nacherstposition (22a) ist aus den Gründen nicht geeignet, die für (17) (hier unten als 22b wiederholt) schon erwähnt worden sind: (22) a. *Andrea Bocelli allerdings hat auch abseits des Musikgeschäfts Freunde, ... b. Das möge zwar alles so sein, meinte einer der Langzeitarbeitslosen in Gossau. Er jedoch habe andere, konkretere Probleme, als sie gemeinhin am 1. Mai zu hören seien (A97/APR.01235 St. Galler Tagblatt, 30.04.1997) Auch hier sind aber und allerdings möglich, wobei aber zusätzlich die Intonation beachtet werden müsste. Gisela Ferraresi 184 Eine mögliche Darstellung könnte in etwa so aussehen: Kontext: Vielleicht ist das Publikum nicht bereit, Bocellis Wandlungen zu folgen? In einem Interview spricht er über seine Sängerfreunde Luciano Pavarotti und Zucchero, denen er den Start seiner Karriere zu verdanken hat. Nullposition Vorfeld linke Satz-klammer Mittelfeld Andrea Bocelli hat auch abseits des Musikgeschäfts Freunde Allerdings Jedoch Andrea Bocelli auch abseits des Musikgeschäfts Freunde Aber Allerdings: hat Tab. 10 Kontext: Das möge zwar alles so sein, meinte einer der Langzeitarbeitslosen in Gossau. Nullposition Vorerst-position Vorfeld Nacherst-polinke Satzsition (starke klammer Betonung) habe er Aber Allerdings: habe Allerdings Jedoch Er aber allerdings jedoch habe Mittelfeld andere, konkretere Probleme er andere konkretere Probleme andere, konkretere Probleme Tab. 11 Dieses kleine Beispiel soll nur eine mögliche Richtung zeigen, wie man die Behandlung von Adverbkonnektoren verbessern könnte. Selbstverständlich gibt es noch wesentlich mehr zu diesem Thema zu sagen. 5. Zusammenfassung Ziel dieses Beitrags war, die Problematik des Erwerbs von Adverbkonnektoren bei L2-Lernern des Deutschen zur Diskussion zu bringen. Es wurde angemerkt, wie diese erst bei fortgeschrittenen Lernern zur Anwendung kommen und selbst bei solchen Lernern oft missverständlich verwendet. Ein Vergleich zwischen geschriebener und gesprochener Sprache hat gezeigt, dass Adverbkonnektoren tendenziell ein Merkmal der gesprochenen Sprache sind. Allerdings sind sie alles andere als einfach zu erlernen auf Grund der Tatsache, dass die durch sie eingeführten Konnekte weder selbstständige Sätze noch reine subordinierte Sätze sind. Die Schwierigkeit beim Erwerb von Adverbkonnektoren besteht aus psycholinguistischer Adverbkonnektoren: Von der Theorie zur Praxis 185 Sicht darin, dass L2-Lerner sich nicht beider Verarbeitungsstrategien bedienen, die Muttersprachlern zur Verfügung stehen, nämlich des sogenannten full parsing und des shallow parsing, sondern ihnen der Zugriff zur Verarbeitung von komplexen Sätzen durch das grammatikbasierte full parsing verweigert ist. Dadurch werden solche komplexe Sätze nur lexikalisch-semantisch verarbeitet, was dazu führt, dass sie nicht mit der richtigen entsprechenden syntaktischen Repräsentation erlernt werden. Den L2-Lernern bleibt also meistens unklar, dass es sich bei Sätzen, die durch Adverbkonnektoren eingeführt werden, weder um selbständige Sätze noch um subordinierte Sätze handelt, sondern dass sie hypotaktisch sind. Weiterhin haben solche komplexe Sätze ein größeres Spektrum an Positionen im Satz, an denen sie auftreten können, als reine subordinierte Sätze, die von L2-Lernern kaum ausgeschöpft werden. Dabei spielt auch die Intonation eine grundlegende Rolle. All diese Faktoren werden von den meisten Text- und didaktischen Grammatiken schlicht und einfach ignoriert. Den grammatischen bzw. psycholinguistischen Schwierigkeiten zum Trotz wurde in diesem dafür Beitrag plädiert, Adverbkonnektoren in ihrer ganzen Bandbreite schon ab der Mittelstufe zu vermitteln, und zwar in kontextgebundenen Beispielsätzen, die auch die Möglichkeit bieten, den Faktor ‘Intonation’ einzuführen. Berücksichtigt werden sollten dabei auch die unterschiedlichen Positionen im Satz, die ein wichtiges kommunikatives Potenzial darstellen. Literatur Text- und Übungsgrammatiken Buscha, Joachim et al. (1998): Grammatik in Feldern. Ismaning: Hueber. Dreyer, Hilke; Schmitt, Richard (2000): Lehr- und Übungsbuch der deutschen Grammatik. Ismaning: Hueber. Duden-Grammatik (2005): Band 4. Mannheim: Brockhaus Eisenberg, Peter (1999): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. Stuttgart: Metzler Engel, Ulrich (1996): Deutsche Grammatik. 3. Aufl. Heidelberg: Groos. Hall, Karin; Scheiner, Barbara (2001): Übungsgrammatik Deutsch als Fremdsprache für Fortgeschrittene. Ismaning: Verlag für Deutsch. Helbig, Gerhard; Buscha, Joachim (2005): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin/München: Langenscheidt. Kars, Jürgen; Häussermann, Ulrich (1997): Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt a.M.: Diesterweg. Rug, Wolfgang; Tomaszewski, Andreas (2001): Grammatik mit Sinn und Verstand. München: Klett. Zifonun, Gisela; Hoffmann, Ludger; Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Schriften des Instituts für deutsche Sprache Bd. 7. Berlin-New York: de Gruyter. 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Grammatica e discorso. Tübingen: Stauffenburg, 55-87. Dittmar, Norbert; Ramat, Anna Giacalone (Hrsg.) (1999): Grammatik und Diskurs. Grammatica e discorso. Tübingen: Stauffenburg. Ferraresi, Gisella i.V.: Adverbkonnektoren und Modalpartikeln als Mittel der Konnexion im Deutschen – eine korpusbasierte synchrone und diachrone Untersuchung mit einem Anwendungsvorschlag für den DaF-Unterricht. Habilitationsschrift. Foley, William; Van Valin, Robert, D. (1994): Functional Syntax and universal grammar. Cambridge: Cambridge University Press. Giacalone Ramat, Anna (1999): Functional typology and strategies of clause connection in second-language acquisition. In: Linguistics 37.3, 519-548. Hopper, Paul J.; Traugott, Elisabeth C. (20042): Grammaticalization. Cambridge: Cambridge University Press. Klein, Wolfgang; Perdue, Clive (1997): The basic variety. In: Second Language Research 13, 1997, 301-347. Pasch, Renate et al. (2003): Handbuch der deutschen Konnektoren. Berlin: de Gruyter. Schwitalla, Johannes (²2003): Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt. Walter, Maik (2007): Hier Hier wird die Wahl schwer, aber entscheidend. Konnektorenkontraste im Deutschen. In: Krumm, Hans-Jürgen, Portmann-Tselikas, Paul R. (Hrsg.): Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache. 10/2007. Schwerpunkt: Aufgaben. Innsbruck: Studienverlag 145-161. Korpora IDS Mannheim der geschriebenen Sprache: https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2web/ Mannheimer Freiburger Korpus der gesprochenen Sprache: http://dsav-oeff.ids-mannheim. de/ FALKO: http://korpling.german.hu-berlin.de/falko/index.jsp 1 Schon – zu einer Partikel Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 187-196. Winfried Thielmann (München) Schon – zu einer Partikel und ihrer Interaktion mit anderen sprachlichen Mitteln und Redehintergründen Vorbemerkungen Ausdrücke wie ‘schon’, aber auch z.B. ‘auch’, ‘bloß’, ‘doch’, ‘eben’, ‘nur’, ‘sogar’, um nur einige zu nennen, stellen sowohl für die Sprachtheorie als auch für die Sprachvermittlung ein Problem dar: Sie sind nicht nur hochfrequent, sondern treten uns auch in sehr verschiedenen Verwendungsweisen entgegen. Ihre Bedeutung – oder ihre Funktion – ist daher nur sehr schwer zu beschreiben. Der Ausdruck schon, um den es hier gehen soll, ist für diese Problematik ein gutes Beispiel. Brauße (1994: 114ff.) führt, im Einklang mit der Grammatikschreibung (z.B. Eisenberg 2004), folgende Erscheinungsformen und Wortartenzugehörigkeiten des Ausdrucks auf: 1. betont: Beispiele: 2. unbetont: Beispiele: 3. unbetont: Beispiele: Adverb (insgesamt 5 verschiedene Verwendungsweisen) Die Arbeit ist schón schwierig, aber sie macht auch Spaß. A: Das Buch wird bestimmt ein Erfolg. B: Ich denke schón. (...) Modalpartikel (insgesamt 6 verschiedene Verwendungsweisen) Ich komme schon zurecht. Komm schon! Wenn wir schon nach Paris fahren, wollen wir auch Frankreich sehen. (...) Gradpartikel (insgesamt 3 verschiedene Verwendungsweisen) Alles ist schon bereit. Sie ist schon 6 Jahre alt. Es ist schon 20 Uhr. (...) 188 Winfried Thielmann Also 14 verschiedene „schons“, betont als Adverb, unbetont als Modalpartikel oder Gradpartikel. Unter den adverbialen, also den betonten Verwendungsweisen, finden wir unter anderem folgende gelistet (Brauße 1994: 114): 1.3 Als Satzäquivalent = Bejahung als Antwort auf echte und rhetorische Fragen. A1: Interessiert dich das? A2: Ist das nicht schwierig? B: Schón. 1.4 Als Entgegnung von B auf eine eine Negation enthaltende Äußerung von A drückt schon Widerspruch aus. A: Damit kann man nicht rechnen. B: Damit kann man schón rechnen. Schon gehört in dieser Betrachtungsweise nicht nur drei verschiedenen Wortklassen an, nämlich Adverb, Modalpartikel und Gradpartikel. Selbst die Verwendungsweisen, die Brauße einer spezifischen Wortklasse zurechnet, sind noch recht heterogen: Als Adverb kann schon nach Auffassung von Brauße sowohl Bejahung als auch Widerspruch ausdrücken. Eine solche Situation ist weder in sprachtheoretischer noch in sprachdidaktischer Hinsicht befriedigend. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es mehrere Versuche gegeben hat, für schon eine Minimalbedeutung anzugeben, die zumindest einige dieser heterogenen Verwendungsweisen zufriedenstellend beschreibt. Ich werde im Folgenden zwei dieser Ansätze kurz vorstellen und zwar die Arbeiten Ormelius (1993) und Meibauer (1994). Anschließend werde ich selber versuchen eine Minimalbestimmung vorzunehmen. 1. Die Modalpartikel schon nach Ormelius (1993) Im Gegensatz zu Brauße sieht Ormelius, die auch detaillierte phonetische Analysen von authentischen Äußerungen mit schon durchführt, den Ausdruck auch bei betonten Verwendungsweisen als Modalpartikel an, so z.B.: 1. A: Glauben Sie nicht, [...], dass [...]? B: Doch, das glaub ich [SCHON] (...). (Ormelius 1993: 163) Ormelius bestimmt schon als Operatorausdruck mit folgender Bedeutung: λp [∼FAKT∼p] mit p∈ S, ∼ ∈ S/S, FAKT ∈ S/S (Ormelius 1993: 173) Also, in der Paraphrase von Ormelius: es ist nicht ein Fakt, dass nicht p. Dies ist mit dem folgenden Beispiel recht gut kompatibel: 2. A: Maria reist morgen nach Frankreich. B: Ach, sie wird schon nicht reisen. (Ormelius 1993: 181) Da p negiert ist, erhält man kompositional: es ist nicht ein Fakt, dass p, also etwa, Ach, es ist nicht ein Fakt, dass sie reisen wird. Dies wird der Widerspruchscharakteristik der Äußerung B gut gerecht. In Situationen wie der folgenden wird nach Ormelius durch die Bedeutung von schon die „Als-wahr-Setzung“ des vorhergehenden Satzes abgeschwächt: 3. A: Das ist aber ein schönes Haus. B: Schon, (aber der Keller ist leider ziemlich feucht). (Ormelius 1993: 182) Schon – zu einer Partikel 189 Man kann sich das so vorstellen, dass schon auf dem vorhergehenden Satz operiert und seine Bedeutung in „Es ist nicht ein Fakt, dass es kein schönes Haus ist“ modifiziert, was sicher eine Abschwächung darstellt. Durch diese Auffassung von schon als Operator wird den Momenten sowohl des Widerspruchs (Ach, sie wird schon nicht reisen) als auch der eingeschränkten Zustimmung (Das ist schon ein schönes Haus) gut Rechnung getragen. Eine solche, die Faktizität zum Ausgangspunkt nehmende Bestimmung von schon ist allerdings notwendigerweise assertionsbezogen. Bei Imperativsätzen wie dem folgenden 4. Na komm schon endlich! (Ormelius 1993: 184) lässt sich der Operator nur noch schwierig kompositional verrechnen, da Faktizität als Kategorie hier nicht einschlägig ist. Ormelius schreibt hierzu: „Es versteht sich von selbst, dass ein hinzugefügtes schon in einem als Aufforderung verwendeten Imperativsatz die Aufforderung nicht gerade abschwächt, sondern durch seine Bedeutung den virtuellen Faktizitätsaspekt unterstreicht und damit die Aufforderung verstärkt.“ (Ormelius 1993: 184) Meines Erachtens ist es etwas fragwürdig bei Imperativsätzen von einem „virtuellen Faktizitätsaspekt“ zu sprechen. In diesem Fall ist es ja der Sprecher, der mit der Aufforderung einen ihm missliebigen Sachverhalt bearbeitet, nämlich das Nichthandeln des Hörers. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei Ormelius auch bei schon in Nebensätzen, die keine illokutive und damit keine assertive Qualität besitzen: 5. Wenn ich schon hinfahre, dann musst du wenigstens die Fahrkarten besorgen. (Ormelius 1993: 184) Ormelius argumentiert hier ähnlich: „Mit einem Konditionalsatz wird auf einen Sachverhalt referiert, dessen Existenz eine Voraussetzung für einen anderen Sachverhalt ist. Der Sachverhalt wird also nicht als existent dargestellt. Indem durch schon der virtuelle Faktizitätsaspekt unterstrichen wird, wird diese „Offenheit“ bezüglich der Existenz sozusagen geschlossen.“ (Ormelius 1993: 184) Diese Analyse ist meines Erachtens nicht zutreffend, da sie die Leistung dieser Konstruktion verkennt, die mit der von „wenn ... schon..., dann ... auch...“ vergleichbar ist. Man darf sich die Sprechsituation folgendermaßen vorstellen: Eine – dem Sprecher missliebige – Entscheidung über sein „Hinfahren“ ist bereits gefallen. Diese missliebige Entscheidung ist nun eine Bedingung für ein „müssen“ des Hörers – im Sinne einer moralischen Obligation. Mit anderen Worten: Es geht nicht um die Faktizität, also die Instanziierung des „Hinfahrens“, sondern um die bereits gefallene, dem Hörer missliebige Entscheidung als Bedingung für eine moralische Obligation. Eine Semantik, die von den Redehintergründen absieht, kann meines Erachtens solchen Konstruktionen und damit auch den Partikelverwendungen nicht gerecht werden. Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Ormelius fasst schon als faktizitätsbezogenen, logischen Operator mit der Bedeutung es ist nicht ein Fakt dass nicht p auf. 190 Winfried Thielmann Diese Auffassung ist kompatibel mit einigen Vorkommen von schon in Assertionen. Sie beschreibt aber nur unzureichend Verwendungsweisen in nicht-assertiven Kontexten. 2. Schon als Gradpartikel und Modalpartikel in Meibauer (1994) Meibauers Zugang zu schon erfolgt über die temporalen Verwendungsweisen. Er bezieht sich hierbei auf die schon klassisch zu nennende Untersuchung von Löbner (1991) zur Systematik von schon, erst, und noch, die ihrerseits König (1977) zum temporalen noch und schon viel verdankt. Nach Löbner (1991) lässt sich die Semantik von schon durch folgende Graphik veranschaulichen: Abb. 1: Löbner (1991: 93) Wir haben also zwei Phasen, nicht-p und p, sowie den Referenzzeitpunkt te. Ist die Phasengrenze zum Referenzzeitpunkt te nicht erreicht, liegt sozusagen eine noch nicht, im anderen Fall eine schon-Situation vor, also zum Beispiel: 6. Ich habe schon/noch nicht gegessen. (Löbner 1991: 102) Bei der Gradpartikelverwendung werden nach Löbner die Skalen ausgetauscht, das Zwei-Phasen-Konzept bleibt hingegen erhalten. So blickt man im folgenden Fall sozusagen aus der Rolls-Royce-Höhe auf die Phasengrenze: 7. Schon ein Mercedes würde sie zufrieden stellen. (Löbner 1991: 130) Lokale Skalen sind nach Löbner in dem folgenden Fall zugrundezulegen, wo ausgedrückt wird, dass sich Basel hinter der Grenze zur Schweiz befindet: 8. Basel liegt schon in der Schweiz. (Löbner 1991: 130) Während Löbner dezidiert nur die temporalen Verwendungen von schon untersucht und einige vorsichtige Generalisierungen hinsichtlich der Gradpartikelverwendungen unternimmt, ist Meibauer der Auffassung, dass auch allen Varianten der Modalpartikel schon eine temporale Grundbedeutung zugrundeliegt (1994: 186). Damit wären dann sämtliche Verwendungsweisen des Ausdrucks auf eine Minimalbedeutung zurückgeführt. Schon – zu einer Partikel 191 Meibauers Idee ist hierbei, dass sich schon als Modalpartikel „immer auf eine Einstellung zu p zum Sprechzeitpunkt [bezieht]“ (198). Analog zur temporalen Verwendung oder der Verwendung als Gradpartikel sieht es Meibauer als gegeben an, dass „(a) eine negative Proposition und eine positive Proposition eine Rolle spielen, (b) daß diese geordnet sind, in dem Sinne, dass die positive auf die negative folgt, und (c) dass eine Perspektive auf p oder -p involviert ist“, wobei „der Sprechzeitpunkt in der nicht-p oder der p-Phase liegen [kann]“ (1994: 189). In Verwendungsweisen wie der folgenden sind also nach Meibauer zwei Phasen anzunehmen: 9. Du hast schon recht (, aber das ist nur die eine Seite). (a) -p = (Adressat hat nicht recht). (b) p = (Adressat hat recht). (Meibauer 1994: 191) Meibauer schreibt hierzu: „Der Sprechzeitpunkt liegt in der p-Phase. Implizit wird immer eine -p-Phase mitbetrachtet, in der der Sprecher (oder ein Dritter, über dessen Meinung der Adressat dem Sprecher berichtet hat) die Meinung vertreten hat, dass der Adressat nicht recht hatte.“ (1994: 191) Ein Vorteil dieser Betrachtungsweise ist, dass sie mit illokutionär nicht selbständigen Verwendungsweisen besser kompatibel ist als die Bestimmung von Ormelius: (10) Wenn wir schon ein Auto kaufen, dann aber mit Katalysator. (a) -p = (wir haben kein Auto). (b) p = (wir haben ein Auto). Hierzu noch einmal Meibauer: „Der Sprechzeitpunkt liegt in der -p-Phase. Das Erreichen der p-Phase wird von einer Bedingung abhängig gemacht, so dass p’ = (Auto hat Katalysator) gilt.“ (1994: 194) Auch hier meine ich allerdings, dass Meibauer, wie schon Ormelius, zu stark von möglichen Redehintergründen absieht. Meibauer sieht zwar meines Erachtens richtig, dass der Sprecher hier an den Autokauf eine Bedingung knüpft (nämlich den Katalysator). Auch fällt der Sprechzeitpunkt sicher in die Phase, in der noch kein Auto gekauft ist. Aber Meibauers Analyse trägt nicht der Tatsache Rechnung, dass es hier um einen Entscheidungsprozess geht, in dem die Alternative „Auto kaufen“ dem Sprecher missliebig ist, so dass er seine Zustimmung von einer zusätzlichen Bedingung abhängig macht. Bei Imperativsätzen nimmt Meibauer überhaupt keine detaillierte Interpretation vor, sondern beschränkt sich darauf, in Beispielen wie „Geh schon voraus!“ eine Gradpartikelverwendung und in Beispielen wie „Gehen Sie schon!“ eine Modalpartikelverwendung anzunehmen (194ff). Zusammenfassend: Meibauers Bestimmung von schon, die von der „temporalen“ Verwendungsweise ausgeht, findet – wie dies schon bei Ormelius der Fall war – ihre Grenzen bei der Beschreibung von nicht-assertiven Verwendungsweisen. Zudem ist festzuhalten, dass auch er schon mehreren Wortklassen zurechnet, indem er es in man- 192 Winfried Thielmann chen Verwendungen als Temporaladverb, in anderen als Modalpartikel und in wieder anderen als Gradpartikel auffasst. 3. Versuch einer Minimalbestimmung Ich werde nun versuchen selbst zu einer Minimalbestimmung von schon zu gelangen. Ziel einer solchen Bestimmung sollte es sein, den Beitrag, den der Ausdruck zu Äußerungen leistet, einheitlich zu erfassen und so auch einer Zuweisung zu mehreren Wortklassen zu entgehen. Hierzu sind meines Erachtens zwei Dinge erforderlich: Zum einen ist größeres Augenmerk auf die Redehintergründe zu richten. Zum anderen ist die Rolle der Betonung klarer zu fassen, die vielfach, wie bei Brauße, eine zentrale Rolle bei der Wortklassenzuordnung spielt. Ich beginne mit den Betonungsverhältnissen und zwar unter dem Aspekt der kommunikativen Gewichtung (Hoffmann 2002). Betrachten wir die folgenden Beispiele: (11) a) b) Er ist schón da. Er ist schon dá. Nach Brauße hätte man es in (11a) mit einem Adverb, in (11b) hingegen mit einer Gradpartikel zu tun. Ich schließe mich hier der Position von Graefen (2000) an, wonach eine solche Zuweisung nicht sinnvoll ist. Was Graefen über „betontes“ versus „unbetontes doch“ zu sagen hat, gilt meines Erachtens hier analog: „Es geht (...) nicht um die (als stabil vorauszusetzenden) Eigenschaften eines Worts, sondern um die Position des Gewichtungsakzents in der betreffenden Äußerung.“ (Graefen 2000) In (11a) liegt der Gewichtungsakzent auf schon, in (11b) auf da. In (11a) wird also schon gegenüber der gesamten Restäußerung besonders gewichtet; in (11b) nur ein Äußerungsteil, nämlich da. Die Existenz zweier „schons“, also einer betonten und einer unbetonten Variante, anzunehmen, ist meines Erachtens grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Ich beginne nun mit meinem Versuch einer Bedeutungsbestimmung. Zum Ausgangspunkt nehme ich hierfür eine derjenigen Verwendungsweisen, die meines Erachtens sowohl Ormelius als auch Meibauer nicht zufriedenstellend beschreiben konnten: Das Vorkommen in Imperativsätzen. Ich betrachte folgendes Beispiel: (12) Geh schon! Illokutiv handelt es sich hierbei um eine Aufforderung. Außer schon sind an dieser Äußerung mit Verbspitzenstellung folgende sprachlichen Mittel beteiligt: Der Verbalstamm geh sowie eine spezifische, fallende Intonationskontur, mit der, nach den Bestimmungen in Ehlich (1986), der Sprecher direkt in das Hörerhandeln eingreift, das Handeln des Hörers lenkt. Welchen Beitrag leistet hier der Ausdruck schon? Schon bringt meines Erachtens allgemein eine Diskrepanz zum Ausdruck. Welcher Art diese Diskrepanz ist, ist eine Frage der Redehintergründe. Der Redehintergrund für ein geh! ist eine Situation, in der der Sprecher direkt in das Hörerhandeln eingreifen will. Das heißt, der Sprecher will, dass der Hörer anders handelt, als er es zum Sprechzeitpunkt tut. Vor diesem Redehintergrund besteht die Schon – zu einer Partikel 193 durch schon indizierte Diskrepanz zwischen dem Hörerhandeln zum Sprechzeitpunkt und dem Handeln, das durch die Lenkung expediert werden soll. Es wird also die in einer Lenkung bestehende Unvermitteltheit durch schon sozusagen aufgefangen. Der Effekt ist eine illokutive Depotenzierung. Man sieht dies deutlich an Beispielen wie dem folgenden: (13) Hau schon ab! Aber es ist auch eine Situation denkbar, in welcher sich Sprecher und Hörer bereits darauf verständigt haben, dass der Hörer zu gehen hat. Vor diesem Redehintergrund bezöge sich schon dann auf die Diskrepanz zwischen dieser Übereinkunft und dem Zögern des Hörers, so dass geradezu das Gegenteil, nämlich eine illokutive Verstärkung der Aufforderung, erreicht wird. Durch den Ausdruck schon – dies ist meine These – indiziert der Sprecher eine Diskrepanz zwischen seiner Äußerung oder einem ihrer Elemente und, allgemein, den Redehintergründen. Als Redehintergründe kommen in Frage: - das Sprecherwissen - das – vom Sprecher unterstellte – Hörerwissen - das Diskurswissen - die Konstellation in der außersprachlichen Wirklichkeit Ich illustriere diese These nun an einem komplexeren Beispiel und diskutiere anschließend einige „klassische“ Verwendungsweisen des Ausdrucks. Dem folgenden Abschnitt aus einem Schulklassengespräch mit Günter Grass geht eine längere Diskussion über die Berechtigung von Wortbildungen wie „schneeschwarz“ in den „Hundjahren“ voraus. Grass kontert mit einem Verweis auf Celans „schwarze milch der frühe“, woran sich die Kritik des Schülers S1 anschließt: S1: Grass: S2: Grass: S3: Grass: dann könnten ihnen aber ganz krasse Kritiker jetzt entgegenhalten, sie wollen einfach wirken damit na aber is das is das is das na ja indem sie jetzt so stilistisch schön daß ich dabei überlege, wenn ich schreibe, na ja das berechne. Na aber hören sie, wollen sie vier Jahre lang an einem Roman schreiben und immer in Inspiration leben, n anstrengender Zustand, und außerdem sind die Musen nicht so freigiebig. S gehört schon einige Spekulation und Arbeit dazu. Abb. 2: (14) (Freiburger Korpus, FR 012) Grass interpretiert die Schüleräußerungen S1 und S2 als den Vorwurf stilistischen Kalküls, was implizit dem Vorwurf mangelnder Inspiration gleichkommt. Seine Äußerungen ab „na aber hören sie“ bearbeiten sukzessive die stillschweigende Voraussetzung der Schülerkommentare, nämlich, dass wahre Kunst nur aus Inspiration hervorgehen kann. Uns interessiert nun die Äußerung (15) S gehört schon einige Spekulation und Arbeit dazu. 194 Winfried Thielmann Ohne schon wäre diese Äußerung eine einfache Assertion. Durch das schon wird jedoch das assertierte Wissen als diskrepant zu einem anderen ins Verhältnis gesetzt. Wie die Redehintergründe zeigen, besteht die Diskrepanz zwischen der stillschweigenden Voraussetzung der Hörer und der Auffassung des Autors über die entscheidenden Faktoren der Literaturproduktion. Ich möchte nun versuchen einige „klassische“ Verwendungsweisen von schon auf Basis der hier vorgeschlagenen Bestimmung zu erklären. Zunächst lässt sich das Rätsel, wieso schon in den beiden folgenden Beispielen nach Brauße sowohl Bejahung wie auch Widerspruch ausdrücken kann, meines Erachtens ganz einfach lösen: (16) (17) A: Ist das nicht schwierig? B: Schón. A: Damit kann man nicht rechnen. B: Damit kann man schón rechnen. (Brauße 1994: 114) In Beispiel (16) haben wir es mit einer rhetorischen Frage zu tun. Sprecher A möchte von B eine Bestätigung für seine Einschätzung erhalten, dass etwas schwierig ist. Durch schon bringt Sprecher B zum Ausdruck, dass eine Diskrepanz zwischen seiner eigenen Einschätzung und der des Sprechers besteht. So erklärt sich der Effekt der „eingeschränkten Zustimmung“, der in der Literatur vielfach beschrieben ist: Sprecher B hat keine absolut entgegengesetzte, sondern eine divergierende Auffassung, deren Gründe er mit aber anschließen könnte. In Beispiel (17) liegt – ohne schon – ein direkter Widerspruch vor. Durch schon mit Gewichtungsakzent wird diese – maximale – Diskrepanz emphatisch verstärkt. Ich komme nun zu der großen Gruppe von Verwendungsweisen, in denen schon häufig als Gradpartikel kategorisiert wird. Ich betrachte hierzu die drei folgenden Beispiele mit ihren Betonungsverhältnissen: (18) Es ist schon SPÄT. Mögliche alternative Gewichtungen: Es IST schon spät./ Es ist SCHON spät. (19) Schon ein MerCEdes würde sie zufrieden stellen. Mögliche alternative Gewichtungen: Schon ein Mercedes würde SIE zufrieden stellen./ Schon ein Mercedes würde sie zuFRIEden stellen. (20) Basel liegt schon in der SCHWEIZ. Mögliche alternative Gewichtungen: BASel liegt schon in der Schweiz./Basel LIEGT schon in der Schweiz./Basel liegt SCHON in der Schweiz. Es handelt sich hierbei um einfache Assertionen. Wie man sieht, sind grundsätzlich jeweils mehrere Gewichtungsakzente möglich. Ich beschränke mich auf die Fälle, in denen die Konstituente nach schon gewichtet ist, wie es für die Fälle, in denen schon als Gradpartikel gilt, charakteristisch ist. Hier kann man meines Erachtens davon ausgehen, dass schon sozusagen auf der nachfolgenden Konstituente operiert. Dies bedeutet, dass für den Hörer die durch schon indizierte Diskrepanz von der gewichteten Konstituente her auf Basis der Redehintergründe, d.h. bei diesen Verwendungen häufig auf Basis des Sprecherwissens, gedeutet werden muss. Schon – zu einer Partikel 195 Die Verwendung in (18) gilt als Standardfall für eine temporale Bedeutung von schon. Temporal ist aber hier meines Erachtens nicht das schon, sondern das spät. Die Diskrepanz, die der Sprecher hier kommuniziert, besteht zwischen seiner intuitiven Gewissheit und dem Resultat des Abgleichs mit der Uhr. Dies bedarf noch einer Präzisierung: Durch schon kann nur die Diskrepanz zwischen einer Äußerung oder einem ihrer Elemente und den Redehintergründen kommuniziert werden. Wenn die zugrunde liegenden Ordnungen im Wissen Abläufe im weitesten Sinne betreffen, wird das meines Erachtens temporal nicht markierte schon dort eingesetzt, wo eine Diskrepanz zwischen intuitiver Gewissheit des Sprechers und der Wirklichkeit hinsichtlich des Prozessresultats besteht. Wo Fässer befüllt werden, kann eins schon voll sein; wo sie geleert werden, kann eins schon leer sein. In diesen Zusammenhängen tritt, wie dies z.B. König und Löbner ausführlich untersucht haben, schon in Konkurrenz zu noch und erst. Ich kann dies hier nicht vertiefen, möchte aber darauf hinweisen, dass bei noch meines Erachtens ein klarer Origo-Bezug besteht und der Ausdruck erst – wie aufgrund des noch spürbaren symbolischen Restes deutlich wird – ebenfalls hinsichtlich Ablaufstrukturen im Wissen markiert ist. Für das mitten aus dem Leben gegriffene Löbner-Beispiel (19) lässt sich als möglicher Redehintergrund ein Gespräch über ein angemessenes Geburtstagsgeschenk für eine Millionärstochter denken, bei dem der Sprecher dem Hörer beruhigend kundtut, dass er nicht allzu tief in die Tasche zu greifen braucht. Alternativ wäre natürlich auch eine Situation denkbar, in der der Sprecher missbilligend die Diskrepanz zwischen den niedrigen Ansprüchen der Millionärstochter und seinem eigenen, höheren Standard assertiert. Auch (20) ist isoliert, also ohne Redehintergründe, nicht zu analysieren. Es kann sich um die überraschte Feststellung eines geographisch unbelasteten Menschen handeln, oder um die Belehrung eines solchen Menschen durch einen anderen. Maßgeblich sind hier meines Erachtens Ordnungen im Sprecherwissen, die abstrakt als Mengenzugehörigkeiten bestimmt werden können, wie zum Beispiel Zugehörigkeit zu einem Staatsgebiet, wo die Zugehörigkeit zum eigenen Staatsgebiet den Normalfall darstellt. Für solche Ordnungen im Wissen noch ein weiteres Beispiel: (21) Müller ist schon im Management. Es liegt nahe, diese Äußerung als eine typische „temporale“ Verwendung von schon, also im Sinne von (18), aufzufassen, bei der der Sprecher die Diskrepanz zwischen der eigenen intuitiven Gewissheit und dem – für ihn überraschenden – Faktum von Müllers Aufgestiegensein kommuniziert. Es wäre aber auch eine Situation denkbar, in der es um möglichst hoch positionierte Kandidaten für einen Betriebsrat geht, wofür der kürzlich aufgestiegene Müller die Voraussetzung nicht mehr erfüllt. Die Diskrepanz bestünde dann zwischen der intuitiven Gewissheit des Hörers, Müller unter Seinesgleichen anzutreffen, und der Wirklichkeit, über die ihn der Sprecher belehrt. 4. Zusammenfassende Bemerkungen Schon ist meines Erachtens ein Ausdruck, mit dem der Sprecher eine Diskrepanz zwischen seiner Äußerung oder einem ihrer Elemente und den Redehintergründen kommuniziert. Diese 196 Winfried Thielmann Redehintergründe können im Sprecherwissen selbst, im Sprecher und Hörer gemeinsamen Diskurswissen oder im dem Hörer unterstellten Wissen sowie der Konstellation in der außersprachlichen Wirklichkeit bestehen. Im Rahmen der von Ehlich erweiterten Bühlerschen Feldkonzeption (1986a) ist schon dem Operationsfeld zuzurechnen, dessen Mittel, in einer Formulierung von Redder (1990: 57), der „Bearbeitung von Sprache als Sprache“ dienen. Graefen (2000) charakterisiert die Funktion von operativen Elementen des ‘Modalpartikel’-Typs folgendermaßen: „[Ein solches Element] „dient, allgemeiner gesagt, dazu, dem Hörer die Einordnung einer Äußerung in Bezug auf sein Wissen über den thematisierten Sachverhalt zu ermöglichen oder zu erleichtern. Aus der Partikel kann der Hörer erschließen, wie der Sprecher die betreffenden Wissenselemente strukturiert und bewertet. Solche Inferenzprozesse spielen sich auch und gerade bei den ganz alltäglichen Verfahren der Verstehenslenkung ab, ebenso wie in expliziten und ausgebauten Argumentationen. Die relative Umständlichkeit ihrer Erklärung steht in merkwürdigem Kontrast zu ihrer Alltäglichkeit, ihrer selbstverständlichen und allgemeinen Benutzung.“ Die enormen Schwierigkeiten, die sich, wie die Literatur zeigt, bei einer Erklärung von schon auftun, sind der Komplexität der Redehintergründe geschuldet, hinsichtlich derer dieses hochfrequente sprachliche Mittel seinen schlichten, aber wichtigen Beitrag leistet. Literatur Brauße, Ursula (1994): Funktionale Varianten von schon. Adverb, Gradpartikel, Modalpartikel. In: Dies. (Hg.) Lexikalische Funktionen der Synsemantika. Tübingen: Narr, 99-117. Ehlich, Konrad (1986) Interjektionen. Tübingen: Niemeyer. Ehlich, Konrad (1986a): Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse – Ziele und Perspektiven (= Linguistische Studien A 149). Berlin: Akademie, 15-40 (abgedr. 1991 in: Flader, D (Hg.): Verbale Interaktion. Stuttgart: Metzler, 127-143). Eisenberg, Peter (2004): Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 2: Der Satz. Stuttgart: Metzler. Graefen, Gabriele (2000): Ein Beitrag zur Partikelanalyse - Beispiel: doch. In: Linguistik online 6, 2/00 (www.linguistik-online.com). Hoffmann, Ludger (2002): Zur Grammatik der kommunikativen Gewichtung im Deutschen. In: Peschel, C. (Hrsg.) Grammatik und Grammatikvermittlung. Frankfurt: Lang, 9-37. König, Ekkehard (1977): Temporal and non-temporal uses of ‚noch’ and ‚schon’ in German. In: Linguistics and Philosophy 1, 173-198. Löbner (1991): Schon – erst – noch: An integrated analysis. In: Abraham, Werner (Hg.): Discourse Particles. Descriptive and theoretical investigations on the logical, syntactic, and pragmatic properties of discourse particles in German. Amsterdam: Benjamins, 85-140. Meibauer, Jörg (1994): Modaler Kontrast und konzeptuelle Verschiebung: Studien zur Syntax und Semantik deutscher Modalpartikeln. Tübingen: Niemeyer. Ormelius, Elisabet (1993): Die Modalpartikel schon. In: Rosengren, Inger (Hg.) Satz und Illokution. Tübingen: Niemeyer, 151-192. Redder, Angelika (1990): Grammatiktheorie und sprachliches Handeln: »denn« und »da«. Tübingen: Niemeyer. Ingenieurstudenten schreiben Fachtexte 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 197-208. Judith Theuerkauf (Berlin) Ingenieurstudenten schreiben Fachtexte – Erfahrungen mit einem internationalen und interdisziplinären Ansatz Einführende Zusammenfassung Vorgestellt werden theoretischer Hintergrund, didaktisches Konzept und Erfahrungen aus der Lehrveranstaltung ‘Textlabor’ an der TU Berlin, in der ausländische und deutsche Ingenieurstudenten im Hauptstudium gemeinsam das Verfassen ingenieurrelevanter Fachtexte trainieren. Die Studierenden erhalten Einblicke in ‘Fachdeutsch als Fremdsprache’, verbessern insgesamt ihre fachsprachliche Schreibkompetenz und lernen sich im internationalen und interdisziplinären Team zu verständigen. 1. Mit fachlicher Schreibkompetenz Studium und Beruf meistern Die Studienerfolgsbilanz für ausländische Studierende in Deutschland ist schlecht: Nur ca. 50 % der ausländischen Studierenden im grundständigen Studium erreichen tatsächlich einen Studienabschluss (vgl. DAAD 2003; Heublein et al. 2004). Eine Ursache für diese schlechte Bilanz sind mangelnde „studienbezogene Sprachfähigkeiten“1, zu denen auch das Schreiben von Fachtexten zählt (Heublein 2006). Diese Aussage korreliert mit den Selbsteinschätzungen der Deutschkenntnisse ausländischer Studierender 1 Diese Erkenntnis aus der HIS-Studie bestätigt Untersuchungen an der TU Berlin, die bereits in den 90er Jahren durchgeführt wurden (vgl. Monteiro; Rösler 1993, Monteiro et al. 1997). 198 Judith Theuerkauf in Deutschland, nach denen „die eigene Sprachkompetenz im Bereich ‘Schreiben’ von den Bildungsausländern im Vergleich mit der Kompetenz in den Bereichen ‘Sprechen/ Kommunizieren’, ‘Hören und Verstehen’ sowie ‘Lesen und Verstehen’ deutlich schlechter beurteilt“ wird (Isserstedt; Schnitzer 2005: 42 f.). Übergeordnetes Ziel eines vom DAAD geförderten Projektes2 an der TU Berlin ist daher die Erhöhung der Studienerfolgsquote von ausländischen Studierenden. Im Rahmen dieses Projektes wurden u.a. Studien- und Prüfungsordnungen für verschiedene Ingenieurstudiengänge analysiert. Es zeigt sich in vielen dieser Studiengänge eine typische Abfolge von vier bis fünf Phasen. Die Phasen sind durch die Aspekte Lehrveranstaltungsformen, fachliche Voraussetzungen, Spezialisierungsgrad und Prüfungsformen beschreibbar3. Jede Phase erfordert spezifische fachsprachliche Kompetenzen, die die ausländischen Studierenden im Studium jedoch weder ‘en passant’ erwerben noch systematisch vermittelt bekommen. Die im Folgenden vorgestellte Lehrveranstaltung ‘Textlabor – Schreiben in den Ingenieurwissenschaften’ fokussiert den Übergang in die letzte Phase, die den Studienabschluss bildet. Hier dominiert das Verfassen der schriftlichen Abschlussarbeit. Probleme in dieser Phase wirken sich unmittelbar studienzeitverlängernd aus bzw. können auch in diesem späten Studienstadium noch zum Studienabbruch führen. Die Bewältigung dieser sensiblen Phase erfordert fachsprachliche Schreibkompetenz als die Fähigkeit, fachbezogen „Ideen, Konzepte und Arbeitsergebnisse flexibel und zeitnah in schriftlichen Texten in Abhängigkeit von Adressaten, Thema und Funktion zu kommunizieren“ (Theuerkauf 2007: 91). Ziel des Textlabors ist, Ingenieurstudenten fachliche Schreibkompetenz zu vermitteln. Nach der obigen Definition hilft dabei das Textlabor nicht nur bei der Bewältigung der Schreib-Anforderungen im Studium, sondern bereitet auch den Übergang in die Phase nach dem Studium vor, also auf das Berufsleben. Immer mehr Ingenieure arbeiten heute in interdisziplinär und international zusammengesetzten Teams. Dabei verfassen sie vielfältige Fachtexte oder sind an der Entstehung solcher Texte beteiligt. Aus dem klassischen ‘Schraubingenieur’ ist längst ein ‘Schreibingenieur’ geworden, der Berichte schreibt, Fachartikel, Produktspezifikationen, Projektanträge, Gutachten, etc. 2. Ausländische und deutsche Ingenieurstudenten haben Probleme beim Schreiben Vielen fällt das Schreiben von Fachtexten jedoch schwer, denn Schreiben ist ein komplexer Vorgang. Aus der Fülle der Daten und Inhalte müssen die für eine spezifische Fragestellung erforderlichen Informationen ausgewählt, aufbereitet und in eine angemessene Form gebracht werden, meist unter Zeitdruck. 2 3 Das Konsekutive 2-Säulen-Projekt der TU Berlin wurde im Zeitraum 09/2005 bis 08/2007 vom DAAD im Rahmen des Programms zur Förderung der Internationalisierungsstrukturen an deutschen Hochschulen (PROFIS) gefördert. Für weitere Informationen zu dem Projekt s. www.textlabor.tu-berlin.de. Eine ausführliche Beschreibung dieses Phasenmodells findet sich in Theuerkauf (2007). Ingenieurstudenten schreiben Fachtexte 199 Wie verschiedene Unterrichtsgespräche zeigten, nehmen ausländische Studierende ihre Schreibprobleme jedoch häufig als Folge ihrer Probleme mit der deutschen Grammatik und der Fachterminologie war. Abweichend von dieser Selbsteinschätzung nennt Mehlhorn (2005: 194f.) als Defizite ausländischer Studierender beim Verfassen wissenschaftlicher Texte „fehlende Kenntnis der deutschen Wissenschaftssprache“ und „fehlende Vertrautheit mit Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens“4. Diese Defizite manifestieren sich im Text z.B. als „wörtliche Übernahmen von Textstellen (…) ohne Kennzeichnung der Quellen“ (ebenda 194). In meiner Unterrichtspraxis traten sogar seitenweise Übernahmen fremder Text-Passagen auf. Dadurch geraten ausländische Studierende schnell in Verdacht zu plagiieren und damit in die Gefahr, dafür sanktioniert zu werden. In diesem Zusammenhang fällt auch der unkritische Umgang der Studierenden mit den zitierten Quellen auf, insofern, dass sie auch unseriöse Quellen meist aus dem Internet verwenden; besonders beliebt ist das ‘Wikipedieren’5. Daneben sind weitere Defizite in den Texten beobachtbar, wie die „(unverbundene) Aneinanderreihung von Zitaten“ (ebenda 194) und die damit einhergehende „mangelnde inhaltliche Kohärenz“ (ebenda 195) sowie ein insgesamt „unangemessener Schreibstil“ (ebenda 195). Dieser entsteht entweder durch Verwendung umgangssprachlicher Formulierungen oder durch Imitation eines vermeintlich wissenschaftlichen Stils durch Verwendung komplizierter und dadurch oft falscher Satzstrukturen und Fremdworte (vgl. ebenda 195) sowie durch uneinheitlichen, inkonsistenten und unpräzisen Gebrauch von Fachterminologie. Bezogen auf ingenieurwissenschaftliche Arbeiten konnte ich ergänzend beobachten, dass den Studierenden auch Kenntnisse zu bestimmten formalen Anforderungen fehlen, sodass beispielsweise, falls überhaupt zitiert wird, die dazu gehörenden Literaturverzeichnisse nach keinem erkennbaren System geordnet sind. Mehrjährige Erfahrungen mit der Betreuung von Diplomarbeiten deutscher und ausländischer Studierenden zeigen jedoch, dass die Arbeiten der deutschen Kommilitonen ganz ähnliche Defizite aufweisen. Die Schreibprobleme der ausländischen Studierenden sind demnach nicht auf Probleme mit der Rechtschreibung und Grammatik zurückzuführen, sondern vielmehr, wie bei ihren deutschen Kommilitonen auch, auf Probleme mit der jeweiligen Fachsprache und den dort vorhandenen Konventionen und Textsorten. 4 5 Zu diesen Methoden zählt Mehlhorn Themenfindung, Recherchieren, Gliedern und Textüberarbeitung. Aus Sicht von Vertretern der Schreibdidaktik- und Schreibprozessforschung handelt es sich hierbei um typische Phasen des Schreibprozesses (vgl. hierzu Kruse; Ruhmann 2006: 16). Diesen Begriff prägte ein Studierender im Unterrichtsgespräch zum Thema ‘Plagiat’. Judith Theuerkauf 200 3. Vermittlung von fachsprachlicher Schreibkompetenz: Das ‘Textlabor’ 3.1 Theoretischer Hintergrund: Die Fachsprache der Ingenieure Fachsprache ist vor allem „Kommunikationsmittel für fachlich Handelnde“ (Möhn; Pelka 1984: 36). Als primäres Ziel des Fachsprachenunterrichts sehe ich in Übereinstimmung mit Buhlmann und Fearns (2000: 87) die Vermittlung „sprachlicher Handlungsfähigkeit im Fach“. Hierbei ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, dass die Ingenieurwissenschaften kein in sich homogenes Fach darstellen. Vielmehr spalten sich die Ingenieurwissenschaften in eine Vielzahl von Fächern und Fachgebieten, wie sie in Abb. 1 lediglich angedeutet werden können. Je nach beruflichem Einsatzgebiet („Wo?“) und Tätigkeitsfeld („Was?“) ergeben sich weitere Einteilungs- und Kombinationsmöglichkeiten. Ingenieurwissenschaften Archiktektur Maschinenbau Bauingenieurwesen Energie- u. Verfahrenstechnik Elektrotechnik Technischer Umweltschutz Technische Informatik usw. Wasseraufbereitung Abfallbehandlung Was? Consulting Wo? Luftreinhaltung Management Industrie Verwaltung Umweltmanagement Entwurf usw. Universität usw. usw. Abb. 1: Einteilung der Ingenieurwissenschaften in Subfächer (eigene Darstellung) Dadurch sind heute mehr als 120 (vgl. Brockhaus 1997) bis 200 (vgl. Henning; Staufenbiel 1996) ingenieurwissenschaftliche Fachrichtungen unterscheidbar. Diese fachliche Untergliederung der Ingenieurwissenschaften spiegelt sich in der Fachsprachenforschung in Konzepten zur horizontalen Gliederung von Fachsprachen nach „Fächergliederungen und Fachbereichseinteilungen“ (Roelcke 1999: 34)6. Dabei hat jede Fachrichtung unter Umständen eine eigene Terminologie und eigene fachsprachliche Konventionen und Textsorten; vielfach entstehen auch „Mischterminologien“ (Buhlmann; Fearns 2000: 38). 6 Eine ausführliche Übersicht und Diskussion verschiedener Modelle zur horizontalen Gliederung von Fachsprachen findet sich bei Roelcke (1999: 34). Ingenieurstudenten schreiben Fachtexte 201 Diese objektbezogene Differenzierung ingenieurwissenschaftlicher Fachsprachen nach Fachgebieten muss ergänzt werden durch eine Differenzierung nach den in den Fachsprachen Handelnden (vgl. hierzu Möhn; Pelka 1984: 36). Denn Kommunikationspartner der Ingenieure sind sowohl andere Ingenieure auf gleicher Fach- und Expertenebene als auch fachfremde Politiker, Mitarbeiter in Verwaltungen und Behörden sowie Experten aus anderen Berufsbereichen usw. In ihren jeweiligen Fachdisziplinen müssen Ingenieure daher in der Lage sein, ihre Arbeitsergebnisse einem breit gefächerten Adressatenkreis verständlich und transparent zu vermitteln. So lassen sich vertikal Fachsprachen nach Kommunikationspartnern in fachinterne, fachexterne und interfachliche Kommunikation einteilen (vgl. Möhn; Pelka 1984)7. Verknüpft man die Ansätze zur horizontalen und vertikalen Gliederung miteinander, spannt sich zwischen beiden ‘Achsen’ ein Varietätenfeld8 auf, in dem sich die Fachtextsorten entfalten können. Mit diesen theoretisch möglichen Fachtexten werden Ingenieure in Studium und Beruf konfrontiert, und zwar einerseits als Texte, die sie lesen und verarbeiten, und andererseits als Texte, die sie selbst verfassen müssen. Vertikale Gliederung fachintern Text A3 Text B3 Text A2 Text B2 Text A1 Text B1 inhomogene Fächer homogene Fächer interfachlich fachextern Horizontale Gliederung Abb. 2: Ingenieurwissenschaftliche Fachtextsorten im Varitätenfeld (eigene Darstellung) In meinem Modell (s. Abb. 2) gehe ich vereinfachend von sechs Gruppen aus, denen diese Textsorten zugeordnet werden können, indem ich vertikal nach fachinternen, interfachlichen und fachexternen Kommunikationspartnern und horizontal zwischen in sich eher 7 8 Andere Modelle zur vertikalen Gliederung unterscheiden nach dem Abstraktionsgrad (so z.B. das DreiSchicht-Modell von Ischreydt (1965) und das Fünf-Schicht-Modell von Hoffmann (1985)). Eine Unterscheidung nach dem Spezialisierungsgrad von Fachsprachen schlagen Buhlmann und Fearns (2000: 14) vor. Einen Überblick über weitere Modelle zur vertikalen Schichtung gibt Fluck (1996: 17 ff). Zum Begriff der Varietäten von Fachsprachen siehe ausführlich Roelcke (1999: 18f.). 202 Judith Theuerkauf inhomogenen bzw. eher homogenen Fächern unterscheide. Innerhalb der sechs Felder sind weitere Abstufungen nach Spezialisierungsgrad und Abstraktionsstufe möglich. Die Konsequenz aus diesem Modell führt zu dem Problem fachsprachlicher Textproduktion, vor dem viele Studierende stehen, denn: „Es gibt nicht nur die eine, dem Gegenstand angemessene Darstellung, die sich aus dem Gegenstand selbst ergibt, sondern Varianten der Darstellung (…)“ (Theuerkauf 2007: 91). Vielfach äußern daher TeilnehmerInnen im Textlabor den Wunsch nach einfachen Textmustern, Standard-Textbauplänen und -Formulierungen, die sie lediglich für eigene Fragestellungen adaptieren müssen. Käme man diesem Wunsch nach, wären die TeilnehmerInnen vielleicht in der Lage, diese eine spezifische Textsorte zu verfassen. Sobald sie jedoch mit einer anderen Textsorte (oder auch nur mit einem anderen Thema) konfrontiert wären, kann davon ausgegangen werden, dass sie nicht transferieren könnten. 3.2 Didaktischer Ansatz und Gruppenzusammensetzung Das Textlabor richtete sich in der ursprünglichen Konzeption an ausländische Ingenieurstudenten. Wie bereits dargestellt, haben deutsche und ausländische Studierende ähnliche Probleme mit dem Schreiben von Fachtexten. Daher kam ich übereinstimmend mit Ortner (2001) zu der Schlussfolgerung: „Der Schreibunterricht für (…) kompetente L2-Lernende (…) kann (weitestgehend) identisch sein mit dem Schreibunterricht für Studenten mit Schreibproblemen“. Zielgruppe des Textlabors sind daher seit dem Wintersemester 06/07 ausländische und deutsche Studierende der Ingenieurwissenschaften im fortgeschrittenen Studienverlauf. Die ausländischen Studierenden sollten jedoch über gute Deutschkenntnisse verfügen. Dadurch entsteht eine ausgesprochen inhomogene Gruppenzusammensetzung. Die TeilnehmerInnen studieren Verkehrsplanung, Technischer Umweltschutz, Wirtschaftsingenieurwesen, Lebensmitteltechnologie, Maschinenbau, Global Production Engineering usw. und kommen aus Frankreich, China, Mexiko, Usbekistan, Ecuador, Korea, Syrien, Tschechien usw.. Es handelt sich um Doktoranden, Programmstudenten (Erasmus) und Regelstudenten (Diplom, Bachelor und Master). Ein großer Teil der ausländischen TeilnehmerInnen hat bereits ein Studium im Heimatland absolviert. Diese inhomogene Gruppenzusammensetzung repräsentiert dadurch einerseits die horizontale Gliederung der Ingenieurwissenschaften in verschiedene Fächer, andererseits geht die Inhomogenität einher mit unterschiedlichen Bildungshintergründen, Motivationen und Studien- und Berufserfahrungen. Dadurch befinden sich die TeilnehmerInnen auf verschiedenen ‘Experten’stufen und repräsentieren demnach auch die vertikale Gliederung von Fachsprachen. So profitieren alle: Jeder weiß etwas und jeder kann jedem etwas erklären. Nicht nur die deutschen Studierenden sind ‘gezwungen’, sich mit Blick auf ihre nicht-deutschen Kommilitonen verständlich auszudrücken. Alle üben in der inhomogenen Gruppe den flexiblen Umgang mit der deutschen Sprache als wichtige Voraussetzung für das Verfassen zielgruppengerechter Texte. Alle lernen sich im interkulturellen und interdiszi- Ingenieurstudenten schreiben Fachtexte 203 plinären Team zu verständigen, in der Forschungspraxis eine Selbstverständlichkeit, im Studium jedoch wenig trainiert. 3.3 Das Textlabor – Eckdaten Das Textlabor findet einsemestrig und semesterbegleitend statt und ist abhängig von der jeweiligen Studienordnung als Wahlfach mit sechs Leistungspunkten bzw. vier Semesterwochenstunden anrechenbar. Bedingung für die Anrechenbarkeit ist die regelmäßige Abgabe von sechs schriftlichen Hausaufgaben sowie eine dreiteilige schriftliche Prüfungsaufgabe. Zu allen Haus- und Prüfungsaufgaben erhalten die TeilnehmerInnen sowohl schriftliches als auch mündliches Feedback. Das Textlabor ist in drei Themenblöcke unterteilt: Im ersten Themenblock lernen die TeilnehmerInnen Fachsprachen als Teil des Systems Sprache kennen und reflektieren ihre bisherigen rezeptiven und produktiven Erfahrungen mit Fachtexten. Im zweiten Themenblock geht es um den Schreibprozess, also das Vorgehen beim Verfassen von Fachtexten von der Planung bis zur Abgabe und die Anwendung von Methoden des Projektmanagements auf den Schreibprozess. Der dritte Block thematisiert Schreibprodukte, d.h. die Fachtexte, ihre Merkmale und auch ihren beruflichen Stellenwert. Grammatik und Rechtschreibung stehen dabei im Hintergrund. Je nach Bedürfnislage und verfügbarem Zeitrahmen gehören außerdem ein Besuch der Universitätsbibliothek sowie eine Einführung in das Schreiben mit Word und PowerPoint zum Programm. Ab der Semestermitte arbeiten die TeilnehmerInnen vorwiegend an eigenen, für ihr Studium relevanten Texten, die sie im Austausch mit ihren Kommilitonen besprechen und überarbeiten. Um die vier Unterrichtsstunden abwechslungsreich zu gestalten, wechseln die Sozialformen zwischen Einzel-, Partner- und Gruppenarbeiten, unterbrochen von kürzeren Theorieblöcken zu einzelnen Themenbereichen wie Plagiat, Phasen des Schreibprozesses usw. Die Gruppenarbeiten werden immer durch fünf- bis zehnminütige Einzelarbeiten eingeleitet, in denen die TeilnehmerInnen Gelegenheit bekommen zunächst eigene Gedanken zu den jeweils gestellten Aufgaben zu entwickeln. Diese Vorgehensweise hat sich bewährt, da auf diese Weise alle besser vorbereitet in die darauf folgende Gruppenarbeit gehen und auch das Bedürfnis haben, die entwickelten Gedanken in die gemeinsame Arbeit einzubringen. Im Folgenden skizziere ich zwei Lehreinheiten (LE) aus dem Textlabor, die beispielhaft sind für die Nutzung der inhomogenen Gruppenzusammensetzung für den Unterricht. 204 Judith Theuerkauf 4. Zwei Beispiele aus dem Unterricht 4.1 Lerneinheit ‘Fachsprache versus Allgemeinsprache’ Die LE ‘Fachsprache versus Allgemeinsprache’ findet im ersten Themenblock statt, also zu Beginn des Semesters. Ziel dieser LE ist, die TeilnehmerInnen an das Thema ‘Fachsprachen’ heranzuführen. Außerdem haben sie die Gelegenheit, sich untereinander besser kennenzulernen. Im ersten Schritt werden alle TeilnehmerInnen aufgefordert zunächst in Einzelarbeit Stichpunkte zu den Begriffen ‘Fachsprache’ und ‘Allgemeinsprache’ zu sammeln („Was verbinden Sie mit den Begriffen Fachsprache und Allgemeinsprache?“). Anschließend notieren die TeilnehmerInnen 3-6 Begriffe aus ihrer Stichpunktsammlung, die sie in die weitere Diskussion in der folgenden Gruppenarbeit einbringen möchten. Die TeilnehmerInnen sammeln und diskutieren nun in Vierergruppen die gefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Fachsprache und Allgemeinsprache, insbesondere hinsichtlich Funktion, Textsorten, Kommunikationspartner, Wortschatz und Grammatik. Die gefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede visualisieren sie auf einem Poster. Die Poster werden im Anschluss im Plenum präsentiert und diskutiert. Die Abb. 3 gibt einen Überblick über typische Ergebnisse dieser Präsentationen. Die Grafiken 1 bis 3 zeigen, dass alle TeilnehmerInnen darin übereinstimmen, dass Fachsprachen und Allgemeinsprache nicht zwei voneinander getrennte Sprachräume sind, sondern Gemeinsamkeiten und Unterschiede haben. Zu den Gemeinsamkeiten gehören bestimmte grammatikalische Strukturen und der Wortschatz. Zu den Unterschieden gehören Textsorten, die Funktion von Fachtexten, der Adressatenkreis und die Verwendung von Fachterminologie in der Fachsprache. Häufig wird aber auch genannt, dass die Grammatik in den Fachtexten „komplizierter“ sei als in der Allgemeinsprache. Darüber hinausgehend zeigt die Grafik 2, dass es nicht nur eine Fachsprache gibt, sondern verschiedene. Abb. 3: Typische Ergebnisse der Gruppenarbeit ‘Fachsprache versus Allgemeinsprache’ (eigene Darstellung) Ingenieurstudenten schreiben Fachtexte 205 In der weiteren Diskussion werden nun Fachsprachen insgesamt thematisiert, die Arten von Fachsprachen und wie sie sich unterscheiden. Die TeilnehmerInnen sind sich schnell einig, dass auch unterschiedliche Ingenieurdisziplinen über unterschiedliche Fachsprachen verfügen. 4.2 Lerneinheit ‘Wie man eine wissenschaftliche Arbeit schreibt’ Die zweite LE ‚Vorgehen beim wissenschaftlichen Arbeiten’ schließt den zweiten Themenblock ab, findet also ungefähr in der Semestermitte statt. Hintergrund dieser LE ist, dass „(…) Ingenieure nicht nur flexibel in der Darstellung sein (müssen), sondern auch im Entstehungsprozess. Sie brauchen Strategien und Tipps, mit denen sie den Textproduktionsprozess flexibel und effizient gestalten können“ (Theuerkauf 2007: 91). Ziel dieser LE ist, die TeilnehmerInnen zur Reflektion ihrer bisherigen Erfahrungen mit dem Verfassen umfangreicher schriftlicher Arbeiten durch einen Erfahrungsaustausch anzuregen. Die Aufgabe beginnt zunächst wieder mit einer Einzelarbeit. Die Aufgabenstellung hierzu lautet: 1. Einige von Ihnen haben bereits eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben. Notieren Sie Titel (ggf. sinngemäß), Art der Arbeit (Diplomarbeit...) und das Fachgebiet. Es ist nicht wichtig, ob Sie die Arbeit in deutscher Sprache verfasst haben. 2. Schreiben Sie dann auf, wie Sie bei der Arbeit vorgegangen sind („von der Idee bis zur Abgabe der fertigen Arbeit“). Überlegen Sie: Was waren einzelne Arbeits- oder Projektphasen? Anmerkung: Wenn Sie noch keine längere Arbeit geschrieben haben, überlegen Sie, wie sie vorgehen würden. Im Anschluss an diese Einstimmungsphase bilden die TeilnehmerInnen Vierergruppen. Dabei muss darauf geachtet werden, dass möglichst TeilnehmerInnen mit ersten Schreiberfahrungen mit solchen ohne Schreiberfahrungen zusammenarbeiten. Nun stellen sich die TeilnehmerInnen kurz gegenseitig ihre bereits bearbeiteten Themen und ihre Vorgehensweisen vor. Anschließend diskutieren sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihren Vorgehensweisen sowie die möglichen Gründe für die Unterschiede. Ihre Ergebnisse visualisieren die Gruppen ebenfalls auf Postern, die sie anschließend im Plenum präsentieren. Diese Präsentationen fallen sehr unterschiedlich aus, und zwar abhängig von den bisher gemachten Erfahrungen der TeilnehmerInnen. Einigkeit besteht allerdings in der Abfolge bestimmter Phasen, die durchlaufen werden müssen. Diese lassen sich grob einteilen in Informationsgewinnung, Informationsverarbeitung und Informationsdarstellung. Darüber hinaus gibt es jedoch erhebliche Unterschiede, die sich für eine fruchtbare Diskussion nutzen lassen. So gibt es Unterschiede im Vorgehen abhängig von der gewählten Methodik. Wer z.B. experimentell arbeitet, beginnt häufig zunächst mit den Versuchen und macht dann die Literaturarbeit parallel dazu oder sogar erst anschließend. Eine reine Literaturarbeit hingegen, wie sie auch Ingenieure immer häufiger verfassen, beginnt natürlich mit der Literatur-Recherche. Unterschiede im Vorgehen 206 Judith Theuerkauf ergeben sich auch daraus, ob das Thema und die Aufgabenstellung vom Professor ‘abgeholt’ wurde, oder ob das Thema vom Studierenden selbst gefunden und konkretisiert wurde. In diesem Fall bekommt die Themenfindung und -konkretisierung einen ganz anderen Stellenwert innerhalb des Vorgehens. In der Diskussion wird auch thematisiert wo Probleme auftraten und warum: Häufig werden Probleme mit der Betreuung durch die Professoren genannt, mit dem Schreiben der Arbeit und vor allem auch der Zeitplanung. Durch die Inhomogenität der Gruppen ist gewährleistet, dass die wesentlichen Einflussfaktoren auf das Vorgehen der Textproduktion thematisiert werden. 5. Teilnehmerreaktionen Zu Semesterende wird die Zufriedenheit der TeilnehmerInnen mit dem Textlabor in einem Fragebogen erfasst. Diese Zufriedenheitsabfrage fiel bislang durchweg positiv aus. Die Resonanz auf die ‘gemischte’ Lehrveranstaltung war bei den ausländischen Studierenden insgesamt zwar positiv, es gab aber auch Kritik, wie ein Kommentar im Fragebogen zeigt: „ab und zu kommt man schlecht dran, weil die deutschen Studenten einfach zu schnell die Fragen beantworten“. Auch die deutschen Studierenden bewerteten die Zusammenarbeit mit Nicht-Muttersprachlern als insgesamt positiv: „Durch die Zusammenarbeit mit Nicht-Muttersprachlern war es möglich, den Standpunkt zu wechseln. Wichtig war für mich dabei, dass die Gruppen für jedes Spiel/jede Übung neu gemischt werden.“ „Interdisziplinäre Arbeit und besonders interkulturelle Arbeit im Textlabor fand ich sehr spannend und bereichernd. Es ist logisch, dass viele ‚Ausländer’ den theoretischen Lerninhalt ‚bremsen’, aber anstatt in die Tiefe zu gehen, wurde so mehr nach links und rechts geschaut. Die Einordnung der Fragestellungen in einen mehr abstrakten Kontext (eben nicht fachgebunden, sondern in Hinblick auf unterschiedliche Blickwinkel) ist sehr wichtig und wird in meiner Ausbildung viel zu wenig behandelt. ⇒ Also sehr gut und sollte vielleicht mehr in das Zentrum des Kurses gerückt werden.“ Doch auch hier gab es einen kritischen Kommentar: „bereichernd aber auch nervend – anstrengend, dem gebrochenen Deutsch zu folgen; - nervend, wenn die Aufgabenstellung nicht klar war, man sie klar machte, aber sie letztendlich doch noch mal Judith (Anmerkung: die Dozentin) fragten, die dann noch mal dasselbe sagte.“ Auch zeigte sich ein relativ hoher Teilnehmerschwund im Semesterverlauf von fast 50 Prozent. Da die TeilnehmerInnen sich nicht abgemeldet haben, kann über ihre Beweggründe nur spekuliert werden. Vermutet werden vor allem Zeitmangel sowie fehlende oder subjektiv als unzureichend empfundene Deutschkenntnisse. Möglicherweise konnten einige TeilnehmerInnen auch die teilweise unkonventionellen Lehrmethoden nicht mit ihren bisherigen Lern-, Studier- und Arbeitsgewohnheiten vereinbaren. Ingenieurstudenten schreiben Fachtexte 207 6. Fazit und Ausblick: Anforderungen an ‘DaFachsprache’-Lehrer Primäre Aufgabe des Textlabor-Dozenten ist natürlich die Lernprozesse der Studierenden zu initiieren und zu lenken sowie die Unterrichtsaktivitäten zu moderieren. Hinzu kommen die Korrekturen der Hausaufgaben (6 x ca. 1 Seite) und die Bewertung der Prüfungsaufgaben. Darüber hinaus haben die Studierenden unzählige Fragen: zum Textaufbau, zu Zitierweisen, zu Formulierungen usw. Daraus ergibt sich eine Reihe von Anforderungen an den Dozenten: Einerseits benötigt er durchaus Basiswissen zu ingenieurwissenschaftlichen Themen, da sonst die Korrektur der ingenieurwissenschaftlichen Texte schwer fallen kann bzw. nur noch auf der grammatikalischen Ebene möglich ist, um die es im Textlabor jedoch nicht geht. Als hilfreich herausgestellt hat sich auch Wissen von den Strukturen und Anforderungen der Studiengänge, da vielen Studierenden gar nicht klar ist, welche Schreibanforderungen sie in ihrem Studium bewältigen müssen und das auch nicht von ihren Studienfachberatern erfahren. Für die Unterrichtsgestaltung ist schreibdidaktisches Methodenwissen notwendig. Schließlich sind Kenntnisse zu den fachsprachlichen Besonderheiten ingenieurwissenschaftlicher Texte notwendig. Dazu zählen Fachtextsorten und deren Textbaupläne, spezifische Sprachhandlungsformen (Definieren, Klassifizieren etc.) und ihre sprachlichen Umsetzungsmöglichkeiten sowie ingenieurspezifische Konventionen (keine Fußnoten verwenden etc.). Darüber hinaus sollten fachspezifische Grundlagen- und Nachschlagewerke (‘Dubbel’ und ‘Hütte’, DIN-Normen….) bekannt sein. Bislang sind einzelne DaF-Lehrer darauf angewiesen, sich diese Kenntnisse selbst zu erarbeiten, z.B. durch Recherchen in Studienordnungen, authentischen Lehr-Materialien aus ingenieurwissenschaftlichen Fächern, Diplomarbeiten, Dissertationen. Das erfordert hohes Engagement und zeitlichen Aufwand. Langfristig müsste daher die Vermittlung derartiger Kenntnisse in die DaF-Ausbildung integriert werden, da hier aus meiner Sicht ein großes Potenzial für zukünftige DaF-Lehrkräfte liegt. Literatur Brockhaus (1997): Die Enzyklopädie: in 24 Bänden. Bd. 10. 20. überarb. Aufl. Leipzig; Mannheim: Brockhaus. Buhlmann, Rosemarie; Fearns, Anneliese (2000): Handbuch des Fachsprachenunterrichts: unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen. 6. überarb. Aufl. Tübingen: Narr. DAAD (2003): Studienverläufe im Ausländerstudium. Ergebnisse einer Pilotstudie. In: www.uniprotokolle.de. Die Adresse für Ausbildung, Studium und Beruf. Html-Dokument. Url.: http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/26869/ (17.9.07). Fluck, Hans-Rüdiger (1996): Fachsprachen: Einführung und Bibliographie. 5. überarb. Aufl. Tübingen, Basel : Francke (UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher 483). Henning, Klaus; Staufenbiel, Joerg E. (Hrsg.) (1996): Berufsplanung für Ingenieure. Mit Stellenangeboten für Jungingenieure und Informatiker von über 80 Unternehmen. 12. Aufl. Staufenbiel: Institut für Studien- und Berufsplanung. Heublein, Ulrich (2006): Schwundfördernde Faktoren im Ausländerstudium. Ausgewählte Ergebnisse. Vortrag. PROFIS-Tagung des DAAD. PdF-Dokument. Url.: 208 Judith Theuerkauf http://www.daad.de/imperia/md/content/hochschulen/profis/veranstaltungen/ bilanztagung2006/pras_heublein.pdf (17.9.07). Heublein, Ulrich; Sommer, Dieter; Weitz, Birgitta (2004): Studienverlauf im Ausländerstudium. Eine Untersuchung an vier ausgewählten Hochschulen. Bonn: Deutscher Akademischer Austausch Dienst. Pdf-Dokument. 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Schreiben für Fortgeschrittene - vom wenig gesteuerten explorativen zum (hochgradig ) gesteuerten Schreiben im Dienst der Wissensbe- und -verarbeitung. Kurzfassung. Tagungsbeitrag. 5. Grazer Tagung Deutsch als Fremdsprache und deutsch als Zweitsprache. Textkompetenz. Html-Dokument. Url.: http://wwwgewi.kfunigraz.ac.at/uldaf/tagungen/bei5_06a.htm (25.09.2005). Roelcke, Thorsten (1999): Fachsprachen. Berlin: Erich Schmidt (Grundlagen der Germanistik 37). Theuerkauf, Judith (2007): Mit ‘Kompetenzsprüngen’ über fachsprachliche Hürden: Konzept zur Vermittlung von Schreibkompetenz. In: Göbel, Constanze et al. (Hrsg.): DaF-Didaktik aus internationaler Perspektive. Frankfurt (M.): IKO Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 85-101. Fachsprachenunterricht im Rahmen des deutschsprachigen Unterrichts 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 209-220. Stanka Murdsheva (Sofia) Fachsprachenunterricht im Rahmen eines deutschsprachigen Unterrichts an der TU Sofia, Bulgarien 1. Internationalisierung der Hochschulen Anfang der 90er Jahre wurden bekanntlich im Zeichen der Internationalisierung der Hochschulen an ausgewählten Universitäten in Mittel- und Osteuropa sowie in den GUS-Staaten Aufbau-, Zusatz- und Vollstudiengänge eingerichtet, in denen verschiedene Fächer – in erster Linie Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften, aber auch Rechtswissenschaften und Politologie – in deutscher Sprache studiert werden können. Als Abschluss erwerben die Studierenden in diesen deutschsprachigen Studiengängen (DSG) im eigenen Heimatland ein (Doppel-)Diplom oder ein Zeugnis, aus dem die besondere Qualifikation deutlich wird. Wichtig ist dabei die institutionelle Verbindung der einheimischen mit der jeweiligen deutschen Partnerhochschule, die eine Anerkennung von Studienleistungen ermöglicht. Diese internationalen Bildungsprojekte wurden in den Jahren vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert und betreut, so dass sie heutzutage eine herausragende Qualität aufweisen und für die Kooperation des jeweiligen Landes mit Deutschland von besonderer Bedeutung sind. Gegenwärtig werden vom DAAD 25 DSG gefördert. Im Laufe der Jahre wurde diese Initiative des DAAD durch die Beteiligung von anderen, wie z.B. europäischen bzw. EU-Institutionen und/oder Vereinen aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern, erweitert, so dass es heutzutage Transnationale Bildungsprojekte gibt, in denen die Lehre zwei- oder dreisprachig ist. Im Rahmen dieser Initiative entstanden in Bulgarien 5 deutschsprachige Studiengänge (vgl. Burneva; Murdsheva 2006) 210 Stanka Murdsheva 2. Mögliche „fruchtbare“ (Erfolg versprechende) Gründe für die Gründung der DSG in Bulgarien Bevor der Fachsprachenunterricht im Rahmen des deutschsprachigen Unterrichts an der Fakultät für deutsche Ingenieur- und Betriebswirtschaftsausbildung (FDIBA) der TU Sofia beschrieben wird, soll der Frage nachgegangen werden, warum in dem „kleinen“ Bulgarien so viele internationale Studiengänge eingerichtet wurden. Das war aus vielen verschiedenen Gründen möglich, einige davon sollen hier erwähnt werden. Ein Blick in die Vergangenheit Bulgariens überzeugt, dass bereits im 19. Jahrhundert Deutschland ein begehrter Studienort für die Kinder wohlhabender Bulgaren war. So bekam das deutsche Ausbildungsmodell einen sehr guten Ruf in Bulgarien. Die Gründung von DSG ist weiter auf die Jahrzehnte alte Tradition und die Erfahrung im Deutsch- bzw. Fremdsprachenunterricht im Schulbereich, aber auch auf die guten Traditionen im universitären Bereich zurückzuführen, wo der Fremdsprachenunterricht ein Pflichtfach ist und die Lerner sprachliche Fertigkeiten in der in der Schule gelernten Fremdsprache nun als Berufsprache erwerben können. Wenn es um den Fremdsprachenunterricht in der Schule geht, so muss man die so genannten deutschsprachigen Gymnasien nennen, die staatlich sind und deren Zielgruppe einheimische Schüler darstellen. Um in einer solchen Schule lernen zu können, muss man sich bewerben und zwei Aufnahmeprüfungen bestehen. Diese Schulen wurden in den 60er Jahren gegründet, als die Tradition der deutschen Schulen aus den 30er Jahre des 20. Jahrhunderts nach einer 20-jährigen Unterbrechung wieder ins Leben gerufen wurde; es entstanden die ersten 3 deutschsprachigen Gymnasien, in den 80er Jahren wurden sie acht, um 1990 schon 11. Heute sind es viel mehr. An diesen Schulen wird das Lehrprogramm der allgemein bildenden bulgarischen Schule in deutscher Sprache absolviert. Eine so genannte Vorbereitungsklasse war mit 20 Wochenstunden dem Erlernen der deutschen Sprache gewidmet, in den darauf folgenden Klassen hatten die Schüler deutschsprachigen Fachunterricht (DFU) bei dem so genannten Programmlehrer aus Deutschland (der Ex-DDR) und im letzten Jahr (vor der Wende war das die 11. Klasse, ab 2000 die 12. Klasse) wurden die naturwissenschaftlichen Fächer in Bulgarisch erlernt, um das entsprechende Fachwissen bilingual zusammenzufassen und die Absolventen auf das Aufnahmeprozedere für ein Studium an einer bulgarischen Universität vorzubereiten. Somit brachten diese Schüler nicht nur eine wichtige fachliche und fachsprachliche Vorerfahrung mit an die Universität, sondern auch Lernerfahrung und Lerntechniken in den Grundlagenfächern des deutschen Bildungsmodells, eine positive Einstellung zur Lehre, selbständiges und kreatives Lernvermögen usw. Die von den Lernern an diesen deutschsprachigen Schulen erworbenen Kompetenzen stellten somit eine fundierte Basis für eine solide universitäre Weiterbildung in einem Fach in deutscher Sprache dar. Diese Voraussetzungen der Lerner gehören neben anderen zu den Studien- und Lernbedingungen, von denen die Entwicklung von Curricula abhängig ist. Wie ist die Situation in diesen Gymnasien heute? Wie schon erwähnt, ist die Zahl dieser deutschsprachigen Gymnasien gestiegen. Die Zahl der Programmlehrer ist aber mit den Jahren zurückgegangen, weil die vor der Wende in Bulgarien aus der DDR Fachsprachenunterricht im Rahmen des deutschsprachigen Unterrichts 211 entsandten Lehrer für die Sprachgymnasien keineswegs in ausreichendem Maße durch qualifizierte Lehrkräfte der ZfA ersetzt werden konnten. Dies hatte zur Folge, dass es heute viele deutschsprachige Gymnasien gibt, an denen kein deutschsprachiger Fachunterricht angeboten werden kann. Sehr gering an der Zahl sind auch die bulgarischen Lehrkräfte, die ein Fach in Deutsch unterrichten. Es wurden zwar z.B. Geschichtelehrbücher in Deutsch herausgegeben, aber die Lehrer, die dieses Fach unterrichten könnten, sind wenige. Das heißt DFU findet nicht in jedem Gymnasium statt, oder wenn er angeboten wird, geschieht dies nicht in dem Umfang von Fächern, wie das vor der Wende war. Die deutschen Programmlehrer unterrichten dort, wo es sie gibt, in den so genannten „Leistungsklassen“. In diesen sind die Leistungsklässler, die von deutschen und bulgarischen Lehrkräften auf das DSD der Stufe II vorbereitet werden, um den Sprachnachweis vor lizenzierten einheimischen Prüfungsbeauftragten ablegen zu können. In Sofia gibt es drei solcher Schulen, an denen man die DSD der Stufe II ablegen kann; an einem der deutschsprachigen Gymnasien kann man sogar das deutsche Abitur machen. Die anderen Schüler – die nicht Leistungsklässler – bekommen in erster Linie DaF-Unterricht und streben den Erwerb eines Sprachnachweises an – TestDaF oder ZOP. Dieses veränderte Bild in den deutschsprachigen Gymnasien – die Veränderungen betreffen nicht nur die Vielfalt in den Absolventengruppe (mit oder ohne Sprachnachweis), sondern auch die Lernangebote – hat heutzutage Konsequenzen für den studienvorbereitenden und studienbegleitenden Unterricht bzw. für den Fachunterricht an der FDIBA. 3. Die Fakultät für deutsche Ingenieur- und Betriebswirtschaftsausbildung (FDIBA) an der TU Sofia, gefördert durch den DAAD, mit Mitteln des Stabilitätspaktes und durch Eigenfinanzierung, Gründungsjahr 1990 Die Fakultät für deutsche Ingenieur- und Betriebswirtschaftsausbildung (FDIBA) wurde 1990 im Rahmen einer Vereinbarung zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien eingerichtet. Die konkreten Verpflichtungen der beiden Seiten wurden durch eine Vereinbarung zwischen dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der TU Sofia geregelt. Die Studierenden an der FDIBA bildet man nach den Curricula der deutschen Partneruniversitäten aus. Das sind die Technische Universität Karlsruhe für die Studiengänge Allgemeiner Maschinenbau und Informatik (Computersysteme und Technologien), die Technische Universität Braunschweig für den Studiengang Betriebswirtschaft und die FH Essen für den MBA-Studiengang. Die Empfehlungen der letzten Evaluierung – alle 5 Jahre wird die Fakultät von der deutschen und bulgarischen Seite evaluiert – sind, dass man bis 2011 das neue Fach Wirtschaftsinformatik einführen sollte. Die Lehrveranstaltungen werden von deutschen und bulgarischen Lehrkräften (etwa 50 Dozenten der TU und 15 Honorardozenten) durchgeführt. Pro Semester kommen etwa 12 bis 20 deutsche Hochschullehrer, vor allem aus den Partneruniversitäten, zu Gastvorlesungen an die FDIBA. Die Beteiligung deutscher Gastdozenten an der Ausbildung trägt dazu bei, dass 212 Stanka Murdsheva das deutsche Ausbildungsmodell ohne wesentliche Änderungen übernommen wird, die Qualität der Lehre sehr gut ist, die Kontakte der TU Sofia erweitert werden und ihr internationales Image verbessert wird. Die Bewerbung um einen Studienplatz in einem der drei DSG an der FDIBA erfolgt nach den für alle Bewerber an der TU Sofia geltenden allgemeinen Regeln des jeweiligen Studienjahres. Die Bewerber müssen die Aufnahmeprüfung in Mathematik oder Physik erfolgreich bestehen. Außerdem ist für die Immatrikulation an der FDIBA das Bestehen der Prüfung in der deutschen Sprache erforderlich. Ist das nicht der Fall, kann der Bewerber nur in die anderen Fachrichtungen der TU eingeschrieben werden. Die Prüfung in Deutsch setzt B1-B2.1-Kenntnisse voraus. Von dieser Prüfung werden diejenigen Bewerber befreit, die über einen der folgenden Sprachnachweise verfügen: Deutsches Abitur, Deutsche Sprachprüfung der Stufe II (DSD II), Zentrale Oberstufenprüfung (ZOP) oder TestDaF. Die Aufnahmeprüfung in Deutsch für die deutschprachigen Studiengänge besteht aus folgenden drei Elementen: A: Textwiedergabe: Den Inhalt eines Hörtextes nach vorgegebenen Aufgaben/Fragen zum Textinhalt/ wiedergeben. Die Prüfungstexte haben eine Länge von 400-450 Wörtern, ihr Schwierigkeitsgrad liegt im B1-B2.1-Bereich und sie erfüllen die üblichen Kriterien für Hörtexte. Der Studienbewerber soll bei der TW zeigen, dass er einem Vortrag/einem gesprochenen Text folgen und seinen wesentlichen Inhalt zusammenhängend und sprachlich angemessen wiedergeben kann. Der Text wird zwei Mal vorgelesen, beim zweiten Vorlesen dürfen Notizen gemacht werden. Aus den Notizen wird also der Inhalt der einzelnen Abschnitte reproduziert, indem die Fragen beantwortet werden. Dabei soll der reproduzierte Textinhalt der Abfolge der wichtigen Gedanken des vorgetragenen Textes entsprechen. Die Bewerber müssen neben ihrem sprachlichen Können in der Lage sein, über eine gewisse Übung im Erkennen der Textschwerpunkte zu verfügen und sie sprachlich angemessen zu formulieren. Bei der Benotung der TW werden Punkte vergeben: 2/3 der Punkte sind für die Wiedergabe des Inhalts, 1/3 für die sprachliche Angemessenheit. B: Persönlicher Brief: Einen persönlichen Brief nach vorgegebener Aufgabenstellung schreiben. Beim Entwerfen der Testaufgabe berücksichtigt man folgende Kriterien: • Es wird eine realitätsnahe Situation der Kommunikation simuliert. • Die Rollen, welche die Bewerber beim Briefschreiben einnehmen, sollten Rollen entsprechen, die sie auch im Alltag übernehmen könnten. Das Festlegen von realitätsnahen Rollen ist wichtig, weil die jeweilige Rolle der Kommunikationspartner das sprachliche Verhalten ganz maßgeblich beeinflusst. • Wer schreibt was und wem, in welcher Situation, mit welchem Ziel werden bei der Testaufgabe Brief genau definiert Fachsprachenunterricht im Rahmen des deutschsprachigen Unterrichts 213 Bei diesem Element geben die Leitpunkte, also die Angaben dazu, was im Brief geschrieben werden soll, ein inhaltliches Gerüst vor und steuern die Textproduktion. Bei der Formulierung der Leitpunkte wird darauf geachtet, den Lernenden nicht zu viel sprachliches Material vorzugeben, sondern sie nur inhaltlich zu lenken. Somit wird die Formulierung dem fortgeschrittenem Lernstand der Bewerber angepasst. Während die inhaltlichen Leitpunkte den Text Schritt für Schritt strukturieren, steckt der Vorspann den kommunikativen Rahmen ab, in dem der Brief geschrieben wird, d.h. er nennt die Kommunikationspartner, die Situation, aus der heraus geschrieben wird und die Kommunikationsabsicht. Auf jeden der angegebenen Punkte sollen die Bewerber kurz eingehen. Die Bewerber sollten nicht nur Kenntnisse in Wortschatz und Grammatik haben, Voraussetzung ist auch die Einsicht in die Struktur der Textsorte „persönlicher Brief ” und die bewusste Verwendung textlinguistischer Elemente. Bei der Benotung des Briefes werden die ausführliche Darlegung der Inhaltspunkte, die Formalien dieser Textsorte, der logische Aufbau und die sprachliche Angemessenheit berücksichtigt. Die eine Hälfte der Gesamtpunktzahl entfällt auf den Inhalt und die Besonderheiten der Textsorte, mit der anderen Hälfte wird die sprachliche Angemessenheit benotet. C: Übersetzung Deutsch - Bulgarisch. Der allgemeinsprachliche DaF-Unterricht an den bulgarischen Schulen und deutschsprachigen Gymnasien verfolgt auch das Lernziel „Übersetzen“. Auf keinen Fall geht es dabei darum, die Lerner zu Übersetzern zu machen. Das Übersetzen als Übungsform soll den allgemeinen Sprachvergleich zwischen der deutschen und der bulgarischen Sprache fördern und den Lernprozess unterstützen. Mit dem Element Übersetzung soll in der Aufnahmeprüfung festgestellt werden, ob der Teilnehmer den Text als Lesetext verstanden hat. Der Übersetzungstext • hat eine Länge von 200-220 Wörtern, • hat einen mittleren Schwierigkeitsgrad, • spricht Themen an, denen die Bewerber im Deutschunterricht in der Schule begegnet sind und die ihrer Interessenlage entspricht. Die Prüfung gilt als bestanden, wenn der Bewerber 50% der Gesamtpunktzahl erreicht hat. 4. Deutschsprachiger Fachunterricht, DaF-Unterricht und Fachsprachenunterricht an der FDIBA An der deutschen Fakultät findet deutschsprachiger Fachunterricht (DFU) schon in der ersten Semesterwoche statt. Fachliches Wissen wird in der Zielsprache vermittelt, so dass die Studierenden sich auf akademischer Ebene zum einen im Rahmen ihres Studiums und zum anderen als zukünftige Fachleute verständigen können. Darüber hinaus geht es aber auch um die Lernbereiche Rezeption, Produktion und Reflexion in der Fremdsprache. Somit sind die Fachsprachen des Maschinenbaus, der Informatik und 214 Stanka Murdsheva der Betriebswirtschaftslehre als „Medium und Ziel gleichermaßen“ (Leisen 1994:13) zu werten. Parallel dazu findet Fachsprachen- oder DaF-Unterricht statt. 4.1 Das Aufbaustudium Betriebswirtschaftslehre/MBA Im Aufbaustudium Betriebswirtschaftslehre ist ein parallel zum deutschsprachigen Fachstudium laufender Fachsprachenunterricht vorgesehen, der insgesamt 2 Semester mit jeweils 6 Wochenstunden dauert. Die meisten Studierenden des Aufbaustudiums haben ein deutschsprachiges Gymnasium besucht. Darüber hinaus haben sie Erfahrungen im Fremdsprachenlernen – viele von ihnen sprechen neben Deutsch auch Englisch – und beherrschen die Lernund Arbeitsstrategien, die im akademischen Alltag notwendig sind. Für die Zulassung zum Studium ist ebenfalls die gleiche Prüfung in Deutsch zu leisten, wie in den Fächern Allgemeiner Maschinenbau und Informatik. Hier haben wir uns, als es um die Einführung in die Fachsprache ging, für den fachspezifischen Ansatz entschieden, so wie er bei Buhlmann und Fearns (Buhlmann; Fearns 2000: 91) beschrieben wird. Es wird Wirtschaftsdeutsch angeboten; wichtige Bereiche der Betriebs- und Volkswirtschaft werden thematisiert – beispielsweise Unternehmen und Unternehmensformen, Konjunktur, Banken, Währung, Börse etc. – und anhand authentischer Texte – wie Zeitungstexten, Magazintexten, Geschäftsbriefen, Lexika etc. – alle vier Fertigkeiten geübt. Da ein höheres sprachliches Niveau erforderlich ist, werden bei Bedarf auch die morphologischen und syntaktischen Lernpensen in Bezug auf die Allgemeinsprache ergänzt. Neben der Einführung in die Fachsprache Wirtschaftdeutsch werden den Studierenden im Themenbereich Kommunikationstraining studien- und berufsspezifische Kompetenzen vermittelt und eingeübt, so dass einerseits studienspezifische Situationen bewältigt werden können – wie die schriftliche Gestaltung und die mündliche Präsentation eines Vortrags, der Aufbau einer Studien- bzw. Diplomarbeit – und sie sich andererseits in berufsspezifischen Situationen behaupten können – wie telefonieren am Arbeitsplatz, Geschäftsbriefe verfassen usw. Mit dem Einsatz von Videomaterialien und authentischen Texten sowie durch Zusammentreffen mit Geschäftsführern deutscher Firmen in Bulgarien will man den Studierenden den Berufsalltag nahe bringen und sie durch das Kommunikationstraining für die verschiedensten Situationen sensibilisieren. 4.2 Die Studiengänge Allgemeiner Maschinenbau und Informatik Der Deutschunterricht läuft parallel zum deutschsprachigen Fachstudium und hat eine Gesamtdauer von 6 Semestern. Im BA-Studium sind zwei Semester mit jeweils 8 Wochenstunden der Studienvorbereitung und vier Semester der Studienbegleitung gewidmet (2 Semester mit jeweils 2 Wochenstunden Landeskunde und 2 Semester mit jeweils 2 Wochenstunden Kommunikationstraining), im MA-Studium noch mal 2 Semester studienbegleitenden Unterricht. Im Deutsch-/Fachsprachenunterricht werden die in der Schule erworbenen rezeptiven und produktiven sprachlichen Fertigkeiten der Studierenden vertieft und verfeinert sowie die Lernstrategien und Lerntechniken weiter entwickelt. Das Verstehen Fachsprachenunterricht im Rahmen des deutschsprachigen Unterrichts 215 und Verarbeiten von Hörtexten, das Verstehen und Bearbeiten von Lesetexten und die vorgabenorientierte mündliche und schriftliche Textproduktion werden intensiv geübt, textgebundene wissenschaftliche Strukturen stellen einen wichtigen Bestandteil der Arbeit dar. Die Studierenden erweitern ihr Wissen über Deutschland und die deutschsprachigen Länder. Im Unterricht werden authentische Texte aus verschiedenen alltags- und studiumsbezogenen Situationen eingesetzt. Die Studierenden müssen unterschiedliche Textsorten rezipieren und produzieren können. Die Abschlussprüfung – die Deutsche Sprachprüfung zum Hochschulzugang (DSH) für ausländische Studierende der Universität Karlsruhe – berechtigt die Studierenden auch zum Erwerb des Diploms der Universität Karlsruhe neben dem der Technischen Universität Sofia. Es gibt kein kurstragendes Lehrbuch, gearbeitet wird nach einem Themenkatalog. In der Studienvorbereitung ist auch der Fachsprachenunterricht integriert. Der Einführungskurs in die Fachsprache des Maschinenbaus und der Informatik wird fachübergreifend angeboten und ergänzt somit den parallel laufenden deutschsprachigen Fachunterricht und umgekehrt. Der Deutsch-/Fachsprachenunterricht und der deutschsprachige Fachunterricht sind aufeinander abgestimmt. Im ersten Semester werden im Fachstudium Mathematik, Physik, Chemie, Darstellende Geometrie und Informatik I gelehrt. Diese Disziplinen bedienen sich bekanntlich einer „verständlichen“ Sprache aufgrund ihrer darstellenden Form. Im Fachunterricht definiert der Fachdozent, die für sein Fach in Frage kommenden Inhalte. Parallel dazu liefert der Deutsch-/Fachsprachenunterricht nach und nach die sprachlichen, fachsprachlichen Kompetenzen und Arbeitsstrategien. Anhand von Texten aus den Grundlagenbereichen werden einmal in der Woche mit jeweils 2 Wochenstunden im Deutsch-/Fachsprachenunterricht in erster Linie die speziellen sprachlichen Mittel morphologischer, syntaktischer, lexikalischer und textueller Phänomene der „sogenannten Wissenschaftssprache, die als konstituierendes Element einen bestimmten Spezialisierungsgrad hat und all die sprachlichen Mittel aufweist, die aufgrund wissenschaftlicher Operationsformen, Argumentationsstrukturen und Darstellungsweisen einer definierten Menge von Disziplinen gemeinsam sind“ (Buhlmann; Fearns 2000: 92), behandelt. Die für die Studierenden relevanten Lese-, Textproduktions- und Arbeitsstrategien sowie die Kommunikationsverfahren werden angeeignet. Im Deutsch/Fachsprachenunterricht vermittelt man Strategien zur Informationsentnahme beim Lesen von unterschiedlichen Fachtextsorten und beim Hören von fachlichen Vorträgen etc., zur mündlichen und schriftlichen Produktion von im Fach üblichen Textsorten unter Berücksichtigung von deren Eigentümlichkeiten. In dem studienbegleitenden Unterricht (Kommunikationstraining) im 4. und 5. Semester liegt der Schwerpunkt auf den produktiven Fertigkeiten Schreiben und Sprechen im Studium und im Beruf, indem man z.B. die Produktion von Textsorten ausbaut und z.B. Praktikumsberichte oder Beschreibungen/Bedienungsanleitungen zu Produkten/Maschinen zu schreiben trainiert und diese dann vor einem Kundenpublikum zu präsentieren übt; die Schwerpunkte liegen hier sowohl auf der Bewältigung von studienspezifischen Situationen (wissenschaftliches Schreiben) aber auch der Bewältigung von berufsspezifischen Situationen (Produktpräsentation). Unterrichtet wird in erster Linie mit eigenen didaktisierten Un- 216 Stanka Murdsheva terrichtsbeispielen. In den Studiengängen Allgemeiner Maschinenbau und Informatik haben wir uns für das erste und zweite Semester für den fachübergreifenden Ansatz entschieden, weil dieser, im Gegensatz zum fachspezifischen Ansatz, das gemeinsame Unterrichten von Studierenden aus verschiedenen Ingenieurwissenschaften ermöglicht. Ein Großteil der Studenten der deutschen Fakultät hat ein deutschsprachiges Gymnasium absolviert und auch deutschsprachigen Fachunterricht gehabt. Nur eine geringe Anzahl der Studierenden kam von Schulen und Fachoberschulen mit erweitertem Deutschunterricht. Außerdem konnte man so verschiedenen Vorschriften in der Studien- und Prüfungsordnung der TU Sofia entsprechen. Nach diesem Curriculum wurden viele Jahrgänge unterrichtet, die Durchfallquoten lagen bei fast Null. Innerhalb der letzten 3 bis 4 Jahre hat sich die Situation sehr verändert, was das Sprachniveau der Studierenden, die Homogenität der Sprachgruppe usw. anbetrifft. Was ist neu? Was ist anders? 5. Das Programm zum „Akademischen Neuaufbau Südosteuropas“ Die Studienmöglichkeiten an der FDIBA wurden 2001 ausgebaut. Der DAAD stellte im Rahmen des Programms zum „Akademischen Neuaufbau Südosteuropas“ Interessenten aus den benachbarten Ländern (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Serbien) Stipendien zur Verfügung für ein Studium an der FDIBA in den BA-Studiengängen Informatik, Allgemeiner Maschinenbau oder in den MA-Studiengang Betriebswirtschaftslehre oder im MBA oder für ein Studium an der Universität für Chemisch-technologische Metallurgie (UCTM) im deutschsprachigen Fach Chemische Verfahrenstechnik. Das Programm wird auch aus Mitteln des Stabilitätspaktes finanziert. Das Ziel des Programms ist die Förderung des akademischen Austausches in der südeuropäischen Region. Es soll dazu dienen, eine deutschsprachige Ausbildung für ausländische Studierende zu ermöglichen und den zukünftigen Austausch im akademischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich zu vertiefen.1 Bewerben können sich auch Interessenten aus Bulgarien oder aus den anderen benachbarten Ländern, allerdings müssen diese ihr Studium bezahlen. Die Ausbildung in der deutschen Sprache wird durch die FDIBA gleichzeitig auch für (die kleinere Zahl) von Studienanfängern vorgenommen, die dann das Studium an der UCTM Sofia aufnehmen. Seit dem Studienjahr 2002/2003 wurde für die DAAD-Stipendiaten und die Einzelzahler, die in erster Linie aus der benachbarten Türkei kommen, das Vorstudienjahr eingeführt. Im Rahmen dieses Vorstudienjahres wird den Studierenden die Möglichkeit gegeben, sich Kenntnisse und Fertigkeiten in Deutsch anzueignen und ihr Können in Mathematik und Physik zu verbessern, so dass sie idealtypisch nach dem Vorstudienjahr ihr Fachstudium in deutscher Sprache reibungslos aufnehmen können. Die nunmehr fünfjährigen Erfahrungen zeigen, dass das Propädeutikum sich als unbedingt notwendig für die Sicherung des Ausbildungsstandards insbesondere bei SOE-Bewerbern erweist. 1 Nähere Informationen darüber sind unter http://www.daad.de/stabilitätspakt zu finden. Fachsprachenunterricht im Rahmen des deutschsprachigen Unterrichts 217 Im Rahmen des Propädeutikums werden den Lernern intensiver studienvorbereitender Deutschunterricht und extensiver Mathematikunterricht (45 UE im ersten und 30 UE im zweiten Semester) und extensiver Physikunterricht (30 UE im ersten und 45 UE im zweiten Semester) angeboten. In allen drei Fächern werden viele Tests durchgeführt, der Unterricht schließt mit einer Prüfung ab. Der Schwierigkeitsgrad der Abschlussprüfung in Deutsch liegt bei B1- B2.1. Im Deutschunterricht gibt es eine (nur in den ersten 2 Jahren des DAAD-Stipendienprogramms an der FDIBA) oder zwei Sprachgruppen, die nach einem Einstufungstest im Heimatland bzw. einem Gespräch zu Beginn jedes Studienjahres konstituiert werden. Für die Gruppe der absoluten Anfänger sind 750 UE vorgesehen, die Gruppe der Nichtanfänger (Niveau der sprachlichen Kenntnisse fast so gegen Ende A1) hat laut Curriculum 550 UE. Der Deutschunterricht im Propädeutikum war anfangs ausschließlich allgemeinsprachlich ausgerichtet und wurde mit gängigen Lehrwerken erteilt, die vornehmlich für Lerner konzipiert sind, die in einem deutschsprachigen Land leben oder/und studieren wollen. Seit 2005/2006 dominiert nicht mehr die Allgemeinsprache, sondern der allgemein- und fachsprachliche Unterricht werden in „einer jeweils ergänzenden Kooperation“ (Fearns nach Steinmetz 2000: 170) erteilt. Kurstragend ist das Lehrbuch Berliner Platz, es wird ergänzt durch andere Lehrwerke und Übungsgrammatiken und durch projektorientierte Online-Aufgaben. Eine Darstellung des kommunikativen Deutschunterrichts erübrigt sich, da dort die üblichen fachdidaktischen Methoden eingesetzt werden. Ganz kurz will ich aber noch auf einige Besonderheiten eingehen: Das sind als erstes die Sprachkenntnisse der Teilnehmer im Englischen, die aber leider nur „bei Bedarf“, also als Hilfsmittel zur Verständigung und zum Sprachvergleich auf einem einfachen Niveau herangezogen werden. Es wird nicht auf Erkenntnissen der DaZForschung aufgebaut. Auch der Vergleich Internationalismus-Muttersprache in dem Sprachpaar Deutsch-Muttersprache spielt im Unterricht nur eine sehr geringe Rolle. Dafür ist die Sensibilisierung für die kulturellen Unterschiede zur Zielkultur Deutsch, aber auch zur Zielkultur Bulgarisch (für die Studierenden im Vorstudienjahr ist im Rahmen der Universität kein Bulgarischunterricht vorgesehen) ein wichtiges Lernziel. Im Propädeutikum wird anhand der Lehrbuchtexte an dem differenzierten Verständnis für die kulturellen Unterschiede im Alltagsverhalten einerseits und an den interkulturellen Konfliktlösungsstrategien andererseits gearbeitet. Diese Komponenten durchziehen den gesamten Studien vorbereitenden und studienbegleitenden Unterricht. Die zweite wichtige Besonderheit des Vorstudienjahres ist der Versuch, der Dichotomie „Allgemeinsprache“ und „Fachsprachen“ nicht zu folgen, wie das jahrelang nach dem Muster des deutschen Studienkollegs an der deutschen Fakultät der Fall war. Heute tendiert man eher dazu eine Sprachausbildung zu fordern, die zur erfolgreichen Kommunikation im Fach mit Hilfe der Fremdsprache Deutsch ausgerichtet ist. Dieser Umstellung liegt die Auffassung zugrunde, dass das fremdsprachliche Können Teil eines Systems von fachlichen Handlungen ist. Damit wollten wir den Deutschunterricht mehr an den Bedürfnissen unserer Adressaten orientieren. Die theoretische Begründung fanden wir in der Fachliteratur vor: „Hier ist es vernünftig, eine bestimmte Anzahl von 218 Stanka Murdsheva Stunden auf den allgemeinsprachlichen Unterricht zu verwenden und erst danach mit dem Fachsprachenunterricht zu beginnen, der parallel laufen kann“.(…) „Für den Intensivunterricht bedeutet das, dass mit einer Fachsprache wie der der mathematischen, physikalischen, chemischen oder biologischen Grundlagenbereiche nach ca. 50 Stunden problemlos begonnen werden kann, wenn man die erforderlichen morphologischen und syntaktischen Phänomene mit erklärt bzw. vermittelt“ (Buhlmann; Fearns 2000: 86). Im Rahmen des intensiven Deutschkurses wird demnach, nachdem den Lernern nach etwa 100 Stunden Deutsch eine allgemeinsprachliche Basis vermittelt worden ist, eine Einführung in die Fachsprache der Mathematik gestartet. Die Voraussetzung dafür bildet der Erwerb von fremdsprachlichen Strukturen in diesen 100 Stunden. Gearbeitet wurde anfangs mit dem Lehrbuch von Buhlmann; Fearns: MNF Band I, Mathematik, in welchem es sprachlich leichte Texte gibt, wie z.B. „Bitte multiplizieren Sie 2 mit 3! 6 ist das Produkt; 6 ist das Ergebnis einer Multiplikation.“ (Buhlmann; Fearns 1982: 92). Selbst die Verbalisierung der Formeln war für den Anfang, als der deutschsprachige Fachunterricht in Mathematik noch nicht auf dem Stundenplan war, für die Studierenden unterhaltsam und zielgerichtet. Die Verben zur Darstellung von Zahlenrelationen (Verben, Substantive und Ausdrücke der Zunahme bzw. Abnahme) werden eingeführt und mit Hilfe von einfachen Grafiken geübt, die thematisch zum Kapitel passen, das gerade im „allgemeinsprachlichen“ DaF - Unterricht behandelt wird. Auf diese Weise will man erreichen, dass die Lerner sich sprachlich korrekt zu inhaltlich interessanten Themen äußern und diese mit den anderen diskutieren. Fachsprachenunterricht der oben beschriebenen Art findet vor dem Fachunterricht in Mathematik statt: man führt die Lerner ein, man bereitet sie fachsprachlich auf den Fachunterricht vor, indem man die sprachlichen Strukturen vermittelt und einübt, somit wird der Fachsprachenunterricht äußerst wirkungsvoll. Den fachlichen Inhalt vermittelt dann der Fachdozent im deutschsprachigen Fachunterricht. Der Fachsprachenunterricht wird auch auf die Physik ausgeweitet. Da kommt es durchaus vor, dass er ohne Vorlauf parallel zum Fachunterricht eingesetzt wird, um Defizite aufzuarbeiten. Es findet also eine Art Nachbereitung statt, weil z.B. der Fachinhalt zu kompliziert war unter anderem auch wegen der Vielfalt der fachsprachlichen Strukturen und der unzureichenden Einübung. Ein Beispiel hierfür ist das Thema Bewegungen (Kreisbewegungen, gleichförmige, geradlinige, gleichmäßig beschleunigte usw.), das für die Einführung und Einübung des Definierens als ein wichtiges Kommunikationsverfahren in der Fachsprache sehr geeignet ist. In der Nachbereitung liegt der Schwerpunkt nicht nur auf der sprachlichen Struktur, sondern auch auf dem Vergleich von Definitionen, auf der Abgrenzung und Anwendung von Definitionen usw., also im Sinne: ist die Definition zutreffend, sprachlich und inhaltlich korrekt, überzeugend, erweiterungsbedürftig usw. Die Texte, die für die Zwecke didaktisiert werden, stammen aus dem Skript des Physikdozenten und oder aus dem jeweiligen Physiklehrbuch. Dabei muss auch gesagt werden, dass so eine Einführung in die Fachsprache, die nicht zu 100% vor dem Fachunterricht stattfindet, sehr aufwendig ist, vor allem was die Fachsprachenunterricht im Rahmen des deutschsprachigen Unterrichts 219 ständige Absprache mit den Fachdozenten anbetrifft. Das erweist sich oft als ineffizient. Zusammenfassend will ich noch einmal die Abfolge betonen: zuerst die Vermittlung der sprachlichen Grundlagen über die Allgemeinsprache, dann die Einführung in die Fachsprache der Mathematik und anschließend in die Physik kursbegleitend als Vorbereitung und/oder Nachbereitung zum deutschsprachigen Fachunterricht in den Fächern Mathematik und Physik scheint uns sinnvoll zu sein, was den Studienerfolg im Rahmen einer vernünftigen Studienzeit anbelangt. Die bisherigen Schwierigkeiten der Studierenden mit dem Bewältigen des Unterrichtsstoffes im derzeitigen Deutsch-/Fachsprachenunterricht im 1. und 2. Semesters einerseits aber auch mit dem Fachstoff in den Disziplinen des Fachstudiums müssten damit einigermaßen reduziert sein. 6. Heterogene Lernergruppen unter den bulgarischen Studierenden Geändert hat sich auch die Situation unter den bulgarischen Studierenden. Es sind 2 Gruppen: die eine Lernergruppe sind die Bewerber, welche die Aufnahmeprüfung in Deutsch bestehen mussten, weil sie über keinen Sprachnachweis verfügen. Das sind Schüler entweder der deutschsprachigen Gymnasien oder einer anderen Schule. In dieser Gruppe sind auch Schüler, für die Deutsch die Zweite Fremdsprache ist. Diese Studierenden bekommen zuerst einen studienvorbereitenden Deutsch-/Fachsprachenunterricht und in den höheren Semestern einen studienbegleitenden Deutschunterricht. Zu der zweiten Gruppe gehören Studierende mit einem Sprachnachweis (TestDaF in den Niveaustufen 4 in allen vier Subtests oder Kombinationen von den Niveaustufen 5,4,3 in allen vier Subtests, DSD der Stufe II, deutsches Abitur oder ZOP). Sie werden den Vorschriften gemäß vom studienvorbereitenden Deutsch-/Fachsprachenunterricht befreit, bekommen aber auf eigenen Wunsch selbst einen studienbegleitenden Unterricht mit einem Umfang von 4 Wochenstunden im 1. und 2. Semester. Vergleicht man die Zahlen für die Jahrgänge 2005 und 2006 so stellt man fest, dass man in der Zukunft mit einem steigenden Anteil der Studierenden mit einem Zeugnis rechnen könnte. Die bunte Palette an Lernern mit einem unterschiedlichen sprachlichen Können (Lerner mit einem Sprachzeugnis, Lerner aus deutschsprachigen Gymnasien ohne Zeugnis, Lerner aus „normalen“ Schulen, Stipendiaten), die Vorschriften in der Studien- und Prüfungsordnung der TU Sofia erschweren die Arbeit der Deutschdozenten. Das oben umrissene Curriculum für die Studierenden im Vorstudienjahr ist noch in der Erprobungsphase. Seine Implementierung wird möglich sein, wenn die Curricula für die anderen Lernergruppen erarbeitet bzw. die alten revidiert werden, so dass jede Gruppe das Lehrprogramm bekommt, das sie braucht. 220 Stanka Murdsheva Literatur Buhlmann, Rosemarie; Fearns, Anneliese (2000): Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen. Tübingen: Gunther Narr Verlag. Buhlmann, Rosemarie; Fearns, Anneliese (1982): MNF – Hinführung zur mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachsprache. Band I: Mathematik. München: Hueber Verlag. Burneva, Nikolina; Murdsheva, Stanka (2006): Deutsch als Fachsprache(n) an bulgarischen Hochschulen. In: Casper-Hehne, Hiltraud; Koreik, Uwe; Middeke, Annegret (Hrsg.), Die Neustrukturierung von Studiengängen „Deutsch als Fremdsprache“. Probleme und Perspektiven. Göttingen: Universitätsverlag, 237-252. Leisen, Josef (1994): Handbuch des deutschsprachigen Fachunterrichts (DFU): Didaktik, Methodik und Unterrichtsilfen für die Sachfächer im DFU und fachsprachliche Kommunikation in Fächern wie Physik, Mathematik, Chemie, Biologie, Geografie, Wirtschafts-/Sozialkunde. Bonn: Varus Verlag. Steinmetz, Maria (2000): Fachkommunikation und Daf-Unterricht. München: Iudicium. E-teaching und Fachsprachenvermittlung 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 221-225. Niina Lepa & Katrin Koorits (Tartu) E-teaching und Fachsprachenvermittlung im Rahmen der BA/MA-Umstellung: Die Auslandsperspektive zwischen Tradition und Neubeginn am Beispiel Tartu/Estland 1. Tradition des Fremdsprachenunterrichts und die gegenwärtige Situation Die Fachsprachenvermittlung des Deutschen als Fremdsprache erfreut sich an der Universität Tartu einer langen Tradition, die in den 60er Jahren begann und ohne Unterbrechungen bis heute fortgesetzt wird. Lange Jahre dienten uns als die wichtigsten Unterrichtsmittel die Fachsprachen-Lehrbücher aus der DDR.1 In den Jahren 1960-80 war das Lernen einer Fremdsprache an der Universität im Umfang von mindestens 4 Semestern obligatorisch. Im Laufe der letzten 15 Jahre hat sich die Situation stark verändert. Im Zuge der Umgestaltung des Studiums wurden die Fremdsprachen, darunter auch die Fachsprachen, an den meisten Fakultäten zu Wahl- und Freifächern und es wurde unmöglich, Präsenzkurse zu einzelnen Fachsprachen, z.B. der Naturwissenschaften, anzubieten, weil die Gruppen sehr klein und damit unwirtschaftlich wären. Dieser Prozess wurden durch den Übergang der Universität zum Bolognaer BA/MA-Modell im 1 Als Beispiel seien hier zwei Lehrbücher des Herder-Instituts angeführt: Dinter, W. u. a. Deutsch. Ein Lehrbuch für Ausländer. Chemie. Leipzig, 1975. Fiedler, M. u.a. Deutsch. Ein Lehrbuch für Ausländer. II A. Leipzig, 1968. Niina Lepa, Katrin Koorits 222 Herbstsemester 2002 und die damit zusammenhängende Straffung der Curricula noch vertieft. Außerdem führt die Dominanz des Englischen als der ersten Fremdsprache in den Schulen dazu, dass immer weniger Studenten an die Universität kommen, die über ausrechende Deutschkenntnisse verfügen, um am Fachsprachenunterricht teilzunehmen. Trotz dieser Entwicklung ist unter den Studierenden das Interesse an Fremdsprachen nicht verloren gegangen und es werden zurzeit Fremdsprachenkurse für folgende Sprachen angeboten: Englisch, Deutsch, Französisch, Estnisch, Russisch, Latein, Japanisch, Italienisch, Finnisch, Spanisch, Türkisch, Lettisch, Ukrainisch und Koreanisch. Im Frühjahr 2006 führte das Sprachenzentrum eine Befragung unter den Studierenden durch, die das Interesse am Fachsprachenunterricht bestätigte. Sie ergab, dass über 35 % der Studierenden die Fremdsprachen vor allem aus fachlichen Gründen lernen: Kommunikation fachbezogene Kommunikation Lesen der Fachliteratur Verbesserung der Grammatikkenntnisse andere Gründe nicht beantwortet 38,4 % 20,8 % 14,3 % 8,0 % 15,6 % 2,9 % Tab. 1. Lernziele der Studierenden beim Fremdsprachenlernen Die Notwendigkeit, Deutsch als Fachsprache zu unterrichten, wurde durch die Antworten der Studierenden über die besten Kontakte der jeweiligen Fakultät zu Universitäten im Ausland bestätigt, wonach zu deutschen Universitäten die besten Kontakte bestehen: Deutschland Finnland Schweden Spanien Italien Frankreich andere Länder schwer zu sagen nicht beantwortet 20,4 % 15,4 % 6,0 % 4,8 % 4,6 % 3,7 % 26,7 % 9,2 % 9,2 % Tab. 2. Die besten Kontakte der Fakultät zu Universitäten im Ausland 2. Projekt „Grundwortschatz der Fachsprachen“ Um die schwierigen neuen Bedingungen zu meistern und dem Fachsprachenunterricht neue Impulse zu geben, kam uns als Lösung die Idee, kompakte Online-Kurse zu einzelnen Fachsprachen zu erstellen, die die Studierenden nach dem Modulprinzip wie E-teaching und Fachsprachenvermittlung 223 Bausteine miteinander kombinieren könnten. 2004 begann das Sprachenzentrum mit dem Projekt „Grundwortschatz der Fachsprachen“, das von der Estnischen E-Universität, einem Konsortium der estnischen Hochschulen, unterstützt wird. Wir haben mit den Fachsprachen der Naturwissenschaften angefangen und als die ersten wurden die Online-Kurse für die Fachsprachen der Chemie, Biologie und Statistik erstellt und durchgeführt, in Vorbereitung sind Kurse für Mathematiker, Physiker und Juristen. Seit 2005 nehmen auch Lehrkräfte für Englisch, Russisch und Estnisch am Projekt teil. Sehr erfreulich und ermutigend für die Teilnehmer des Projektes war die Tatsache, dass der Kurs „Deutsch für Biologen, Teil 1“ von Katrin Koorits im Rahmen des von der Estnischen E-Universität organisierten Wettbewerbs „Der beste WebCT-Kurs 2006“ eine Auszeichnung in den Sparten „Audio-Dateien“ und „Tests“ bekam. An dieser Stelle möchten wir unserem Kollegen Martin Lange von der Universität Kiel für die Erstellung von Audio-Dateien, für sprachliche Beratung und Anregungen herzlich danken. 2.1 Zielgruppen, Lehr- und Lernziele Als Zielgruppen kommen in erster Linie Studierende der Naturwissenschaften (BA/ MA) in Frage, die Kurse sind aber auch den Studierenden der Offenen Universität und allen Interessenten zugänglich. Es kommt vor, dass auch Fachfremde, z.B. Germanisten, an diesen Kursen teilnehmen. Die Voraussetzungen für die Teilnahme sind Sprachkenntnisse ab Niveau B1, weil die Schulkenntnisse für die zweite Fremdsprache, was Deutsch oft ist, etwa auf diesem Niveau liegen und weil am Sprachenzentrum allgemeinsprachliche Kurse für Anfänger angeboten werden, die zu diesem Niveau führen. Außerdem teilen wir die Auffassung von H. Meese, dass es sinnvoll ist, „ausschließliches Selbstlernen erst ungefähr ab Sprachkenntnissen, die dem Zertifikat Deutsch entsprechen, anzupeilen.“ (Meese 2001: 67) Zur Bestimmung des Sprachniveaus benutzen die Studenten den interaktiven Einstufungstest des Goethe-Instituts.2 Die WebCT-Kurse sind als Einführung in die spezifischen Fachsprachen konzipiert und dienen der Aneignung des fachlichen Grundwortschatzes, der fachsprachlich relevanten Wortbildungsregeln und Strukturen sowie der Förderung der Textkompetenz. (Vgl. auch Fluck, 2003: 49) Das globale Lernziel ist, die Handlungsfähigkeit der Studierenden im Fach in der Fremdsprache zu fördern. Die Online-Kurse werden mit einem interdisziplinären Präsenzkurs für alle Naturwissenschaftler kombiniert, der die Auseinandersetzung mit der allgemeinen Wissenschaftssprache zum Inhalt hat. 2.2 Technische Voraussetzungen Die im Rahmen des Projektes erstellten Online-Kurse nutzen die vielseitige Lehr-/ Lernplattform WebCT. Sie ermöglicht, das Lehrmaterial abwechslungsreich zu gestalten, verschiedene Dateitypen zu benutzen, sie bietet verschiedene Möglichkeiten für die Gestaltung von Übungen und Tests und, was besonders wichtig ist, sie ermöglicht die Lerner-Lehrer- und Lerner-Lerner-Interaktion. In den WebCT-Kursen zu Fachsprachen werden folgende Tools benutzt: Der Kursplan dient der Organisation und gibt 2 Siehe unter: http://www.goethe.de/cgi-bin/einstufungstest/einstufungstest.pl 224 Niina Lepa, Katrin Koorits als Orientierung den Lernweg vor, die Kommunikation und Interaktion zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden erfolgt durch Foren, E-Mail und Bekanntmachungen, von den Studentenlernaktivitäten werden Aufgaben und Tests eingesetzt, der Inhalt des Kurses ist in Lernmodule organisiert, Medienbibliothek und Webverknüpfungen enthalten zusätzliches und Hilfsmaterial. Die Medienbibliothek enthält ein deutsch-estnisches terminologisches Glossar zum Kurs, unter den Webverknüpfungen sind Hilfsmittel wie Grammatikübersicht mit Tabellen und Übungen sowie technische Hilfe zu WebCT auf Estnisch zu finden. Die Lerner können Studententools für die Organisation der eigenen Dateien und für die Überprüfung der Noten nutzen. 2.3 Kursaufbau und Unterrichtsprozess Fearns (vgl. 2003: 173) betont, dass im Fachsprachenunterricht die Auseinandersetzung mit authentischen Fachtexten besonders wichtig ist. Deshalb dienen uns als Ausgangsmaterial für die Didaktisierung authentische Fachtexte, vor allem aus Wikipedia.3 Der Fachwortschatz wird durch einen kurzen und relativ einfachen Text eingeführt, die Vokabeln mit Übersetzung ins Estnische stehen in einer Spalte rechts neben dem Text. Neben der Terminologie müssen die spracharmen Kommunikationsverfahren zum Gegenstand der Auseinandersetzung im Fachsprachenunterricht gemacht werden (vgl. Fearns 2003: 171) Deshalb enthalten die Kurse zur Chemie Power-Point-Präsentationen mit Audio-Dateien zu Formeln und Gleichungen. Solche Höraufgaben sind auch für den Kurs zum Grundwortschatz der Mathematik eingeplant. Der nächste didaktische Schritt nach den Aufgaben zum Erkennen und Verstehen der Terminologie sind interaktive Übungen zum Behalten und Gebrauch der Vokabeln. (Vgl. Scherfer 2003: 281f.) Das mit dem Programm „Hot Potatoes“ erstellte Übungsangebot enthält die üblichen Übungstypen: Kreuzworträtsel, Zuordnungs-, Kurzantwort-, Satzbildungsübungen, Lückentexte. Neben dem Fachwortschatz werden die fachrelevante Wortbildung und häufig vorkommende grammatische Strukturen geübt. Nach den Sprachübungen folgt ein längerer und schwierigerer Lese- oder Hörtext, der dasselbe fachliche Thema oder einen Aspekt davon behandelt und die geübte Terminologie enthält. Die Leistungskontrolle erfolgt durch Tests Ende jedes Kapitels, die automatisch kontrolliert und vom Lehrenden noch einmal durchgesehen werden. Der Lernprozess wird durch Zugriff auf Lernhilfen unterstützt: Es gibt Links zum zusätzlichen Material im Internet, zu einer Online-Grammatik des Sprachenzentrums und das Kursmaterial enthält ein terminologisches Wörterbuch Deutsch-Estnisch. 3. Zusammenfassung Mit den Online-Kursen verfolgen wir das Ziel, den Unterricht von Fachsprachen an der Universität zu erhalten und ihm neue Impulse zu geben, den Unterrichtsprozess flexibel zu gestalten und die individuellen Interessen der Studierenden zu berücksichtigen. Auf die Darstellung der Vor- und Nachteile von E-Learning muss hier aus Platzgründen 3 Siehe unter: www.wikipedia.de . Wikipedia wurde gewählt, um Probleme mit dem Copyright zu vermeiden. E-teaching und Fachsprachenvermittlung 225 verzichtet werden, doch bezogen auf unsere Situation kann man behaupten, dass es ohne E-Learning nicht möglich wäre, Kurse zu spezifischen Fachsprachen anzubieten. Literatur Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2003): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Franke. Fearns, Anneliese (2003): Fachsprachenunterricht. In: Bausch u.a. (Hrsg.), 169-174. Fluck, Hans-Rüdiger (2003): Zur Entwicklung eines multimedialen DaF-Lernprogramms „Fachsprache Bankwesen“ – ein Werkstattbericht. In: Fachsprache. Inter nationale Zeitschrift für Fachsprachenforschung, -didaktik und Terminologie, 1-2, 47-51. Meese, Herrad (2001): Selbstlernmaterialien zum Erwerb von Sprachkenntnisssen – unter besonderer Berücksichtigung der Neuen Medien. In: Info DaF, Jg. 28, 2/2001, 51-72. Scherfer, Peter (2003): Wortschatzübungen. In: Bausch u.a. (Hrsg.) 280-283. Das Jura-Fachsprachenangebot an der Universität Bielefeld 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 227-236. Elke Langelahn (Bielefeld) „Zunächst ist zu fragen, ob ... man das Gutachtenschreiben nicht doch lernen kann“ – das JuraFachsprachenangebot an der Universität Bielefeld Sowohl in Deutschland als auch im Ausland wird deutsches Recht studiert: in Deutschland in erster Linie von deutschen Studierenden, um mit einem abgeschlossenen Staatsexamen z.B. den Beruf des Richters, Anwalts, des Wirtschaftsjuristen oder Staatsanwalts auszuüben. Aber auch im Ausland wird an den Universitäten deutsches Recht gelehrt, innerhalb Europas als eigenes Rechtsgebiet, außerhalb des europäischen Kontinents oftmals als Teil des Europäischen Rechts. Das Interesse internationaler Studierender und Wissenschaftler liegt u.a. darin begründet, dass insbesondere das deutsche BGB (Bürgerliches Gesetzbuch), aber auch das Grundgesetz für ausländische Rechtssysteme Modellcharakter hat, beispielsweise in Spanien und Griechenland, im asiatischen Raum oder auch beim Aufbau neuer Verfassungen in einigen osteuropäischen Staaten. Unter anderem aus diesem Grund gibt es zahlreiche Jura-Studierende aus dem Ausland, die das juristische Vollstudium oder – aufbauend auf der bereits beendeten juristischen Ausbildung im Heimatland – den Master (LL.M.) an einer deutschen Universität absolvieren möchten. Für sie bietet sich nach dem Abschluss beispielsweise die Möglichkeit, in international agierenden Unternehmen als Wirtschaftsjuristen zu arbeiten. 228 Elke Langelahn 1. Ausgangssituation 1.1 Das internationale Profil der Fakultät für Rechtswissenschaft Die Bielefelder Fakultät für Rechtswissenschaft hat ein ausgeprägtes internationales Profil. Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: auf der institutionellen und professoralen Ebene durch eine Vielzahl an Kooperationen und Engagements (z.B. das Centrum für Europäische Rechtspraxis, IWB), auf der Ebene der Studienpraxis durch verpflichtende Fremdsprachenprogramme und den Studienschwerpunkt „Internationales Recht“. Zudem gibt es feste Kooperationen mit europäischen Hochschulen in Form von Austauschprogrammen für die Studierenden. Der Anteil internationaler Studierender an der Gesamtzahl der Jura-Studierenden liegt bei etwa 3 % (im Wintersemester 2006/07 waren es 61 internationale Studierende). Die meisten von ihnen streben das Erste Staatsexamen an, dazu gibt es einige Promovierende, Nebenfachstudierende und ERASMUS-Austauschstudierende. Eine stetig wachsende Zahl an internationalen Studierenden absolviert den Masterstudiengang LL.M. (Master of Laws; Magister Legum). Mehr als die Hälfte der internationalen Studierenden stammt aus osteuropäischen Ländern, z.B. Georgien, Polen, Bulgarien, Russland; ein weiteres Viertel machen die südkoreanischen und chinesischen Studierenden aus. Außerdem sind einige wenige (nord)afrikanische Studierende eingeschrieben. Diese Nationalitätenverteilung spiegelt wider, in welchen Staaten hauptsächlich das deutsche Recht eine bedeutende Rolle spielt. 1.2 Das PunktUm-Projekt an der Universität Bielefeld Das PunktUm-Projekt ist eine Anlaufstelle für ausländische Studierende aller Fakultäten, die Unterstützung beim schriftlichen und mündlichen Verfassen wissenschaftlicher Texte wünschen. Mit einem kombinierten Angebot von fächerübergreifenden Workshops, z.B. zum Schreiben von Hausarbeiten, Abschlussarbeiten (Diplom, Magister, Bachelor, Master), Dissertationen oder zum Mitschreiben in Vorlesungen, und Einzelberatungen werden den Studierenden die in Deutschland üblichen Standards des wissenschaftlichen Arbeitens und Schreibens im „geschützten Raum“ vermittelt und eingeübt. Anfänglich orientierte sich das PunktUm-Projekt dabei an dem erfolgreichen Modell des Bielefelder Schreiblabors1. Teile des Konzepts wurden für die Belange nichtmuttersprachlicher Studierender adaptiert. Im Lauf der Jahre wurde darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Formate entwickelt und den sich ändernden Rahmenbedingungen angepasst, die sich aus der zunehmenden Internationalisierung von Studium und Lehre (Bologna-Prozess, englischsprachige Lehre etc.) ergaben. 1 Das Schreiblabor wurde 1993 eingerichtet als Beratungsstelle für Studierende, die Probleme beim Verfassen ihrer Studienarbeiten haben: In Workshops und Beratungen werden sie dazu angeleitet, ihre Schreibaufgaben selbstständig und professionell zu bewältigen. Zudem unterstützt das Schreiblabor die Fakultäten bei „der Ausrichtung der Lehre auf die Vermittlung studien- und berufsrelevanter Fähigkeiten“ (www. uni-bielefeld.de/Universitaet/Studium/ SL_K5/slab/index.html). Das Jura-Fachsprachenangebot an der Universität Bielefeld 229 Die Grundlage der Arbeit des PunktUm-Projekts bildet die Verbindung von Prozess- und Produktorientierung (zu diesem Ansatz vgl. Büker 2001). So werden in den Workshops neben den sprachlichen Besonderheiten der verschiedenen hochschulischen Textsorten immer auch die einzelnen Prozessschritte thematisiert, die durchlaufen werden müssen, bis das Endprodukt geschaffen ist. In den Einzelberatungen werden Studierende auf ihrem individuellen Weg beispielsweise beim Schreiben einer Bachelorarbeit in mehreren Sitzungen begleitet. (Ausführlich zum PunktUm-Projekt siehe den Beitrag von Brandl; Brinkschulte; Immich in diesem Band.) 1.3 Fachsprache Jura – eine Kooperation des PunktUm-Projekts mit der Fakultät für Rechtswissenschaften Im Sommersemester 2004 regte eine Teilnehmerin eines PunktUm-Workshops zum Schreiben von Hausarbeiten an, ein spezifisches Angebot für Jura-Studierende einzurichten, da sich juristisches Schreiben und juristische Hausarbeiten von den Hausarbeiten und dem Schreiben anderer Fakultäten in mancher Hinsicht deutlich unterscheide und es zahlreiche internationale Studierende gebe, die immer wieder die Klausuren nicht bestehen würden. Da sich entsprechende Äußerungen mehrten und so ein Bedarf deutlich wurde, wurde im darauffolgenden Wintersemester ein Kurs zur juristischen Fachsprache im Umfang von 2 SWS angeboten. Das Seminar wurde anfänglich gut angenommen mit durchschnittlich 10 regelmäßig erscheinenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Allerdings zeigte sich im Kursverlauf, dass es trotz der fachlichen Homogenität eine große Verschiedenheit bezüglich der sprachlichen und fachlichen Voraussetzungen gab, sodass im Grunde genommen der Kurs nie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern und ihren Erwartungen gerecht werden konnte. Diese Erfahrungen führten zu einem modifizierten Angebotsprofil im SS 2005, das auf eine bestimmte Zielgruppe mit typischen Schwierigkeiten zugeschnitten wurde: drei zweitägige Workshops für internationale Jurastudierende im Grundstudium zur Vorbereitung auf die Klausuren im Bürgerlichen Recht, im Öffentlichen Recht und im Strafrecht. Diese Pflicht-Grundlagenfächer müssen von den Hauptfachstudierenden besucht und mit einer Klausur, in der sie ein Gutachten schreiben müssen (siehe 2.2), abgeschlossen werden. In der Regel werden einige dieser Vorlesungen auch von den LL.M.- und Nebenfachstudierenden gehört und mit einer Prüfung abgeschlossen. Für die Konzeption und Durchführung der Workshops wurde eine wissenschaftliche Hilfskraftstelle für eine DaF-Lehrkraft mit einem Arbeitsumfang von 19 Stunden in der Woche eingerichtet, die dem Fach DaF zugeordnet ist, aber von der Fakultät für Rechtswissenschaft finanziert wird. Das Angebot wurde von den Studierenden dankbar angenommen und als sehr hilfreich eingeschätzt. Im Laufe der vergangenen 4 Semester wurde es stetig erweitert und modifiziert. Mittlerweile findet neben dem Workshop ein wöchentliches Seminar zur juristischen Fachsprache bzw. ein Schreibtraining für internationale Jurastudierende statt. Zudem wird ganz im Sinne der PunktUm-Tradition eine Schreibberatung angeboten, 230 Elke Langelahn die zurzeit vor allem von den LL.M.-Studierenden beim Schreiben ihrer Magisterarbeit in Anspruch genommen wird. Aber es kommen auch Studierende in die Sprechstunde, die ein Feedback zu ihren Hausarbeiten wünschen oder Fragen beispielsweise zum Lernen des Fachwortschatzes haben. Die angebotene Beratung kann sich immer nur auf sprachliche Aspekte, auf Fragen der Textstruktur, des Stils oder auf Lernstrategien und -techniken zur Aneignung des Fachwortschatzes beziehen, da die Mitarbeiterin keine studierte Juristin ist. Für inhaltliche Fragen werden die Studierenden an ihre jeweiligen Professoren bzw. deren Mitarbeiter verwiesen. 2. Welche Schwierigkeiten ergeben sich beim Studium des deutschen Rechts? Es sind in zwei Bereichen Herausforderungen auszumachen, die internationale Studierende beim Studium in Deutschland bewältigen müssen: die Fachfremdsprache Deutsch und die juristische Arbeitstechnik des Falllösens. 2.1 Fachfremdsprache Deutsch Das Besondere an der juristischen Sprache ist die enge Verzahnung von Sprache und Inhalten: Das Arbeitsmittel der Juristen ist die Sprache. Gesetze werden sprachlich verfasst und Juristen legen wiederum Gesetze und Kommentare sprachlich aus, wenn sie beispielsweise Gutachten oder Urteile schreiben. Für internationale Jura-Studierende bedeutet dies, dass ihnen von Beginn des Studiums an eine hohe Kompetenz in der Fremdsprache Deutsch abverlangt wird. Gerade auch für sie trifft wohl die Einschätzung Friedrich Karl von Savignys, des Begründers der modernen juristischen Methodenlehre (1779-1861), zu, wenn er sagt: „Die Jurisprudenz ist eine philologische Wissenschaft.“ (Savigny 1802; zit. nach Busse 1992: 1) Nicht nur bei der Beschäftigung mit schriftlichen Texten, sondern auch im mündlichen Diskurs an der Hochschule, d.h. in Vorlesungen, Seminaren und Prüfungen, benötigen die Studierenden ein hohes Maß an (fremd)sprachlichem Bewusstsein, wenn es beispielsweise darum geht, fachspezifische Definitionen zu lernen von Wörtern, die ihnen bereits aus der Alltagssprache bekannt sind, jedoch im juristischen Kontext eine spezifische Bedeutung haben. So ist eine Wette keine „Vereinbarung zwischen zwei oder mehr Personen, dass derjenige, dessen Behauptung nicht richtig ist, etwas zahlen oder leisten muss“ (Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache 2001: 1132), sondern ein Vertrag. (Beispiel aus Kühn 1998) Ähnlich ist es mit der Differenzierung der Begriffe „Besitz“ und „Eigentum“: Alltagssprachlich werden sie synonym gebraucht, im juristischen Kontext ist ihre Unterscheidung jedoch bedeutsam. Erschwerend kommen interkulturelle Unterschiede in den Rechtssystemen und -konzepten hinzu: Eine „Personne juridique“ im französischen Rechtssystem ist nicht das Gleiche wie eine juristische Person im deutschen Rechtsverständnis (im französischen Recht umfasst die personne juridique die Begriffe der personne physique und Das Jura-Fachsprachenangebot an der Universität Bielefeld 231 der personne moral, während die juristische Person im deutschen Recht nur der französischen personne morale entspricht). Das heißt, dass ein scheinbar gleiches Wort in der Fremdsprache zur Verfügung steht, dies jedoch nicht dem gleichen Konzept entspricht. Dieses Problem stellt sich vor allem für die Studierenden, die bereits in ihrem Heimatland ein Jurastudium absolviert haben. (Weitere Beispiele und zur Problematik der Übersetzung von Rechtstexten siehe z.B. Mincke 1991.) 2.2 Juristische Falllösungstechnik: das Gutachten Die Studierenden werden in ihrem Jura-Studium in Deutschland mit unterschiedlichen Textsorten konfrontiert. Dazu gehören zunächst so genannte „Normtexte“ wie Gesetze, Verordnungen, Bestimmungen, Erlasse. Des Weiteren gibt es „Auslegungstexte“, unter denen man Gesetzeskommentare, Fachwörterbuchartikel und wissenschaftliche Fachaufsätze versteht. Urteile, Falllösungen (Gutachten) und Plädoyers werden als „Entscheidungstexte“ bezeichnet. Abschließend bilden die „Sachverhaltstexte“ eine eigene Textsorte, unter denen die Fallbeschreibungen den Studierenden im Studium am häufigsten begegnen. (Klassifizierung nach Kühn 1998: 586) Diese Textsorten sind gekennzeichnet durch ihre spezifische Funktion, die ihnen im Rahmen der juristischen Kommunikation zukommt und die somit Struktur und Sprache der jeweiligen Texte bestimmt. Eine der für Jura-Studierende zentralen Textsorten ist das Gutachten bzw. die Falllösung. Bereits ab dem ersten Semester müssen die Studierenden selbst Gutachten verfassen, um Klausuren und Hausarbeiten zu bestehen: Sie müssen in den unterschiedlichen Rechtsgebieten zu einem konkreten Fall eine Rechtsentscheidung entwickeln und diese in Form eines Gutachtens niederschreiben. Dieses unterliegt einem bestimmten Denkschema (der Subsumtion2) und den daraus resultierenden Sprachhandlungen für das Formulieren von beispielsweise Bedingungen, Folgen, Definitionen, Schlussfolgerungen, die in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden. Die Struktur dient dazu, dass der Leser unvoreingenommen, d.h. ohne das Ergebnis bereits zu kennen, die Argumentation der Entscheidung nachvollziehen und „nachdenken“ kann – im Gegensatz zum Urteil, bei dem die Entscheidung am Anfang formuliert wird und anschließend ihre Begründung folgt. Den meisten internationalen Studierenden ist diese Art von Klausur unbekannt, da sie oftmals mit einer anderen Wissenschaftskultur vertraut sind (zu den interkulturellen Unterschieden von Wissenschaft vgl. z.B. Eßer 1997 und 2001). Viele sind es beispielsweise gewohnt, in Prüfungen Fragen zu beantworten, die sich auf das gelernte Faktenwissen beziehen. Die besonderen Schwierigkeiten für die ausländischen Lerner liegen in dem Erkennen der Sprachhandlungen (zu dem Begriff der Sprachhandlungen vgl. z.B. Ehlich; Rehbein 1979) und der Verwendung der entsprechenden sprachlichen Mittel, d.h. sie wissen nicht, wie sie beispielsweise einen Meinungsstreit logisch nachvollziehbar darstellen und formulieren sollen. In der Lehrpraxis (vor allem in den die Vorlesung be2 Subsumtion ist die Bezeichnung für einen logischen, meist dreigliedrigen Schluss, der aus einer Rechtsnorm, einem Sachverhalt (Fall) und einer Rechtsfolge (Schluss) besteht. Mit diesem Verfahren soll festgestellt werden, ob der konkrete Fall der abstrakten Norm, also dem Gesetz, entspricht. (Vgl. z.B. Horn 2004) Elke Langelahn 232 gleitenden Arbeitsgemeinschaften) wird zumeist mit Lösungsskizzen gearbeitet, die die grundlegende Argumentation des Falles darstellen und ausschließlich der inhaltlichen Orientierung dienen. Diese Skizzen beinhalten der Kürze und Übersicht wegen in der Regel Stichworte, Zeichen und Symbole – in ihnen fehlen sozusagen die „Wörter dazwischen“. Diese „Wörter dazwischen“ sind jedoch gerade jene sprachlichen Mittel, die die internationalen Studierenden benötigen, um selbst ein Gutachten schreiben zu können, und die sie – im Gegensatz zu den muttersprachlichen Lernern – bewusst lernen müssen. 3. Das fachsprachliche Angebot des PunktUm-Projekts Das gesetzte Ziel ist die internationalen Jura-Studierenden in ihrem Studieralltag zu unterstützen, damit sie möglichst effektiv und erfolgreich ihr Studium in Deutschland absolvieren können. Dieses wird zum einen umgesetzt durch die Vermittlung von Textsortenwissen, also der Struktur von Gutachten, Gesetzen, Kommentaren, Fachartikeln etc., und ihrer Funktion im juristischen Diskurs. Hierdurch wird die Weiterentwicklung sowohl der rezeptiven als auch produktiven Fähigkeiten unterstützt. Letztere beziehen sich insbesondere auf das Schreiben von Gutachten, um die Studierenden dabei zu unterstützen, möglichst früh im Studium erfolgreich ihre Leistungsnachweise zu erlangen. Bei der Arbeit mit juristischen Textsorten sind neben den Strukturen insbesondere die Sprachhandlungen mit den dazugehörigen Redemitteln von Bedeutung. Außerdem sollen die Studierenden mit spezifischen Lern- und Schreibtechniken vertraut gemacht werden, die es ihnen beispielsweise leichter machen, die Klausuren unter großem Zeitdruck zu schreiben. Der praxisorientierte Workshop zur Vorbereitung auf die Klausuren im Grundstudium bietet Übungen an, die sich auf alle beschriebenen Aspekte beziehen. Orientiert an der Reihenfolge der Arbeitsschritte, wie sie typischerweise in einer Klausur erfolgen, werden Übungen zur Bearbeitung des Sachverhalts, zum Aufbau des Gutachtens auf Text-, Satz- und Wortebene mit den Formulierungen für die entsprechenden Sprachhandlungen und zur Vorbereitung auf die Klausur durchgeführt. Dabei wechseln sich rezeptive Phasen mit produktiven ab, um zunächst das Bewusstsein für diese Strukturen zu fördern und dann in einem weiteren Schritt die eigene Anwendung zu ermöglichen. Im Folgenden werden zwei Aufgaben aus dem Workshop zur Verdeutlichung aufgeführt (in der ersten Aufgabe ist die jeweils richtige Lösung markiert). Der Obersatz Zwei der jeweils drei folgenden Obersätze sind falsch formuliert. Markieren Sie die richtige sprachliche Fassung des Obersatzes und begründen Sie Ihre Entscheidung. 1. A. Durch den Schuss auf B hat sich A des Totschlags gemäß § 212 I StGB schuldig gemacht. B. Durch den Schuss auf B muss sich A des Totschlags gemäß § 212 I StGB schuldig gemacht haben. C. Durch den Schuss auf B könnte sich A des Totschlags gemäß § 212 I StGB schuldig gemacht haben. Das Jura-Fachsprachenangebot an der Universität Bielefeld 233 2. A. A könnte sich wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar gemacht haben, indem er den B schlug. B. A könnte sich gemäß § 229 I StGB schuldig gemacht haben, indem er den B schlug. C. A könnte sich wegen fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 229 I StGB strafbar gemacht haben, indem er den B schlug. 3. A. K könnte sich des Totschlags gemäß § 212 I StGB schuldig gemacht haben. B. K könnte sich wegen des Totschlags gemäß § 212 I StGB schuldig gemacht haben. C. K könnte sich wegen dem Totschlag gemäß § 212 I StGB strafbar gemacht haben. 4. A. P kann sich wegen fahrlässiger Tötung mit § 222 I StGB strafbar gemacht haben. B. P kann sich wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 I StGB strafbar gemacht haben. C. P kann sich wegen fahrlässiger Tötung durch § 222 I StGB strafbar gemacht haben. (...) Abb. 1: Arbeitsblatt zum Obersatz In der folgenden Aufgabe bekommen die Workshopteilnehmerinnen und -teilnehmer authentische Texte zur Verfügung gestellt (ausformulierte Gutachten aus den Vorlesungen und der Literatur), in denen sie weitere Formulierungen für die vorgegebenen Sprachhandlungen finden sollen. Hier entsteht eine Liste mit Formulierungsalternativen, die für sie in zweierlei Hinsicht hilfreich ist: Zum einen erhalten sie Formulierungsmöglichkeiten für die eigene Textproduktion. Zum anderen erleichtert ihnen die Kenntnis möglichst vieler Redemittel das Textverstehen beim Lesen von Gutachten, Aufsätzen usw. Typische Formulierungen in Gutachten Definieren Täter ist, wer... ... Formulieren einer Hypothese Fraglich ist, ob... ... Argumentieren Gegen...spricht, dass... ... Schlussfolgern Folglich... ... Abb. 2: Arbeitsblatt zu den Sprachhandlungen 234 Elke Langelahn Um die Studierenden umfassender in ihrem Studium zu unterstützen, wird neben dem Workshop ein Seminar im Umfang von 2 Semesterwochenstunden angeboten. Hier werden die Jura-Studierenden in ihrem Wortschatzerwerb unterstützt, indem ihnen Techniken zur selbstständigen Erweiterung ihres Fachwortschatzes und des Wortschatzes der Alltäglichen Wissenschaftssprache (vgl. Ehlich 1995 und 1999) vermittelt werden. Zudem werden die weiteren Textsorten des Studiums (Kommentare, Gesetzestexte usw.) und grammatische Aspekte behandelt. Das Textsortenwissen wird mit Kenntnissen über die wissenschaftlichen Konventionen an einer deutschen Universität angereichert, vor allem in Bezug auf das Schreiben von juristischen Haus- und Seminararbeiten, da internationale Studierende oftmals die Anforderungen einer solchen Arbeit nicht kennen. Dies betrifft insbesondere die LL.M.-Studierenden, die in der Regel nach einer einjährigen Studienzeit ihre Magisterarbeit in deutscher Sprache verfassen müssen. Hier bietet das Element der Einzelberatung eine sinnvolle Unterstützung (die natürlich auch von den anderen Jura-Studierenden in Anspruch genommen wird). Ob Fragen zur Zeitplanung des Schreibvorhabens, zur sprachlichen Darstellung der Argumentation oder eine Probekorrektur mit Vorschlägen zur sprachlich-stilistischen Überarbeitung – in der Einzelberatung kann im geschützten Raum auf die individuellen Schwierigkeiten der Studierenden eingegangen werden. Gleichzeitig liefern die Beratungsgespräche der DaF-Lehrkraft wichtige Anregungen für die Weiterentwicklung des Gesamtangebots. In den Einzelberatungen der LL.M.-Studierenden wurde beispielsweise deutlich, dass sie neben den individuellen fachsprachlichen Schwierigkeiten beim Schreiben der Magisterarbeit mit ähnlichen Fragen und Problemen kämpfen: Welche Anforderungen soll ich mit dieser Arbeit erfüllen?, Wie baue ich die Arbeit, meine Argumentation auf ? usw. Aus diesem Grund wurde im Sommersemester 2007 erstmals eine Schreibgruppe für LL.M.-Studierende angeboten. Im zweiwöchigen Rhythmus trafen sich die Studierenden, um Antworten auf strukturelle, sprachliche und schreibtechnische Fragen zu erhalten, sich gegenseitig Feedback auf eigene Textteile zu geben, Erfahrungen beim Schreiben auszutauschen und sich so gegenseitig beim Verfassen der Magisterarbeit zu unterstützen. Diese „offenere“ Angebotsform, die von den Studierenden viel Aktivität und Engagement verlangte, wurde positiv aufgenommen und soll fester Bestandteil des Gesamtangebots werden. 4. Kooperation mit der Fakultät für Rechtswissenschaft Von Anfang an gab es eine konstruktive und enge Zusammenarbeit des PunktUm-Projekts mit der Fakultät für Rechtswissenschaft, zum einen auf der inhaltlich-fachlichen als auch auf personeller Ebene. Für den juristischen Fachfremdsprachenunterricht gibt es kaum geeignete Materialien – die wenigen existierenden beziehen sich in erster Linie auf die klassischen grammatischen Themen in einem juristischen Kontext (vgl. z.B. Cebulla; Rodenbeck 2001; Simon; Funk-Baker 2006) oder umfassen lediglich eine Auswahl an modifizierten juristischen Texten mit (diskussionswürdigen) Einsetzübungen (vgl. Sander 2004). Eine Das Jura-Fachsprachenangebot an der Universität Bielefeld 235 Ausnahme bildet das Buch von Kühn (1992), dessen Texte zwar mittlerweile an Aktualität eingebüßt haben, das jedoch wertvolle Anregungen für die Bearbeitung von authentischem Material liefert. Für die Konzeption der Workshops bedeutete dies, dass das Material eigenst entwickelt werden musste. Dies geschah in enger fachlicher Zusammenarbeit mit einem Mitarbeiter der Fakultät. Zudem stellen die Professoren, die die Grundlagenveranstaltungen im Grundstudium durchführen, zahlreiche Materialien zur Verfügung, sodass die Studierenden mit authentischen Texten arbeiten können. Eine enge Anbindung an die Fakultät geschieht außerdem durch die Gewinnung der Fachdozenten und Leiterinnen und Leiter der Arbeitsgemeinschaften als Multiplikatoren, die ihre Studentinnen und Studenten auf das Angebot aufmerksam machen, z.B. durch die Vorstellung des Programms in AG-Leiter-Besprechungen der Lehrstühle und im Lehrkörpergespräch der Fakultät. Durch das Angebot der Einzelberatung erfahren immer mehr Fachdozenten eine Entlastung, insbesondere bei der Betreuung von LL.M.-Studierenden beim Verfassen ihrer Magisterarbeit. Diese wachsende Präsenz des PunktUm-Angebots und der Mitarbeiterin erfolgt nicht zuletzt durch ein eigenes Büro in dem Fakultätsgebäude der Rechtswissenschaft. Eingebettet in das fakultätseigene „Betreuungsangebot für ausländische Studierende“ wird das Fachsprachenangebot durch das Vorlesungsverzeichnis und einen speziellen Flyer bekannt gemacht und beworben. 5. Ausblick Das Sprachangebot für die internationalen Studierenden der Rechtswissenschaft in Bielefeld befindet sich zurzeit in einem Verankerungsprozess in der Fakultät sowohl bei den Studierenden als auch bei den Lehrenden. Die positive Akzeptanz bestätigt die inhaltliche und strukturelle Konzeption. Nach wie vor ergeben sich im Zuge der Durchführung der Workshops, Seminare und Beratungen Ansatzpunkte für Weiterentwicklungen. Die insgesamt recht kleine Zielgruppe bietet die Chance, einzelne Zielgruppen anzusprechen, beispielsweise die LL.M-Studierenden (siehe Kapitel 3), Promovierende oder auch Langzeitstudierende. Auf der anderen Seite müssen weiterhin Ideen entwickelt werden, wie weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewonnen werden können – die Studierenden haben in der Regel einen prall gefüllten Stundenplan und konzentrieren sich in Stresssituationen eher auf die inhaltlichen Veranstaltungen; sie empfinden alles Weitere schnell als zu große Belastung. Denkbar wäre hier langfristig beispielsweise die Möglichkeit einer Anrechnung der Sprachveranstaltungen auf das Stundendeputat. 236 Elke Langelahn Literatur Brandl, Heike; Brinkschulte, Melanie; Immich, Stephanie (2008): Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende an der Universität Bielefeld. (in diesem Band) Büker, Stella (2001): Writing Consultation for Foreign Students. In: Bräuer, Gerd (Hg.): Pedagogy of Language Learning in Higher Education (Advances in Foreign and Second Language Pedagogy, Volume 2). Westport: Ablex Publishing. Busse, Dietrich (1992): Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen: Niemeyer. Cebulla, Mario; Rodenbeck, Rolf (2001): Deutsches Wirtschaftsrecht. Eine Einführung mit integriertem Fachsprachenkurs. München: C.H. Beck; Bern: Stämpfli; Athen: Ant. N. Sakkoulas. Ehlich, Konrad (1999): Alltägliche Wissenschaftssprache. Information Deutsch als Fremdsprache 26, 3-24. Ehlich, Konrad (1995): Die Lehre der deutschen Wissenschaftssprache: sprachliche Strukturen, didaktische Desiderate. In: Kretzenbacher, Heinz L.; Weinrich, Harald (Hg.): Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin u.a.: de Gruyter (Akademie der Wissenschaften zu Berlin; Forschungsbericht 10), 325-351. Ehlich, Konrad; Rehbein, Jochen (1979): Sprachliche Handlungsmuster. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler, 243-274. Eßer, Ruth (2001): Kulturelle Geprägtheit wissenschaftlicher Textproduktion und ihre Konsequenzen für den universitären DaF-Unterricht am Beispiel der Textsorte ‘studentische Hausarbeit’. In: Wolff, Armin; Winters-Ohle, Elmar (Hg.): Wie schwer ist die deutsche Sprache wirklich? Regensburg: Fachverband Deutsch als Fremdsprache (Materialien Deutsch als Fremdsprache 58). Eßer, Ruth (1997): „Etwas ist mir geheim geblieben am deutschen Referat.“ Kulturelle Geprägtheit wissenschaftlicher Textproduktion und ihre Konsequenzen für den universitären Unterricht von Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium. Horn, Norbert (2004): Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie. 3., neubearb. Aufl. Heidelberg: C. F. Müller Verlag. Kühn, Peter (1998): Juristische Fachtexte. In: Hoffmann, Lothar (Hg.): Fachsprachen: ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft = Languages for special purposes. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1) Berlin u.a.: de Gruyter, 582-594. Kühn, Peter (1992): Jura. (Bausteine Fachdeutsch für Wissenschaftler) Heidelberg: Groos. Mincke, Wolfgang (1991): Die Problematik von Recht und Sprache in der Übersetzung von Rechtstexten. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP), Vol. 1991 LXXVII, S. 446-465. Sander, Gerald (2004): Deutsche Rechtssprache: ein Arbeitsbuch. Tübingen u.a.: Francke. Simon, Heike; Funk-Baker, Gisela (2006): Einführung in das deutsche Recht und die deutsche Rechtssprache. 3., neubearb. Aufl. München u.a.: C.H. Beck. Sprachhandlungstypen in Fachtexten und deren Vermittlung im DaF-Unterricht 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 237-246. Silke Jahr (Greifswald) Sprachhandlungstypen in Fachtexten und deren Vermittlung im DaF-Unterricht Einleitung Der moderne Fremdsprachenunterricht zeichnet sich durch seine kommunikative Orientierung aus. Dazu gehört auch der Umgang mit Fachtexten bzw. fachsprachlichen Texten. Besonders im fachsprachlichen Bereich müssen nicht nur die lexikalischen und grammatischen Strukturen vermittelt werden, sondern auch die pragmatische Dimension der Texte. Wissen über Textstrukturen und Sprachhandlungswissen sollte Gegenstand des DaF-Unterrichts sein (vgl. Pudszuhn 1994). Es ist ein wesentliches Ziel des fachsprachlichen Fremdsprachenunterrichts, die Lerner zu befähigen, kohärente und der Situation angemessene fachsprachliche Texte in mündlicher wie schriftlicher Form zu produzieren. Im Sinne dieser kommunikativen Kompetenz ist es erforderlich, nicht nur einzelne Sprachhandlungstypen, sondern auch die Handlungsstruktur von Texten mit ihren jeweiligen Teilhandlungen im DaF-Unterricht zu behandeln. In der Sprachhandlungsstruktur kommt die kompositionale Gestaltung des gesamten Textes zum Ausdruck. Die Bewusstmachung derartiger Strukturen fördert unter anderem das Verstehen von Texten, insbesondere wenn es sich um längere, inhaltlich anspruchsvolle fachsprachliche Texte handelt. Gerade Fachtexte zeichnen sich durch eine starke Zielorientierung aus und ausgewählte Sprachhandlungstypen werden zur Lösung bestimmter kommunikativer Aufgaben eingesetzt. Der Lehrer muss vermitteln, wie der Lerner wichtige Sprachhandlungen vollziehen kann und welche sprachlichen Mittel er dabei 238 Silke Jahr einsetzen muss. Auch sollte der Lehrer vermitteln, wie Äußerungen der Kommunikationspartner zu interpretieren sind (vgl. Portmann-Tselikas 2001: 248). 1. Sprachhandlungstypen und DaF-Unterricht Jede sprachliche Äußerung wird als Handlung eines Sprechers bzw. Schreibers aufgefasst. Sprachhandlungstypen sind Typen kommunikativen Handelns, denen geistigsprachliche Operationen zugrunde liegen (u.a. Koch 2001). Sie dienen der Lösung von Kommunikationsaufgaben zur Realisierung eines Handlungsziels innerhalb einer übergeordneten Tätigkeit, die die Rahmensituation darstellt. Sprachhandlungen stellen zwar ein Mittel zur Zielrealisierung dar, sind aber nicht das Ziel selbst. Zu berücksichtigen ist, dass der Einsatz von Sprachhandlungstypen nicht willkürlich ist, sondern regelhaft erfolgt. Sie haben sich in jeweiligen Textsorten als Handlungsmuster herausgebildet und können den Charakter von Normen annehmen, man denke beispielsweise an Berichte, Protokolle, Gutachten, Anleitungen usw. Texte sind als komplexe Handlungen aufzufassen, die sich aus Teilhandlungen aufbauen. Für den DaF-Unterricht ist die Frage von Interesse, wie Teilhandlungen zu komplexen Handlungsstrukturen verknüpft sind und welcher Zusammenhang zwischen der Handlungsstruktur und den sprachlichen Strukturen besteht. Die systematische Beziehung von Sprachhandlungstypen und ihrer Realisierung durch bestimmte sprachliche Mittel ist gerade für den Fremdsprachenunterricht von Bedeutung. Für die Vermittlung von Sprachhandlungstypen stellt es eine großes Problem dar, dass der gleiche Handlungstyp durch verschiedene Äußerungen, die sehr unterschiedliche sprachliche Elemente verwenden, vollzogen werden kann. Von Farenkia (1999) ist der Versuch unternommen worden, Sprachhandlungstypen speziell für den Einsatz im DaF-Untericht zu charakterisieren. Die Arbeit zeigt, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, in verallgemeinerter Art jeweiligen Sprachhandlungstypen sprachliche Formen zuzuordnen. Leider beschränkt sich der Autor auf kurze dialogische Texte der Alltagskommunikation. Umgekehrt können die gleichen sprachlichen Mittel für verschiedene Sprachhandlungstypen verwendet werden. Da es verschiedene Möglichkeiten gibt, Handlungstypen auszudrücken, kann man den Fremdsprachen-Lernern nicht ein Inventar an sprachlichen Mitteln an die Hand geben, mit denen sie jeweilige Sprachhandlungen vollziehen können. Eine Ausnahme bilden die Ritualia in Alltagssituationen, z.B. das GRÜSSEN, DANKEN, EINLADEN etc. Diese sind in jedem Lehrwerk zu finden und mit einer Reihe von Aufgaben wird der Lerner aufgefordert, das durch kulturelle Normen geprägte Verhalten einzuüben. Anders sieht es schon aus, wenn es um komplexe Sprachhandlungstypen geht, wie sie im fachlichen Bereich auftreten, z.B. das DEFINIEREN, SCHLUSSFOLGERN und BEWEISEN, die für den Erwerb besonders der fachsprachlichen Kompetenz von Bedeutung sind. Als nächstes möchte ich darauf eingehen, welche elementaren Sprachhandlungstypen außer denen, die in der dialogischen Alltagsinteraktion auftreten, für einen Fremdsprachen-Lerner wichtig sind und daher im DaF-Unterricht behandelt werden sollten (vgl. Jahr 2005). Es gibt verschiedene Sprachhandlungstypologien mit einem Sprachhandlungstypen in Fachtexten und deren Vermittlung im DaF-Unterricht 239 umfangreichen Inventar an spezifischen Sprachhandlungen, die jeweiligen Kategorien zugeordnet sind. Am Bekanntesten ist die Typologie von John Searle (vgl. Rolf 1999) mit den fünf Grundtypen den Assertiva (z.B. FESTSTELLEN), Kommissiva (z.B. VERSPRECHEN), Direktiva (z.B. AUFFORDERN), Deklarativa (z.B. ERNENNEN) und Expressiva (z.B. SICH FREUEN). Es ist aber selbst für einen Muttersprachler nicht immer einfach, die Nuancierung der einzelnen Sprachhandlungen innerhalb einer Kategorie zu erfassen. Für Fremdsprachen-Lerner ist die Differenzierung natürlich noch schwieriger vorzunehmen, sofern sie nicht über sehr gute Deutschkenntnisse verfügen. Daher stellt sich die Frage, welche Sprachhandlungen – über die Ritualia hinaus – vermittelt werden sollen, um die Kommunikationsfähigkeit der Lerner zu verbessern. Mein Vorschlag ist, in der Unterrichtspraxis pragmatisch vorzugehen und eine Unterscheidung der Sprachhandlungstypen nur so weit vorzunehmen, wie sie für die Lerner ohne weiteres einsehbar ist. Das bedeutet, sich zunächst auf eine begrenzte Zahl an Handlungstypen zu beschränken. Für eine praktikable Handhabe im DaF-Unterricht habe ich bereits ein Basis-Inventar an Sprachhandlungstypen vorgeschlagen, die zur Beschreibung der Handlungsstruktur von Texten eine zentrale Rolle einnehmen (Jahr 2005: 217). Zu diesem BasisInventar gehören: Assertiva: FESTSTELLEN, BEHAUPTEN, VERMUTEN, BEZWEIFELN, EINEN EINWAND MACHEN, WIDERSPRECHEN, BEGRÜNDEN, ZUSTIMMEN, VERALLGEMEINERN, BEFÜRCHTEN, EINE ABSICHT BEKUNDEN, SCHLUSSFOLGERN, Kommissiva: VERSPRECHEN, EINVERSTANDEN SEIN, Direktiva: EMPFEHLEN, AUFFORDERN, WARNEN, VERBIETEN. Die Aufzählung bedeutet nicht, dass in Abhängigkeit vom konkreten Textbeispiel nicht auch weitere Sprachhandlungstypen wichtig sein können. Das Basis-Inventar kann bei Bedarf erweitert oder spezifiziert und für bestimmte Textsorten etwas anders angesetzt werden. Die Auflistung wurde unter dem Aspekt vorgenommen, dass eine Abgrenzung der Typen untereinander gut möglich und für den Fremdsprachen-Lerner auch ohne langwierige Erklärungen leicht nachvollziehbar ist. Das bedeutet allerdings, dass die Sprachhandlungstypen solch eines für Unterrichtszwecke aufgestellten Basis-Inventars dann oft globale Typen darstellen, in denen die feineren Unterschiede mehrerer ähnlicher Typen eingeebnet sind. Im fachsprachlichen DaF-Unterricht sollten aber noch gezielt andere Handlungstypen vermittelt werden, solche mit denen die fachliche Kommunikation vollzogen wird. Sprachhandlungstypen im fachsprachlichen Bereich sind vor allem: DARLEGEN, ARGUMENTIEREN, VERALLGEMEINERN, SCHLUSSFOLGERN, BEWEISEN, BEGRÜNDEN, EXPLIZIEREN, DEFINIEREN und KLASSIFIZIEREN. In Abhängigkeit vom Einzeltext und von der Textsorte können ebenfalls noch weitere Sprachhandlungstypen auftreten. Entscheidend ist wieder, dass der Fremdsprachen-Lerner die verschiedenen Typen in ihrer Bedeutung richtig erfasst und in der Lage ist, sie bei der Sprachproduktion adäquat einzusetzen. Darüber hinaus soll der Lerner erkennen, dass fachsprachliche Texte über eine spezifische Sprachhandlungsstruktur Silke Jahr 240 verfügen, die nicht beliebig ist. Zum Beispiel gehen dem Handlungstypen voraus. BEWEISEN bestimmte andere 2. Übungsformen zur Vermittlung von Sprachhandlungstypen im fachsprachlichen DaF-Unterricht Für die Unterrichtsarbeit werden schriftliche Texte eingesetzt, die den Ausgangspunkt für entsprechende mündliche wie schriftliche Reproduktionsübungen bilden. Wie der Lehrer die Sprachhandlungsstruktur mit ihren Teilhandlungen verdeutlichen kann, soll an einem Beispiel vorgestellt werden. Der Text ist einem Biologielehrbuch entnommen und behandelt den Wasserhaushalt von Pflanzen (Deutsch komplex-Biologie, Verlag Enzyklopädie) Wasserhaushalt der Pflanzen Das Wasser dient bei den Pflanzen als Lösungsmittel, z.B. für die aufgenommenen Salze. Alle chemischen Reaktionen der pflanzlichen Zellen finden in wässrigen Lösungen statt, (DARLEGEN) deshalb ist das Wasser für den gesamten Stoffwechsel notwendig. (SCHLUSSFOLGERN) Trockene Samen ruhen, und erst, wenn sie Wasser aufgenommen haben, können sie aktiv werden und keimen. Wasser dient auch zum Quellen. Es dringt in die quellungsfähigen Stoffe der Zelle ein und drückt sie auseinander, so dass die Stoffwechselvorgänge in stärker gequollenen Zellen besser als in weniger gequollenen Zellen vor sich gehen können. (EXPLIZIEREN) Das Wasser dient auch als Baustoff. Blätter und Früchte enthalten bis zu 95% Wasser, Holz etwa 50% und Samen etwa 15%. In jungen Pflanzenteilen hilft das Wasser durch seinen Druck an die Innenflächen der Zellwände bei der Festigung. Die Zellen der Pflanzen müssen mit Wasser gesättigt sein, um ihre Funktion normal ausüben zu können. Die Zellen der im Wasser lebenden Pflanzen sind stets mit Wasser gesättigt. (DARLEGEN) Aber den Landpflanzen wird durch Verdunstung ständig Wasser entzogen, das sie durch Wasseraufnahme ersetzen müssen. (EINWENDEN) Landpflanzen besitzen folglich: ein gut entwickeltes System für die Aufnahme von Wasser, ein gut entwickeltes System für die Leitung von Wasser, ein gut entwickeltes System zum Schutz gegen zu starke Verdunstung. (SCHLUSSFOLGERN) Der Wasserhaushalt der Pflanzen wird vor allem durch den Wasserverlust aus den Laubblättern beeinflusst. Die der Pflanze entzogene Wassermenge ist von der relativen Feuchtigkeit, der Temperatur und der Bewegung der Luft abhängig. Das System zum Schutz gegen zu starke Verdunstung spielt eine wesentliche Rolle beim Senken der Menge des verdunstenden Wassers. (DARLEGEN) Wird der Pflanze mehr Wasser entzogen, als sie aufnehmen kann, so welkt sie, und bei längerer Dauer dieses Zustandes stirbt sie ab. (BEWEISEN) Für Unterrichtszwecke wird aus Gründen der Praktikabilität und Übersichtlichkeit nur der dominante Sprachhandlungstyp jeweils größeren Texteinheiten zugeordnet. Nachdem der Inhalt des Textes im Unterricht erarbeitet wurde, werden Übungen zur Reproduktion des Textes und der Bewusstmachung der Sprachhandlungsstruktur des Textes angeschlossen. Unter didaktischem Aspekt könnte man den Text in dialogischer Form wiedergeben lassen. Die Grundlage der Textreproduktion bildet ein Lückentext. Sprachhandlungstypen in Fachtexten und deren Vermittlung im DaF-Unterricht 241 Bitte erkläre mir den Wasserhaushalt der Pflanzen! (DARLEGEN) Wasser ... bei Pflanzen ... Lösungsmittel für Salze alle chemischen Reaktionen ... Pflanzenzellen ... wässrige Lösung Welche Schlussfolgerung ist daraus zu ziehen? (SCHLUSSFOLGERN) deshalb: Wasser ... gesamten Stoffwechsel ... notwendig Kannst du mir das näher erläutern? (EXPLIZIEREN) Trockene Samen ... erst keimen ... nach Wasseraufnahme Dabei: Eindringen von Wasser ... Zellen quellen, Folge: Zelle ... auseinander gedrückt ... bessere Stoffwechselvorgänge Wozu dient das Wasser außerdem? (DARLEGEN) Wasser: Baustoff ... Festigung, Blätter und Früchte ... 95%, Holz 50%, Samen 15% Zellen der Pflanzen ... stets Sättigung mit Wasser, für Pflanzen im Wasser ... kein Problem Und was ist mit den Landpflanzen? (EINWENDEN) Aber Landpflanzen: Wasserentzug durch Verdunstung ... daher gute Wasseraufnahme Was müssen wir deshalb schlussfolgern? (SCHLUSSFOLGERN) Landpflanzen besitzen folglich: gut entwickeltes System ... Aufnahme und Leitung von Wasser und ... Schutz gegen ... starke Verdunstung Wodurch wird der Wasserhaushalt beeinflusst? (DARLEGEN) Beeinflussung ... Wasserverlust aus Blättern (abhängig von Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Luftbewegung), daher wichtig: Schutz gegen starke Verdunstung Wie willst du das beweisen? BEWEISEN wird Entzug von Wasser ... größer als Aufnahme ... so welken, später Absterben In diesem speziellen Text treten nur wenige typische sprachliche Mittel zur Realisierung der Sprachhandlungstypen auf. Dennoch sollte man nicht versäumen, auf solche Elemente hinzuweisen. Bei dieser Art von Textarbeit werden den Lernern spezifische Mitteilungsstrukturen verdeutlicht, denn der Text umfasst eine Anordnung von Teilhandlungen, die dem Text folgende Struktur verleiht: DARLEGEN, SCHLUSSFOLGERN, EXPLIZIEREN DARLEGEN, EINWENDEN, SCHLUSSFOLGERN DARLEGEN, BEWEISEN Das DARLEGEN eines Sachverhaltes kann als Ausgangspunkt angesehen werden, dem das oder BEWEISEN folgt. Im ersten Fall schließt sich noch das EXPLIZIEREN an. Im zweiten Fall gibt es zuvor noch einen Einwand. Buhlmann (1986: 185ff.) verweist hinsichtlich des fachsprachlichen Unterrichts auf die Erfahrung, dass der Lerner oft noch nicht über ausreichende Fähigkeiten zum analytischen und abstrakten Denken verfügt und die einzelnen Darstellungsebenen sowie wissenschaftlichen Operationen nicht genügend auseinander hält. Der Fremdsprachen-Lerner denke da, wo im Fach sehr genau gedacht werde, nicht genau genug, denke assoziativ und additiv, statt hierarchisierend und selektierend. – Mit der Verdeutlichung der Sprachhandlungsstruktur SCHLUSSFOLGERN 242 Silke Jahr von Fachtexten werden neben der Verbesserung der kommunikativen und sprachlichen Kompetenz auch fachliche Denkstrukturen entwickelt. Bei der Textarbeit im DaF-Unterricht setzen Übungen an der sprachlichen Ausdrucksseite eines Textes immer voraus, dass er zuvor verstanden worden ist. Verstehen bedeutet, das Wesentliche des Inhalts zu erfassen und die Informationseinheiten sachlogisch richtig zu verknüpfen. Daher ist es sinnvoll, bevor auf Sprachhandlungstypen und sprachliche Formen eingegangen wird, die Informationsstruktur des Textes mit ihren jeweiligen Informationseinheiten zu präsentieren. Eine Möglichkeit der Repräsentation des Textinhalts besteht in der graphischen Veranschaulichung der Kerngedanken in Form eines Schemas (vgl. Jüngst 1992, Mandl; Fischer 2000). Durch eine derartige Repräsentation der Informationseinheiten wird das Verstehen gefördert und es werden Strategien der Textrezeption entwickelt. Diese Darstellungsform ist in Jahr (1996) ausführlich diskutiert worden. Bei einer graphischen Textrepräsentation besteht die Möglichkeit, das Tafelbild durch die dazu gehörenden Sprachhandlungstypen zu erweitern, denn Informationen werden mittels bestimmter Sprachhandlungen zum Ausdruck gebracht und umgekehrt sind Sprachhandlungen an Informationseinheiten gebunden. Wie man die Informationsstruktur sowie die Sprachhandlungsstruktur mit ihren Teilhandlungen verdeutlichen kann, soll an einem Beispiel vorgestellt werden. Es handelt sich um den fachbezogenen Text: „Brot kann kurzsichtig machen“ (Ostseezeitung, 27.2. 2003). Brot kann kurzsichtig machen Nicht nur Bücher und strahlende Bildschirme, auch unsere Ernährung fördert Kurzsichtigkeit, warnen amerikanische Forscher. Der dramatische Anstieg von Sehstörungen in den vergangenen 200 Jahren in Europa sei vor allem auf den erhöhten Konsum stärkereicher Lebensmittel wie Brot zurückzuführen, vermuten der Evolutionsbiologe Loren Cordain und die Ernährungsforscherin Jennie Brand Miller.(DARLEGEN als Vermutung) Die großen Mengen Stärke, die in Weizenprodukten auch schneller verdaut werden, lösen in der Bauchspeicheldrüse Insulinschübe aus, erläutert Brand Miller von der Staatsuniversität Colorado. Diese könnten die Entwicklung des Auges stören, was zu lange Augäpfel, eine Ursache für Kurzsichtigkeit, zur Folge haben könnte. (BEGRÜNDEN als Vermutung) Für ihre Vermutung führen die Forscher mehrere Indizien an. So würden Übergewichtige und Diabetiker, die einen überhöhten Insulinspiegel haben, eher kurzsichtig als Schlanke. Auch bei den Eskimos sei mit Übernahme der westlichen Ernährungsweise die Kurzsichtigkeit sprunghaft auf teilweise 50 Prozent angewachsen. (BEWEISEN) Der Text, der der Textsorte Mitteilung angehört, wird gemeinsam mit den Lernern erarbeitet und an der Tafel folgendes Schema entwickelt: Sprachhandlungstypen in Fachtexten und deren Vermittlung im DaF-Unterricht 243 Schema der Informationsstruktur und Handlungsstruktur Mitteilung Kurzsichtigkeit ursache DARLEGEN FESTSTELLEN stärkehaltige Lebensmittel (u.a. Brot) seit 200 Jahren hoher Brotkonsum BEGRÜNDEN folge folge Insulinschübe zu lange Augäpfel wer BEWEISEN Kurzsichtigkeit: - Übergewichtige, Diabetiker (hoher Insulinspiegel) - Eskimos (seit westlicher Ernährung) Abb. 1: Informations- und Handlungsstruktur In dem Schema ist einerseits die Informationsstruktur mit ihren zentralen Einheiten und den sie verknüpfenden logisch-semantischen Relationen dargestellt und andererseits ist der Informationsstruktur eine entsprechende Sprachhandlungsstruktur zugeordnet. Der Lerner kann erkennen, dass Sprachhandlungstypen an bestimmte Informationseinheiten geknüpft sind und im Text folgende globale Sprachhandlungsstruktur vorliegt: DARLEGEN, (FESTSTELLEN) BEGRÜNDEN BEWEISEN Insgesamt erfolgt die Mitteilung in Form einer Vermutung. Aus dem Basis-Inventar an Sprachhandlungstypen wurden DARLEGEN, BEGRÜNDEN UND BEWEISEN verwendet. FESTSTELLEN nimmt eine untergeordnete Position innerhalb des DARLEGENS ein. Für die Zwecke des Unterrichts ist der Kernaussage in jedem Abschnitt ein dominanter Sprachhandlungstyp zugeordnet. Der Lehrer sollte wiederum darauf achten, dass nur die dominanten Typen herausgearbeitet werden, damit die Struktur noch übersichtlich 244 Silke Jahr bleibt und die Lerner sich nicht überfordert fühlen, auch wenn damit ein Verlust in der Korrektheit der Textanalyse einhergeht. Die Wortgruppen des Schemas sind unter dem Gesichtspunkt angegeben, den Fremdsprachen-Lernern Hilfen zur Wiedergabe des Textes zu liefern. Sie sind je nach Lernergruppe reduzierbar oder erweiterbar. Die Lerner werden zunächst aufgefordert, anhand des Tafelbildes den Inhalt (Informationsstruktur) wiederzugeben. Anschließend macht der Lehrer die Sprachhandlungstypen und die Sprachhandlungsstruktur des Textes bewusst und ähnlich dem vorhergehenden Beispiel kann die Textwiedergabe in dialogischer Form erfolgen. Auf der Grundlage des Textes können sich weitere Übungen anschließen. Beispielsweise wird der Satz an die Tafel geschrieben: Der Verzehr von stärkehaltigen Nahrungsmitteln führt zur Kurzsichtigkeit. Die Lerner werden aufgefordert den Satz umzuwandeln z.B. in den Sprachhandlungstyp BEHAUPTEN und die Aussage BEGRÜNDEN, oder sie sollen AUFFORDERN, nicht so viel stärkehaltige Lebensmittel zu essen und das ebenfalls BEGRÜNDEN. Der Lehrer gibt Impulse, indem er typische sprachliche Formen der Realisierung wie Partikel, Modaladverbien, bestimmte Wendungen u.a. zusätzlich einbringt und den Lerner auffordert, diese Formen zu verwenden. Weiterhin kann man den Lernern auch den Unterschied zwischen FESTSTELLEN und BEHAUPTEN verdeutlichen; beim FESTSTELLEN besteht ein Sachverhalt, z.B. dass seit 200 Jahren viel Brot gegessen wird, beim BEHAUPTEN ist der Sprecher lediglich der Meinung, dass der Sachverhalt besteht. Eine Unterscheidung kann auch zum VERMUTEN vorgenommen werden, d.h. die Forscher wissen noch nicht, ob ein übermäßiger Verzehr stärkehaltiger Lebensmittel wirklich die Ursache für die Kurzsichtigkeit ist. Damit ergibt sich bezüglich des Bestehens eines Sachverhalts folgende Verstärkung: VERMUTEN - BEHAUPTEN – FESTSTELLEN. Hinsichtlich des obigen Satzes bietet es sich an, diese Verstärkung in der genannten Reihenfolge der Sprachhandlungen formulieren zu lassen. In weiteren Übungen könnte das sprachliche Feld eines im Text auftretenden Handlungstyps erarbeitet und die Formulierung im Text durch andere sprachliche Varianten ausgedrückt werden. Außerdem kann der jeweilige Sprachhandlungstyp durch Intensivierer wie z.B. unbedingt, durchweg, vollständig, zweifellos verstärkt oder abgeschwächt werden. Eine andere textgebundene Übung ist die Aufforderung an den Lerner, die Mitteilung in das Aufstellen einer These umzuwandeln. Der Lehrer gibt die Teilhandlungen vor und weist darauf hin, dass für Übungszwecke nicht die Sprechakt-Verben verwendet werden sollen. Solch ein Text könnte folgendermaßen aussehen: Aufstellen einer These BEHAUPTEN: Brot macht kurzsichtig, es ist die Stärke im Brot, die zur Kurzsichtigkeit führt. BEGRÜNDEN: Kurzsichtigkeit ist auf hohen Brotkonsum zurückzuführen. Große Mengen Stärke lösen in der Bauchspeicheldrüse Insulinschübe aus, welche die Entwicklung des Auges stören. Die Folge sind zu lange Augäpfel als Ursache von Kurzsichtigkeit. BEWEISEN: So kann man nachweisen, dass Menschen mit hohem Insulinspiegel kurzsichtig sind. Diabetiker gehören dazu, Übergewichtige eher als Schlanke, auch Eskimos, seit sie die westliche Ernährung übernommen haben. Sprachhandlungstypen in Fachtexten und deren Vermittlung im DaF-Unterricht 245 Die sprachlichen Mittel zur Realisierung des Sprachhandlungstyps sind unterstrichen markiert. Je nach den Fähigkeiten der Lernergruppe werden entweder nur die Sprachhandlungstypen vorgegeben oder zur Bewusstmachung kann der Lehrer auch die unterstrichenen Elemente hinzu setzen. Der Vorteil bei dieser Art von Übungen liegt darin, dass der Fremdsprachen-Lerner nur noch die Handlungstypen und die sie realisierenden sprachlichen Formen vor Augen hat, so dass diese sich ihm besser einprägen. Die jeweiligen sprachlichen Mittel zur Realisierung der Handlungstypen sind zwar kontextabhängig, dennoch lassen sich typische, häufig gebrauchte sprachliche Mittel angeben. Die Umwandlung in eine andere Textsorte zieht meist eine andere Handlungsstruktur nach sich und dient damit der Verdeutlichung, dass Texte durch unterschiedliche Teilhandlungen aufgebaut sind. Die Bewusstmachung der Sprachhandlungsstruktur fachsprachlicher Texte und die sprachliche Realisierung der Sprachhandlungstypen hilft dem Fremdsprachen-Lerner eine umfassendere fachsprachliche Kompetenz zu erlangen. 3. Zusammenfassung Für eine umfassende kommunikative Kompezenz eines Fremdsprachen-Lerners ist es erforderlich, nicht nur die Grammatik und Lexik eines Textes zu behandeln, sondern auch die pragmatische Dimension des Textes, die Informationsstruktur und Handlungsstruktur, zu berücksichtigen. Es wird ein Unterrichtsmodell vorgeschlagen, wie beide Aspekte der Textstruktur im FSU vermittelt werden können, und wie sich die Handlungsstruktur eines Textes aus Teilhandlungen aufbaut. Das bedeutet, gängige Sprachhandlungen und deren sprachliche Realisierung bewusst zu machen und einzuüben. Literatur Brandt, Marga; Rosengren, Inger (1991a): Zur Handlungsstruktur des Textes. In: Sprache und Pragmatik (Lund) 24, 3-46. Brandt, Marga; Rosengren, Inger (1991): Handlungsstruktur und Informationsstruktur - zwei Seiten einer Münze. In: Sprache und Pragmatik (Lund) 24, 120-139. Farenkia, Bernard Mulo (1999): Sprechaktkompetenz als Lernziel. Frankfurt/M. u.a. Fiehler, Reinhard (1990): Kommunikation und Emotion. Berlin, New York. Hindelang, Götz (1983): Einführung in die Sprechakttheorie. Tübingen. Jahr, Silke (1996): Das Verstehen von Fachtexten. Rezeption, Kognition, Applikation. Tübingen. Jahr, Silke: (2000): Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten. Ein interdisziplinärer Ansatz zur qualitativen und quantitativen Beschreibung von Texten. Berlin, New York. Koch, Wolfgang (2001): Sprachsystem und Sprachhandlungen. In: G. Helbig, L. Götze, G. Henrici, H.-J. Krumm (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin, New York, 236-248. Mandl, Heinz; Fischer, Friedrich (2000): Mapping-Techniken und Begriffsnetze in Lernund Kooperationsprozessen. In: H. Mandl; F. Fischer (Hrsg.): Wissen sichtbar machen. Wissensmanagement mit Mapping-Techniken. Göttingen u.a., 3-12. 246 Silke Jahr Motsch, Wolfgang (1996): Ebenen der Textstruktur. Begründung eines Forschungsprogramms. In: W. Motsch (Hrsg.): Ebenen der Textstruktur. Sprachliche und kommunikative Prinzipien. Tübingen 3-36. Portmann-Tselikas, Paul R. (2001): Sprechhandlungen und unterrichtspezifische Sprachtätigkeiten. In. G. Helbig, L. Götze, G. Henrici, H.-J. Krumm (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin, New York, 248-257. Pudszuhn, Manfred (1994): Fachunterricht versus Sprachunterricht. Frankfurt/M. Rolf, Eckard: (1997): Illokutionäre Kräfte. Grundbegriffe der Illokutionslogik. Opladen. Zillig, Werner. (1982): Bewerten. Sprechakte der bewertenden Rede. Tübingen. Fallstudien – Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 247-260. Karl-Hubert Kiefer (Berlin/Warschau) Fallstudien – zur Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente im Unterricht Berufsdeutsch (Wirtschaft) für Lerner ohne betriebswirtschaftliche Vorkenntnisse 1. Ausgangsszenario Sehr geehrter Herr…, ich bin seit einigen Tagen als Lektorin in … tätig und stehe aufgrund des Ausscheidens einer einheimischen Kollegin überraschend vor dem Problem, Wirtschaftsdeutsch für den BA-Studiengang Deutsch in der Unternehmenssphäre (im Rahmen sprachpraktischer Übungen innerhalb des Studiengangs Germanistik) unterrichten zu müssen. Herr X war so freundlich, mir Ihre Mailadresse mitzuteilen. Mir wäre sehr geholfen, wenn Sie mir in einigen Punkten unter die Arme greifen könnten. Hier meine Fragen: 1. Welche Standardwerke gehören zur Grundausstattung eines Lektorates mit Schwerpunkt Wirtschaftsdeutsch? 2. Welche Lehrwerke DaF mit Schwerpunkt Wirtschaft können Sie empfehlen? 3. Das erste Thema, das ich für eine Gruppe im zweiten Studienjahr vorbereiten soll, ist „Organisation und Planung“. Ich habe von der ausscheidenden Kollegin, die dieses Fach selbst ohne Vorkenntnisse vor einigen Jahren konzipiert hat, lediglich ein paar blass kopierte Unterrichtsmaterialien bekommen. Was würden Sie mir raten, könnte ich mit den Studenten zu diesem Thema machen? Wenn Sie Zeit finden würden, auf die ein oder Frage zu antworten, würde ich mich freuen. Es grüßt Sie herzlich 248 Karl-Hubert Kiefer Dieses Szenario ist weitgehend authentisch – an Deutschlehrkräfte ausländischer Germanistik-Abteilungen wird in den letzten Jahren verstärkt der Wunsch herangetragen, „Wirtschaftsdeutsch“ zu unterrichten. Wie können wir der Kollegin helfen? Richten wir hierzu unser Augenmerk zunächst auf die dritte Frage, bei der es sich nur auf den ersten Blick um die bloße Bitte nach Anregungen zur Ausgestaltung eines betriebswirtschaftlichen Themas handelt und deren Beantwortung die Suche nach Antworten auf die ersten beiden Fragen vereinfachen dürfte. Die dritte Frage des Mailabsenders schafft im Hinblick auf den genannten Lernraum zusätzlichen Klärungsbedarf: Wie kann ich eine Gruppe von Germanisten für Wirtschaftsfragen interessieren? Was kann ich ihnen inhaltlich und sprachlich zum Thema Organisation und Planung vermitteln, so dass sie das Gefühl haben, daraus Nutzen für eine eventuelle spätere berufliche Tätigkeit (in einem Unternehmen, in einer Institution) mit deutschsprachigem Hintergrund zu ziehen? Wie kann ich einen möglichst schonenden Übergang von der Allgemein- zur Fachsprache schaffen, so dass die Lerner aktiv sind und offen bleiben für den Unterricht, der dieser Einheit folgt? Ein Angebot, diese Fragen möglichst praxisnah zu beantworten, möchten die folgenden Ausführungen bieten. Zentraler Ansatzpunkt wird dabei die Fallstudienmethode sein, deren Vorteile insbesondere für den Fachsprachenunterricht in jüngerer Zeit wieder verstärkt in den Fokus der Fremdsprachendidaktik getreten sind (vgl. u.a. Almagro Esteban; Pérez Cañado 2004: 157, Kiefer 2004: 70, Fischer 2007: 242). Hervorgehoben wird hier vor allem der Aspekt der Förderung der Lernmotivation durch die Mitgestaltung von Problembearbeitungsprozessen, die Ökonomisierung von Lerninhalten, ihre Ausrichtung am beruflichen Bedarf, die Lernerzentriertheit und Intensität des Lernprozesses, die vielfältigen Möglichkeiten zur integrierten Ansprache aller Fertigkeitsbereiche im Rahmen unterschiedlicher Sozialformen – um nur einige der wichtigsten Argumente für ein Plädoyer zum verstärkten Einsatz von Fallstudien im Sprachenunterricht zu nennen. Der Beitrag möchte anhand ausgewählter Fallstudien – zwei von insgesamt vier aus dem Themenschwerpunkt „Organisation und Planung“, die im Rahmen des LehrwerkProjekts „Von Fall zu Fall“ des Lehrstuhls Rechnungswesen an der FH Kaiserslautern in Kopperation mit dem Sprachzentrum der Warsaw School of Economics entwickelt und didaktisiert wurden – Anregungen und Hilfestellungen geben, wie sich mit Hilfe der Fallstudien-Methode allgemein- und fachsprachliche Elemente für eine behutsame Annäherung an betriebswirtschaftliche Fragestellungen verbinden lassen. 2. Beispiele aus dem Lehrwerksprojekt „Von Fall zu Fall“ 2.1. „Robin Hood“ Diese Fallstudie – eine Adaption der gleichnamigen englischsprachigen Fallstudie von Joseph Lampels (New York University) – lässt sich zum Einstieg in das Themengebiet „Organisation und Planung“ einsetzen. Sie hat „spielerischen“ Charakter, was jedoch nicht über ihre enorme Problemtiefe hinwegtäuschen darf. Ohne weitere Details über die Lernergruppe der Kollegin zu kennen, können wir mit einiger Wahrscheinlichkeit Fallstudien – Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente 249 davon ausgehen, dass der Text, dem die Legende um den Fürsprecher der Armen aus dem Wald von Sherwood zugrunde liegt, an Vorwissen anknüpft (der Stoff liegt in vielfacher Übersetzung und unterschiedlichen Textgattungen vor, wird in Theatern inszeniert, wurde verfilmt) und für Germanisten verständlich ist: Er ist relativ kurz und umfasst neben einzelnen Begriffen aus dem Bereich des Militärwesens keine nennenswerten Fachbegriffe. Vor allem finden die beiden Termini „Organisation“ und „Planung“ keinerlei Erwähnung, obwohl sich hierum in der Lagebeschreibung von Robin Hoods Kampftruppe im Grunde alles dreht. Dieses Thema auf den Punkt zu bringen und die sich aufdrängende Frage nach der Notwendigkeit und der Ausgestaltung von Organisationsstrukturen bzw. Planungsprozessen in sozialen Institutionen in der Fremdsprache zu vertiefen ist das übergeordnete Lernziel dieser Lerneinheit. Konkret geht es darum, im überschaubaren zeitlichen Rahmen und mit relativ geringem Aufwand eine Situationsanalyse (Lagebeurteilung/Ist-Zustand, Identifikation allgemeiner Problemursachen, Einflussgrößen und Zusammenhänge, Ausgrenzung nicht problemrelevanter Bereiche) durchzuführen und zu klären, in welchem Umfang und in welcher Form organisatorische Veränderungen in der Bande von Robin Hood durchgeführt werden sollen. Auch wenn dem Lerner jederzeit bewusst ist, dass es sich hier nicht um ein reales Problem handelt, lösen die enge Anlehnung der Fallstudienkulisse an die Legende um den edlen Räuber und das sehr plastisch gezeichnete Problem(bündel) bisherigen Unterrichtserfahrungen zufolge beim Lerner den gewünschten Problemlösungsreflex aus, der die Rezeptionsbereitschaft von einschlägigem Fachvokabular aus dem Bereich der Organisation, Planung und Führung sowie den Transfer auf weiterführende betriebswirtschaftliche Fragestellungen zum Thema nachhaltig fördert. Hier nun die Fallstudie, die die Lehrkraft in Teams (3-4 Personen) wahlweise völlig selbstständig bearbeiten lassen oder gegebenenfalls mit Hilfe des angefügten Übungsmaterials steuern bzw. ergänzen kann. Karl-Hubert Kiefer 250 Erinnern Sie sich an die Geschichte von Robin Hood? Fassen Sie kurz zusammen, worum es in der Geschichte geht. Erzählen Sie, was Sie über die Figuren, ihre Rolle und Beziehung zueinander wissen. Much, der Müller She rwo o d Fo re st die „Guten“ die „Bösen“ König Richard Prinz John Will Scarlett Robin Hood Bruder Tuck Little John der Sheriff Lady Marian Scarlock Lesen Sie in Stillarbeit folgende Szene, die sich eines Spätsommerabends in Sherwood Forest abspielt. Es war ein anstrengender Tag für Robin Hood gewesen und er saß nun nachdenklich am Lagerfeuer. Sein Aufstand gegen den Sheriff von Nottingham ging mittlerweile in das zweite Jahr und Robin nutzte die stillen Minuten, um über einige grundsätzliche Dinge nachzudenken… Fallstudien – Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente …Sein Kampf gegen den Sheriff war ursprünglich eine persönliche Angelegenheit gewesen, aber er hatte schnell erkannt, dass er alleine wenig ausrichten konnte. Er suchte daher Weggefährten, die seinen Sinn für Gerechtigkeit teilten. In letzter Zeit fragte er allerdings nicht mehr so genau nach den Gründen, wenn sich jemand anschließen wollte, stattdessen legte er mehr Wert auf die Bereitschaft, sich unterzuordnen. Männer mit edlen Zielen sind selten, und Stärke, so war Robin überzeugt, war in erster Linie eine Frage der Anzahl an Bandenmitgliedern. Im ersten Jahr hatte Robin aus dem bunten Haufen eine disziplinierte Gruppe geformt, die die Feindschaft gegen den Sheriff und die Bereitschaft, als Gesetzlose zu leben zu einem Team machte. Die Bande war übersichtlich strukturiert: Robin war der zentrale Entscheidungsträger, der alle wesentlichen Entscheidungen selber traf. Bestimmte Aufgaben delegierte er an einen seiner Leutnants. So war Will Scarlett für die Spionage und Feindaufklärung zuständig. Er beobachtete den Sheriff und dessen Leute und konnte so rechtzeitig die Bande warnen. Darüber hinaus sammelte er Informationen über die Reisepläne reicher Kaufleute und der Steuereintreiber. Für die Disziplin und die militärische Ausbildung war Little John verantwortlich. Sein regelmäßiges Training mit Pfeil und Bogen machte aus den Männern ausgezeichnete Schützen. Die Finanzen lagen in den Händen von Scarlock. Er machte Beute, die nicht verwertet werden konnte zu Geld und zahlte die Anteile, die jedem zustanden, aus. Für schlechtere Zeiten hatte er regelmäßig Teile der Beute zurückgelegt und versteckt. Der letzte in der Reihe der Leutnants, Much der Müller, war mit der Versorgung betraut. Eine Aufgabe, die zunehmend schwieriger wurde, da sich immer mehr Leute der Bande anschlossen… Dieses Wachstum seiner Truppe erfüllte Robin einerseits mit Stolz, andererseits bereitete es ihm Sorge. Die ersten Minnesänger sangen bereits von ihm und seinen Taten, so dass aus ganz England neue Rekruten kamen, die sich anschließen wollten. Das hatte eine Reihe von Folgen: Aus dem ursprünglichen kleinen Camp war ein mittleres Heerlager geworden, zwischen den Überfällen vertrieben sich die Männer mit Spielen die Zeit, die Wachsamkeit war einer Sorglosigkeit gewichen und die Disziplin war immer schwerer durchzusetzen. Ein Grund dafür - das war Robin klar - war die Tatsache, dass er kaum die Hälfte seiner Mitstreiter persönlich kannte. Auch die natürlichen Ressourcen des Waldes reichten nicht mehr aus, um alle Männer zu ernähren. Das Wild wurde bereits knapp und mehr und mehr Lebensmittel mussten aus den umliegenden Dörfern dazugekauft werden. Die eisernen Geldreserven, die Scarlock angelegt hatte, mussten angebrochen werden, da auch die Einnahmen rückläufig waren. Immer mehr Reisende, vor allem die reichen, machten mittlerweile einen großen Bogen um Sherwood Forest. Das kostete die Kaufleute viel Zeit und war unbequem, aber immer noch besser als ausgeraubt zu werden. Bei den Überfällen kam zwar selten jemand zu Schaden, aber Waren und Geld wurden von den Gesetzlosen eingezogen. Robin hatte bereits früher darüber nachgedacht ob es nicht geschickter wäre, von den Reisenden nur eine feste "Transitgebühr" zu verlangen, anstatt den reichen Kaufleuten alles zu nehmen. Er war mit dieser Idee allerdings bei seinen Leutnants auf wenig Gegenliebe gestoßen, denn die erinnerten ihn an den ursprünglichen Wahlspruch: "Nehmt den Reichen und gebt den Armen!". "Den kleinen Leuten", so war ihre einstimmige Meinung, "können wir auch keine Gebühr zumuten, denn die sind unsere wichtigsten Verbündeten und wir können kaum mit Mit den alten Methoden und Regeln, das war Robin klar, konnte es in der Zukunft nicht weiter gehen. Der Sheriff hatte aus seinen ersten Niederlagen gelernt und seine Truppen verstärkt und besser geordnet. Das hatten Robin und seine Männer bereits bitter spüren müssen und Robin ahnte, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sich das Schicksal gegen sie wenden würde. Für die Abrechnung mit dem Sheriff blieb ihm nur noch wenig Zeit. Robin hatte bereits an ein Attentat auf den Sheriff gedacht, dann aber diese Idee verworfen. Zum einen wurde der Sheriff ausgezeichnet von seiner Leibgarde geschützt, zum anderen hätte ein Anschlag zwar seine persönlichen Rachegefühle befriedigt, aber die Situation für die Bevölkerung nicht geändert. Robins Hoffnung war vielmehr, dass eine dauernde Unruhe in der Region und die fruchtlosen Bemühungen Steuern einzutreiben zur Entlassung des Sheriffs führen würden. Hier hatte Robin, wie er jetzt eingestehen musste, falsch kalkuliert. Der Sheriff hatte seine politischen Kontakte geschickt dazu genutzt, Geld und personelle Verstärkung vom Hof des Prinzen John zu erhalten und seine Position dadurch wesentlich gestärkt. Prinz John war boshaft und charakterschwach und im Volk äußerst unpopulär. Die Bevölkerung wollte King Richard wieder auf dem Thron sehen. Richard war aber auf dem Rückweg von einem Kreuzzug in Österreich inhaftiert worden und die Österreicher forderten ein hohes Lösegeld. Das war Prinz John sehr recht, denn solange sein Bruder nicht wieder in England war hatte er selbst alle Macht. Einige Lords hatten aber bereits heimlich mit einer Sammlung für das Lösegeld für King Richard begonnen. Dieser konspirative Kreis hatte auch Robin um eine Spende gebeten. Dafür wurde ihm eine spätere Amnestie in Aussicht gestellt. So attraktiv wie dieses Angebot zunächst erschien, so gefährlich war es auch. Bisher waren die Taten von Robin und seinen Leuten zu unbedeutend für eine königliche Strafverfolgung. Würde seine Teilnahme an der Verschwörung bekannt werden und die Spione von Prince John waren überall - dann wäre das Hochverrat und Robin und seinen Männern wäre die unbarmherzige Verfolgung durch königliche Elitetruppen sicher… Ihre Aufgabe: Analysieren und lösen Sie Robin Hoods Probleme in Teamarbeit (3-5 Personen). Sie haben hierfür 45 Minuten Zeit. 251 Karl-Hubert Kiefer 252 ÜBUNGEN ƒ ƒ Was erfahren wir über die Situation von Robin Hood und seinen Männern? „Überfliegen“ Sie noch einmal den Text und ergänzen Sie anschließend stichwortartig folgende Tabelle: Über welche Figuren aus der ersten Aufgabe finden Sie im Text (keine) Informationen? Person Robin ƒ ja x nein Information ist Entscheidungsträger… Wenn diese Figuren Minister in einem Regierungskabinett wären – welche Ämter würden sie bekleiden? Scarlock Little John Much Robin Will Finanzminister _____________ Verteidigungsminister _________________ Innenminister ____________ Wirtschaftsminister ________________ Ministerpräsident ________________ Fallstudien – Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente ƒ Wie beurteilen Sie die Situation in Sherwood Forest? Arbeiten Sie zu zweit und analysieren Sie mit Hilfe der folgenden Leitfragen das Problem von Robin Hood… …wir sollten uns fragen: Was ist innerhalb der Gruppe nicht in Ordnung, welche Schwierigkeiten kommen von außen auf uns zu und wie hängen die einzelnen Probleme miteinander zusammen? PROBLEMFELD GRUPPE PROBLEMFELD UMWELT … und fassen Sie nun in wenigen Sätzen die einzelnen Probleme und ihre Ursachen zusammen: Problematisch ist…/ ist, dass Ein weiteres Problem besteht in (D) / darin, dass… Dies ist mit X / damit verbunden, dass… Ursache hierfür ist… Dies ist eine Folge von X / davon, dass… ƒ Was würde Ihrer Meinung nach passieren, wenn die Probleme nicht gelöst würden? Ordnen Sie jedem Problem der beiden Problemfelder je eine mögliche Folgewirkung zu. Nehmen Sie hierzu folgende Wendungen zur Hilfe. Sollte es nicht gelingen das Problem(des/der) zu lösen, dann… Würde das Problem (des/der) nicht gelöst, dann… Im Falle / für den Fall, dass / gesetzt den Fall, das Problem (des/der) würde nicht gelöst, dann… ƒ Welchem Bereich eines Unternehmens lassen sich die Probleme von Robin Hood Ihrer Meinung nach zuordnen? Klären Sie gemeinsam, womit sich die einzelnen Bereiche beschäftigen. das Rechnungswesen der Vertrieb die Organisation das Marketing das Personalwesen der Einkauf 253 Karl-Hubert Kiefer 254 ƒ Welche Beziehungen haben die einzelnen Aufgabenträger zueinander? Klären Sie zunächst, welche der Wendungen im Kästchen das Gleiche ausdrücken. Beschreiben Sie dann das Verhältnis der Figuren zueinander. jemandem nebengeordnet sein jemandem untergeordnet sein jemandem unterstehen weisungsbefugt gegenüber jemandem sein ´ jemandem gegenüber verantwortlich sein entscheidungsberechtigt gegenüber jemandem sein weisungsgebunden gegenüber jemandem sein jemandem unterstellt sein die Weisungsbefugnis, - kompetenz gegenüber jemandem haben jemandem gleichgeordnet sein X X X Y Y Y _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ _______________________ ƒ Ob eine Bande, eine Institution (z.B. eine Behörde) oder ein Unternehmen gut organisiert sind, das kann man mit Hilfe bestimmter Kriterien überprüfen. o Klären Sie, was die Kriterien, die unten angegeben sind, bedeuten: Einfluss der Führung bedeutet, dass alle Bandenmitglieder sich an die Befehle von Robin halten. Mit Belastung der Führung ist gemeint… o Überprüfen Sie nun, wie effizient Robins Banden-Organisation arbeitet und belegen Sie ihre Entscheidung am Text. groß gering - Einfluss der Führung - Belastung der Führung - Übersichtlichkeit - Grad an Spezialisierung - Schnelligkeit der Informationswege - Koordinations- und Zeitbedarf bei innovativen Entscheidungen Der Einfluss von Robin ist gering, weil… Fallstudien – Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente 255 o Welche weiteren Kriterien der Effizienz fallen Ihnen ein? Überprüfen Sie anschließend selbst. o Welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Meinung nach aus der Bewertung der Effizienz-Kriterien für Robin Hoods Bande? o Beratschlagen Sie nun in Kleingruppen, wie die Organisationsstruktur von Robin Hoods Bande effizient gestaltet werden könnte. Zeichnen Sie auch hierzu eine Grafik und klären Sie gemeinsam die Aufgaben der einzelnen Bandenmitglieder sowie ihre Beziehungen zueinander. o Der Schweinebraten ist endlich von allen Seiten knusprig und Robin Hood lädt Sie ein, mit ihm zu essen. Natürlich möchte er wissen, o o o o zu welchem Ergebnis Sie gekommen sind, wie die Lösung in die Praxis umzusetzen ist, mit welchen neuen Problemen dabei zu rechnen ist und vor allem wie sie gelöst werden müssen. Stellen Sie Ihre Lösung im Plenum vor und diskutieren Sie gemeinsam darüber. Also, Männer, wie sollten wir vorgehen, um unsere Probleme möglichst effektiv zu lösen? 256 Karl-Hubert Kiefer 2.2 „Betriebsausflug“ Diese Fallstudie schließt das Kapitel „Organisation und Planung“ im Lehrwerk „Von Fall zu Fall“ ab und kommt einer Konstruktions- oder auch Postkorbübung nahe. Der Lerner – so gibt es der Handlungsstrang von „Von Fall zu Fall“ vor – arbeitet als Assistent/-in der Geschäftsführung in einem mittelständischen Fahrradunternehmen. Aufgrund des breiten Aufgabenspektrums – Assistenten der Geschäftsführung haben in Unternehmen häufig eine Querschnittsfunktion und übernehmen in der Regel sowohl administrative bzw. Sekretariatsaufgaben als auch die selbstständige Betreuung fachlicher Projekte – sind das Stellenprofil und der delegierte Auftrag Germanisten erfahrungsgemäß leicht vermittelbar (vgl. Kiefer: 2007:146-147). Der Lerner wird damit beauftragt einen Betriebsausflug für die Belegschaft des Unternehmens zu organisieren. Betriebsausflüge sind vom Arbeitgeber geförderte Ausflüge bzw. Kurzreisen mit einem touristischen bzw. geselligen Angebot, die der Verbesserung des Betriebsklimas dienen sollen. Der Lerner ist für das Projekt verantwortlich – er muss unter Zuhilfenahme des Internets und auf der Grundlage von Informationen zum Reiseziel, dem zeitlichen Rahmen, der Gruppenstärke und des Budgets selbstständig (d.h. im Team) die Fahrt, Unterbringung und das Programm für den Betriebsausflug organisieren sowie den Mitarbeitern die Ergebnisse seiner Planung kommunizieren. Hierzu sind zunächst die relevanten Informationen aus dem Falltext zu isolieren, innerhalb der einzelnen Problembereiche (Zeitrahmen, Finanzen etc.) zu ordnen, weitere Informationen im Internet/per Mail bzw. Telefon zu recherchieren und aus diesem „Puzzle“ ein taugliches Gesamtkonzept für den Betriebsausflug zu entwerfen. Als grafisches Hilfsmittel zur Veranschaulichung von einzelnen Planungsschritten im Rahmen des Projekts (Programmablauf) und damit als betriebswirtschaftliches Element wird das so genannte Gantt-Diagramm eingesetzt, das im Rahmen einer der vorangehenden Fallstudien bereits eingeführt wurde. An spezifischen Wortschatz geknüpft ist die Kostenkalkulation, die mit Hilfe des Excel-Programms aufgestellt werden soll. Neben den rezeptiven Fertigkeiten (Internetrecherche) werden mit dieser Fallstudie auch die produktiven Fertigkeiten (Hausmitteilung, Einholen von Angeboten per Mail bzw. Telefonat, Präsentation und Bewertung der Ergebnisse) geschult. Der Lehrer schlüpft im Verlauf dieser Aktivitäten in die Rolle eines Lernbegleiters – er stellt die Hilfsmaterialien, die zur Bearbeitung der Fallstudie bzw. der Präsentation ihrer Ergebnisse benötigt werden, zur Verfügung und steht den Lernern beratend zur Seite. Können keine PCs am Lernort bereitgestellt werden, erarbeiten die Lernerteams das Konzept zu Hause und präsentieren es im Unterricht. Zur Fallstudie: Fallstudien – Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente o Zum Schluss der Sitzung spricht Frau Beck noch ein anderes Thema an… Frau Beck: Sagen Sie mal, Herr Schuster, was mir da gerade spontan einfällt und nichts mit dem zu tun hat, womit wir uns gerade beschäftigen: Im vergangenen Jahr um diese Zeit haben wir unseren Betriebsausflug gemacht, wie sieht es damit eigentlich in diesem Jahr aus? Da sollten wir auch langsam mit der Planung beginnen… Dr. Schuster: Also ich habe nichts dagegen. Hätten Sie denn eine Idee, wo es diesmal hin gehen könnte? o Was halten Sie von einem Betriebsausflug? Haben Sie schon einmal an einem Betriebsausflug teilgenommen? Berichten Sie. o Warum werden in Unternehmen Betriebsausflüge organisiert? o Lesen Sie, welche Vorschläge Ihre Kollegen machen. Frau Beck: Ich wollte immer schon mal nach Dresden fahren. Das ist mir privat nie gelungen, aber vielleicht mit der Belegschaft? Was halten Sie davon? Herr Richter: Ja, Dresden ist mit Sicherheit ein tolles Reiseziel. Mein Bruder war erst vor kurzem mit seiner Familie dort und war begeistert von der wieder aufgebauten Frauenkirche. Auch die Sächsische Schweiz hat ihm sehr gut gefallen. Herr Berends: Die Fahrt im letzten Jahr in den bayrischen Wald fand ich ja sehr schön, wir hatten da wirklich Glück mit dem Gasthaus in der Nähe vom Arber. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in diesem Jahr zur Abwechslung mal eine Städtereise machen könnten. Persönlich würde ich allerdings Frankfurt vorschlagen… o Hätten Sie noch einen Vorschlag? Dann melden Sie sich zu Wort… Mein Vorschläge wäre, nach ___________ zu fahren, weil… Dr. Schuster: Gut, wir haben 3 Vorschläge, dann lassen Sie uns abstimmen. Wer ist für…? o Die Abteilungsleiter stimmen ab und die Wahl fällt auf…Dresden. Und wer soll sich um die Organisation der Reise kümmern? Das Los fällt einmal mehr auf Sie… Dr. Schuster: Ja, dann bleiben wir doch dabei, Frau…/Herr…, würden Sie das bitte in die Hand nehmen und für uns ein „Reisepaket schnüren“? Dr. Schuster: Übrigens: Wir haben das bisher immer so gemacht, dass wir donnerstags in der Früh losgefahren und Samstag-Spätnachmittag wieder zurückgefahren sind. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, melden Sie sich… 257 Karl-Hubert Kiefer 258 • Bereiten Sie den Betriebsausflug nach Dresden in kleinen Gruppen vor. Lesen Sie, was es dabei zu beachten gilt… Ihre Aufgabe An der dreitägigen Fahrt (2 Übernachtungen) möchten alle 32 Mitarbeiter (10 Frauen, 22 Männer) des Unternehmens teilnehmen. Als Budget stehen Ihnen 5.000 Euro zur Verfügung. Sämtliche Kosten sollen aus den Mitteln der Betriebskasse gedeckt werden, wenn Geld übrig bleibt, umso besser… Das Angebot eines Busunternehmens für den Transport nach und von Dresden beträgt 960 Euro. Gegen einen Aufpreis von 10 Euro pro Person könnte der Bus auch für Fahrten innerhalb Dresdens genutzt werden. Klären Sie in Kleingruppen zu 2-4 Personen, wo Sie möglichst zentrumsnah im Hotel oder in einer Pension (keine Jugendherberge) übernachten können. Stellen Sie ein komplettes Ausflugsprogramm zusammen, das für Ihre Kollegen interessant, abwechslungsreich aber nicht zu ermüdend ist. Bereiten Sie zunächst eine Checkliste vor was Sie im Einzelnen tun müssen und recherchieren Sie dann sämtliche Informationen mit Hilfe des Internets und ggf. per Telefon. Dokumentieren Sie Ihre Ergebnisse der Programmplanung mit Hilfe eines GanttDiagramms, die Kostenkalkulation mit Hilfe des Excel-Programms. Sie haben zur Bearbeitung 1 Stunde Zeit. Nr. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Gantt-Diagramm Aktion Start Dauer Ende Fallstudien – Verknüpfung allgemein- und fachsprachlicher Elemente • Präsentieren Sie Ihre Ergebnisse im Plenum. Stimmen Sie gemeinsam darüber ab, welche Arbeitsgruppe das beste Paket für den Betriebsauflug „geschnürt“ hat. Dr. Schuster: So, Frau…/Herr… wie weit sind Sie mit Ihren Vorbereitungen für den Betriebsausflug? Dr. Schuster: Das klingt aber sehr viel versprechend, Herr/Frau… Wenn Sie dann bitte noch eine Information für die Mitarbeiter ans Schwarze Brett hängen würden… • Verfassen Sie ein Schreiben an die Mitarbeiter für das Schwarze Brett, in dem Sie über den Betriebsausflug informieren. Überlegen Sie, was die Mitarbeiter für die Reisevorbereitung bzw. -durchführung unbedingt wissen sollten. H AUSM I TTEI LUN G Liebe Kolleginnen und Kollegen, 259 260 Karl-Hubert Kiefer 3. Schlussbemerkung Die Aufgabe, fachliche Inhalte und fachsprachliche Strukturen im Rahmen des Unterrichts Berufsdeutsch (Wirtschaft) zu vermitteln, stellt Lehrkräfte ohne spezielle betriebswirtschaftliche Vorkenntnisse, wie das Ausgangsszenario verdeutlicht hat, häufig vor das Problem zu erkennen, was für die jeweilige Lernergruppe eigentlich relevant, interessant und förderlich ist. Das kommt nicht von ungefähr, denn hinter dem Schlagwort „Wirtschaftsdeutsch“ verbirgt sich mindestens so viel, wie hinter dem Wort „Wirtschaft“. Die beiden Übungsbeispiele „Robin Hood“ und „Betriebsausflug“ dienten der Veranschaulichung, dass eine oft so wahrgenommene strikte Trennung von fach- und allgemeinsprachlichen Elementen – die sich mitunter im 1:1-Einsatz einschlägiger Wirtschaftsdeutschlehrwerke widerspiegelt – gar nicht das Ziel des Sprachunterrichts sein muss, um Berufsdeutsch (Wirtschaft) zu vermitteln, sondern dass gerade eine bewusste Verzahnung dieser beiden Lernbereiche die Motivation zur Rezeption fachfremder Inhalte, Textsorten und deren sprachlichen Strukturen nachhaltig fördert: Durch den Einsatz zielgruppengerecht konzipierter und dargebotener Fallstudien im Fremdsprachenunterricht lässt sich der beabsichtigte Erwerb neuer, fremder Fachinhalte, Methoden sowie fachsprachlicher Formen und Strukturen in ein „gesundes“, d.h. motivationsförderndes Verhältnis zu sozialen, kognitiven und bereits erworbenen allgemeinsprachlichen Kompetenzen setzen – in Vernetzung mit den jeweiligen Fachwissenschaften sicherlich ein gangbarer „neuer Weg“ in der Fremdsprachendidaktik. Literatur Almagro Esteban, Ana; Perez Canado, Maria Luisa (2004): Making the casemethod work in teaching Business English: a case study. In: English for Specific Purposes 23, 137-161. Fischer, Johann (2007): Der Einsatz von Fallstudien im Fremdsprachenunterricht. In: Kiefer, Fischer, Jung, Roche (Hrsg.) (2007), 237-263. Kiefer, Karl-Hubert (2004): Fallstudien – zum Umgang mit einer erfolgreichen Lernmethode im Fachsprachenunterricht Wirtschaftsdeutsch. In: Info DaF 1, 68-98. Kiefer, Karl-Hubert; Wickum, Heinrich (2007): Zum Einsatz betriebswirtschaftlicher Fallstudien in der Sprachenausbildung. In: Kiefer, Fischer, Jung, Roche: (Hrsg.) (2007), S. 265-288. Kiefer, Karl-Hubert; Nowakowska, Katarzyna (2007): Este Schritte in die ausländische Berufswelt. Berufsvorbereitende Maßnahmen in der Deutschlehrerausbildung am Beispiel eines Fremdsprachenlehrerkollegs. In: (Hrsg.) (2007), S. 143-160. Kiefer, Karl-Hubert; Fischer, Johann; Jung, Matthias; Roche, Jörg (Hrsg.) (2007): Wirtschaftsdeutsch-vernetzt. Neue Konzepte und Materialien. München: Iudicium. Joseph Lampel (1991): A Sample Case Study: Robin Hood. http://209.85.135.104/ search?q=cache:3kf6sKDaWksJ:www.som.salford.ac.uk/corp_strat/taster.htm+J oseph+case+study+robin+hood&hl=pl&ct=clnk&cd=1&gl=de (abgerufen am 01.09.2007) Uber Grosse, Christine (1988): The Case Study Approach to Teaching Business English. In: English for Specific Purposes 7, 131-136. Gesprochene Sprache – ein sperriger Gegenstand 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 261-274. Reinhard Fiehler (Mannheim) Gesprochene Sprache – ein „sperriger“ Gegenstand Zusammenfassung In literalen Gesellschaften umfasst das Sprachvermögen sowohl das Sprechen wie auch das Schreiben. Dies gilt für die Muttersprache ebenso wie für Fremdsprachen. Sprechen und Schreiben sind dabei recht unterschiedliche Tätigkeiten, so dass zu erwarten wäre, dass sie im Fremdsprachen- wie auch im DaF-Unterricht zu gleichen Anteilen berücksichtigt werden. Die Unterrichtspraxis zeigt jedoch, dass die Schriftsprache dominant vertreten ist und die gesprochene Sprache ein Schattendasein führt. In diesem Beitrag benenne ich fünf Gründe, warum die gesprochene Sprache in dieser Weise im Hintergrund steht und ein sperriger, schwer zu handhabender Gegenstand ist (Abschnitt 2). Im Anschluss versuche ich zu verdeutlichen, wie weitreichend die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sind (Abschnitt 3). Abschließend formuliere ich einige Konsequenzen, die sich hieraus für den Fremdsprachen- und DaF-Unterricht ergeben, und plädiere dafür, sich die Schwierigkeiten, die mit einer Berücksichtigung der gesprochenen Sprache verbunden sind, bewusst zu machen und sich ihnen zu stellen, denn gesprochene Sprache ist m.E. ein unverzichtbarer Bestandteil des fremdsprachlichen Unterrichts. 1. Eine Sprache lernen? Es ist ein gängiger Sprachgebrauch zu sagen: „Ich lerne Englisch.“, „Ich lerne Suaheli.“ oder „Ich lerne Deutsch.“ Diese Sprechweise suggeriert, dass es eine einheitliche Sprache gibt, die man sich Schritt für Schritt aneignet. Aber was ist es eigentlich, was man da im Fremdsprachenunterricht Lektion für Lektion lernt? 262 Reinhard Fiehler Wir lernen Wörter und wie man sie zu grammatisch richtigen Sätzen kombiniert. Diese Sätze sind konzeptionell schriftlich.1 Auch wenn wir sie aussprechen (Fertigkeit Sprechen) oder wenn sie uns vorgesprochen werden (Fertigkeit Hörverstehen) – sind sie Sätze der Schriftsprache. Wir lernen also nicht Sprache schlechthin, sondern eine bestimmte ihrer Erscheinungsformen. Wir lernen nicht die ganze Sprache, sondern einen bestimmten Ausschnitt aus ihr: die Regeln für die Standardschriftsprache, so wie sie in schriftlichen Texten (z.B. Zeitungen, Belletristik) vorkommt. Die ganze Sprache, das ist erheblich mehr. Sie umfasst sowohl die Schriftlichkeit wie auch die Mündlichkeit, und beide jeweils in der Differenzierung ihrer vielfältigen Textsorten und Gesprächsformen mit den für sie spezifischen Regeln. Im Rahmen der Mündlichkeit umfasst sie ferner das Spektrum der regionalen, sozialen und funktionalen Varietäten. Die Praxis des Fremdsprachen- und DaF-Unterrichts erweist sich demgegenüber als deutlich schriftlichkeitslastig und dies zudem eingeschränkt auf eine Schriftlichkeit, wie sie in besonders standardnahen Textsorten verwendet wird. Diese Feststellungen sind weder neu noch originell, sie werfen aber zwei Fragen auf: (I) Ist das ok so? Auf diese Frage sehe ich drei mögliche Antworten: (1) Ja, das ist ok. Die Schriftsprache reicht auch zur mündlichen Verständigung. Der/ die LernerIn muss sehen, wie er/sie damit zurechtkommt. M. E. ist dies eine vertretbare Antwort. Man sollte den Lernern aber dann reinen Wein einschenken und ihnen klar und deutlich sagen, was sie lernen: die Standardschriftsprache als einen – zugegebenermaßen wichtigen – Ausschnitt aus der Vielfalt der Sprache. (2) Ja, das ist ok, aber die LernerInnen sollen auch wissen, dass in der gesprochenen Sprache einiges anders ist. Entscheidet man sich für diese Antwort, so erfordert dies eine klare Konzeption, was man den LernerInnen wann und wie über die Spezifika der gesprochenen Sprache nahebringen will, und eine Entscheidung darüber, ob sie es nur wissen oder auch können sollen. (3) Nein. Die LernerInnen sollen sich nicht nur im Schriftlichen, sondern auch im Mündlichen wie ein Fisch im Wasser in der Fremdsprache bewegen können. Dies ist die natürlichste und sympathischste Antwort, weil sie genau das abdeckt, was man braucht, wenn man sich in einer fremden Sprachgemeinschaft als kommunikativ vollwertige Person bewegen will, aber sie erfordert auch den meisten Aufwand. Es gibt natürlich eingeschränktere Zwecke, zu denen man Fremdsprachen oder Teile von ihnen lernen möchte. Z.B. wenn man sie nur braucht, um wissenschaftliche Texte lesen zu können. Dann ist eine solch weitreichende Antwort nicht erforderlich. Die zweite Frage ist: (II) Wie kommt es zu der Vorstellung, dass das, was wir lernen, die Fremdsprache ist? 1 Im Sinne der Unterscheidung von „konzeptionell“ und „medial“. Vgl. Koch; Oesterreicher (1985; 1994). Gesprochene Sprache – ein sperriger Gegenstand 263 Um hier zu einer Antwort zu kommen, muss man sich die dominante Konzeptualisierung von Sprache vergegenwärtigen. Sprache wird weithin als etwas Homogenes gesehen, dem ein einheitliches Sprachsystem zugrunde liegt. Dieses einheitliche System ist die Grundlage für alle konkreten Sprachproduktionen. Es liegt gesprochener Sprache ebenso zugunde wie geschriebener. Eine Fremdsprache zu lernen heißt, sich dieses einheitliche System für die Fremdsprache anzueignen. Aus der Sicht dieser Konzeptualisierung von Sprache ist nicht Varianz und Vielgestaltigkeit die Grundeigenschaft von Sprache(n), sondern Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit. In der Tendenz führt diese Sichtweise auf der einen Seite dazu, faktische Varianz zu übersehen, zu ignorieren und geringzuschätzen, und auf der anderen Seite, homogene Elemente überzubetonen. Historisch gehen die Wurzeln der Homogenitätsvorstellung von Sprache(n) zurück auf das Aufkommen des Konzepts einheitlicher Nationalsprachen. Auch hier wurde – gegen die Fakten – die Einheitlichkeit der Sprache aus politischen Gründen zunächst postuliert und dann über Standardisierungsprozesse für die Schriftsprache partiell realisiert. In der Sprachwissenschaft fand die Homogenitätsvorstellung ihren prominentesten Niederschlag in der langue-Konzeption von Sprache, wie sie von de Saussure (1967) entwickelt worden ist. Das langue-Konzept hat über lange Zeit verhindert, dass die faktische Vielgestaltigkeit der Sprache mit hinreichender Deutlichkeit wahrgenommen wurde: „Nachdem ein homogener Sprachbegriff in der Linguistik lange dominierte und die Variation aus Gründen der Methode aus der Beschreibung der Sprachsysteme eliminiert wurde, ist die sprachliche Heterogenität nun wiederum als Problem der Sprachwirklichkeit und der adäquaten Sprachbeschreibung besser erkennbar geworden.“ (Lüdtke 1997: 9) Sprache ist nicht homogen, sondern heterogen. Wenn man Sprache als einheitlich verstehen will, muss man entweder ein abstraktes, einheitliches Sprachsystem postulieren oder man muss sich – bewusst oder unter der Hand – auf eine ihrer Varietäten beschränken und sie in den Mittelpunkt stellen. Dies ist eben die Schriftsprache, bei der die Standardisierung am weitesten fortgeschritten ist. Im Folgenden wird dann diese Varietät mit der ‘ganzen’ Sprache identifiziert, für die ‘ganze’ Sprache genommen. Die anderen Erscheinungsformen der Sprache treten in den Hintergrund. Dies ist in den Grundzügen die Marginalisierungsgeschichte der gesprochenen Sprache. 2. Fünf Handicaps der gesprochenen Sprache Zur Marginalisierung der gesprochenen Sprache tragen aber auch Aspekte und Eigenschaften bei, die in ihr selbst liegen. Im Folgenden werde ich fünf Gründe benennen, warum die gesprochene Sprache in dieser Weise im Hintergrund steht und ein sperriger, schwer zu handhabender Gegenstand ist. 2.1 Dominanz der geschriebenen Sprache („written language bias“) Auch wenn die Begriffe ‛gesprochene Sprache und ‛geschriebene Sprache häufig als Paar auftreten und so als Untersuchungsgegenstände gleichen Rangs erscheinen, ist 264 Reinhard Fiehler doch der erkenntnismäßige Zugang zu ihnen nicht gleichartig. Es führt kein direkter Weg zur gesprochenen Sprache, sondern ihre Erkenntnis erfolgt in weiten Bereichen vermittelt über das, was wir von geschriebener Sprache wissen. Unter den Bedingungen einer entwickelten Schriftlichkeit ist das gesellschaftliche Sprachbewusstsein schriftsprachlich dominiert. Unsere Vorstellungen darüber, was Sprache ist, leiten sich primär aus dem Umgang mit und der Reflexion von geschriebener Sprache her. Die Gründe, warum die geschriebene und nicht die gesprochene Sprache das Sprachbewusstsein prägt, sind vielfältig. Ich will nur vier kurz ins Gedächtnis rufen: - Die Schwierigkeiten der Textproduktion richten das Bewusstsein stark auf die Strukturen und Eigenschaften der geschriebenen Sprache. Die Leichtigkeit und der automatische Charakter des Sprechens hingegen bewirken, dass gesprochene Sprache nicht in gleicher Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit und des Sprachbewusstseins rückt. - Die ‘Anschaulichkeit und die Dauerhaftigkeit von Texten – im Gegensatz zur Auditivität und Flüchtigkeit der gesprochenen Sprache – begründen ihre objektmäßige Präsenz und haben seit jeher die Reflexion schriftlicher Texte systematisch begünstigt. - Zentrale grammatische Kategorien manifestieren sich in der Form der Schriftlichkeit. Sie sind dort ver gegenständlicht und jeder Blick auf einen Text führt sie vor Augen. So wird das ‘Wort (was schriftsprachgeschichtlich keineswegs immer so war) durch die Spatien sichtbar, der ‘Satz durch die Großschreibung am Anfang und den abschließenden Punkt, der ‘Nebensatz durch das Komma, das ‘Hauptwort durch seine Großschreibung (zumindest in der deutschen Schriftsprache) etc. Diese Kategorien werden im Entwicklungsprozess der Schriftsprache als (sich verändernde) Form der Schriftlichkeit ausgearbeitet und als Formelemente festgeschrieben. Einmal entwickelt, ist die Aktivierung und Anwendung dieser Kategorien Voraussetzung jeder korrekten Textproduktion. Nicht zuletzt auch dieses Faktum macht deutlich, wie permanent und intensiv sie prägenden Charakter für das Sprachbewusstsein haben. - Geschriebene Sprache wird gesellschaftlich als wichtiger angesehen und höher bewertet als gesprochene. Entsprechend groß ist der Aufwand, der für den Schriftspracherwerb und die Schulung der Schreibfähigkeiten getrieben wird. So besitzt in der schulischen Sozialisation die Schriftsprache eindeutig das Primat. Schriftspracherwerb und das Erstellen aller Formen schriftlicher Texte haben dort ein deutliches Übergewicht gegenüber der Schulung mündlicher Sprechfähigkeit. Dies und weiteres tragen dazu bei, dass das Bild von Sprache durch die Schriftsprache bestimmt wird. Die geschriebene Sprache prägt aber nicht nur das gesellschaftliche Sprachbewusstsein, sondern gleichermaßen auch die Sprachwissenschaft als den Ort der systematischen Reflexion von Sprache. Das „written language bias“ (Linell 1982) betrifft dort einerseits den Untersuchungsgegenstand und andererseits die Kategorien zur Analyse und Beschreibung von Sprache (s. Abschnitt 2.3). Die Folgen hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes der Sprachwissenschaft beschreibt Ludwig sehr deutlich: Gesprochene Sprache – ein sperriger Gegenstand 265 „Die mangelnde Beachtung der Verschiedenartigkeit von GSCHS und GSPS in der sprachtheoretischen Erörterung indes war in der sprachwissenschaftlichen Praxis Voraussetzung für eine naive Gleichsetzung der Sprache schlechthin mit der GSCHS. Wie selbstverständlich wurden Sprachuntersuchungen auf der Grundlage ausschließlich von geschriebenen Äußerungen (Texten) vorgenommen, zumal die Dokumentation mündlicher Rede damals technisch kaum möglich war. Letztlich sind Sprachuntersuchungen aus dieser Zeit Untersuchungen von GSCHS.“ (Ludwig 1980: 324) 2.2 Kenntnisstand über die Besonderheiten gesprochener Sprache Der Kenntnisstand über Besonderheiten der gesprochenen Sprache entspricht in keiner Weise dem, was wir über die geschriebene Sprache wissen. Dieser Befund ist letztlich nicht verwunderlich, hat doch die Erforschung der gesprochenen Sprache – verglichen mit der an der Schriftlichkeit orientierten Grammatikschreibung – eine vergleichsweise kurze Tradition, die kaum älter als 100 Jahre ist und als deren Startpunkt man Behaghel (1899) ansehen kann. Entsprechend hat die Beschreibung der gesprochenen Sprache und ihrer Grammatik noch keine kanonischen Standards entwickelt, sondern die Ausarbeitung von Beschreibungskonzepten und -kategorien ist in einer ständigen Entwicklung begriffen. Gleichwohl ist es sinnvoll, damit zu beginnen, die Erkenntnisse über Regularitäten der gesprochenen Sprache zusammenzutragen und zu systematisieren. Dies kann zum einen dazu beitragen, der Vorstellung, gesprochene Sprache sei fehlerhaft, ungeregelt oder zumindest weniger geregelt als die geschriebene, den Boden zu entziehen, zum anderen hilft es, zu erkennen, wo Leerstellen sind und Forschungsbedarf besteht. 2.3 Gegenstandsangemessene Analyse- und Beschreibungskategorien für gesprochene Sprache Die überwiegende Zahl der linguistischen Kategorien wurde in der und für die Analyse geschriebener Texte entwickelt und dann in Grammatiken zu einem relativ festen Satz von Analyse- und Beschreibungskategorien kanonisiert. Beispiele für solche Kategorien sind ‘Satz, ‘Wort, ‘Anakoluth, ‘Ellipse etc. Diese grammatischen Beschreibungskategorien sind – wie alle Kategorien – funktional ihrem Gegenstand angepasst, und das heißt der Analyse und Beschreibung von geschriebener Sprache. Diese schriftsprachlich orientierten Analyse- und Beschreibungskategorien sind zudem das einzige voll entwickelte Kategoriensystem. Ein Kategoriensystem, das in ähnlicher Weise funktional auf die gesprochene Sprache zugeschnitten wäre, existiert im Moment nur in Ansätzen. Die Entwicklung gegenstandsangemessener Analyse- und Beschreibungskategorien für mündliche Kommunikation verlief dort relativ unproblematisch, wo es um Phänomene geht, die keine unmittelbare Entsprechung im schriftlichen Bereich haben. In dem Maße, wie authentische gesprochensprachliche Daten zur Verfügung standen, setzte zunächst im Rahmen der Pragmatik und dann in den verschiedenen Varianten der Gesprächsforschung der Prozess der Kategorienentwicklung ein, um die Andersartigkeit dieses Materials zu erfassen. So waren es vor allem Phänomene der Interaktivität, für die Kategorien entwickelt wurden. In den Blick genommen wurden zunächst die 266 Reinhard Fiehler Gesprächsorganisation (turn-taking) und verschiedene Aspekte der Äußerungsorganisation (Gliederungssignale, Höreräußerungen, Reparaturen), in der Folge dann kommunikative Verfahren (Präferenzorganisation) und Strukturen von Gesprächen (Muster, Handlungsschemata) sowie spezifische Aufgabenkonturen einzelner Gesprächstypen (Erzählungen, Beratungen etc.). Als Resultat dieser Entwicklungen hat sich die Gesprächsforschung als Disziplin mit einem eigenständigen Gegenstandsbereich und einer spezifischen Methodologie etabliert. Ganz anders steht es um die Kategorienentwicklung im grammatischen Bereich. Da hier ein entwickeltes Kategorieninventar aus dem Bereich des Schriftlichen zur Verfügung steht, wurden diese Kategorien zunächst für die Beschreibung des Mündlichen übernommen und, wenn ihre Übertragung Probleme bereitete, gegebenenfalls adaptiert. Exemplarisch lässt sich dies an der Frage nach den grundlegenden Einheiten des Mündlichen verfolgen. Hier wurde zunächst versucht, eine der zentralen Einheiten des Schriftlichen – den Satz – auf das Mündliche zu übertragen. In dem Maße, wie dies Schwierigkeiten bereitete, wurde die Kategorie ‘Satz’ entsprechend modifiziert bzw. es wurden andere Kategorien (Äußerungseinheit, turn, sprachliche Handlung, Äußerung, intonation unit etc.) ins Spiel gebracht (vgl. hierzu Fiehler; Barden; Elstermann; Kraft 2004: Abschnitt II.2). So sind das schriftsprachlich dominierte Sprachbewusstsein und die für die Schriftsprache entwickelten Analysekategorien in diesem Bereich zwangsläufig die Grundlage für das Verständnis und die Erkenntnis von gesprochener Sprache: Gesprochene Sprache wird durch die Brille der geschriebenen wahrgenommen, sie ist das Modell für das Verständnis von Mündlichkeit. Im Folgenden soll die Problematik schriftsprachlich orientierter Beschreibungskategorien exemplarisch verdeutlicht werden. Die Kategorie ‘Herausstellung‘ wird daraufhin überprüft, ob sie das betreffende Phänomen der gesprochenen Sprache angemessen erfasst. Im Anschluss wird dann der Versuch einer Rekonstruktion unternommen. Seit Altmanns Arbeit „Formen der ‘Herausstellung im Deutschen“ (1981) haben diese Strukturen gerade bei der Analyse mündlicher Kommunikation eine erhebliche Beachtung gefunden. „Herausstellungstrukturen sind Ausdrücke, die formal-syntaktisch keine vollständigen Sätze sind [...], die aber zum Teil durchaus satzwertige, wenn auch stark elliptische Strukturen darstellen. Zur Auffüllung der Ellipsen sind die zugeordneten Sätze notwendig. Ebenso wird den Herausstellungsstrukturen erst durch diesen zugeordneten Satz die semanto-pragmatische Funktion zugewiesen.“ (Altmann 1981: 46) Herausstellungsstrukturen sind dadurch auffällig, dass sie die Wohlgeformtheitsbedingungen des schriftsprachlichen Satzes nicht erfüllen, sondern gerade in spezifischer Weise von ihnen abweichen. Diese grundlegende Orientierung am wohlgeformten Satz, der implizit als Vergleichsgegenstand benutzt wird, ist für die Kategorienbildung konstitutiv. Sie kommt auch darin zum Ausdruck, dass in der oben stehenden Bestimmung zunächst die Frage thematisiert wird, inwieweit die herausgestellten Ausdrücke satzwertig sind. Die Kategorie ‘Herausstellung’ erfasst also eine Abweichung – vom Gesprochene Sprache – ein sperriger Gegenstand 267 wohlgeformten schriftlichen Satz. Diese Abweichungen werden nun aber nicht – was konsequent wäre – als Fehler (ungrammatischer Satz) gewertet, sondern wegen ihres häufigen Auftretens in der gesprochenen Sprache als eigenständige und – in Hinblick auf diesen Bereich – wohlgeformte Struktur etabliert. Die Grundidee der Kategorie ‘Herausstellung besteht darin, die Genese dieser Strukturen dadurch zu erklären, dass Elemente, die keine vollständigen Sätze sind, aus zugrunde liegenden wohlgeformten Sätzen herausgenommen und vor oder nach dem Bezugssatz positioniert werden. Dies ergibt die sogenannten ‘Links- bzw. ‘Rechtsversetzungen‘. In der Beispielsäußerung un * die lehrer die 'saßen da alle auch * um so größere 'tische herum (Selting 1993: 295) wäre demnach das Elemente die lehrer nach links versetzt. Auf dieses herausgestellte Element wird dann aus dem Restsatz heraus mit dem deiktischen Element die Bezug genommen. Die Genese dieser Strukturen wird also als Manipulation an einem räumlich gegenwärtigen, vor Augen stehenden wohlgeformten schriftsprachlichen Satz konzeptualisiert. Hierin ebenso wie in den Kategoriennamen ist die schriftsprachliche Orientierung – bei der Erfassung eines primär gesprochensprachlichen grammatischen Phänomens! – mit Händen zu greifen. Man möchte diese Strukturen nach dem Bild des schriftlichen Satzes verstehen, dies gelingt aber – wie die oben zitierte Beschreibung der Struktur belegt – nur um den Preis eines Rekurses auf Elliptizität. Ferner implizieren diese Kategorien eine strukturelle Äquivalenz der Herausstellungen: Von der Struktur her scheint es keinen prinzipiellen Unterschied zu machen, ob nach links oder rechts herausgestellt wird. Fasst man diese Beobachtungen zusammen, so erweisen sich die Kategorien ‘Herausstellung und ‘Links- bzw. ‘Rechtsversetzung als strukturell, nicht funktional begründet und als produkt- und nicht prozessorientiert. Ihre schriftsprachliche Orientierung zeigt sich sowohl in den Kategoriennamen wie auch darin, dass für sie das Konzept des wohlgeformten Satzes grundlegend ist. Letztlich ist die Kategorienbildung ‘Herausstellung Resultat einer impliziten und nicht reflektierten Fixiertheit auf die Normalform des schriftlichen Satzes. Sie belegt eindrucksvoll die Dominanz der schriftsprachlichen Orientierung bei der sprachwissenschaftlichen Kategorienbildung. Die betrachteten Phänomene erscheinen in einem ganz anderen Licht, wenn man davon ausgeht, dass Sprechen ein prozesshaftes Handeln ist. Die erste Konsequenz einer solchen Sichtweise ist, dass diese Strukturen nicht als räumliche Gebilde verstanden werden dürfen, sondern in ihrer zeitlichen Abfolge, ihrem Nacheinander betrachtet werden müssen. Der Prozesscharakter des Sprechens erfordert dies.2 Ferner ist danach zu fragen, was die einzelnen Bestandteile dieser Strukturen leisten, was Sprecher und Hörer mit ihnen 2 „Die Bewegungs-Analyse verkennt also nicht nur die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Typen von „Herausstellung“ (was durch die parallelisierende Terminologie – Rechts/Linksversetzung, etc. – noch unterstützt wird), sie ist grundsätzlich nicht in der Lage, die Produktion und Rezeption einschlägiger Phänomene unter Berücksichtigung der Zeitlichkeit von Sprache zu erfassen.“ (Auer 1991: 140) 268 Reinhard Fiehler tun. Dies ermöglicht eine funktionale und handlungsbezogene Interpretation. Betrachten wir den Fall von ‘Linksversetzung und ‘freiem Thema, so leistet das zuerst produzierte Element (die lehrer) eine Referenz bzw. eine Thematisierung: Der Sprecher identifiziert etwas bzw. führt ein Thema ein.3 Mit dem folgenden Element wird dann etwas über das Referenzobjekt oder das Thema ausgesagt (die 'saßen da alle auch * um so größere 'tische herum). Dabei kann, muss aber nicht durch ein deiktisches Element (die) noch einmal auf den Referenz- bzw. Thematisierungsausdruck Bezug genommen werden. Die Trennung von Referenz bzw. Thematisierung und Aussage ist dabei umso wahrscheinlicher, je komplexer und schwieriger die Referenz ist.4 Auch im klassischen Satz geschieht nichts anderes: Er leistet eine Referenz und über das Referenzobjekt wird dann etwas ausgesagt. ‘Linksversetzung und ‘freies Thema unterscheiden sich von klassischen Satz nur dadurch, dass Referenz- bzw. Thematisierungsakt und Aussage deutlicher als eigenständige Handlungen voneinander abgesetzt sind und als separiert markiert werden. Die kommunikativ zu leistenden Aufgaben werden getrennt und sind damit für den Hörer leichter unterscheid- und nachvollziehbar. Im Satz sind sie stärker integriert und weniger als eigenständige Handlungen erkennbar. Als Resultat einer solchen Reinterpretation scheint es sinnvoll, die betreffenden Phänomene auch begrifflich anders zu fassen, d.h. einen anderen Kategoriennamen einzuführen. Denn es wird hier ersichtlich nichts ‘herausgestellt oder ‘versetzt, sondern es werden lediglich zwei Handlungen deutlicher voneinander abgesetzt, als es im klassischen Satz der Fall ist. Eine mögliche Bezeichnung wäre ‘Referenz-Aussage-Strukturen bzw. ‘Thematisierung-Aussage-Strukturen. Eine weitere Konsequenz der Reinterpretation ist die Einsicht, dass ‘Linksversetzung und ‘Rechtsversetzung nicht einfach richtungsmäßig unterschiedliche, aber ansonsten äquivalente Operationen sind, sondern dass sie jeweils ganz andere Funktionszusammenhänge betreffen. Während ‘Linksversetzungen – wie dargestellt – auf einer Separierung von Referenzakt und Aussage beruhen, sind ‘Rechtsversetzungen (Ausklammerungen, Nachträge, Reparaturen, appositive und konjunktionale Weiterführungen etc.) – wie Auer (1991) ausführlich darlegt – im Kontext der Expansion von Beiträgen und der Turnorganisation zu verstehen. Die räumlich-strukturelle Betrachtungsweise führt so zu einer Zusammenführung von Phänomenen, die funktional nichts miteinander zu tun haben. 3 4 Auch Altmann (1981: 48 und 50) benennt die Funktion von Linksversetzungen und Freien Themen als Thematisierung, ohne allerdings daraus weiterreichende Konsequenzen zu ziehen. Scheutz (1997: 44-46) charakterisiert Linksversetzungen als „Mittel der Referenzkonstitution“: „Der weitaus größte Teil der Bearbeitung potentieller Verständigungsprobleme gilt jedoch der interaktiven Herstellung und Sicherung von Referenz.“ (46) Scheutz (1997: 29) gibt Beispiele, die die häufig auftretenden Schwierigkeiten bei der Referenz sehr schön verdeutlichen: z.B. aber der der doktor 'wolf oder wie der 'heisst der 'alte↓ * das muss 'auch a ganz a 'prima 'kerl sein. Gesprochene Sprache – ein sperriger Gegenstand 269 2.4 Bewertung gesprochensprachlicher Phänomene Gesprochene Sprache ist ein Oppositionsbegriff. Er setzt als Kontrast das Konzept der geschriebenen Sprache voraus. Die Beschreibung gesprochener Sprache impliziert so den Vergleich mit geschriebener. Viele Eigenschaften gesprochener Sprache lassen sich nur in ihrer Differenz zu den Verhältnissen im Bereich der geschriebenen Sprache erfassen. Das „written language bias“ führt dabei zu einem Denken und Vergleichen aus der Perspektive der geschriebenen Sprache. Die Verhältnisse in der geschriebenen Sprache werden als der Normalfall angesehen und demgegenüber Abweichungen in der gesprochenen Sprache konstatiert. Die Übertragung der Kategorien auf die gesprochene Sprache führt aber auch zu der Erfahrung, dass sie Mündlichkeit nicht voll erfassen. Diese Differenzen, die sich aus dem Eigencharakter des Mündlichen ergeben und die Spezifika der gesprochenen Sprache betreffen, werden dann aber zunächst nicht mit gegenstandsangemessenen Kategorien belegt, sondern als Abweichungen von den in der geschriebenen Sprache vorgefundenen Verhältnissen beschrieben und kategorial gefasst: z.B. Elision, Verschleifung, Ellipse, größere Häufigkeit von Anakoluthen in der gesprochenen Sprache etc. Dar über hinaus werden diese Abweichungen häufig nicht nur konstatiert, sondern zugleich implizit oder explizit negativ bewertet. Die Wahrnehmung dieser Abweichungen führt so einerseits zu Auffassungen, dass gesprochene Sprache fehlerhaft, weniger regelhaft oder chaotisch sei: „Die geschriebene Sprache tritt als Zensor der mündlichen auf und erteilt ihr das Verdikt, sie sei unrein, unzureichend, negativ zu bewerten.“ (Ehlich 1986: 77-78) Andererseits kann sie zu der Auffassung führen, dass Mündlichkeit an das Modell der Schriftlichkeit angepasst werden muss. Seinen prominentesten Ausdruck findet dieses Programm in der (pädagogischen) Maxime ‘Sprich im ganzen Satz’ oder in der Wertschätzung des Wie-gedruckt-Redens. 2.5 Methodik der Erhebung und Bearbeitung gesprochensprachlicher Materialien Anders als die geschriebene Sprache ist die gesprochene ein flüchtiger Gegenstand, was seine Untersuchbarkeit einschränkt und seine Untersuchung in besonderer Weise schwierig gestaltet: Entweder ist man auf die Erinnerung angewiesen, oder aber es bedarf technischer Möglichkeiten der Konservierung von Äußerungen und Gesprächen. Die Entwicklung und Verbreitung entsprechender technischer Geräte zur Konservierung und Reproduktion von Gesprächen und Interaktionen (Plattenspieler, Tonbandgeräte, Kassettenrekorder, Videokameras) ist so eine wesentliche Voraussetzung für eine detaillierte wissenschaftliche Untersuchung von mündlicher Kommunikation. Setzt man eine bestimmte Ausgereiftheit und Verbreitung solcher Geräte voraus, kann man sagen, dass sie erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben ist. Eine zweite wesentliche Voraussetzung ist die Entwicklung von Verfahren zur Verschriftlichung (Transkription) konservierter Gespräche. Transkriptionen ermöglichen 270 Reinhard Fiehler eine Vergegenwärtigung und ‘Betrachtung der Äußerungen und Gespräche, wie sie allein durch das Abhören der Aufzeichnung nicht zu erreichen ist. Die Entwicklung solcher Transkriptionssysteme für sprachwissenschaftliche Zwecke (vgl. für einen Überblick über die frühe Phase der Entwicklung gesprächsanalytischer Transkriptionssysteme Ehlich; Switalla 1976) erfolgte Hand in Hand mit dem Einsatz der genannten Geräte. Erst durch das Zusammenspiel von reproduzierbaren Aufnahmen und Transkriptionen wird gesprochene Sprache in einem hinreichenden Detaillierungsgrad untersuchbar und erst von diesem Zeitpunkt an kann sie überhaupt zu einem ernsthaften und gleichwertigen Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft werden. 3. Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache Wie klein oder groß sind nun die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache? Nach dem Gesagten überrascht es nicht, dass es hier zwei sehr gegensätzliche Positionen gibt. Auf der einen Seite steht die langue-Position: Für sie beruhen sowohl gesprochene wie auch geschriebene Sprache auf dem gleichen Sprachsystem. Beide verfügen – cum grano salis – über die gleichen Wörter und die gleichen Verkettungsregeln. Die Unterschiede sind entsprechend marginal. Diese Position findet sich häufig in der linguistischen Literatur. Nur zwei Zitate als Beleg: „Als Fazit bleibt für mich deshalb: Eigene Sprachvarietäten: „gesprochene Sprache“ vs. „geschriebene Sprache“ gibt es nicht, wenn man als Kriterium, wie bei den anderen Varietäten den langue-Begriff benutzt und nach jeweils eigenen, nicht im anderen Medium zulässigen Strukturmitteln und Relationen fragt.“ (Steger 1987: 57) „Insbesondere syntaktische Strukturen sind offensichtlich unabhängig von den spezifischen Eigenschaften der lautlichen oder graphischen Realisierung. Es scheint keine Beispiele dafür zu geben, dass eine syntaktische Konstruktion in der geschriebenen Sprache korrekt, in der gesprochenen dagegen inkorrekt ist oder umgekehrt, d.h., in dieser Hinsicht gilt eine einheitliche hochsprachliche Norm.“ (Motsch 1992: 246) Eine Auswirkung dieser Position ist ferner, dass man Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, weil man von ihrer Gleichförmigkeit ausgeht, nur schwer wahrnehmen kann. Den anderen Pol nimmt die Differenz-Position ein: Sie sieht Schreiben und Sprechen als sehr unterschiedliche Tätigkeiten. Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind danach Verständigungssysteme eigenen Rechts, die auf weitgehend anderen Regeln beruhen. Beide Positionen haben auf ihre Weise recht. Möglich ist dies aber nur, weil sie auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen. Betrachtet man die Regelmengen, die jeweils notwendig sind, um einerseits einen schriftlichen Text und andererseits einen Gesprächsbeitrag bzw. ein Gespräch zu produzieren, so zeigt sich, dass sie einen gemeinsamen Durchschnitt haben (s. Abb. 1). Gesprochene Sprache – ein sperriger Gegenstand 271 Abb. 1: Regelmengen zur Produktion eines schriftlichen Textes bzw. eines Redebeitrags/Gesprächs Dabei handelt es sich um die Bedeutungsregeln (Bedeutungskonventionen) und die Regeln der Linearisierung und Verknüpfung (Syntaxregeln). Um einen konkreten schriftlichen Text zu verfassen, bedarf es jedoch noch anderer Regelmengen, von denen einige in der Abbildung benannt sind (Regeln der Dekontextualisierung, Regeln der Portionierung (‘Satzform), Regeln der Textorganisation, Regeln der Schreibung (Orthographie, Interpunktion). Das Gleiche gilt auf der anderen Seite für die Produktion eines Gesprächsbeitrags bzw. Gesprächs (Regeln der Situationsbezugnahme und Kontextualisierung, Regeln der Portionierung (‘Beitragsform), Regeln der Äußerungs- und Gesprächsorganisation, Regeln der Prosodie, Regeln der nonverbalen Kommunikation). Die langue-Position betrachtet aus diesem Gesamt nur den gemeinsamen Durchschnitt der Regelmengen und kommt so zu dem Schluss, dass zwischen gesprochener und geschriebener Sprache hinsichtlich der Bedeutungs- und Linearisierungsregeln kein wesentlicher Unterschied besteht. Die Differenz-Position hingegen fasst die Gesamtheit der jeweils erforderlichen Regelmengen in den Blick und kommt so zu der Auffassung, dass zwischen gesprochener und geschriebener Sprache erhebliche Unterschiede bestehen. Diese Unterschiede zeigen sich auch, wenn man die jeweiligen grundlegenden Einheiten von gesprochener und geschriebener Sprache betrachtet: Die grundlegenden Einheiten der geschriebenen Sprache sind der Buchstabe, das Wort, der Satz und der Text. Dem stehen in der gesprochenen Sprache der Laut, das Wort, die funktionale Einheit, 272 Reinhard Fiehler der Gesprächsbeitrag und das Gespräch gegenüber (vgl. Duden. Die Grammatik. 7. Aufl.: 1175f. und Fiehler 2006). Es ist hier nicht der Ort, um die Spezifika gesprochener Sprache im Detail aufzuführen. Es soll nur festgestellt werden, dass mündliche Verständigung sich – anders als die Schriftsprache – nicht nur auf verbalsprachliche Kommunikation beschränkt, sondern im Fall der Verständigung von Angesicht zu Angesicht eine sich wechselseitig stützende Einheit aus körperlicher (nonverbaler) Kommunikation, wahrnehmungs- und inferenzgestützter Kommunikation und verbaler Kommunikation darstellt (für Näheres vgl. Duden. Die Grammatik. 7. Aufl.: 1200-1207). Im Bereich der verbalen Kommunikation lassen sich dann lautliche, syntaktische und lexikalische Besonderheiten benennen (vgl. Duden. Die Grammatik. 7. Aufl.: 1208-1228). Entgegen der oben zitierten Aussage von Motsch (1992: 246) lassen sich beispielsweise für den syntaktischen Bereich folgende Spezifika benennen, die entweder ausschließlich, häufiger oder mit anderer Funktion in der gesprochenen Sprache vorkommen (vgl. Duden. Die Grammatik. 7. Aufl.: 1210-1224): - Referenz-Aussage-Strukturen (un * die lehrer die 'saßen da alle auch * um so größere 'tische herum) - Apokoinukonstruktionen (des is was furchtbares is des) - Operator-Skopus-Strukturen (kurz und gut- wir können uns das * 'abenteuer nicht leisten) - Abhängige Verbzweitkonstruktionen (ich weiß du kannst das) - Ursprüngliche Subjunktionen (weil, obwohl, wobei, während) mit Verbzweitstellung (modorenlärm den kann ich schon nicht mehr höre weil ich woar 'zwanzich joahr eisenbiejer und hob an der eisenbiejemaschin geschafft>s=war ä bissl eng↓< * obwohl * im kaisersaal * war=s 'noch enger und so hihi schlagermusik und=so↓ ** wobei s- so so manche schlager * die find ich zum teil gar nich so übel weil des grundstück hundertprozentig der stadt gehören würde da würd s gar keine schwierigkeiten geben während hier müssen die grundstücke weiß net wieviel grundstückseigentümer s sind erst eben erworben werden) - Verberststellung (gibt halt überall solche und solche) - Expansionen (wie 'weit ist das entfernt * von port 'dixon) Gesprochene Sprache – ein sperriger Gegenstand 273 - Dativ-Possessiv-Konstruktionen (dem otto seine operation hat nichts geholfen) Diese Liste, die sich durchaus verlängern ließe, zeigt, dass auch im „Kernbereich“ Syntax bemerkenswerte Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache bestehen. 4. Konsequenzen für Fremdsprachen-/DaF-Unterricht Ich möchte abschließend dafür plädieren, sich die Andersartigkeit der gesprochenen Sprache bewusst zu machen und sich den Schwierigkeiten zu stellen, die sie bei ihrer systematischen Berücksichtigung im Fremdsprachen- und DaF-unterricht bereitet. Denn gesprochene Sprache ist m.E. ein unverzichtbarer Bestandteil der Kompetenz in der Fremdsprache. Eine andere Frage, die gesondert diskutiert werden muss, ist: Was soll wie detailliert und wann gelehrt werden? Vieles von dem, was kognitiv über die Besonderheiten der gesprochenen Sprache vermittelt wird, kann und muss nicht als praktische Fertigkeiten gelehrt werden: - Kann nicht, weil die Phänomene nicht bewusst kontrollierbar sind (z. B. Synchronisation von verbalen Äußerungen und Gesten). - Muss nicht, weil die Phänomene sprach-/kulturübergreifend gleich sind (z. B. Retraktion bei Reparaturen). Vieles kann systematisch gelehrt werden: - Welche Rezeptionspartikeln gibt es im Deutschen und wie werden sie gebraucht (verschiedene Formen von hm und ja)? - Wann sind „Verschleifungen“ möglich bzw. üblich? - Welche spezifisch mündlichen syntaktischen Konstruktionen sind möglich bzw. üblich? - Mit welchen Mitteln mache ich auf freundliche Art deutlich, dass ich das Rederecht behalten will? - etc. etc. Transkriptionszeichen * ** = ↓ ' >vielleicht< kurze Pause (bis max. 0,5 Sekunden) etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute fallende Intonation schwebende Betonung auffällige Betonung leiser (relativ zum Kontext) Literatur Altmann, Hans (1981): Formen der „Herausstellung“ im Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Auer, Peter (1991): Vom Ende deutscher Sätze. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 19, 139-157. Behaghel, Otto (1899): Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch. In: Behaghel, Otto (1967): Von deutscher Sprache. Aufsätze, Vorträge und Plaudereien. Wiesbaden: Sändig, 11-34. 274 Reinhard Fiehler Duden. Die Grammatik. 7. Auflage. Mannheim: Dudenverlag. Ehlich, Konrad (1986): Der Normverstoß im Regelwerk. Über den Solözismus. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 62, 74-91. Ehlich, Konrad; Switalla, Bernd (1976): Transkriptionssysteme – Eine exemplarische Übersicht. In: Studium Linguistik 2/1976, 78-105. Fiehler, Reinhard (2005): Gesprochene Sprache. In: Duden. Die Grammatik. 7. Auflage. Mannheim: Dudenverlag, 1175-1256. Fiehler, Reinhard (2006): Was gehört in eine Grammatik gesprochener Sprache? Erfahrungen beim Schreiben eines Kapitels der neuen DUDEN-Grammatik. In: Deppermann, Arnulf; Fiehler, Reinhard; Spranz-Fogasy, Thomas (Hrsg.): Grammatik und Interaktion. Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen grammatischen Strukturen und Interaktionsprozessen. Radolfzell: Verlag für Gesprächsforschung, 21-41. (= http://www. verlag-gespraechsforschung.de/2006/pdf/grammatik.pdf) Fiehler, Reinhard; Barden, Birgit; Elstermann, Mechthild; Kraft, Barbara (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Sprache 30) Koch, Peter; Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43. Koch, Peter; Oesterreicher, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Schrift. In: Günther, Hartmut; Ludwig, Otto (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbband. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 10.1). Berlin; New York: de Gruyter, 587-604. Linell, Per (1982): The written language bias in linguistics. Linköping: University of Linköping. (= Studies in Communication 2). Ludwig, Otto (1980): Geschriebene Sprache. In: Althaus, Hans Peter u.a. (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. 2. Auflage. Tübingen: Niemeyer, 323-328. Lüdtke, Jens (1997): Konzeption für einen Sonderforschungsbereich „Sprachvariation. Struktur, Dynamik, Funktion, Dokumentation“. Manuskript: Heidelberg. Motsch, Wolfgang (1992): Ist die Sprechakttheorie eine Theorie der gesprochenen Sprache? In: Kohrt, Manfred; Wrobel, Arne (Hrsg.): Schreibprozesse – Schreibprodukte. Festschrift für Gisbert Keseling. Hildesheim;Zürich; New York: Olms, 243-253. de Saussure, Ferdinand (1967): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. Auflage. Berlin: de Gruyter. Scheutz, Hannes (1997): Satzinitiale Voranstellungen im gesprochenen Deutsch als Mittel der Themensteuerung und Referenzkonstitution. In: Schlobinski, Peter (Hrsg.): Syntax des gesprochenen Deutsch. Opladen: Westdeutscher Verlag, 27-54. Selting, Margret (1993): Voranstellungen vor den Satz. Zur grammatischen Form und interaktiven Funktion von Linksversetzung und Freiem Thema im Deutschen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 21, 291-319. Steger, Hugo (1987): Bilden „gesprochene Sprache“ und „geschriebene Sprache“ eigene Sprachvarietäten? In: Aust, Hugo (Hrsg.): Wörter: Schätze, Fugen und Fächer des Wissens. Festgabe für Theodor Lewandowski zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 35-58. (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 316). Sprache kommt von Sprechen 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 275-292. Klaus Vorderwülbecke (Schwetzingen) Sprache kommt von Sprechen – Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht Gliederung 1. Gesprochene Sprache in neueren DaF-Lehrwerken 2. Gesprochene Sprache in Lernzielbestimmungen (Zertifikat Deutsch, Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen) 3. Gesprochene Sprache in DaF-Didaktiken und DaF-Grammatiken 4. Ergebnisse einer Umfrage 5. Was tun? 6. Fazit 1. Gesprochene Sprache in neueren DaF-Lehrwerken Bei dem Thema Gesprochene Sprache1 (GS) im Unterricht wird es vor allem um Lehrwerke gehen und da wiederum besonders um die Dialoge. Ich habe achtzehn DaF-Lehrwerke (siehe Literaturverzeichnis) aus den letzten fünfzehn Jahren durchgesehen mit Schwerpunkt auf den abgedruckten Dialogen. Die Hörtexte habe ich nicht untersucht, weil es mir hauptsächlich darum ging herauszufinden, wie die GS in den Lehrwerken repräsentiert und bearbeitet wird. Es handelt sich überwiegend um Grundstufen-, aber auch um einige Mittelstufenlehrwerke. Ich habe an die Lehrwerke fünf Fragen gestellt. 1 Ich werde im Folgenden gesprochene Sprache (GS) synonym zu Mündlichkeit und Umgangssprache verwenden und auch nicht weiter zwischen GS-Forschung, Konversationsanalyse und Gesprächsforschung unterscheiden. 276 Klaus Vorderwülbecke Frage 1: Welche spezifischen Erscheinungen der gesprochenen Sprache tauchen in den Lehrwerken auf ? Susanne Günthner (2000) hat in einem Aufsatz ebenfalls einige Lehrwerke untersucht. Ihre Ergebnisse habe ich auch in den danach erschienenen Lehrwerken großenteils bestätigt gefunden. Wenn man die Vorkommen der GS-typischen Erscheinungen einfach addiert, kommt eine ziemlich lange Liste zustande: • Modalpartikeln (etwa denn, ruhig) • Gesprächspartikeln (hallo, he; nun, gut, weißt du; jaja, genau, okay;… nicht?; pst; klasse) • Interjektionen (ach, hm) • Elliptische Sätze (Den Hammer! Komm gerade von Kevin. So viele Menschen hier!) • Vokative/pronominale Anreden (Nick, lass das! Du, ist das dein Ernst?) Sehr selten tauchen auf: • Satzabbrüche (er wollte dann … das ging dann aber nicht) • Hörersignale (ah ja, hm, wirklich?) • Ausklammerungen (Ich hab ihn doch gesehen gestern Abend.) • Verbspitzenstellung (Komm gerade aus Köln.) • Linksversetzung (Aber Charlys Schwester, die hat einen Freund, der arbeitet als Redakteur) • Freie Themen (Diese Hausarbeit, mir ist das alles zu viel.) • Vor-Vorfeldbesetzung (Also ganz ehrlich; Das Eintrittsgeld ist zu schade dafür.) • der, die das als Personalpronomen (A: Ist der Nick da? B: Nee, der ist in Köln.) Hätte man Lehrwerke bis ca. 1975 untersucht, wäre die Liste mit Sicherheit viel kürzer geworden. Dieser Unterschied zeigt schon rein quantitativ, dass die Lehrwerkdialoge im Laufe der Jahre besser, d.h. natürlicher geworden sind. Weil auch Mittelstufenlehrwerke enthalten sind, ist die Liste länger als sie bei Grundstufenlehrwerken wäre. Nicht nur deshalb ergibt diese quantitative Auflistung ein falsches Bild. Denn es gibt auch neuere Grundstufen-Lehrwerke, in denen vor allem in den ersten Bänden bis auf Modalpartikeln und Interjektionen kaum weitere Spezifika der GS vorkommen. Viel wichtiger als das Vorkommen als solches ist deshalb die folgende Frage: Frage 2: Werden diese Erscheinungen bewusst gemacht oder systematisiert? Diese Frage kann man bis auf Modalpartikeln mit Nein beantworten. Hier liegt also der wesentliche Unterschied zu den Erscheinungen der geschriebenen Sprache (GSCHRS), genauer zu grammatischen Erscheinungen der GSCHRS, die traditionell und heute noch sehr detailliert beschrieben und geübt werden. Frage 3: Welche spezifischen Erscheinungen der GS kommen nicht vor? Ich will nur einige nennen: • Verbzweitstellung bei weil- und obwohl-Sätzen • Abbau von Kasusdifferenzierung/Deklinationsendung (Ich habe mit einem Athlet gesprochen) • Possessivsystem (Jede Klasse hat seinen Lehrer) • Konstruktionsbrüche (und dass da wir im augenblick eine große wandlung sich vollzieht.) Sprache kommt von Sprechen 277 • Satzverschränkungen (Nach Hinterzarten weiß ich nicht ob mans an einem Tag schafft.) • Reparaturen/Wiederholungen • Pausen und gefüllte Pausen (hm, äh, LACHEN) • Überlappungen von Redebeiträgen Warum ist das so? Eine Erklärung dafür ist, dass die Erscheinungen, die der schriftsprachlichen Norm eindeutig entgegenlaufen, vermieden werden. Eine zweite, dass man das gewohnte Schriftbild nicht verletzen möchte. Die Mittel der Gesprächsorganisation (Rederecht beanspruchen/verteidigen/aufgeben/übergeben) tauchen in Grundstufenlehrwerken nicht auf (Ausnahme: Stufen International) Im Kursbuch des Mittelstufen-Lehrwerks Unterwegs findet sich fast eine Seite über Sprecherwechsel, genauer über „Signale für einen Sprecherwechsel“ (97): Wenn der Sprecher z.B. die Stimme senkt, langsamer spricht oder eine Sprechpause macht, kann er damit seine Bereitschaft zur Rede-Übergabe signalisieren. Durch Heben der Stimme mit entsprechendem Blickkontakt oder durch eine direkte Aufforderung kann er einen Sprecherwechsel einleiten. Ein Zuhörer kann durch mehr oder weniger deutliche Signale das Rederecht für sich reklamieren: - nonverbal: hörbar Luft holen, unruhig werden, Handbewegungen usw.; - verbal: Äußerung von Einleitungsfloskeln, Entschuldigungen oder Zwischenrufen: „Dazu möchte ich …“, „Kann ich da vielleicht…“; „Ich würde sagen …“, Verzeihen Sie, Herr Meier, wenn ich …“, „Entschuldigung, darf ich mal …“, „Genau! Das hab ich …“, Das stimmt aber nicht! Das ist …“, Ach nee, da hat aber …“ „Nun muss ich aber mal unterbrechen: …“, Vielleicht darf ich jetzt auch mal was sagen …“ Der Sprecher kann dagegen signalisieren, dass er zur Redeübergabe (noch) nicht bereit ist: - nonverbal: lauter weitersprechen, schneller werden, abwinken usw. - verbal: Moment! …“, „Entschuldigung! …“, Diesen Gedanken noch. …“, „Lassen Sie mich das eben noch zu Ende bringen. …“, „Ich war noch nicht fertig. …“, Lassen Sie mich bitte ausreden. …“, Bitte, unterbrechen Sie mich nicht! …“, „Quatsch doch nicht ständig dazwischen! …“ Dies sind knappe aber sehr hilfreiche Beschreibungen. Natürlich kann man solch detaillierte und sprachlich z.T. schwierige Formulierungen nicht im Kursbuch eines Grundstufenlehrwerks erwarten, aber vielleicht doch in den Lehrerhandbüchern. Frage 4: Wird die phonetische (IPA-)Umschrift eingeführt? Sehr wenige Lehrwerke (drei von 18) führen die IPA-Umschrift ein bzw. verwenden sie, um Laute darzustellen. Ich will das nicht ausführlich kommentieren. Aber m.E. ist die Einführung der IPA-Zeichen relativ wenig aufwändig, und sie erleichtert das Sprechen über Laute bzw. Lautqualität. Ob man sie einführt, hängt natürlich auch von der Kernzielgruppe eines Lehrwerks ab. So ist es verständlich, wenn sie nicht in Lehrwerken für Kinder oder Aussiedler erscheinen. Frage 5: Enthalten die in Lehrwerken abgedruckten Hör- bzw. Dialogtexte spezifische Merkmale des Mündlichen wie Assimilation, Elision oder Reduktion von Lauten? 278 Klaus Vorderwülbecke Ich will zunächst die notwendige Vorfrage beantworten: Enthält das Lehrwerk Phonetikteile oder ein Phonetikprogramm? Praktisch alle neueren Grundstufenlehrwerke enthalten – manchmal allerdings recht bescheidene – Phonetikteile. Oft beschränkt sich das Programm auf die Aussprache der Einzellaute und die drei Tonverläufe im Ausspruch. Selten werden die m.E. sehr wichtigen Themen wie Rhythmusgruppen, Intonationseinheiten/Intonationsphrasen oder Pausen behandelt. Die typischen Erscheinungen von spontaner Sprache wie Assimilation, Elision und Reduktion werden kaum vorgestellt und geübt. (Ausnahmen: Berliner Platz, Dimensionen, Stufen International) Hier und da taucht in den anderen Lehrwerken die Reduktion des Schwa-Lautes in Endsilben auf. Die Mittelstufenlehrwerke haben überraschenderweise kein Phonetikprogramm. Die Lehrwerk-Dialoge sind in den letzten 15 Jahren deutlich besser d.h. natürlicher geworden. Sie versuchen nicht mehr nur den jeweils neuen Grammatikstoff vorzustellen wie früher. Dennoch bleiben sie oft noch relativ steril und musterhaft. Die Korrektheit, die im Grammatikbereich angestrebt wird, überträgt sich immer noch auf die sprachliche Gestaltung der Dialoge, obwohl grammatische Korrektheit in vielen natürlichen spontanen Gesprächen eher die Ausnahme ist. Die Spezifika der Mündlichkeit werden i.d.R. nicht thematisiert und systematisiert, zumindest nicht in den Grundstufenlehrwerken. In den Vorwörtern oder Konzeptionsbeschreibungen wird nur selten beschrieben, welche Sprache man vermitteln will, welche Norm angestrebt wird, bzw. wie man es mit der GS hält. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass es um das Deutsche geht und unausgesprochen um die Standard- bzw. die Hochsprache. Alle beziehen sich auf die vier Fertigkeiten Hörverstehen, Leseverstehen, Sprechen und Schreiben. Das Sprechen (und auch das Hörverstehen) werden m.E. implizit als Beweis dafür genommen, dass die GS behandelt wird. Bei der Fertigkeit Sprechen geht es hauptsächlich um Themen und sprachliche Handlungen, z.B.: „Ich kann über Mode sprechen und meine Meinung begründen“ oder „Ich kann Absprachen zum Essen treffen“ (Optimal B1, L. 2, AB 23 und 83). Die Spezifika von Gesprächen kommen dabei nicht in den Blick, auch wenn sie – wie oben gezeigt – teilweise in den Dialogen vorkommen. Dazu noch ein Beispiel aus einem ganz neuen Lehrwerk (studio d A2, S. 43): Hören Sie den Dialog. Warum ärgert sich der Mann? A: Guten Tag, ich hätte gern einen Kaffee, bitte. B: Kaffee, Cappuccino, Latte Macchiato oder Espresso? A: Hmm, Kaffee, bitte. B: Normal oder koffeinfrei? A: Normal, danke. B: Große Tasse oder kleine Tasse? A: Groß. B: Mit oder ohne Milch? A: Mit Milch und Zucker, bitte. Sprache kommt von Sprechen 279 B: Zucker oder Süßstoff ? A: Nein danke, ich möchte Zucker. B: Möchten Sie gleich zahlen oder erst später? A: Lieber sofort. B: Bar oder mit Karte? A: Sagen Sie, ist das hier ein Café oder eine Quizshow? Von den 15 Redebeiträgen haben nur vier die Form vollständiger Sätze mit finitem Verb. Das ist sehr typisch für spontane GS. Dennoch oder gerade deshalb gibt es keine Verständigungsprobleme und der Dialog klingt ziemlich authentisch. Die große Zahl der Äußerungen ohne finites Verb wird aber nicht thematisiert als ein bedeutender Unterschied zu geschriebenen Texten bzw. als Spezifikum der spontanen GS. Der Dialog firmiert übrigens unter dem Sprechakt „Alternativen ausdrücken“. 2. Gesprochene Sprache in Lernzielbestimmungen (Zertifikat Deutsch, Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen) 2.1 Zertifikat Deutsch (1999) Als Lernziel „mündliche Interaktion“ werden im Zertifikat Deutsch (ZD) Beschreibungen angeführt wie sie auch in den Lernzielbeschreibungen in Lehrwerkkonzeptionen auftauchen. Die Lernenden verfügen über eine Ausdrucks- und Interaktionsfähigkeit, durch die sie im Rahmen der Szenarien und Handlungsfelder ihre Bedürfnisse, Wünsche, Meinungen und Gefühle verständlich sowie sprachlich und kulturell angemessen äußern können …(47) Konkreter in Bezug auf die Charakteristika der GS wird es bei den Beurteilungskriterien (Die relevanten Stellen sind kursiv gedruckt): Kriterium 1: Ausdrucksfähigkeit Bewertet werden inhalts- und rollenspezifische Ausdrucksweise, Wortschatz und Verwirklichung der Sprechabsicht. Kriterium 2: Aufgabenbewältigung Bewertet werden: 1. die Gesprächsbeteiligung 2. die Verwendung von Strategien (Diskursstrategien und, falls erforderlich, Kompensationsstrategien) 3. die Flüssigkeit der Rede Kriterium 3: Formale Richtigkeit Bewertet werden Syntax und Morphologie Kriterium 4: Aussprache und Intonation Zu Krit. 2: Mögliche Diskursstrategien und Diskurselemente werden an anderer Stelle bei den sog. Szenarien (= Sprechakte) sehr detailliert aufgelistet. 280 Klaus Vorderwülbecke Zu Krit. 3: Die formale Richtigkeit orientiert sich offensichtlich ausschließlich an der Schriftsprachengrammatik. Insgesamt enthält das ZD recht explizite und detaillierte Vorgaben zu Spezifika der GS, die aber in neueren Lehrwerken kaum Berücksichtigung finden. 3.2 Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen (2001): Im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER) werden verschiedene Bereiche bzw. Fertigkeiten beschrieben. Hier ein kurzer Blick auf die für unser Thema relevanten Aspekte. Unter „Kommunikative Sprachaktivitäten“ wird besonders auf die Bedeutung der Interaktion abgehoben, z.B. auch darauf, dass mündliche Interaktion manchmal überlappend geschieht, und dass man als Hörer immer Hypothesen über den Fortgang des Gesprächs anstellt. Zusammenfassend heißt es: „Diese Interaktionsweise zu erlernen, erfordert daher mehr als nur das einfache Empfangen bzw. Produzieren von Äußerungen.“ (26) Die Spezifika der GS erhalten breiten Raum sowohl in dem Abschnitt „Produktive Aktivitäten und Strategien“ (63) wie auch besonders im sog. „Beurteilungsraster zur mündlichen Kommunikation“. Dabei geht es eher um die Beschreibung der sprachlichen Handlungen als um die Umsetzung von spezifisch mündlichen Strategien. Diese werden aber bei den Kann-Beschreibungen der verschiedenen Niveaustufen deutlich benannt (B2, C1 usw. stehen für die jeweilige Niveaustufe. Die besonders relevanten Stellen sind kursiv gesetzt): B2 Interaktion: Kann Gespräche beginnen, die Sprecherrolle übernehmen, wenn es angemessen ist, und das Gespräch beenden, wenn er/sie möchte, auch wenn das möglicherweise nicht immer elegant gelingt. Kann auf vertrautem Gebiet zum Fortgang des Gesprächs beitragen, indem er/sie das Verstehen bestätigt, andere zum Sprechen auffordert usw.… C2 Interaktion: Kann sich leicht und gewandt verständigen, wobei er/sie auch Mittel der Intonation und nicht-sprachliche Mittel offenbar mühelos registriert und verwendet. … C1 Kohärenz: Kann klar, sehr fließend und gut strukturiert sprechen und zeigt, dass er/sie Gliederungs- und Verknüpfungsmittel beherrscht. Der GER fordert also an mehreren Stellen dazu auf, die GS ernst zu nehmen und zu vermitteln. Diese Aufforderung, Erkenntnisse der GS-Forschung umzusetzen, ist auch von neueren Lehrwerken kaum umgesetzt worden. 3. Gesprochene Sprache in DaF-Didaktiken und DaF-Grammatiken 3.1 DaF-Didaktiken Ich werde nur die Didaktiken behandeln, die Aussagen zur GS machen. Sprache kommt von Sprechen 281 Gert Henrici; Claudia Riemer mit Arbeitsgruppe (Hrsg.): Einführung in die Didaktik des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache mit Videobeispielen. 2 Bände (1994). In dieser Didaktik gibt es kein Kapitel zur gesprochenen Sprache, sondern nur zur Fertigkeit Sprechen. Das Hauptgewicht liegt aber nicht auf der Beschreibung oder Didaktisierung von GS-Spezifika, sondern auf den Stufen der mündlichen Sprachbeherrschung. Es werden zwar die unterschiedlichen Bedingungen in der Relation Sprecher – Hörer und Schreiber – Leser beschrieben: bei Sprecher – Hörer u.a. • Unmittelbarer Partnerbezug und • Permanente Rückkoppelung (56), aber auf diese Bedingungen wird in den folgenden Katalogen von sprachlichen Handlungen nicht Bezug genommen. Dietmar Rösler (1994): Deutsch als Fremdsprache. Rösler kommt im Kapitel „Kommunikation“ (58 ff.) auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu sprechen und weist darauf hin, dass es durchaus Versuche gibt, „gesprochene Sprache und sprachliche Aspekte, die für längere gesprochene und geschriebene Texte und kommunikative Ereignisse von Bedeutung sind, in den FU zu integrieren“. Bezogen auf die „kommunikativen Elemente im Fremdsprachenunterricht“ fordert Rösler, gesprächsspezifische Eigenheiten zu behandeln: „Gerade Fremdsprachenlerner müssen herausfinden, ob es in der neuen Sprache andere Regeln dafür gibt, wie ein Gespräch zu beginnen, aufrechtzuerhalten oder zu beenden ist, wie man auf das eben Gesagte zurückverweist, sich auf den gerade ablaufenden Gesprächsbeitrag bezieht oder Zeit gewinnt, damit man Gesprächsabbrüche vermeiden und die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners erhalten kann“ (60). Günther Storch (1999): Deutsch als Fremdsprache – Eine Didaktik. Im Kapitel „Kommunikation und Dimensionen der Sprachbeherrschung“ habe ich einen etwas merkwürdigen Satz zum Thema Korrektheit gefunden: „Äußerungen kompetenter Sprecher enthalten keine sprachlichen Fehler bzw. ihre sprachlichen Abweichungen werden normalerweise nicht als Fehler empfunden; …“. (18) Wenn man sich Transkripte von Gesprächen angesehen hat, wird man eher sagen müssen: Äußerungen in spontanen Gesprächen auch von kompetenten Sprechern sind überwiegend grammatisch nicht korrekt. Im Kapitel „Mündliche Kommunikation im DaF-Unterricht“ spricht er mittels eines Zitats über die Diskrepanz zwischen spontanen Gedanken und dem Zwang des grammatischen Systems (S. 217): Was an der spontan gesprochenen Sprache besonders auffällt, ist die Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit, die immer neu aufblitzenden Gedanken und Ideen zu äußern und der Existenz eines grammatischen Systems, das das Sprechen bestimmt und in gewisse syntaktische Strukturen zwingen möchte. (Dirven 1977: 8) und fährt in Anlehnung an Rath (1975) fort: Klaus Vorderwülbecke 282 Diese Diskrepanz zwischen Spontaneität und Zwang zur Form drückt sich bei Muttersprachensprechern in typischen Merkmalen der gesprochenen Sprache aus wie Abbrüchen, Wiederaufnahmen, Pausen, Verzögerungen, Redundanzen, Ellipsen, Anakoluth. Es werden aber keine weiteren didaktischen Folgerungen beschrieben. 3.2 DaF-Grammatiken Linguistische Grammatiken haben sich bis weit in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts sehr zurückgehalten und die GS nur jeweils an einigen Stellen als Besonderheiten oder umgangssprachliche Erscheinungen (meist mit negativer Konnotation) erwähnt. Seit etwa zehn Jahren hat sich da etwas geändert. Es gibt zunehmend umfassende Grammatiken mit stärkerer Berücksichtigung der GS: Ein eigenes Kapitel zu „Text und Diskurs“ in der am Institut für Deutsche Sprache erarbeiteten „Grammatik der deutschen Sprache“ (Zifonun u.a. 1997) und ein Kapitel „Die gesprochene Sprache“ in der neuesten Ausgabe der Duden-Grammatik von 2005. Zu kritisieren ist allerdings mit Mathilde Henning (2006), dass dafür im jeweiligen Rest dieser Grammatiken, das Mündliche wenig berücksichtigt wird. Ich gehe nur auf DaF-Grammatiken ein, bei denen ich zum Thema GS fündig geworden bin. Jürgen Kars; Ulrich Häussermann: Grundgrammatik Deutsch (1992, 11988) Hier gibt es ein eigenes kleines Kapitel „Die gesprochene Sprache“ (212-216). Im Wesentlichen ist das aber ein Text mit großem Warndreieck darüber. Die Autoren heben darauf ab, dass man anders als beim Schreiben beim Sprechen keine Planungszeit hat und sagen dann warnend: Gesprochene Sprache ist daher oft ungenau, enthält Fehler und Korrekturen. Diese Fehler und Korrekturen sind nur Gewohnheiten. Lernen Sie diese Gewohnheiten nicht. Bleiben Sie bei den Regeln. Lassen Sie sich von diesen Ungenauigkeiten nicht irritieren. (212) Dennoch zeigen sie einige Besonderheiten der gesprochenen Sprache auf, nicht zum Lernen, sondern „damit Sie sich beim Hören nicht über diese Gewohnheiten wundern“. (212). Z.B.: • Nachfeldbesetzung • Selbstkorrektur (inkl. Korrektursignale: also, oder besser, oder sagen wir, …) • Neustart • Sätze ohne Anfang (Schneesturm heißt es im Wetterbericht.) und Ende • Viele Modalpartikeln • In Erzählungen und, und, und • Verbzweitstellung nach weil und obwohl (, die sie merkwürdigerweise als „süddeutsche Wortposition“ charakterisieren, 215) Und dazu gibt es Tipps, u.a.: „Seien Sie vorsichtig mit Modalpartikeln. Sie haben oft gar keine Bedeutung, sind oft nur ein Zeichen von Unsicherheit“ (215) Sprache kommt von Sprechen 283 Dennoch muss man anerkennen – bei allen Bedenken zu ihrer Grundhaltung –, dass die Autoren (im Jahr 1988!) die Notwendigkeit gesehen haben, etwas über die GS zu sagen, was viele linguistische Grammatiken bis dahin nicht für nötig befunden hatten. Wolfgang Rug; Andreas Tomaszewski: Grammatik mit Sinn und Verstand (1993) Hier findet sich ein sehr ausführliches Kapitel (17 S.) zur „gesprochenen Umgangssprache“ In einer Einleitung machen die Autoren erfreulicherweise deutlich, dass GS keinesfalls ‘schlechteres Deutsch’ ist. (300). Danach werden anhand verschiedener phonetischer und grammatischer Strukturen bzw. Listen mit „umgangssprachlichen“ Wörtern „Tendenzen in der gesprochenen Sprache“ aufgezeigt, gefolgt von „Übungen und Regeln“: • Phonetische und morphologische Abschleifungen: gern(e), hatten hatn, Assimilation: hat sie hatse, geht er gehta • „Durchbrechungen und Varianten der Regeln im Bereich Syntax“, Probleme der Syntax (Tempus, Aktiv - Passiv, Satzbaupläne, Konjunktoren) • Präpositionen, Artikelwörter, Adjektive/Adverbien • Weil und obwohl mit Hauptsatzstellung • Linksversetzung (Geküsst hat sie mich aber doch.) • Rechtsversetzung (Den kenn ich, den Typ.) • Vor-Vorfeldbesetzung (Gestern Abend, da hab ich ein bisschen zu viel getrunken.) • Wegen, statt, trotz, während mit Dativ • Interjektionen und emotionale Ausdrücke/feste Wendungen (aha, ach was, Mensch, absoluter Quatsch, furchtbar nett, wahnsinnig ) • Eine kleine Liste mit Wörtern, die nur in der Umgangssprache verwendet werden: (Ding, Mist, Klamotten, Krempel, Scheiß, Macker, Tussi, Bulle, Knete, Kaff, sich ranmachen, krepieren, kapieren, verarschen, sich anöden, jemdn. rumkriegen) Es geht nicht darum, ob diese Auflistung umfassend ist oder ob der Stand der GS-Forschung zum damaligen Zeitpunkt adäquat verarbeitet wurde, sondern darum anzuerkennen, dass zum ersten Mal in einer Grammatik für DaF spezifische Erscheinungen der GS vorurteilslos vorgestellt und geübt werden. 4. Ergebnisse einer Umfrage Reinhard Fiehler und ich haben auf der FaDaF-Jahrestagung 2006 und danach eine Umfrage zur GS durchgeführt. Wir haben insgesamt 46 Rückläufe bekommen. Das ist zu wenig, um wirklich valide Aussagen machen zu können, aber es werden doch Tendenzen deutlich. Es folgen die Fragen mit den Ergebnissen in Prozent. (Die grau unterlegten Zahlen werden unten kommentiert.): 284 1 2 3 4 5 6 7 Klaus Vorderwülbecke Haben Sie im Unterricht Probleme mit den Besonderoft z.T. heiten der gesprochenen Sprache? 17,39 50 Haben Sie für die Erklärung dieser Besonderheiten hinreichende Ja Hilfsmittel (z.B. Grammatiken, Aufsätze zum Thema)? 34,15 Erhalten Sie in den Grammatiken, die Sie benutzen, ausreichend Ja Informationen über die gesprochene Sprache? 18,60 Berücksichtigen die Lehrwerke DaF, die Sie in den letzten Jahren Ja benutzt haben, die Erscheinungen der gesprochenen Sprache, z.B. 56,10 in den Dialogen und im Übungsprogramm? Welche Art von Hilfsmittel würden Sie sich für den Bereich gesprochene Sprache wünschen? • Eine knappe Beschreibung der Besonderheiten der gesprochenen Sprache • Eine umfangreiche, detaillierte Beschreibung der gesprochenen Sprache • Eine Grammatik, die die geschriebene und die gesprochene Sprache deutlich unterscheidet und jeweils angemessen beschreibt Welche der Besonderheiten der gesprochenen Sprache tauchen als Problem in Ihrem Unterricht häufig auf ? • Weil-Nebensätze mit Hauptsatzstellung des Verbs (, weil das war eben so.) • Obwohl-Nebensätze mit Hauptsatzstellung des Verbs • Verhältnis von er/sie/es zu der/die/das als Pronomen (A: Wo ist Kevin? B: Er ist im Keller/Der ist im Keller.) • Fehlende Endung -e in 1.Pers. Sing. Präsens (ich denk, ich glaub, ich mein) • Linksversetzung (Informationsverteilung) (Die Hanna, die ist nicht da. ) • Ausklammerung (Ich hab dir das ja erzählt von der alten Frau.) Weitere? Welche Hilfsmittel für die Erklärung dieser Besonderheiten der gesprochenen Sprache benutzen Sie häufiger? (Buchtitel oder kurze Beschreibung) selten 32,61 Nein 65,85 Nein 81,40 Nein 43,90 42,19 9,38 48,44 22,60 8,90 23,97 21,23 6,16 17,12 Kurzer Kommentar zu den Ergebnissen: Zu 1: „Oft“ und „z.T.“ ergeben zusammen = 67,39%. Mehr als zwei Drittel haben also Probleme mit der GS. Zu 2: Knapp zwei Drittel sehen ein Defizit bei den Hilfsmitteln. Hier besteht also offensichtlich Handlungsbedarf. Zu 3: Hier ist das Ergebnis eindeutig: Vier Fünftel erhalten in den benutzten Grammatiken nicht genügende Auskünfte zur GS. Es besteht also auch hier Handlungsbedarf. Zu 4: Die Frage war womöglich missverständlich. Die knappe Mehrheit für ja bezieht sich wahrscheinlich auf das Vorkommen, nicht aber auf die Systematisierung von Spezifika der GS. Auch in Bezug auf die Übungen bin ich zu anderen Ergebnissen gekommen. Zu 5: Hier halten sich die zwei Wünsche für eine knappe Beschreibung und eine integrierende Grammatik die Waage und ergeben zusammen 100% Sprache kommt von Sprechen 285 Zu 7: Hier wurden 24 (!) verschiedene Hilfsmittel genannt von der Duden-Grammatik und der von Rug; Tomaszewski (je drei Nennungen) bis zur „SPIEGEL ONLINE“-Kolumne „Zwiebelfisch“. 5. Was tun? 5.1 Lösungsansätze Es ist sicher klar geworden, dass ich die Umsetzung der GS-Forschung bzw. der Gesprächsanalyse in den DaF-Unterricht für defizitär halte. Und zwar nicht so sehr in Bezug auf das Vorkommen in Dialogen oder anderen Hörtexten, sondern was die Systematisierung und Bearbeitung in den Lehrwerken betrifft. Wir geben uns ja seit langem nicht damit zufrieden, jeweils neuen Grammatikstoff in Dialogen oder expositorischen Texten zu präsentieren. Sie werden innerhalb der jeweiligen Lektion oder im Anhang systematisch beschrieben und geübt. Meiner Meinung nach sollte man die Ergebnisse der GS-Forschung genauso für DaF verwenden, wie die der linguistischen Grammatikforschung oder auch der allgemeinen Didaktik. Vor allem, weil seit ca. 30 Jahren die kommunikative Kompetenz als oberstes Leitziel gilt. Ich denke, es muss mehr Kooperation zwischen DaF und der GS-Forschung geben. Wenn diese Kooperationen in einem größeren Rahmen stattfinden sollen, kann man sich an die Zusammenarbeit zwischen Goethe-Institut und dem Institut für Deutsche Sprache im Projekt „Grundstrukturen der deutschen Sprache“ anlehnen, wo es jeweils eine linguistische und eine didaktische Monografie zu Themen wie Vergangenheitstempora, indirekte Rede und Valenzstrukturen gab (publiziert in den 1970er Jahren in der Reihe „Heutiges Deutsch“). Ein weiteres Vorbild kann die verdienstvolle Reihe „Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer“ ab den 1960er Jahren in der DDR sein, in der jeweils ein Linguist und ein DaF-Didaktiker in einem Heft ein Thema aus der jeweiligen Perspektive behandelt haben (z.B. zu Artikel, Relativsatz, Passiv, Negation). Man muss also nicht bei Null anfangen. In den letzten 15 Jahren sind in der Linguistik, in der GS-Forschung und in der DaF-Didaktik schon viele Ergebnisse erzielt worden, die im DaF-Unterricht umgesetzt werden können, z.B. Fiehler (2005, 2004), Günthner (2000), Henning (2006, 2002, 1998,), Pasch (1997), Kayser (1996), Thurmair (2002, 2000, 1997). 5.2 Zwei konkrete Vorschläge In einer solchen Zusammenarbeit zur GS könnten u.a. die folgenden beiden Fragen bearbeitet werden: 1. Wie können Spezifika der GS in den Lehrwerkdialogen dargestellt werden? 2. Wie kann eine Progression im Bereich der GS aussehen? Zu beiden will ich einen Vorschlag machen. 286 Klaus Vorderwülbecke 5.2.1 Zur Verschriftlichung der Dialoge Ich habe oben gesagt, dass die Dialoge in Lehrwerken über die letzten Jahrzehnte natürlicher geworden sind, auch wenn die meisten noch von Lehrwerkautoren erstellt wurden. Deshalb wird ja seit längerem die Forderung erhoben, authentische Dialoge zu verwenden. Transkriptionen von authentischen Dialogen, wie sie in der Konversationsanalyse üblich sind, kann man sicher nicht verwenden. Ein Beispiel aus Deppermann (erscheint): #6 JuK 20: Roberto Blanco 01 MR: die wOllten dass mer mit dem gedAnken spieln odE? (.) 02 dass dann Irgendwann de robErdo blanco in WEIß dAsteht; 03 FR: ((lacht)) 04 MR: oder warum ham se grad dEn genommen; (.) 05 PE: <<len> robErto blAnco> kuck ma; (.) 06 MR: <<f> ja und dann vorher noch> [so rum w w(ien)ert] 07 WU: [<<len,mechanisch> alles blank->] 08 MR: emm (.) des neue visir ultra is jetzt nOch besser un=so e;(.) 09 AL: wässt noch [<<lachend>wäscht> [noch weißer j weißer()] 10 WE: [mit der Ultra weiß [formel sowas ] 11 MR: [wäscht noch weißer ja] ja.] (.) 12 AL: wäscht noch weißer. Um diesen Dialog lesen zu können, muss man relativ viele Transkriptionskonventionen kennen. Das ist keinem Lernenden zuzumuten. Was soll man also tun? Ich denke, dass man bestimmte Elemente wie Lautreduktionen, Überlappungen, Pausen, aber auch Satzbrüche und Angaben zur emotionalen Stimmung der Sprecher durchaus in der schriftlichen Wiedergabe der Dialoge markieren bzw. angeben soll. Damit bleiben sie immer noch gut lesbar und dokumentieren gleichzeitig einige wichtige Spezifika der gesprochenen Sprache. Ein gutes Beispiel dafür habe ich im „Zertifikat Deutsch“ gefunden (S. 28 ff.). Der dort abgedruckte Dialog soll die Realisierung des Szenarios „Um einen Gefallen bitten“ aufzeigen. Er basiert sicher auf einem authentischen Gespräch. Dazu werden jeweils die Gesprächsphasen beschrieben und in Hinblick auf Intentionen, Notionen und Strategien kommentiert. Das lasse ich hier weg. Ich habe die Spezifika der Mündlichkeit mit Ziffern markiert. Sie werden unten erklärt. Sprache kommt von Sprechen 1 Sw1 2 3 Sw2 Sw1 4 Sw2 5 Sw1 6 7 8 Sw2 Sw1 Sw2 9 Sw1 10 11 Sw2 Sw1 12 Sw2 13 14 Sw1 Sw2 … … 287 Du1 Ingrid, ich wollt2 dich mal was fragen Hm3. Ich hab4 bei Ikea so n5 ganz tollen Schrank für meinen Flur gesehen, ich hab6 doch da immer alles so rumstehen, weißte7 und das muss doch8 endlich mal9 ordentlicher werden. Und der Schrank ist aber n10 bisschen groß, und ich hab doch11 keinen Dachgepäckträger für mein Auto, und da wollt12 ich fragen, ob ich euren Kombi haben könnte. Wie meinste13 aufm14 Dachgepäckträger oder hinten im (…)15 Hinten16 rein,das is17 ja aufm18 Dach, das ist auch eh ich das hochgewuchtet habe das …19 Wann wollst20 denn21 das haben? Hm22. Na23 am besten gleich Montag. Wart24, ich guck mal25 eben, ob ich da n26 Termin habe. Hm27. Montag is28 schlecht. Da muss ich nach Salzgitter. Hm29. Geht Dienstag auch? Dienstag morgen könnstes30 haben. Oh31, Dienstag ist bei mir ganz schwierig. Hm32 (und wie isses33 …) Ja34 oder Montag (nachmittag)35 Montag, der36 Montag, wann is37 egal Also ich denk38, dass ich so gegen hm39 eins wieder zurück bin. Ja, das is40 egal. Wenn ich ihn um drei haben kann? Ja ja ja41. okay. … Anredeformen 1 • Lautlich-grafische Reduktionen/Elisionen 2, 4-7, 10, 12-14, 17, 18, 20, 24, 26, 28, 30, 33, 37, 38, 40 (Weißte in Redebeitrag 3 fungiert neben der Lautreduktion auch als Gesprächspartikel.) • Überlappungen 15/16, 35/36 • Modalpartikeln 8, 11, 21, 25 • Gesprächspartikeln/Interjektionen 3, 7, 22, 23, 27, 29, 31, 32, 34, 39 • Abbruch 19 • Pausen (mit Abständen markiert) 41 • Die Reihung mit und in Redebeitrag 3 ist ebenfalls ein Spezifikum der GS. Hier findet sich also eine große Zahl von GS-Spezifika, die praktisch nicht mit der Standardgrammatik im Clinch sind. Darüber hinaus wird die Rechtschreibung beachtet bis Klaus Vorderwülbecke 288 auf die Reduktionen und Elisionen. Letztere könnten z.B. durch Farbschrift oder farbige Unterlegungen als Abweichungen von der Orthografie gekennzeichnet werden. 5.2.2 Zur Progression Die Frage lautet: „Wann sollen welche mündlichen Spezifika vermittelt werden?“ Ich erstelle dazu eine grobe Tabelle mit je zwei Parametern zu Unterrichtsland und Lernstufe • (Deutschsprachiges) Inland – Ausland • Grundstufe – Mittel-/Oberstufe und ordne diesen Typen von GS-Spezifika zu. Die angenommene Zielgruppe sind allgemeine erwachsene Lerner, die das normale Spektrum der Fertigkeiten erlernen sollen. Grundstufe (A1 – B1) Mittel-/ Oberstufe (B2 – C2) Inland (DACH) Elemente der GS ohne Konflikt mit der Grammatik Ausland Elemente der GS ohne Konflikt mit Elemente der GS in Konflikt mit der der systematischen Grammatik systematischen Grammatik Elemente der GS in Konflikt mit der systematischen Grammatik Hauptgründe dafür, dass Elemente der GS im Auslandsunterricht erst nach der Grundstufe vermittelt werden sollen, sind der fehlende Kontakt zu einer deutschsprachigen Umwelt, andere Lernziele und auch der meist extensive Unterricht. Wenn natürlich ein – eventuell sogar intensiver – Kurs im Ausland direkt auf einen Studien- oder Berufsaufenthalt in DACH vorbereitet, kann er wie ein Inlandskurs behandelt werden. Eine andere Möglichkeit der Progression ist die Gliederung in primäre und in sekundäre Unterschiede der GS zur Schriftsprache wie Mathilde Henning (2006, 102 ff.) sie herausgearbeitet hat. Primäre Unterschiede gehören zu einer systematischen Grammatik der GS, d.h. sie sind nicht Teil der Grammatik der GSCHRS). Z.B.: • Sprecher- und Hörersignale • Sicherung des Rederechts • Sprecherwechselsignale • epistemisches/pragmatisches weil/obwohl mit Hauptsatzstellung • Ellipsen • Anakoluthe (Satzbrüche) • Perf. II in GS = Vergangenheit, in Schriftsprache = Vorvergangenheit • Wiederaufnahmen, Reparaturen Sekundäre Unterschiede sind solche des Sprachgebrauchs, bei denen immer auch die Standardvarianten der Schriftsprache möglich sind. Z.B.: • Präteritum oder Perfekt zum Ausdruck von Vergangenem • Konjunktiv II bzw. Indikativ für Redewiedergabe • Wortstellung (Links- oder Rechtsversetzung, Vor-Vorfeldbesetzung) • Abhängige Hauptsätze • Faktisches/begründendes weil/obwohl mit Hauptsatzstellung Sprache kommt von Sprechen 289 Man würde dann zuerst die sekundären Unterschiede als Gebrauchsvarianten einführen, um die Nähe zur Standardgrammatik zu wahren, und dann auf Mittel- und Oberstufe die primären. 6. Fazit Wir haben die nicht zufrieden stellende Situation der GS in den Lehrwerken gesehen, aber auch die z.T. hilfreichen Gedanken und Auflistungen in DaF-Didaktiken und in wenigen DaF-Grammatiken. Die Lernzielbeschreibungen ZD und GER sind in dieser Beziehung am weitesten. Sie geben gute Anregungen zur Behandlung der GS und zur Bewertung der Leistungen in diesem Bereich. Es hapert (noch) an der Umsetzung. Diese Ansätze und die Ergebnisse der GS-Forschung und die zunehmende Berücksichtigung der GS in linguistischen Grammatiken führen hoffentlich dazu, dass die Spezifika des Mündlichen nicht mehr nur als Besonderheiten, Abweichungen oder Mängel gesehen werden, sondern als systematisch, begründet durch die unterschiedlichen Produktionsbedingungen (Nähe-Distanz) und Strategien. Sie begründen eine eigenständige Norm oder anders formuliert „Die gesprochene Sprache bewahrt (nur) eine offenere Norm und nutzt die Möglichkeiten des Systems weniger intensiv“ (Koch; Oesterreicher 1985: 28). Deshalb ist auch die Forderung nach grammatischer Korrektheit und Vollständigkeit einer Äußerung für die GS nicht angebracht (Kayser 1996, 8). Ich habe den Eindruck, dass die heutige Situation in Bezug auf die Vermittlung der gesprochenen Sprache in DaF-Materialien und damit wohl auch im DaF-Unterricht weitgehend der Situation der Phonetik vor ca. 25 Jahren entspricht. Die Phonetik des Deutschen war gut erforscht. Es gab gute Umsetzungen für DaF – besonders in der DDR. 1979 war „Deutsch aktiv“ das erste Lehrwerk in der BRD mit einem Phonetikteil. Heute dagegen ist es eine große Ausnahme, wenn ein Grundstufen-Lehrwerk diesen Bereich nicht behandelt. Vielleicht – und das ist meine Hoffnung – wird in 25 Jahren oder schon vorher die GS in Lehrwerken und im Unterricht genauso selbstverständlich thematisiert und systematisiert wie die Phonetik heute. Literatur a) Untersuchte Lehrwerke: (Die Lehrwerke sind nach dem ersten Buchstaben des Lehrwerktitels angeordnet) Willkop, Eva-Maria u.a.. (2003): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache für die Mittelstufe und Oberstufe. München: Max Hueber Verlag. Lemcke, Christian; Rohrmann, Lutz; Scherling, Theo (2002): Berliner Platz. Berlin, München, …; Langenscheidt. Aufderstraße, Hartmut; Müller, Jutta; Storz, Thomas (2001): Delfin. München: Max Hueber Verlag. 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Stuttgart: Ernst Klett Sprachen Funk, Hermann; Kuhn, Christina; Demme, Silke (2005): studio d. Berlin: Cornelsen Verlag Bachmann, Saskia; Gerhold, Sebastian; Müller, Bernd-Dietrich u.a. (1996): Sichtwechsel Neu. Stuttgart: Klett Edition Deutsch. Vorderwülbecke Anne; Vorderwülbecke Klaus (2003 ff.): Stufen International. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen. Dallapiazza, Rosa-Maria; von Jan, Eduard; Schönherr, Till (22002): Tangram. Deutsch als Fremdsprache. München: Max Hueber Verlag. Aufderstraße, Hartmut; Bock, Heiko; Müller, Jutta u.a. 2003): Themen aktuell. München: Max Hueber Verlag. Bahlmann, Clemens; Breindl, Eva; Dräxler, Hans-Dieter u.a. (1998): Unterwegs. Berlin, München, …; Langenscheidt. b) Fachliteratur: Deppermann, Arnulf (erscheint): Verstehen im Gespräch. In: Kämper, Heidrun; Eichinger, Ludwig M. (Hg.) Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. 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Frankfurt a.M.: Weiterbildungs-Testsysteme. Zifonun, Gisela; Hoffmann, Ludger; Strecker, Bruno u.a. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7, 1-3). Kriterien und Standards der Mündlichkeit im DaF-Unterricht 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 293-303. Christa M. Heilmann (Marburg) Kriterien und Standards der Mündlichkeit im DaFUnterricht Vorbemerkungen Schlüsselqualifikation Mündlichkeit, kommunikative Kompetenz, Dialogfähigkeit und Verständlichkeit sind Schlagworte, die einen Schwerpunkt der Seminare Deutsch als Fremdsprache für Studierende markieren. Gleichzeitig sind damit Rahmenbedingungen angedeutet, innerhalb derer das Thema Kriterien und Standards der Mündlichkeit im DaF-Unterricht in dieser Arbeit erörtert werden soll: Die TN der Seminare studieren im Land der Zielsprache, bevorzugt Germanistik. Der Themenbereich Kommunikative Kompetenz wird in der Literatur in differenten Kontexten dargestellt: Einerseits sind Aussprachethemen oder Aspekte der Gesprächsfähigkeit in Lehrwerken themenorientiert eingebunden und mit grammatischen Lerneinheiten verknüpft (vgl. z.B. „Passwort Deutsch“ 2007, „Stufen international“ 2003, „Moment mal“ 1996), andererseits existiert spezifische Literatur zur Entwicklung kommunikativer Kompetenz (vgl. z.B. Hirschfeld; Reinke; Stock 2007, Rausch; Rausch 2002, Endt 1995, Forster 1997, Slembek 1997, Cauneau 1992). Mit dem vorliegenden Aufsatz soll der vielfach vorhandenen Literatur nicht eine weitere Belegstelle hinzugefügt werden, vielmehr handelt es sich um die Erörterung der Frage, welche Themen aus dem unabsehbaren Spektrum von Möglichkeiten unabdingbar zu behandeln sind, möglicherweise im Sinne eines Kerncurriculums, welche Aspekte als Ergänzung betrachtet werden können und in welcher Reihenfolge die Schwerpunkte angeboten werden sollten. Christa M. Heilmann 294 Für diese Entscheidung erscheint es zunächst als notwendig, Zielstellung und Rahmenbedingungen der Seminare konkret zu umreißen und die Zielgruppe genau zu bestimmen. 1. Ausgangssituation Der hier vorgestellte Kanon bezieht sich konkret auf folgende Lernsituation, wie sie an der Marburger Philipps-Universität in Übungen zur mündlichen Kommunikation für nichtmuttersprachliche Germanistikstudierende vorzufinden sind: - Heterogene Gruppen bezüglich der Ausgangssprache - Heterogene Gruppen bezüglich des Leistungsniveaus - Seminare mit einer Doppelstunde über ein Semester - Die Lehrveranstaltungen haben ausschließlich die Verbesserung der kommunikativen Kompetenz zum Ziel und sind nicht mit der Erarbeitung grammatischer Themen verknüpft. - Die Semesterleistung muss benotet werden. Bezogen auf diese Ausgangsbedingungen (lediglich je 14-15 Doppelstunden für das Thema Aussprache/Textlesen und das Thema Rhetorische Übungen; sieht das Austauschprogramm nur eine Übung vor, entfällt letzteres) ist es offenkundig, dass nur schwerpunktartig gearbeitet werden kann, also sowohl für die Themenauswahl als auch für die notwendige Leistungsbewertung Bewertungsmaßstäbe unumgänglich sind. So wurde in einer Marburger Arbeitsgruppe1 ein Katalog von Leistungsanforderungen entwickelt, der zwischen den jeweiligen Themen (Kriterien) und den erwartbaren Standards dafür differenziert, jeweils für die Gebiete Aussprache, Textlesen und Rhetorische Übungen. Damit entsteht einerseits ein umschriebenes Maß an Standardisierung, andererseits bleibt die Offenheit bestehen, auf unterschiedliche Leistungsniveaus reagieren zu können. Die nachfolgend dargestellten Themen sind in der Literatur ausreichend beschrieben (vgl. Rausch; Rausch 1998, Hirschfeld 1994, Dieling 1996), zur Diskussion vorgestellt werden sollen hier die sequenzielle Abfolge und die Abstufung in Basis und weiterführendes Wissen und Können. Hirschfeld schreibt dazu: „Sorgfältig zu bestimmen ist vielmehr, und zwar in Abhängigkeit von Ziel und Form der Ausbildung und unter Berücksichtigung verschiedener anderer Gesichtspunkte, mit welchen Methoden, in welchem Umfang und nach welchen inhaltlichen Schwerpunkten das geschehen soll.“ (1994: 8) Obwohl sich der vorgestellte Kanon auf die konkrete beschriebene Lernsituation bezieht, gilt er in seinem Grundanliegen auch für alle anderen Kontexte: Indem sich je1 Im Bereich Sprechwissenschaft der Philipps-Universität Marburg existiert ein sprechwissenschaftliches Fachkolloquium, in dessen Rahmen Examenskandidat/inn/en, Doktorand/inn/en und jungen Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit haben, ihre Arbeiten vorzustellen, neue Fachliteratur zu diskutieren oder fachdidaktische Aspekte sprechwissenschaftlicher Seminare zu klären. In diesem Kontext wurden die hier vorgestellten Kriterien und Standards erörtert und von Katja Franz, Kerstin Pohl, Oliver Leibrecht und Christa M. Heilmann zusammengestellt. Kriterien und Standards der Mündlichkeit im DaF-Unterricht 295 weils die Grenzen zwischen Basis- und Aufbauangebot verschieben werden, je nach Leistungsniveau, Stundenanzahl und Lernzielen, ist eine flexible Anpassung an die jeweiligen Bedingungen möglich. Bestehen bleibt die Notwendigkeit, aus einer übergroßen Vielzahl von Themenbereichen das für die jeweilige Lernsituation Obligatorische zu explizieren und weiterführende wünschenswerte Lernziele zu gruppieren. Selbstverständlich beeinflusst auch das Lerntempo die Auswahl. Die nachfolgenden Darstellungen könnten sich in diesem Zusammenhang als zielführend erweisen. Das Hauptanliegen eines Unterrichts mit dem Themenschwerpunkt Kommunikative Kompetenz besteht in unserem Verständnis vorrangig in angemessener Verständlichkeit. Diesem Ziel sind alle anderen nachgeordnet, wobei unter Verständlichkeit die „[...] Wirkung, die durch den Mitteilungsgehalt und durch ihre relative Korrektheit beim Kommunikationspartner ausgelöst wird“ (Hirschfeld 1994: 8 nach Vogel 1985) verstanden werden soll. 2. Kriterien versus Standards In den nachstehenden Tabellen wird zwischen Kriterien und Standards unterschieden. Die Kriterien beschreiben die zu behandelnden Themen, die Standards die Basisparameter in ihrem jeweils notwendigen Ausprägungsgrad. Diese Auflistung impliziert, dass sowohl weitere Themenbereiche (Kriterien) als insbesondere auch ausdifferenzierte Standards bestehen, bezogen auf die vorgestellten Lerner jedoch eine zielgruppenbezogene Auswahl getroffen wurde. Das berührt nochmals den Kern unserer Überlegungen: Nicht nur die Themenauswahl sondern auch das in der je besonderen Lernsituation mögliche Maß an Standarderreichung sind in sorgfältiger Abwägung zu bestimmen. Das sei am Beispiel der Vokale erläutert: Wir gehen davon aus, dass es zunächst nicht Lernziel sein sollte, alle Einzellaute adäquat realisieren zu können, sondern anfänglich halten wir es für notwendig, dass die Lernenden unterschiedliche Vokalqualitäten und -quantitäten beim Hören differenzieren lernen, um sie in einer nachfolgenden Einheit selbst adäquat nachvollziehen zu können. Dabei steht z.B. beim Kriterium „Vokalqualität“ im Vordergrund, dass die drei Basisbewegungen (Lippenrundung und -stülpung; Lippenbreitzug; weite Mundöffnung) und ein angemessener Grad von Artikulationsspannung realisiert werden können, unabhängig von der konkreten Einzellautrealisation. Erst wenn diese Standards, gemeinsam mit den möglichen Zungenpositionen für die jeweiligen Vokalgruppen erreicht werden, ist an die „Feinarbeit“, d.h. die Realisation spezifischer Lautverbindungen (Diphthonge z.B.) oder schwieriger Einzelvokale zu denken. Möglicherweise gelingt es bei einem niedrigen Ausgangsniveau in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht, die weiterführende Stufe zu erarbeiten. Dann könnte jedoch mit den Basisstandards erreicht werden, dass bezüglich des Beispielkriteriums Vokalqualität eine für alle Vokalgruppen akzeptable Verständlichkeit, d.h. eine grundsätzliche, für das Deutsche so wichtige Differenzierung unterschiedlicher Vokalqualitäten, entsteht: „Es muß erkannt und didaktisch-methodisch umgesetzt werden, dass die phonetische Schulung Grundlage für das Erreichen der kommunikativen Zielstellung des Unterrichts Christa M. Heilmann 296 ist, dass sie die Entwicklung aller anderen sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten fördert und dass sie schließlich die Mündliche Kommunikation erst ermöglicht.“ (Hirschfeld 1994: 3) Der Ansatz geht demzufolge von der Artikulationsbasis oder Sprechbereitschaftslage (Krech 1954: 92) der Vokale aus um nachfolgend konkrete Aspekte einzubeziehen. 3. Übergreifende Kriterien und Standards 3.1 Aussprache Die nachfolgende Tabelle zeigt in der vorbeschriebenen Weise die Standards, welche für die Kriterien Vokalqualität, -quantität und die Konsonantenrealisation zentral erscheinen. Zielführend war der Gedanke, dass vordringlich das Erkennen und Realisieren der Basisqualitäten offen (hell) und geschlossen (dunkel) und der Basisquantitäten gespannt (lang) und ungespannt (kurz) sowie der Verknüpfung beider für die Verständlichkeit von Gesprochenem bezogen auf die Mundöffnungslaute (Vokale) „verantwortlich“ sind. Gleichermaßen von Bedeutung ist der Vokalneueinsatz im Wort- und Silbenanlaut, der in vielen Ausgangssprachen unüblich ist (vgl. auch Dieling 1996: 52). Fragen der Realisierung des i als [ĭ] in bestimmten Positionen, Reduktionsstufen des e-Lautes in unterschiedlichen Endsilben und weiterer für die Vokalrealisation ebenfalls wichtiger Themen bleiben hier unerwähnt, weil – immer unter der vorangestellten konkreten Lernsituation betrachtet – dafür keine Zeit bleibt. An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass die jeweils Lehrenden, ausgehend vom Ausgangsniveau ihrer Seminarteilnehmer und der möglichen Stundenintensität die Frage des Standards bezogen auf die jeweiligen Kriterien unterschiedlich beantworten müssen. Gleiches gilt auch für die theoretische Fundierung des Ausspracheunterrichts. Das Maß ist abhängig vom situativen Kontext, aber grundsätzlich gilt, dass die kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel eine angemessene Aneignung der theoretischen Fundierung nicht verdrängen darf: „Obwohl in fremdsprachenmethodischen Publikationen generell ‘kognitive Phasen’ bei der Ausspracheschulung empfohlen werden, haben sich diese in der Unterrichtspraxis nicht durchgesetzt bzw. wurden im Zuge der ‘Kommunikativierung’ mehr und mehr verdrängt.“ (Hirschfeld 1994: 5) Kriterien und Standards der Mündlichkeit im DaF-Unterricht 297 Kriterien Standards Angemessene Lippenbewegung (Lippenrundung und -stülpung/ -breitzug/ Grad der Mundöffnung) Vokalqualität Angemessene Zungenstellung Differenzierter Grad der Gespanntheit Angemessene Differenzierung von Vokallänge und -kürze VokalquanVokalneueinsatz im Wort- und Silbenanlaut tität Differenzierter Grad der Gespanntheit Progressive stimmlose Assimilation Fortisrealisation KonsoAuslautverhärtung nantenrealiJeweiliger Reibegrad: [ç] [x] [h] [r] sation [l] als dental alveolarer, lateraler Frikativ Vokalische oder konsonantische r-Realisation (je nach Lautumgebung) weiterführend: Angemessene - Diphthongrealisation Spezifische Lautverbin- - Realisation der Affrikate dungen - Realisation von [│] in der Verbindung <ng> und bei <n> vor <k> Tab. 1: Aussprache Im Hinblick auf die Konsonantenrealisation erweisen sich für die Verständlichkeit insbesondere Fortisdeutlichkeit, Umsetzung der Auslautverhärtung und die progressive stimmlose Assimilation als zentral. Missverständnisse können weiterhin durch einen zu starken Reibungsgrad von den im Deutschen anders artikulierten Lauten [ç] [x] [h] [r] entstehen. Inwieweit die Verständlichkeit durch eine konsonantische Realisation des r-Lautes nach langem (gespanntem) Vokal beeinträchtigt wird, bleibt offen. In der konkreten Arbeit mit den Lernenden ist es für den methodischen Ansatz der Übungen von Wichtigkeit zu differenzieren, ob es sich bei einer bestimmten Fehlbildung um eine individuelle Artikulationsbesonderheit des Lernenden handelt, also auch in seiner Muttersprache auftritt, oder um einen Interferenzfehler (vgl. u.a. Slembek 1995) bzw. die Ursache darin zu suchen ist, dass der Laut in der Herkunftssprache nicht genutzt wird. (vgl. Heilmann 1992a) Differenzierungen Individueller personengebundener Aussprachefehler Laut existiert in der Muttersprache nicht Transfer-Fehler Tab. 2: Differenzierungen Übungen und Erläuterungen zur Prosodie können den Ausspracheübungen vorangestellt (vgl. z.B. Cauneau 1992) oder im Kontext mit prosodischen Einheiten beim Textlesen erarbeitet werden: „Phonetikunterricht erschöpft sich im Unterrichtsalltag meist in der Arbeit an Lauten, obwohl seit langem bekannt und auch anerkannt ist, dass es 298 Christa M. Heilmann eigentlich wichtiger ist, dass die Schüler die Intonation richtig beherrschen.“ (Dieling; Hirschfeld 2000) Da im vorgestellten Kanon explizite Übungen zum Textlesen stattfinden, haben wir die Prosodie der Arbeit mit Texten zugeordnet. 3.2 Textlesen Übungen zum Textlesen nehmen im beschriebenen Modell das letzte Drittel des Semesters Aussprache ein, es handelt sich um einen eigenständigen Themen- und Übungsschwerpunkt, dem allerdings nicht sehr viel Zeit zur Verfügung steht. Die Übergänge zum Aussprachekomplex sind fließend, Wortakzent und Prosodie werden oftmals bereits vorher eingeführt und selbstverständlich werden die Aussprachethemen im Zusammenhang mit Texten erarbeitet. Ein Schwerpunkt wie die progressive stimmlose Assimilation ist ohne Textarbeit methodisch schwer vorstellbar. Im Bereich des Textlesens verschiebt sich jedoch der Fokus einerseits von der Wortebene zur Ebene von größeren Texteinheiten, andererseits vom Ziel einer normorientierten Ausspracherealisation als individueller Leistung zur sprecherischen Gestaltung von Texten für eine Hörergruppe. Dieser Paradigmenwechsel stellt eine deutlich höhere Anforderungsstufe dar. Die Konzentration auf die Sprech-Intention für andere, auf Textverständlichkeit beim einmaligen Hören bis hin zu sprechästhetischer Gestaltung stellt eine hohe Anforderung dar. In den Lehrveranstaltungen wird diese Zielleistung in mehrere Teilziele aufgelöst: Erkennen von Wortgruppen (der grüne Baum); Erarbeiten von Sinnschritten und Sinnschrittgliederung (vgl. Heilmann 2006, Ehlers 1996, Jesch 1973), Differenzierung von Stau- und Atempausen; sprecherische Gestaltung der Kadenzen am Sinnschrittende und prosodische Gestaltung der Gesamtäußerung. Die Erfahrung mit unserem Modell lehrt, dass in den meisten Fällen das Lernziel eines einzigen Semesters damit weit ausgeschöpft ist. Kriterien Koartikulation Sinnschritt weiterführend: Textgestaltung Standards Wortgruppenbindung Spannbögen in Sinnschritten und übergreifend Progressive stimmlose Assimilation Angemessene Sinnschrittgliederung Differenzierte Pausengestaltung (Atem- und Staupausen) Sinnkern erfassen und betonen Prosodie allgemein, insbesondere Kadenzen (terminal/progredient/ interrogativ) Wortakzent Differenzierung von sachlich-neutralen und emphatischen Texten Angemessener Einsatz von sprecherischen Mitteln der Sprechausdrucksgestaltung Tab. 3: Textlesen Mit dem Erkennen der Wortgruppen wird die Aufmerksamkeit der Lerner in einem ersten Schritt auf das vorausschauende Lesen konzentriert, das sich nicht mehr im Wort- Kriterien und Standards der Mündlichkeit im DaF-Unterricht 299 für-Wort-Lesen erschöpft, sondern inhaltliche Strukturierung zum Ziel hat. Die nächst höhere Gliederungsstufe betrifft die inhaltlichen Einheiten (nach Winkler 1962: 34 die Sinnschritte), die eine Gesamtäußerung strukturieren. Dabei ist auch zu entscheiden, bei welchem Wort der Einheit es sich um den Sinnkern, die zentrale hervorzuhebende Aussage handelt und ob an der Sinnschrittgrenze eine Atempause (Ausatmung, Spannungslösung, terminale/interrogative Kadenz) oder eine Staupause (Spannung wird gehalten, progrediente Kadenz) angebracht ist. Individuell weiterführende Textarbeit bezieht sich auf die Fähigkeit, unterschiedliche Textsorten sprecherisch zu differenzieren (z.B. Märchen versus Nachrichtentext) oder auch lyrische Texte mit Hilfe von Sprechausdrucksmitteln sprechkünstlerisch zu gestalten. Diese Stufe führt gewöhnlich weit über das erreichbare Niveau hinaus, das primär der Sicherung der Fähigkeit, verständlich für eine bestimmte Zielgruppe (z.B. im Deutschunterricht) vorlesen zu können, vorbehalten ist. Die Arbeit am Text ist von eminenter Wichtigkeit, weil nur über diese Übungen die Wahrnehmung von inhaltlichen Einheiten (Sinnschritte), der Notwendigkeit von Trennungen (Atempausen, terminale oder interrogative Kadenzen) oder Bindungen (Staupausen, progrediente Kadenz) entwickelt werden kann, die zur Umsetzung sprecherisch gestalteter Struktur und damit zu Verständlichkeit führt. In diesem Zusammenhang erweist es sich oftmals als notwendig, noch einmal das Thema Progressive stimmlose Assimilation zu vertiefen. 3.3 Rhetorische Übungen 3.3.1 Rede Unter der Voraussetzung, dass die Studierenden entweder ein zweites Semester noch in Deutschland verbringen oder zwei Übungen in einem Semester belegen können, besteht die Möglichkeit an einer Übung teilzunehmen, die Rhetorische Kommunikation zum Thema hat. Zielstellung dieser Lehrveranstaltung ist die Teilhabemöglichkeit der Studierenden an freien Diskussionen, Gesprächen in der Alltagskommunikation bzw. die Fähigkeit zu strukturierten selbständigen Redebeiträgen. Dieses Konzept ist auch an der Zweiteilung in Rede und Gespräch ablesbar. Eine ausführliche Darstellung eines derartigen Konzepts entwickelte Forster (1997). Für viele Studierende, oft auch kulturell bedingt, ist das exponierte Sprechen vor anderen ungewohnt. So besteht in den Anfangsübungen die Aufgabe zunächst darin, in Kleingruppen mit Unterstützung von Assoziationshilfen (Bildergeschichte, Comics, Stichworte etc.) eine zusammenhängende Gedankenkette zu entwickeln. Da Strukturierung und Argumentation noch keine große Rolle spielen, da die unterstützenden Elemente die Gliederung vorgeben, kann das Augenmerk auf dem Blickkontakt der Sprechenden zu den Zuhörenden, auf dem Stehen vor anderen und körpersprachlichen Aspekten liegen, so dass die Lernenden sich mit der ungewohnten Situation vertraut machen können. Schwerpunkt dieser Einheit ist jedoch bereits, dass die Intentionalität erkennbar wird, die Motivation, warum und mit welcher Absicht zu dem Hörerkreis Christa M. Heilmann 300 gesprochen wird. Elemente des Textlesens werden wieder aufgenommen, so die Beachtung der Lautstärke, des Sprechtempos und der Gliederung. Ein weiteres wichtiges Ziel besteht in der Förderung des Denk-Sprech-Prozesses. Die Leistung, während des Sprechens den nachfolgenden Gedankengang vorzubereiten, wird in vielen Kulturen muttersprachlich gefördert. Den gleichen Vorgang auch fremdsprachlich bewältigen zu können, stellt eine erhöhte Schwierigkeit dar. Auf diese Basisübungen folgt das Erarbeiten eines Stichwortzettels zu einem bestimmten Thema und anschließend das strukturierte, gegliederte Sprechen an Hand eines Stichwortzettels vor einer Gruppe. Als hilfreich erweisen sich dafür einfache Struktur modelle.2 Mit diesen Übungen ist der Anteil für die Rede am Semester gewöhnlich ausgeschöpft. Vertiefungen sind vorzugsweise im Erarbeiten von Feedback-Regeln und der intensiveren Arbeit an Redestrukturen wünschenswert. Alle erworbenen Fähigkeiten unterstützen die Lernenden sowohl in ihrer späteren Tätigkeit (Lehrervortrag, LehrerSchüler-Gespräche) als sie auch das muttersprachliche Kommunikationsverhalten beeinflussen werden. Als Studierende können sie diese Fähigkeiten bereits im Studium nutzen. Ein zusätzlicher weiterführender Schritt ist mit dem Einsatz von Visualisierungen beim Reden denkbar. Bei Rede- und Gesprächsübungen handelt es sich um sehr komplexe Übungen. Die Ausgangssituation ist sehr vom Leistungsniveau der Lernenden abhängig. So kann es sich als notwendig erweisen, sehr viel ausführlicher, als das hier dargestellt ist, vorbereitende Übungen durchzuführen, die als Teilleistungen für die Komplexübung notwendig sind. So können Stoffsammlung, Erarbeiten eines Stichwortzettels, zusammenfassen, gliedern, Gestaltung der Einleitung, argumentieren u.a. Themen ausführlicher Übungen sein. Wie in allen pädagogischen Prozessen gilt auch hier der Grundsatz, dass erst dann mit der komplexeren Form begonnen werden kann, wenn die einfacheren Strukturen beherrscht werden (vgl. auch Forster 1997). Kriterien Sprechen vor der Gruppe Denk-Sprech-Prozess Strukturieren von Beiträgen Standards Blickkontakt Intentionalität angemessene Körpersprache Sprechen mit Hilfe von Assoziationshilfen (Schlüsselwörter, Bilder etc.) Basisgliederung (Dreischritt) einfacher Fünfsatz Erarbeiten eines Stichwortzettels weiterführend: Feedback Strukturierung Visualisierung vereinfachte Feedbackregeln Videoanalyse Vertiefung von Gliederungsmodellen Kennenlernen und Anwenden von Visualisierungsmethoden Tab. 4: Rhetorische Übungen: Rede 2 Eine Zusammenstellung findet sich z.B. in Wagner 2004. Kriterien und Standards der Mündlichkeit im DaF-Unterricht 301 3.3.2 Gespräch Die komplexeste zu erlernende Kommunikationsform ist das Gespräch: Es ist für die einzelnen TN nur wenig vorplanbar, es bedarf in der konkreten Situation einer schnellen Reaktionsfähigkeit, die sprachlichen Äußerungen der übrigen TN müssen spontan verstanden werden können und es benötigt eine wenig verzögerte sprachliche Erwiderung. Diese Abläufe stellen schon an Muttersprachler hohe Anforderungen, für Lernende einer Fremdsprache handelt es sich um eine sehr komplexe Aufgabenstellung. Diese sprachlichen Anforderungen werden noch erweitert und ergänzt durch strukturelle (Regeln des Turn-takings) und argumentative (beweisen und widerlegen). Die Festigung und Weiterentwicklung der Gesprächsfähigkeit im DaF-Unterricht, über die Dialogfähigkeit an Hand erarbeiteter Themen hinaus, verbessert die kommunikative Kompetenz der Lernenden deutlich. Um keinen Bruch zu vorgearbeiteten Leistungen entstehen zu lassen, werden zunächst kleine Moduleinheiten, die als Teilleistungen im Gespräch benötigt werden und bereits angebahnt wurden, wiederholt und durch Übungen gefestigt: zusammenfassen, definieren, beschreiben, erörtern, paraphrasieren. Darauf aufbauend können eigene kleine argumentative Einheiten folgen, etwa einen Standpunkt zu formulieren und zu begründen oder die Meinung eines anderen zu widerlegen. Dabei kann der Schwerpunkt bereits auf den Partnerbezug, sowohl inhaltlichsprachlich als auch nonverbal, gerichtet sein. In sehr fortgeschrittenen Gruppen ist an die Performanz eines realen komplexen Gespräches zu denken. Dafür müssten vorbereitend Regeln des Turn-takings und Übungen zur Wahrnehmung von übergangsrelevanten Stellen, an denen Selbstwahl möglich ist, erarbeitet werden. Die Lernenden nutzen die Regeln in ihrer Muttersprache, haben sie jedoch in den meisten Fällen noch nicht bewusst reflektiert. Hier kann auch mit einem spezifisch interkulturellen Ansatz gearbeitet werden, da „Regeln“ des Gesprächs kulturell sehr unterschiedlich sind (speziell bezüglich Überlappungen und Unterbrechungen). Kriterien Strukturierung Intentionalität weiterführend: Gesprächsführung Argumentation Gesprächsleitung Tab. 5: Rhetorische Übungen: Gespräch Standards Zusammenfassen Paraphrasieren Kurzen zusammenhängenden Gesprächsbeitrag strukturiert formulieren Angemessenen Partnerbezug herstellen Turn-taking-Regeln (Selbstwahl/Fremdwahl) Übergangsrelevante Stellen (Merkmale) Standpunkt mit Begründung formulieren Widerlegung formulieren Aufgaben der Gesprächsleitung angemessen erfüllen (eröffnen, strukturieren, zusammenfassen, Wort erteilen, Themenorientierung) 302 Christa M. Heilmann Als letzte Einheit sind noch Gesprächsleitungs-/Moderationsaufgaben denkbar, die jedoch keinesfalls zu Lasten der Übungsintensität an den Gesprächseinheiten gehen sollten. Rede- und Gesprächsübungen im Daf-Unterricht speziell in heterogenen Gruppen bezogen auf die Herkunftsländer ist nur im interkulturellen Ansatz, mit all seinen didaktisch-methodischen Besonderheiten lösbar. Diese Fokussierung bereichert die Lehrveranstaltungen, fordert aber auch die Lehrenden in besonderem Maße (vgl. Heilmann 1992b). Die Gesprächsübungen unterstützen gleichermaßen wie die Redeübungen die Bewältigung studentischer Aufgaben wie die spätere berufliche Kommunikation. 4. Schlussbemerkungen Das dargestellte Konzept stellt eine konkrete Auswahl von Stoffeinheiten für eine spezifische Lehr- und Lernsituation dar. Es geht von der Grundannahme aus, dass „[...] die mündliche Kommunikationsfähigkeit der Lernenden [zu entwickeln ist], konkret: die Gesprächsfähigkeit und die Redefähigkeit von Lernenden in der Fremdsprache Deutsch. Mit dieser Schwerpunktsetzung auf den Komplexprozessen wird deutlich, dass Sprechen mehr ist als bloße Sprachverwendung, also nicht nur das Bewegen der dafür vorgesehenen Organe in einer zumindest zufriedenstellenden Weise, sondern dass es bedeutet, mit Menschen zu sprechen und vor Menschen zu reden.“ (Forster 1997: 49-50). Es handelt sich um die Darstellung eines Kerncurriculums für die Entwicklung bzw. Verbesserung der kommunikativen Kompetenz von DaF-Germanistikstudierenden. Im Zusammenklang von theoretischer Fundierung und praktischer Aneignung unter Berücksichtigung interkultureller Ansätze ist die Möglichkeit zielführend, den Lernenden damit die aktive Teilhabe an der fremdsprachigen Kommunikationsgesellschaft zu eröffnen, denn „Im Feld mündlicher Kommunikation geht es um das Verständnis im Miteinandersprechen.“ (Slembek 1997: 29) Literatur Cauneau, Ilse (1992): Hören, Brummen, Sprechen. München: Klett. Dieling, Helga (51996): Phonetik im Fremdsprachenunterricht Deutsch. Berlin/Leipzig/München: Langenscheidt. Dieling, Helga u. Hirschfeld, Ursula (2000): Phonetik lehren und lernen. Berlin/Leipzig/ München: Langenscheidt. Ehlers, Svantje (51996): Literarische Texte lesen lernen. München: Klett. Endt, Ernst u. Hirschfeld, Ursula (1995)(Hrsg.): Die Rhythmuslokomotive. Ausspracheübungen für Kinder. 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Vogel, Sigrid (1985): Determinanten des Lernerfolgs in der Fremdsprache: Ein Beitrag zur differentiellen Lernerfolgsvorhersage am Beispiel eines Kurses zur Kommunikationsfähigkeit im Französischen für Erwachsene Anfänger. Göttingen: Universitätsdruck. Diss. Wagner, Roland (92004): Grundlagen der mündlichen Kommunikation. Regensburg: bvs. Winkler, Christian (1962): Lesen als Sprachunterricht. Ratingen: Henn. Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 305-322. Elisabeth Venohr (Saarbrücken) Wissenschaftliches Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen in verschiedenen Textsorten mündlicher Kommunikation 1. Was meint „wissenschaftliches Sprechen“? „Wissenschaftliches Sprechen“ wird in diesem Beitrag in erster Linie als Sprecheraktivität im Kontext von Hochschulkommunikation und in Abgrenzung zur „wissenschaftlichen Rede“ (als Teil der Rhetorik) verstanden.1 Aus diesem Grund bleibt auch der Stilbegriff für die folgenden Ausführungen unberücksichtigt, da es nicht vorrangig um Fragen der interkulturellen Stil- oder Diskursforschung gehen soll (vgl. u.a. Schröder 1995, Vortragsstile im Kulturvergleich auch bei Kotthoff 2002 und Auer; Baßler 2007), sondern vielmehr um die spezifische Verwendung alltagssprachlicher Strukturen (vor allem der Modalverben in indirekten Sprachhandlungen) in der deutschen mündlichen Wissenschaftssprache am Beispiel von Sprachhandlungen in verschiedenen Textsorten. Diese mündliche Wissenschaftssprache müsste für das Deutsche als Fremdsprache aufgrund des disziplinübergreifenden Ansatzes des Faches wohl eher als „wissenschaftsbezogenes Sprechen“ bezeichnet werden, da durch das übergeordnete Lernziel einer 1 Eine Rede kann man als gelungen bewerten, indem man bestimmte formale Parameter wie Länge, Themabezogenheit, Aufbereitung und Präsentation des Gegenstands im Hinblick auf die Gruppe der Zuhörenden und deren Vorwissen usw. (vgl. Forster 2004: 126) auf ihre „Richtigkeit“ hin überprüft. Ein Gespräch hingegen, genauso wie Gesprächsfähigkeit, ist nicht mit Begriffen wie ‘richtig’ oder ‘falsch’ zu bewerten, da diese die Kommunikationsbereitschaft im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache hemmen. 306 Elisabeth Venohr wissenschaftsbezogenen Grundlagen-Sozialisation (u.a. Ehlich 1994, Venohr 2004) der universitäre Handlungsrahmen und nicht so sehr ein bestimmtes Fach und die Sprechweise deren Vertreter in den Fokus genommen werden soll. Dennoch dürfen disziplinspezifische Besonderheiten auch bei der Betrachtung des mündlichen Diskurses nicht außer Acht gelassen werden (zu Unterschieden des naturwissenschaftlichen und des geisteswissenschaftlichen schriftlichen Diskurses siehe u.a. Oldenburg 1992).2 Dass auch mündliche Textsorten, wie beispielsweise Vorträge, genau von diesem wissenschaftlichen Stil geprägt sind und welche Folgen dieses haben kann, zeigt die Einschätzung von Gauger: „So liegt […] für das Wissenschaftliche eine große Gefahr gerade darin, daß das wissenschaftliche Reden zu einer Art Stil, zu einer bestimmten Art zu reden wird. In den geistes- oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen haben wir in der Tat weithin das Phänomen, daß, was sich Wissenschaft nennt, zu einer puren Sprechweise verkommen ist, zu einem jeweils spezifischen, freilich mittlerweile recht interdisziplinär gewordenen ‘Diskurs’. Wissenschaftlich ist, wer auf eine bestimmte Weise zu reden imstande ist.“ (ebd. 1995 : 251f). „Wissenschaftliches Sprechen“ an Hochschulen, wie wir es verstehen, findet zwar auch in standardisierten Text(sort)en mit institutioneller Bindung statt (in Seminargesprächen, Sprechstunden, mündlichen Prüfungen usw.), jedoch kommt in diesen Gesprächssituationen einerseits der interaktionale Charakter (v.a. durch Sprecherwechsel), andererseits aber auch das durch Wissensunterschiede bedingte Rollenverhältnis stärker zum Tragen als in schriftlich konzipierten Vorträgen. Sprachhandlungen wie Nachfragen, Anliegensformulierungen oder Widersprechen werden sprachlich immer auch in Abhängigkeit vom Status bzw. vom Ausbildungsgrad des jeweiligen Sprechers realisiert. In interkulturellen Gesprächssituationen muss hierbei aber auch die Kategorie „Höflichkeit“ sowohl sprachlich als auch im weitesten Sinne „pragmatisch“ adäquat zum Ausdruck gebracht werden, was zunächst in der Interkulturellen Kommunikation in Trainingsmodulen Aufmerksamkeit gefunden hat (vgl. Müller-Jacquier 2000 u.a.), dann aber auch zu einem Forschungsfeld für Sprachwissenschaftler/innen wurde (u.a. House 1998, für Deutsch als Fremdsprache auch Rost-Roth 2003 zu Höflichkeitsstrategien bei Anliegensformulierungen).3 Bisher liegen erst zu wenigen Textsorten mündlicher Sprache Studien zur Gesprächanalyse sowie der angewandten Diskursforschung vor.4 2 3 4 Dass es auch syntaktisch-stilistische Universalia in wissenschaftlichen Fachsprachen gibt, zeigt Schwanzer (1981): „Die sachgebundene Denkweise verlangt eine adäquate sprachliche Gestaltung der Gedankengänge, also betonte Sachbezogenheit und somit Entpersönlichung des Ausdrucks sowie eindeutige, klare, erschöpfende und gleichzeitig ökonomische Darstellung des Wesentlichen.“ (ebd.: 215) Zu pragmatischen Normen der Höflichkeit in englischsprachigen wissenschaftlichen Artikeln siehe auch Myers 1989; für die Sprachhandlung Danksagung in wissenschaftlichen Texten im deutsch-englischen Vergleich siehe Sanderson 2005. Im Hinblick auf Teilhandlungen in Beratungsgesprächen, vgl. dazu Anliegensformulierungen bei RostRoth 2003 oder Erklären in mündlichen Referaten bei Hohenstein 2006. Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen 307 2. Wissenschaftliche Schreiben und Sprechen in der Forschung Es ist im deutschen Sprachraum eine eindeutige Dominanz des wissenschaftlichen Schreibens in Lehre und Forschung gegenüber der mündlichen Sprach- und Textproduktion festzustellen. Erklären ließe sich dieses mit einem Argument aus der universitären Praxis: „Wissenschaft ist ohne geschriebene Texte nicht denkbar. Schreiben ist für die Wissenschaft eine konstituierende Handlung, und Hochschulsozialisation ist in großem Maße Schreib- und Sprachsozialisation.“ (Kruse; Jakobs 1999: 19). Einigkeit herrscht aber auch darüber, dass die deutsche Wissenschaftstradition im hohen Maße von (mündlicher) Diskursivität geprägt und somit „Vermittlung und Tradierung von Wissen ohne Mündlichkeit nicht vorstellbar [ist, E.V.]“ (Ehlich 2001: 200). Die Einstellung zur Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit einer Wissenschaftstradition (und dem sich darin widerspiegelnden universitären Ausbildungssystem) spielt demnach eine große Rolle. Die textlinguistische Forschung beschäftigt sich seit über 10 Jahren intensiv mit dem Thema „wissenschaftliches und studentisches Schreiben“5, teilweise auch unter dem Aspekt des domänen- und kulturspezifischen Schreibens (Adamzik; Pieth 1997) und zunehmend auch im Hinblick auf Schreibberatung bzw. Schreibdidaktik an der Hochschule (Kruse; Jakobs; Ruhmann 1999, Pospiech 2005). Hingegen wird das wissenschaftliche Sprechen bzw. die mündliche Realisierung von Wissenschaftlichkeit eher als Vorstufe zum wissenschaftlichen Schreiben verstanden, wie der Titel eines Ratgebertextes von Heiner Boehncke „Vom Referat bis zur Examensarbeit. Schreiben im Studium.“ (2000) zeigt. Auch Ruth Essers (1997) viel beachtete Studie mit dem Titel „Etwas ist mir geheim geblieben am deutschen Referat …” bezieht sich in erster Linie auf die schriftliche Fassung des Referats, also die Haus- bzw. Seminararbeit. Anders als der wissenschaftliche Artikel, der als Vorbild für die studentische Seminararbeit anzusehen ist (vgl. Stezano Cotelo 2006: 95), sollte sich das studentische Referat nicht den wissenschaftlichen Vortrag zum Vorbild nehmen – zumindest nicht in der Wahl bzw. Realisierung der einzelnen Sprachhandlungen –, da diesem in der Regel ein schriftlich vorformulierter Text zugrunde liegt und der Adressatenkreis eines Referats studentisch ist, also eher eine Vorstufe zum Austausch mit der „scientific community“ darstellt. Das studentische Schreiben (auch das wissenschaftspropädeutische Schreiben, vgl. Steets 2003) hat in der deutschen Wissenschaftstradition bzw. -sozialisation, und somit auch in der Forschung, einen großen Stellenwert. Dies geht oft zu Lasten der mündlichen Formen wissenschaftlicher Kommunikation. Für diese Vernachlässigung des mündlichen Diskurses gibt es zahlreiche Gründe, von denen hier nur die wichtigsten erwähnt seien: 5 Einen guten Überblick über den Forschungsstand zum „wissenschaftlichen und studentischen Schreiben“ und die unterschiedlichen Ansätze (auch international) liefert die Einleitung des Sammelbandes von Gruber, Helmut u.a. (Hg.) (2006): Genre, Habitus und wissenschaftliches Schreiben. Wien 308 Elisabeth Venohr 1. Das Erstellen eines validen Korpus erfordert die Beachtung vieler Parameter, die je nach Fragestellung mehrere Ebenen betreffen können (z.B. verbale, paraverbale und nonverbale Zeichen; ethnografische Aspekte usw.). Die Erhebung mündlicher Daten erweist sich auch deshalb immer noch als schwierig, da der Zugang zu authentischen mündlichen Sprachrealisierungen in der Hochschulkommunikation zunächst einer Autorisierung des Produzenten (z.B. bei Mitschnitten) bedarf und die Verschriftlichung großer Datenmengen einen nicht zu unterschätzenden Transkriptionsaufwand bedeutet.6 2. Wissenschaftlichkeit wird auch im universitären Kontext immer erst in schriftlich fixierten Text(sort)en als solche wahrgenommen. Das sieht man auch daran, dass nur schriftliche Seminararbeiten, nicht aber Referate benotet werden. 3. Die schriftliche Fixierung dient der Überprüfbarkeit und unterstreicht die Wahrhaftigkeit der Aussage. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind überdies einem Veröffentlichungsgebot unterworfen und müssen allen anderen Wissenschaftlern/innen zugänglich gemacht werden. Hinzukommt, dass der Prozess des wissenschaftlichen Sprechens, genau wie auch der des wissenschaftlichen Schreibens, eine komplexe Handlung darstellt, die nicht ohne weiteres in allen Teilaspekten dargestellt werden kann. Empirische Sprachhandlungsforschung ist daher immer auch eine Kombination aus verscheiden Ansätzen, bei denen es in Teilgebieten zu Überschneidungen kommt (vgl. Diegritz; Fürst 1999: 33f.). 3. Ebenen der universitären Wissenschaftssprache Es lassen sich mindestens drei Ebenen der universitären Wissenschaftssprache unterscheiden, die für die Vermittlung des Deutschen als Wissenschaftssprache relevant sind. Dazu gehören: - die vorwissenschaftliche/wissenschaftspropädeutische Ebene - studien- und ausbildungsbezogene Ebene - disziplin- und berufsbezogene Ebene Für jede Ausbildungsstufe sind bestimmte mündlich sowie schriftlich produzierte Textsorten konstitutiv. Eine entscheidende Rolle spielt daher bei der wissenschaftlichen Textsortenkompetenz, neben den individuellen Sprech- und Schreibgewohnheiten, jedoch zweifelsohne das muttersprachliche Textmusterwissen, das die Grundlage für den Transfer in die Fremdsprache darstellt. Für die Praxis der fremdsprachlichen Textproduktion in der Fertigkeit „Schreiben“ hat Britta Hufeisen (1998) das Problem der Kulturspezifik von Textsorten, was sich auch auf die mündliche Textproduktion übertragen ließe, wie folgt formuliert: „Texte sind kulturspezifisch geprägt. Dies wird besonders deutlich, wenn Lernende Texte in einer Fremdsprache produzieren und dabei die Kulturspezifik ihrer Erstsprache für die 6 Ausnahmen bilden hier die Arbeiten von Guckelsberger 2005 (25 Referate ausländischer und deutscher Studierender) und Hohenstein 2006 (Gesamtkorpus von 30 Vorträgen japanischer und deutscher Wissenschafter /innen) sowie das Freiburger Korpus zu deutschen und russischen Wissenschaftsgattungen bei Baßler 2007. Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen 309 fremdsprachliche Textproduktion übernehmen. Es ist den Lernenden in den meisten Fällen nicht bewußt, daß es verschiedene Kultur- und Sprachstile gibt (vgl. Hufeisen 1998). Oft ist ihnen die eigenkulturelle Spezifik nicht einmal bewußt.“ (Hufeisen 1998: 1). An dieser in der Praxis oft zu beobachtenden, jedoch noch nicht ausreichend durch Studien nachgewiesenen Erfahrung, wird neben der hier angesprochenen mangelnden Reflexion über das Textmusterwissen sowohl in der Mutter- als auch in der Fremdsprache deutlich, dass sich die wissenschaftssprachliche Textproduktion vor allem auf Texte und Textsorten der schriftlichen Sprache konzentriert. So erklärt sich auch der Fokus auf Schreibwerkstätten sowohl für Studierende mit Muttersprache Deutsch (z.B. Bünting; Pospiech 2003/2005 Universität Duisburg-Essen) als auch für Nicht-Muttersprachler (Zeilinger Universität Tübingen 2005, hier: asiatische Studierende). Das Schreiben wird zu einer wichtigen Schlüsselqualifikation im Hochschulstudium aufgewertet. Anleitungen und Betreuungsangebote zum „wissenschaftlichen Sprechen“ werden jedoch nach wie vor in allgemeinen Tutorien, in der Regel unter dem Titel „Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens“ subsumiert und nicht als gesonderte Kurse ausgewiesen. Mündliche Textproduktion bezieht sich dabei vorrangig auf die Textsorte „mündliches Referat“ und nicht auf die anschließende Diskussion in Form eines Seminargesprächs oder die Textsorte Sprechstundengespräch.7 Das bedeutet, dass der alltäglichen Wissenschaftssprache im Studium keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird, da bei deutschen Muttersprachlern/innen alltagssprachliche Sprechkompetenz aufgrund ihrer deutschsprachigen Sozialisation als gegeben vorausgesetzt wird. Dass es auch hier zu Registerverstößen kommt, zeigt das Beispiel einer deutschen Muttersprachlerin, die in einem E-Mail-Brief, weder die Dichotomie Schriftlichkeit-Mündlichkeit erkennend noch den Funktionalstil differenzierend, die Ankündigung der Dozentin [hier: die Autorin] über die zu verlegende Sprechstunde mit der Äußerung „Kein Thema.“ kommentiert und damit ihre Zustimmung signalisieren möchte. Eine Bewusstmachung von unterschiedlichen Registern und Varianten der Höflichkeitsbekundung nach institutionalisierten Rollen wäre demnach nicht nur für Studierende nicht-deutscher Muttersprache angebracht. 4. Zur Textsorten- und Kulturspezifik des wissenschaftlichen Diskurses Der Begriff „Diskurs“ wird in vielen linguistischen Arbeiten heute noch synonym zu „Gespräch“8 und nicht – wie in textlinguistischer Perspektive – als „prinzipiell offene Menge von thematisch zusammengehörenden und aufeinander bezogenen Äuße7 8 Einen neuartigen Typus methodisch-didaktischer Handreichungen für Lehrende in Studienstrategiekursen bietet Grit Mehlhorn 2005 mit Anleitungen zu alltagssprachlichen Handlungen im universitären Kontext, jedoch ohne die sprachlichen Register genauer im Grad der Höflichkeit sowie Direktheit/Indirektheit zu unterscheiden. Z.B. bei Hohenstein 2006: „Aus mehr als 30 Diskursen des Gesamtkorpus wurden je sieben deutsche und sieben japanische Vorträge […] ausgewählt.“(ebd.:28); „wissenschaftlicher Vortrag“ als Diskursart (ebd.: 174). 310 Elisabeth Venohr rungen“ (Adamzik 2001: 254) verstanden.9 Unbestritten ist in allen Ansätzen die Intertextualität als Text- und Diskursmerkmal: „Keine Äußerung und kein Text entsteht unabhängig von anderen.“ (ebd.). Kulturspezifisch ist nun u.a. der Umgang mit den so genannten „Vor-Texten“, d.h. sowohl der Umgang mit fremdem Gedankengut (Zitieren in der chinesischen Wissenschaftskultur, vgl. Zeilinger 2005: 11) als auch die Art der Zitat-Bewertung (Wer wird wie mit welcher Funktion zitiert?) sowie die einzelsprachliche Realisierung der Sprachhandlung Zitieren. In Bezug auf Textsortennormen kann man jedoch unabhängig von der jeweiligen nationalen Wissenschaftstradition feststellen: „Wissenschaftliche Textsorten weisen spezifische Merkmale auf. Diese Textmerkmale variieren in Abhängigkeit von der Textsorte, von dem jeweiligen Fach und von kulturspezifischen Faktoren.“ (Kruse; Jakobs 1999: 23). Die Vermittlung wissenschaftssprachlicher Textsortenkompetenz sowohl im schriftlichen als auch mündlichen Bereich dient der Studierfähigkeit und darf daher bei den Studierenden nicht als bereits vorhanden vorausgesetzt werden, auch wenn bei deutschen Muttersprachlern/innen das wissenschaftspropädeutische Schreiben in der Schule eine Vorstufe zur Wissenschaftlichkeit darstellt (vgl. Steets 2003 zur Facharbeit in der gymnasialen Oberstufe, die bisher noch nicht in allen Bundesländern eingeführt wurde).10 Kulturspezifische Aspekte von Textsorten lassen sich an folgenden Merkmalen illustrieren: 1. Null-Äquivalenz der jeweiligen Textsorte in der Ausgangskultur (Krause 2000) 2. Bei partieller Äquivalenz Unterschiede in: - sekundären Textfunktionen (Orientierung auf den Erklärungsgegenstand vs. stärkere Handlungsorientierung in Vorträgen japanischer Wissenschaftler im Gegensatz zu deutschen Referenten, vgl. Hohenstein 2006: 306) - der Interaktionsmodalität (ernst-unernst z.B. in mündlichen Prüfungen, vgl. Euromobil bei Ylönen 2006) - textsortenspezifischen Illokutionsprofilen (keine „Geschichte“ erzählen bei Anliegensformulierungen in deutschen Sprechstunden, vgl. Rost-Roth 2003: 5) - intertextuellen Bezügen (Unterschiede beim Zitieren und Bewerten von Sekundärliteratur, vgl. Baßler 1999 zum Zitieren von literarischen Autoritäten im russischen soziologischen Diskurs) und - einzelsprachlichen Realisierungen von wissenschaftssprachlichen Sprachhandlungen (Formulierungsmuster und die Kategorie „Indirektheit/Direktheit“, für die deutsche Wissenschaftssprache vgl. Panther 1981) Für die mündliche Kommunikation gilt grundsätzlich die entlastende Funktion „kommunikativer Gattungen“ (Luckmann 1988): Deren Kenntnis führt zu einer effektiveren 9 10 Ausführlicher siehe dazu Wolfgang Heinemann 2005. Die ethnografischen Untersuchungen von Gruber und Wetchanow (2006) zur Textsorte „Seminararbeit“ haben gezeigt, dass die generelle Relevanz, die die Lehrveranstaltungsleiter dem wissenschaftlichen Schreiben beimessen, in Abhängigkeit vom Studienfach und dessen Berufsorientierung steht (ebd.: 260ff.). Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen 311 Gestaltung der Kommunikation, das Fehlen einer solchen Gattung oder Diskurstyps hingegen bewirkt, dass es: „[...] in interkulturellen Begegnungssituationen […] aufgrund unterschiedlicher Realisierung einer „kommunikativen Gattung“ (hier: Sprechstundengespräch) oder ihrer Null-Äquivalenz in der Vergleichskultur zu Problemen kommen [kann, E.V.] (vgl. Günthner 2001: 22).“ (Venohr 2004: 139). Auch das „Illokutionsprofil“ kann kulturspezifisch sein, d.h., dass der prototypische Ablauf von Gesprächen in konventionalisierter Abfolge der Sprachhandlungen von einer Sprach- und Wissenschaftskultur zur anderen variieren kann. Daher ist die Vermittlung typischer Ablaufschemata alltagssprachlicher Wissenschaftskommunikation in Studienstrategiekursen besonders wichtig. Mehlhorn (2005: 34) schlägt folgende typische Sprachhandlungsabfolge für Sprechstunden an deutschen Universitäten vor: - Dozenten begrüßen, evtl. sich vorstellen/Kontext herstellen - Anliegen formulieren - Fragen stellen - Interesse bekunden - um Hilfe bitten - nachfragen - Gesprächsergebnis zusammenfassen - sich bedanken, sich verabschieden Es handelt sich bei diesen Handlungen um typische „Kultureme“ (nach Oksaar 1988), d.h. abstrakte Einheiten, die in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Beziehungsebenen usw. unterschiedlich realisiert werden und die durch so genannte „Behavioreme“ zum Ausdruck kommen: „ […] für das Funktionieren der Sprache in Interaktionssituationen [sind] lexikalische Mittel, eine normgerechte Aussprache und Grammatik keineswegs immer die einzigen oder gar primären Faktoren [...]. Richtige Grammatik mit falschen Behavioremen kann für den Sprecher schlimmere Folgen haben als falsche Grammatik mit richtigen Behavioremen. […]. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, daß die vieldiskutierten Sprachbarrieren häufig auch Kulturbarrieren sind. Es gilt, sie als solche zu erkennen.“ (ebd. 1988: 69). Sprachliche Kultureme müssen zunächst als solche erkannt werden, um diese dann zum Gegenstand der Fremdsprachenvermittlung zu machen (vgl. Foschi 2006: 93). Für universitäre Begegnungssituationen kann die sprachliche Adäquatheit, die sich funktional gesehen in grammatischen Formen, wie beispielsweise in unterschiedlichen Modalverben manifestiert, allerdings entscheidend sein für das Gelingen eines Beratungsgesprächs. Zur Bewältigung dieser kommunikativen Aufgabe bedarf es außerdem eines (landes-) spezifischen Institutionenwissens (u.a. Ehlich; Rehbein 1980), für das insbesondere Kenntnisse über die Rolle der Aktanten, d.h. die Verteilung ihrer Redebeiträge sowie die Auswahl und Reihenfolge der konstitutiven, charakteristischen und zulässigen Interaktionsschemata entscheidend sind. Elisabeth Venohr 312 Daneben stellen die fremdsprachliche Realisierung der wissenschaftssprachlichen Handlungen für Studierende nicht-deutscher Muttersprache – und damit auch aus einer anderen wissenschaftlichen Sozialisation stammend – die größten Probleme im deutschen universitären Wissenschaftsdiskurs dar.11 5. Textsortenbeschreibung „Bei der Beschreibung von Text(sort)en stehen alle Textsortenmerkmale in Abhängigkeit zur Textfunktion (vgl. Sandig 2000): Sie ist sowohl Grundlage für die Klassifikation als auch für die Textanalyse, bei der die Realisierung eines Textmusters auf typische textinterne und textexterne Merkmale hin untersucht wird.“ (Venohr 2007: 77). Im Folgenden sollen nun die wichtigsten mündlichen (Gesprächs-)Textsorten in der Hochschulkommunikation, die explizit dialogisch angelegt sind (daher auch nicht das mündliche Referat), skizziert werden. a) Bei dem Seminargespräch handelt es sich um eine disputierende Textsorte, für die das Argumentieren das übergeordnete Handlungsschema darstellt, das sich wiederum aus mehreren Sprachhandlungen zusammensetzt (BEGRÜNDEN, SCHLUSSFOLGERN usw.). Durch die persuasive Struktur des Seminargesprächs können einzelne Redebeiträge als „Appelltexte“ angesehen werden, die eine Meinungsänderung bzw. Zustimmung intendieren. Anders als in anderen rein monologischen appellativen Textsorten ist das Seminargespräch themafixiert, zeitlich begrenzt, diskursiv, annähernd symmetrisch und weist über die bereits genannten noch folgende typische Sprachhandlungen auf (vgl. Mehlhorn 2005): mündlichen Beitrag ANKÜNDIGEN, auf zuvor Gesagtes VERWEISEN, NACHFRAGEN zur Verständnissicherung u.a. b) In einem Sprechstundengespräch ist ein wichtiges Kernschema das des „Beratens“ (ausführlicher dazu Rost-Roth 2003: 3). Der auch hier nachweisliche Appellcharakter dieses Diskurstyps zielt aber eher auf die Verhaltens- als auf die Meinungsbeeinflussung ab. Das liegt an der stark instruierenden Funktion von Beratungsgesprächen insgesamt. Diese erfordert auch eine andere Rollenverteilung als im Seminargespräch, in dem der Dozent in der Regel als Moderator auftritt, wohingegen in der Sprechstunde die bindende Kraft der Anweisungen entscheidend ist. Für die Sprechstunde kann man also folgende Textsortenmerkmale anführen: themafixiert, zeitlich begrenzt, asymmetrisch durch Ratgebenden und Ratsuchenden, typische Sprachhandlungen wie Anliegensformulierung u.a. (siehe unter Punkt 3). c) Die mündliche Prüfung stellt die universitäre Gesprächstextsorte mit dem höchsten Formalisierungsgrad von allen drei Vergleichstextsorten dar, was sich aus dem Vergleichbarkeitsanspruch von Prüfungsleistungen ableiten lässt. Bereits die Art der zeitlichen Begrenzung ist viel stärker sanktioniert als in den anderen beiden Gesprächsformen. Man könnte aufgrund des offiziellen Charakters einer mündlichen 11 Forster (2004) kritisiert zu Recht, dass die Richtigkeitsbreite in der mündlichen Kommunikation in universitären DaF-Kursen zu eng sei und dass das Festhalten an einmal gelernten Standards, gerade bei Lehrenden in Mittel- und Osteuropa, dazu führe, dass man die Formenvielfalt der mündlichen Sprachnorm, z.B. auch in mündlichen Prüfungen, nicht gerecht wird (vgl. ebd.:129). Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen 313 Prüfung, der durch die Protokollführung noch verschärft wird, von einem Obligationstext sprechen. Die appellativen Redebeiträge wiederum, genau wie auch im Sprechstundengespräch, beschränken sich auf die Person des Dozenten. Typische Textsortenmerkmale der mündlichen Prüfung sind also: themafixiert, zeitlich begrenzt, Qualifikationsabsicht, asymmetrisch und mit folgenden typischen Sprachhandlungen, die jeweils von Prüfer und Student unterschiedlich in Form und Häufigkeit realisiert werden: BEWERTEN, NACHFRAGEN, RICHTIG STELLEN, ERGÄNZEN (vgl. Mehlhorn 2005). Dass mündliche Prüfungen einer starken disziplin- und kulturspezifischen Prägung unterliegen, zeigt die Textsortenvariante „Prüfungsgespräch“. In der Tat hat der Prüfungskandidat in dieser für den deutschen Hochschuldiskurs typischen Auffassung von selbst mitzubestimmendem Prüfungsverlauf eine emanzipiertere, aber auch verantwortungsvollere interaktive Rolle einzunehmen als bei einer reinen Wissensüberprüfung. Ausländische Studierende sollten früh auf diese aktive Gesprächsgestaltungsmöglichkeit hingewiesen werden, die aber auch eine kommunikative Kompetenz in einer stressbehafteten Prüfungssituation voraussetzt. Welche Sprachhandlungen nun direkt oder indirekt und mit welchem Ziel bzw. in welcher Textsorte realisiert werden, soll im nächsten Kapitel erläutert werden. 6. Sprachhandlungen in der mündlichen Wissenschaftskommunikation Es wurde bereits mehrfach festgestellt (vgl. dazu auch Venohr 2004: 143ff.), dass neben der Assertion noch weitere, auch indirekte Sprachhandlungen, die illokutive Struktur von Wissenschaftstexten ausmachen (vgl. Ehlich 1993). „Unter Illokution wird die Redeabsicht eines Sprechers verstanden, die dieser mit seiner Äußerung (oder mit einem Teil seiner Äußerung) primär verbindet und seinem Gesprächspartner mehr oder weniger deutlich machen will. Die Redeintention ist dabei eine spezifische Teilmenge der wesentlich umfangreicheren Gesamtmenge der kommunikativen Funktionen der Äußerung (des Äußerungsteils).“ (Diegritz; Fürst 1999: 47). Illokutionsindikatoren können dem Hörer dabei helfen die illokutionäre Rolle eines Sprechaktes herauszufinden (vgl. ebd.: 60). Diese kommen aber in Unterrichtsgesprächen nicht in gleicher kommunikativer Funktion und Häufigkeit vor wie im Vergleich zu Seminar- oder Sprechstundengesprächen. In Unterrichtsgesprächen ist also der geringere Grad an Institutionalisierung an der Häufigkeit alltagssprachlicher Phänomene, wie beispielsweise dem Einsatz von Modalpartikeln erkennbar, durch die diese Gesprächsform in die Nähe der Umgangs- oder Alltagssprache rückt. Auch die Verwendung der Modalverben, die hier von den Autoren als Illokutionsindikatoren angeführt werden, unterscheidet sich entscheidend von der im mündlichen Wissenschaftsdiskurs und kann bei unreflektierter Übertragung zu „falschen“ Illokutionen führen (ausführlicher unter Punkt 6.2). Auf der anderen Seite sind bestimmte Sprachhandlungen auch an den Status bzw. die kommunikative Rolle des Sprechers gebunden. So wird weder der Schüler noch der Elisabeth Venohr 314 Student ermunternde Aufforderungen gegenüber der Lehrperson produzieren (klassifiziert als „nicht-bindende“ Direktiva, vgl. ebd.: 74), da dies nicht der durch die Institution vorgegebenen Rolle entspräche. Bei wissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionen – im Gegensatz zum studentischen Referat – steigt der Anteil der indirekten Sprachhandlungen, d.h. die Assertion als wichtigste Sprachhandlung erhält durch eine sprachspezifische Realisierung des ERKLÄRENS im deutschen Wissenschaftsdiskurs (vgl. Hohenstein 2006) eine sekundären Illokutionsfunktion: Es steckt immer auch die Betonung der wissenschaftlichen Autorität oder auch eine indirekte Bewertung hinter der „sachlichen“ primären Sprachhandlung. Wissenschaftliches Sprechen aus der Sicht des Lehrveranstaltungsleiters im universitären Kontext enthält genau wie die Sprache des Lehrers im Unterrichtsgespräch Grundelemente des didaktischen Sprechens (nach Spanhel 1971 in Diegritz; Fürst 1999: 13ff). Somit ist nicht nur das sprachliche Vorbild des Lehrenden im DaF-Unterricht entscheidend, sondern auch die Reflexion über illokutive Mehrdeutigkeit und Bedeutung des Kontexts bei der Interpretation von Sprachhandlungen, in die auch – anders als bei der Betrachtung des Sprechaktes – außertextuelle Faktoren einfließen (ausführlicher dazu ebd.: 41ff.). 6.1 Indirekte Sprachhandlungen „Die in der Literatur am häufigste genannte Intention für den Einsatz von indirekten Sprechakten ist das Bemühen um eine höfliche Ausdrucksweise (vgl. z.B. Sökeland 1980: 153 oder Searle 1990: 69).“ (Diegritz; Fürst 1999: 54). Im wissenschaftlichen Diskurs scheinen sich hier mehrere Funktionen zu überlagern. Panther (1981) stellt in diesem Zusammenhang Folgendes fest: „In wissenschaftlichen Texten besteht jedenfalls die Funktion der […] indirekten Sprechhandlungen nicht darin, sich als höflicher Kommunikationspartner zu erweisen, sich selbst oder dem Hörer Ausweg- oder Fortsetzungspotentiale zu schaffen, Verpflichtungen zu umgehen, einen Status zu verschleiern u.ä. […]. Plausibler scheint es, den Gebrauch […] als Techniken der Imagepflege [im Anschluss an Goffman, E.V.] anzusehen. Das Selbstbild, das mit Hilfe indirekter Sprachhandlungen konstruiert werden soll, wäre das des ‘objektiven’ Wissenschaftlers.“ (ebd.: 258). Im wissenschaftlichen Diskurs geht es also nicht um die Implizitheit, bei der vom Hörer eine „implizit kontextuelle Realisierung“ (Wunderlich 1976: 310) geleistet werden muss, d.h. der Hörer „wesentliche Prämissen aus dem Situationskontext zu nehmen hat […].“ (ebd.). Diese alltagssprachliche entspricht nämlich nicht der Form von Indirektheit, wie sie Panther hergeleitet hat, da hier vor allem auch der propositionale Gehalt erschlossen werden muss, was der Exaktheit von Fach- bzw. Wissenschaftssprachen wiederspräche. Das bedeutet, dass weder die gemein- oder alltagssprachliche Form der Indirektheit, die oft über den Satztyp „Fragesatz“ realisiert wird, noch die o.g. Unterart von Indirektheit Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen 315 für den Wissenschaftsdiskurs relevant sind, es sei denn, es handelt sich um ein wissenschaftsbezogenes Gespräch mit einem gewissen Vertrautheits- bzw. Bekanntheitsgrad . Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, überwiegen in der mündlichen Kommunikation die indirekten Sprechakte, was sich durch die Prinzipien des kooperativen Handelns in der Interaktion am Beispiel der Sprachhandlungen BITTEN oder AUFFORDERN verdeutlichen lässt.12 Im wissenschaftlichen Diskurs müssen nun verschiedene Formen indirekter Sprechakte unterschieden werden, in denen der fachsprachliche Gebrauch der Modalverben einen Kernaspekt bildet. Dieser weicht aufgrund variierender ‘Situationstypen’ von den für die Gemeinsprache angenommenen „epistemischen“ oder „zirkumstanziellen“ Funktionen ab.“ (Venohr 2004: 144). 6.2 Modalität und Indirektheit Modalität umfasst verschiedene Bereiche, von denen die Modalverben sowohl in ihrer lexikalischen Beschaffenheit als auch der muttersprachlich-idiomatischen Verwendung sowie der Polyfunktionalität im DaF-Unterricht besondere Aufmerksamkeit finden. Am Beispiel der Modalverben lassen sich außerdem verschiedene Formen von Modalität unterscheiden: „Unter epistemischer Modalität verstehen wir den erkenntnistheoretischen Grad an Gewissheit bezüglich einer bestimmten Überzeugung bzw. die Art, wie dieser Grad an Gewissheit sprachlich behauptet bzw. zum Ausdruck gebracht wird.“ (Rheindorf 2006: 210). Daneben ist die nicht-epistemische oder auch zirkumstanzielle Modalität Ausdruck von Notwendigkeit bzw. Möglichkeit (vgl. Doitchinov 2001), die sich in folgenden Modalverben ausdrückt: - deontische Modalität: sollen, nicht müssen - dispositionelle Modalität: können, müssen - volitive Modalität: wollen, mögen Die Häufigkeit ihrer jeweiligen Verwendung ist teilweise auch disziplinenspezifisch, wie Untersuchungen von Rheindorf (2006) zeigen, wonach in Seminararbeiten von Studierenden der Wirtschaftsgeschichtswissenschaften die Häufigkeit modalisierter Ausdrücke geringer ausfällt als in den Arbeiten im Bereich der Personalwirtschaft und der Wirtschaftspsychologie. Die mehrfach realisierte Mischform der deontischen Modalität (Gruber/ebd. u.a.: 268.) lässst sich auf die inhaltliche Perspektivierung des Faches zurückführen. Ob sich diese Tendenz auch auf die Modalität des mündlichen Diskurses übertragen lässt, kann im Rahmen dieses Beitrags nur als Frage formuliert werden, der empirisch nachgegangen werden müsste. Ein weiterer Aspekt bezüglich des Gebrauchs der Modalverben in der Wissenschaftssprache ist – zumindest für den schriftlichen Bereich – deren Bewertung beispielsweise in Seminararbeiten: 12 Der Satztyp „Fragesatz“ wird in seiner „Höflichkeitsfunktion“ oft als prototypisch für indirekte Sprachhandlungen aufgefasst. 316 Elisabeth Venohr „Damit scheint ein zu hohes Maß an (insbesondere epistemischer) Modalität eine zu große Unsicherheit der Schreibenden in Bezug auf die von ihnen präsentierten Inhalte und Schlussfolgerungen zu implizieren, was sich offenbar in einer schlechteren Beurteilung niederschlägt.“ (Gruber u.a. 2006: 286). Aber auch hier muss wieder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie dem jeweiligen Fach unterschieden werden. Eine valide Aussage lässt sich außerdem aus diesen Einzelbeobachtungen nicht ziehen. Dennoch ist an zahlreichen Formulierungsmustern aus der mündlichen Wissenschaftskommunikation der Zusammenhang zwischen dem Gehalt der Aussage und dem (Wissens-)Status des Produzenten erkennbar: a) „Zu diesem Fragenkreis darf ich eine kleine Fallstudie beitragen.“ (Kalverkämper; Weinrich 1986: 86) b) „Ich darf vielleicht die gerichtliche Aussage als ein besonders sprechendes Phänomen anführen.“ (Panther 1980: 235) c) „Das dürfte jetzt klar geworden sein.“ Die Beispiele a) und b) zeigen, dass das Modalverb „dürfen“ in bestimmten Kontexten weder die Sprachhandlung UM ERLAUBNIS BITTEN noch einen Grad an Wahrscheinlichkeit ausdrückt (Begründung: kein Konjunktiv II wie im dritten Beispielsatz), sondern dass es sich um so genannte „verdeckte Performative“ handelt, die ein typisches Stilmittel der deutschen Wissenschaftssprache darzustellen scheinen (vgl. Panter 1980: 245): Der Sprecher ist in der Lage, die angekündigte Handlung auszuführen. Damit hat „dürfen“ hier neben der Autoritätsbekundung des fachlich kompetenten Sprechers – in einem studentischen Referat wäre diese Formulierung rollenunangemessen – die Funktion „interaktiver Verbindlichkeit“, gleichzusetzen mit dem Quasi-Modalverben „mögen“ oder „werden“ (vgl. Redder 1984: 221). Es geht dem Sprecher also in erster Linie darum, den Plan oder seine Redeabsicht anzuzeigen. Es handelt sich also um ein text- und gesprächssortenspezifisches Formulierungsmuster. Im Beispielsatz c) ist die Modalität durch den Konjunktiv II realisiert und zeigt bei entsprechender wissenschaftlicher Kontextualisierung, dass es hier keineswegs um einen Ausdruck von Höflichkeit geht. Vielmehr kann diese Äußerung interpretiert werden als „weitere Fragen/Wortmeldungen werden nicht mehr zugelassen“ (also als Zeichen Gesprächsbeendigung in einer Sprechstunde oder als Entzug des Rederechts durch einen Moderator in einer Vortragsdiskussion). Es wäre aber auch eine indirekte Aufforderung des Seminarleiters an den Referenten zur Fortsetzung, z.B. bei Überschreitung der Redezeit, möglich. An diesen drei Äußerungen sollte verdeutlicht werden, wie wichtig gerade im wissenschaftlichen Kontext die Erkundung der institutionellen Determinierung der Äußerung (Diegritz; Fürst 1999: 63) ist. Denn „bestimmte sprachliche Formen, die in informellen Gesprächen beliebig verwendbar und variierbar sind, werden innerhalb von Institutionen zu idiomatischen Formeln.“ (Wunderlich 1983: 86f.). Auch prosodische Merkmale sind – ähnlich wie die für nicht-deutsche Muttersprachler/innen nur mit viel Mühe nachvollziehbare Verwendung der deutschen Modalparti- Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen 317 keln – wichtige Illokutionsindikatoren für indirekte Sprachhandlungen und sollten in mündlichen Kommunikationssituationen kontextualisiert und eingeübt werden. Die Illokution der Äußerung „Sie können mich nicht dauernd unterbrechen.“ ist ohne Bestimmung des Kontexts mittels der o.g. zusätzlichen Illukationsindikatoren nicht eindeutig zu bestimmen. „Ob es sich um einen Vorwurf, eine Ermahnung, eine Aufforderung, einen expressiven Sprechakt des Erstaunens handelt, ist nur aus Kenntnis der Situation, insbesondere der Rollenverhältnisse und des institutionellen Rahmens der Äußerung zu schießen.“ (Sökeland 1981: 81). Die Expressivität beim wissenschaftlichen Sprechen ist grundsätzlich ausgeprägter als im schriftlichen Sprachregister, sodass zum studentischen Sprechen auch Abtönungspartikeln gehören, was sich durch eine geringere Sachkenntnis und mangelnde Vortragserfahrung erklären lässt. Durch die Verwendung von Modalpartikeln erreicht der Vortragende eine Abschwächung seiner Äußerung und somit eine Absicherung gegenüber der inhaltlichen Korrektheit. 7. Didaktische Konsequenzen 7.1 Registerunterschiede in mündlicher und schriftlicher Wissenschaftskommunikation Der Integration des Phänomens „Wissenschaftskommunikation“ in die Vermittlung des wissenschaftsbezogenen Sprechens muss zunächst eine stärkere Differenzierung in Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Alltags- oder auch Gemeinsprache vorausgehen. Den Kursteilnehmern/innen an studienvorbereitenden Kursen (Online- oder „Sur-Place“-Kursen) sollte bewusst gemacht werden, dass stark idiomatisierte Formulierungsmuster in Textsorten gesprochener und geschriebener Sprache unterschieden werden und dass diese erlernbar sind. Außerdem müsste der Aspekt „Höflichkeit“ im Zusammenhang mit der Kategorie Direktheit / Indirektheit von Sprachhandlungen in verschiedenen Interaktionskonstellationen reflektiert werden (zunächst herkunftssprachenunabhängig, in einem zweiten Schritt u.U. auch kulturkontrastiv). An einer Textsorte wie der E-Mail, derer sich nahezu alle DaF-Lernenden bereits in ihrer Muttersprache bedienen (Anknüpfen an das muttersprachliche Textsortenwissen), ließe sich dieser Registerunterschied besonders gut illustrieren, da hier auch viele authentische Texte aus der Praxis der Studienberatung vorliegen bzw. zugänglich gemacht werden können. Besonders grundlegend ist die Verbindung mehrerer Fertigkeiten, da in der Kommunikation einerseits starke intermediale Textsortenbezüge bestehen, andererseits das Planen, Formulieren und Redigieren als die drei elementaren Handlungsschritte bei der Informationsvermittlung gleichermaßen für beide produktiven Fertigkeiten gelten. Man sollte daher auch nach Kombinationsmöglichkeiten des wissenschaftlichen Schreibens mit dem wissenschaftlichen Sprechen suchen und diese strukturell nutzen. Mündliche Texte entstehen aus der Lektüre und dem Exzerpieren wissenschaftlicher Artikel und 318 Elisabeth Venohr sind daher auch sprachliche und argumentativ-strukturelle Vorbilder für das mündliche Referat. 7.2 Studienvorbereitende Lernprogramme und Studienstrategiekurse Bereits vor dem Deutschlandaufenthalt sollten die Studienanwärter/innen auf die spezifischen Kontaktsituationen an deutschen Hochschulen und den darin realisierten Textmustern hingewiesen werden. Diesem Grundsatz entspricht das Konzept von Euromobil13: „In den Sprachtrainingsprogrammen für fortgeschrittene Lerner geht es um die Bewältigung mündlicher Studiensituationen, in den Programmen auf Anfängerniveau wurden daneben auch solche zur Bewältigung des Alltags aufgenommen. Grundlage der Übungen bilden authentische und semi-authentische Videoaufnahmen (Studienberatung, Vorlesung, Seminar, Prüfung, Dienstleistungen, Freizeit usw.). Die Programme enthalten Aktivitäten zum Training folgender Fertigkeiten: Globales und lokales Hör-Seh-Verstehen Hör- und Leseverstehen Training von Lexik und Interaktionsstrategien Evaluation mündlicher Kommunikation und Diskussion Schreiben und Sprechen“ (www.euro-mobil.org/inhalte) Insbesondere durch die Differenzierung der Höreraktivitäten (z.B. der Einschätzung von Äußerungen des prüfenden Dozenten durch Studierende, ausführlicher dazu Ylönen 2006) erreicht der Studienanwärter eine Interaktionskompetenz, die entscheidend sein kann für den Studienerfolg (hier: lenkende Signale des Prüfenden zu erkennen). Durch den landeskundlichen Ansatz dieses Informationsprogramms wird dem Anwender auch ein Institutionenwissen vermittelt, das auch für die sprachlich-kommunikative Orientierung von interkultureller Relevanz ist. Neben Hörübungen zu authentischen Realisationsformen mündlicher Sprache (z.B. die Vorlesung) sollten weitere Übungstypen gezielt eingesetzt werden. Dazu gehören: - Hör- und Sehübungen (z.B. semi-authentische Sequenzen zur Sensibilisierung für gelungene und nicht-gelungene Sprechstundengespräche auf der Begleit-CD bei Mehlhorn 2005), um die Komplexität von Gesprächen und Kulturemen zu verdeutlichen, - Einüben von Höflichkeitsstrategien am Beispiel von Frageeinleitungen zur Abschwächung des Aufforderungscharakters (vgl. hierzu auch Rost-Roth 2003: 16), d.h. den idiomatischen Charakter indirekter Sprechakte/Sprachhandlungen in Gesprächen herausarbeiten (z.B. eine indirekte Frage als Aufforderung verstehen: Ich wüsste gerne, ……) und 13 „EUROMOBIL ist ein handlungsorientiertes, multimediales Übungs- und Informationsprogramm zur Förderung studentischer Mobilität. Zielgruppe sind Studenten, die in Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Polen, Portugal, Rumänien, Tschechien oder Ungarn studieren wollen. Programme für Deutsch, Englisch, Finnisch und Ungarisch liegen vor und können kostenlos aus dem Web heruntergeladen oder als CD-ROMs bestellt werden auf http://www.jyu.fi/euromobil. Programme für Französisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch und Tschechisch sind in Arbeit und sollen 2007 fertiggestellt werden.“ (unter: www.euro-mobil.org/inhalte, zuletzt gesehen am 15.09.2007) Sprechen an deutschen Hochschulen: Indirekte Sprachhandlungen 319 - kontrastive Übungen zur Verwendung und Funktion von Modalverben im wissenschaftlichen Diskurs im Vergleich zur Gemeinsprache. Bei allen Übungsformen und Methoden zur Stärkung der kommunikativen Kompetenz im Bereich des universitären bzw. wissenschaftlichen Sprechens muss der „soziale Status“ sowie die fachliche Autorität (Fachmann oder Fachmann in Ausbildung) als interaktionsbestimmend erkannt werden. Dies erfordert neben einer nach Registern sprachlich differenzierten auch eine interkulturelle Herangehensweise, die sich allerdings nicht auf die Beschreibung von nationalen Vortragsstilen beschränken darf, sondern vor allem die diskursspezifischen Textsortenkonventionen in der Einzelsprache berücksichtigt. Literatur Adamzik, Kirsten (2001): Sprache: Wege zum Verstehen. Tübingen/Basel: Francke. Auer, Peter; Baßler, Harald (Hrsg.) (2007): Reden und Schreiben im Studium. Frankfurt a.M., N.Y.: Campus Verlag. Baßler, Harald: „Der folgende Diskurs hat eine empirische Basis“. Intertextualität in deutschen und russischen soziologischen Zeitschriftenaufsätzen. Vortrag GAL – 30. Jahrestagung Frankfurt a. M. – 30.09.-02.10.1999 (unveröffentlichtes Manuskript). Boehncke, Heiner (2000): Vom Referat bis zur Examensarbeit. Schreiben im Studium. Wiesbaden: Falken. Diegritz, Theodor; Fürst, Carl (1999) (Hrsg.): Empirische Sprechhandlungsforschung. 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Göttingen: Universitätsverlag, 323-342. Andrea Schilling (Münster) & Kristin Stezano Cotelo (Saarbrücken) Wie komm ich nur zu Wort? Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht Vorbemerkung Mit der kommunikativen Wende hat die Erkenntnis von der Bedeutung der gesprochenen Sprache in die Fremdsprachdidaktik Eingang gefunden. In nicht immer befriedigender Weise wurden Ergebnisse der Linguistik im Fremdsprachunterricht umgesetzt. Davon zeugt die Diskussion um die Authentizität von Lehrwerksdialogen ebenso wie die Frage, ob eine Arbeit am Authentischen (und somit – gemessen an der schriftsprachlichen Norm – immer auch Defizitären) für den Spracherwerb überhaupt sinnvoll sein kann. Während den Lehrwerksdialogen der ersten Generation ein hohes Maß an Künstlichkeit bis hin zur Banalisierung des Unterrichts durch Alltagsthemen vorgeworfen wird, zeichnet die aktuelle Lehrwerksgeneration ein aufgeklärter Umgang mit authentischen Sprachdaten aus. Günthner (2000) bescheinigt den von ihr untersuchten Lehrwerksdialogen, dass durchaus Aspekte des Gesprochenen Berücksichtigung finden; diese sind z. T. jedoch überrepräsentiert, andere Phänomene fehlen hingegen vollkommen. Diese Einschätzung ist auch auf die von uns gesichteten Lehrwerke übertragbar. Die Modelldialoge weisen zudem häufig Defizite in der Handlungsstruktur und in der Umsetzung des jeweiligen diskursiven Zwecks auf (s. Trautmann 2005). Eine Arbeit an authentischem Material wird oft gefordert1, eine umfassende didaktische und vermitt1 Vgl. Weijenberg (1980), Beile (1979) sowie die Vorschläge in Moll (1997) und Schnieders (1999). 324 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo lungsmethodische Aufarbeitung authentischer Kommunikation ist jedoch weiterhin ein Desiderat. Nimmt man das Lernziel der kommunikativen Handlungsfähigkeit ernst, so ist augenscheinlich, dass gerade für DaF/DaZ-Lerner im Inland eine Auseinandersetzung mit der gesprochenen (Alltags-)Sprache wesentlich ist. Eine Bewusstmachung der Besonderheiten und des Funktionierens von Kommunikation sollte deshalb zentraler Gegenstand des traditionell schriftorientierten Fremdsprachunterrichts sein. Die Angewandte Linguistik hat sich in den vergangenen 30 Jahren intensiv der Analyse der Gesprochenen Sprache gewidmet und ein differenziertes Bild von Form und Funktionen gesprochensprachlicher Phänomene erarbeitet. Dieser Bereich bzw. die Frage, inwiefern eine systematische Vermittlung der Charakteristika der gesprochenen Sprache in DaF-Lehrwerken erfolgt, soll Gegenstand unserer folgenden Ausführungen sein. Es geht uns hierbei nicht um eine Begutachtung der Authentizität und Güte von Lehrwerksdialogen, sondern explizit um die Frage, inwiefern Phänomene des Gesprochenen als Lehr-/Lerngegenstand in den Lehrwerken einbezogen werden. Gesichtet wurden allgemeinsprachliche Lehrwerke der Grund-/Mittel- und Oberstufe (also der Stufen A1- C1 des GER).2 Nachdem zunächst in Kapitel 2 einige grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit angestellt werden, liegt der Fokus im Folgenden auf dem Bereich des Redewechsels (§3). Der Redewechsel folgt bestimmten gesellschaftlich ausgebildeten Mechanismen und ist je nach Art und Zweck des Diskurses spezifisch aufgebaut. Er ist keineswegs sprachübergreifend universell und auch nicht individuell in jeder neuen Situation zwischen den Interaktanten auszuhandeln. Im Einzelnen werden wir uns der Frage zuwenden, welche sprachlichen, intonatorischen und nonverbalen Mittel, die einen Redewechsel anzeigen, in den Lehrwerken explizit vermittelt werden - und in welcher Form dies erfolgt. Der Beitrag schließt mit eigenen Vorschlägen zur fremdsprachdidaktischen Aufarbeitung ausgewählter Phänomenbereiche (§4). 1. Mündlichkeit – Schriftlichkeit, Text und Diskurs Was sind nun also diese Kennzeichen des Gesprochenen? Prominent in der Linguistik ist die Differenzierung von Koch; Österreicher (1983), die zunächst unter Bezug auf Söll zwischen dem Medium, also der sprachlichen Realisierungsform von Äußerungen im „phonischen“ oder „graphischen Kode“, und dem „Duktus“ der Äußerung, der Konzeption gesprochen – geschrieben, scheiden. Während das Medium variabel ist, ist die Konzeption fundamental. So ist ein Brief der Konzeption nach geschrieben. Seine mediale Umsetzung ist graphisch, er kann jedoch auch – beispielsweise durch Verlesen – phonisch realisiert werden. Für die Realisierungsform phonisch oder graphisch ist eine „strikte Dichotomie“ kennzeichnend, demgegenüber nehmen Koch; Österreicher im Falle der Konzeption 2 Im Einzelnen sind dies „Tangram aktuell“, „Dimensionen“, „Berliner Platz“, „Passwort Deutsch“, „Delfin“, „DaF in 2 Bänden“, „Stufen International“ und „Schritte“ für die Grundstufe sowie „Gegensätze Neu“, „em Brücken-, Haupt- und Abschlusskurs“ und „Auf neuen Wegen“ im Mittel-/Oberstufenbereich. Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 325 ein Kontinuum mit den Extremen „gesprochen – geschrieben“ an. Diese Pole der konzeptuellen Mündlichkeit bzw. konzeptionellen Schriftlichkeit werden auch als „Sprache der Nähe“ bzw. „Sprache der Distanz“ (a.a.O., S. 19) bezeichnet. Diese Differenzierung ist unserer Ansicht nach nicht systematisch abgeleitet, sondern beruht auf intuitiver Relevanzsetzung bestimmter Merkmale bei der Verortung einzelner Text- oder Diskursarten. Da eine detailliertere Diskussion des Modells an dieser Stelle nicht möglich ist, muss der Hinweis genügen, dass u.E. eine Vermischung der Kategorie ‘Konzeption’ mit abgeleiteten Phänomenen wie der ‘Konstellation’ und dem ‘Zweck’ stattfindet. Wir schlagen deshalb unter Bezug auf Ehlich eine systematische Differenzierung auf der sogenannten konzeptionellen Ebene vor. Nach Ehlich (1983) besteht der zentrale Unterschied zwischen „Diskurs“ und „Text“ unabhängig von ihrer mündlichen oder schriftlichen Realisierungsform in der Bezugnahme auf die Sprechsituation. Während für den Text eine Diachronie und Diatopie kennzeichnend sind – Ehlich spricht hier von der „zerdehnten Sprechsituation“ –, ist für den Diskurs eine unmittelbare gemeinsame Sprechsituation wesentlich. Die Kopräsenz der Interaktanten verbunden mit einem gemeinsamen Wahrnehmungs- und Rederaum sind die zentralen Eigenheiten des Diskurses. Die spezifischen Merkmale der gesprochenen Sprache lassen sich u.E. aus diesen Bedingungen der unmittelbaren Sprechsituation, nämlich dem gemeinsamen Wahrnehmungsraum, der Interaktion der sprachlich Handelnden sowie die Flüchtigkeit der sprachlichen Äußerung, systematisch ableiten. Das Ziel einer jeden Kommunikation ist es, Verstehen herzustellen. Dies erfolgt im Diskurs interaktiv durch das gemeinsame Handeln der am Gespräch Beteiligten. Voraussetzung hierfür ist notwendigerweise die Bezugnahme auf gemeinsames bzw. hinreichend ähnliches Wissen zwischen den Interaktanten. Interaktivität bedeutet aber auch das ständige Eingehen auf das Gegenüber. Die Redebeiträge müssen – im Gegensatz zum Text – ad hoc geplant, formuliert und mit Blick auf den anderen adaptiert werden. Dabei kommt es zu den in der gesprochenen Sprache häufigen Phänomenen von Konstruktionsabbrüchen, Redundanzen und Verzögerungen wie Pausen und Interjektionen. Die Berücksichtigung der Gedächtniskapazität von Sprecher und Hörer spielt aufgrund der Flüchtigkeit des Gesprochenen eine entscheidende Rolle. Dies zeigt sich beispielsweise in der Bevorzugung von Parataxen und Reformulierungen. Am augenfälligsten wird die Interaktion der sprachlich Handelnden im Redewechsel. 2. Interaktion und Redewechsel als Gegenstand in DaF-Lehrwerken? Die Organisation des Redewechsels, also die Frage, wer wann sprechen darf, kann, will oder soll, wurde zum ersten Mal von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) unter dem Begriff „Turn-Taking” beschrieben. Die Abfolge, wer wann spricht, ist im Gespräch eine geordnete, sie ist in bestimmter Weise geregelt. Wenn eine Person die Sprecherrolle innehat, schweigen die anderen Interaktanten oder sie geben Hörerrückmeldungen, d.h. sie signalisieren, dass sie zuhören, dass sie 326 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo inhaltlich dem Gesagten zustimmen bzw. nicht zustimmen, ohne den Turn zu beanspruchen. Die „Hörersignale“ beeinflussen das Rederecht nicht, stellen also keinen Turn dar. Unterbrechungen sind demgegenüber Eingriffe in das Rederecht des aktuellen Sprechers. 2.1 Hörerrückmeldungen Für das kommunikative Handeln ist ein permanenter Verstehens- bzw. Wissensabgleich zwischen den Interaktanten von zentraler Bedeutung. Je besser dieser Abgleich gelingt, desto einfacher verläuft die Interaktion. Da Sprechen nicht zweckfrei ist, sondern der Sprecher vielmehr ein bestimmtes Ziel mit seiner Äußerung verfolgt, muss er während der Verbalisierung kontrollieren, ob der Hörer seine Äußerung adäquat mitvollzieht – und gegebenenfalls seinen ursprünglichen Sprechhandlungsplan ändern. Der Hörer seinerseits ist nun aber auch keinesfalls passiv, sondern seine Aufgabe besteht im Mitvollzug der Äußerung, in der Mitkonstruktion des sprecherseitigen Handlungsplans und dessen Äußerungsziels. Ihm stehen sprachliche („stimmt!“, „gut“, „okay“, „find ich nich“ bzw. „ja“, „hm“ etc.) und nicht-sprachliche Mittel (Gestik, Mimik) zur Verfügung, um ein gegenseitiges Verstehen, einen Mitvollzug oder eine Nicht-Übereinstimmung deutlich zu machen. Die Vermittlung von Phrasen wie „stimmt!“, „einverstanden“, „find ich nich“ ist durchaus Gegenstand der Lehrwerke, und zwar sowohl im Grundstufen als auch im Mittel- und Oberstufenbereich. So findet sich in „Gegensätze neu“ (S. 123) unter dem Titel „Lebendiges Erzählen und Zuhören“ in der Rubrik „Sprach- und Schreibhilfen“ folgende Tabelle (s. Abb. 1). Abb. 1: Lebendiges Erzählen und Zuhören Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 327 Dem Lerner wird schon graphisch deutlich gemacht, dass für eine gelungene Alltagserzählung nicht nur der Erzähler, sondern auch der Zuhörer maßgeblich ist. Es werden Redemittel zur Kundgabe von Interesse bzw. Desinteresse am Erzählten aufgeführt. Allerdings fehlen Angaben zur Stimmmodulation bzw. Intonationskontur, so dass die Beispiele für das Desinteresse, zumal ironischer Natur, missgedeutet werden könnten. Darüber hinaus sind einige Vorschläge schlicht unhöflich: „Etwas kürzer, bitte!“ Ferner wird nicht darauf eingegangen, inwiefern die angegebenen Beispiele zu einem Turnwechsel führen oder eine Hörerrückmeldung ohne Turnbeanspruchung darstellen – und wie wichtig diese Hörerrückmeldung im Verständigungshandeln ist. Eine weitere Form der Hörerrückmeldung bilden die Responsive „ja/nein“ und die Interjektion „hm“. Diese für den Muttersprachler weitestgehend automatisierten Ausdrucksmittel sind hochfrequent. Sprachlich unaufwändig decken die unterschiedlichen Realisierungsformen der Hörerrückmeldungen das Spektrum von Übereinstimmung bis hin zu komplexer Nicht-Übereinstimmung ab. Für die Ausdrucksmittel der Klasse HM hat Ehlich (1979, 1986 und 2007) eine detaillierte Funktionsbestimmung vorgelegt. Wesentlich ist die Intonationskontur: Eine fallend-steigende Intonation drückt Übereinstimmung zwischen Hörer und Sprecher aus. Eine gleichbleibende Kontur kündigt eine Divergenz an. Steigende wie fallende Intonation versprachlichen eine Nicht-Übereinstimmung bzw. komplexe Nicht-Übereinstimmung. Für die vier Typen von „HM“ sind außerdem eine Kurzform bzw. eine reduplizierte Form empirisch nachweisbar (s. Ehlich 1979, 1986 und 2007). Die Relevanz dieser Ausdrucksmittel für DaF-Lerner ist offensichtlich: Das Ausbleiben von Hörerrückmeldungen kann zu erheblichen Irritationen bis hin zum Abbruch der Kommunikation führen. Auch der Einsatz falsch intonierter Rückmeldungen behindert die Verständigung gravierend. Die Hörerrückmeldungen sind nämlich keinesfalls universell.3 So weist beispielsweise Tiitula (1995) darauf hin, dass Hörerrückmeldungen in der Fremdsprache weder nach Art und Form noch in der Positionierung intuitiv richtig verwendet werden. „Die Formen der Hörersignale sind in verschiedenen Sprachen unterschiedlich wie auch die Stellen, an denen sie gegeben und demnach erwartet werden.“ (a.a.O.: 305) Vor allem die undifferenzierte Intonation der Interjektionen durch finnische Deutschsprecher mache es den deutschen Gesprächspartnern schwer zu beurteilen, ob es sich um das Anzeigen von Verstehen und Zustimmung handele oder nur um die Aufforderung weiter zu reden. „Stufen International“ ist das einzige Grundstufenlehrwerk, das den Ausdruck „hm“ in verschiedenen Tonverläufen und Funktionen thematisiert. Band 3 widmet sich im Phonetikteil von Kapitel 26 (S. 97) den Interjektionen „ach“, „hm“, „oh“, „oje“ und „tja“. Es werden (s. Ü 1a)) fünf Intonationskonturen unterschieden: steigend, fallend, steigend-fallend, fallend-steigend und gleichbleibend. Für die Ausdrucksklasse „HM“ werden drei Vorkommen in der Grundform mit den Intonationskonturen progredient, fallend-steigend und steigend-fallend angegeben und graphisch dargestellt. Anhand von 3 s. z.B. Liedke 1994 – kontrastiv zum Neugriechischen. 328 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo Hör-Beispielsätzen sollen die Lerner die Intonationskontur ermitteln und die Funktion bestimmen.4 Wenn wir die Vorkommen von „hm“ im Lehrwerk genauer betrachten, so wird deutlich, dass nur gleichbleibend intoniertes „hm“ mit der „Bedeutung“ „Nachdenklichkeit“ und fallend-steigendes als Kundgabe von „Zustimmung“ unter die Gruppe der Hörerrückmeldungen fallen, die auf die interaktionalen kommunikativen Abläufe bezogen sind5. Weder die steigende noch die fallende Intonation zum Ausdruck von Divergenz werden im Lehrwerk erwähnt. Auch steht die Rückmeldung nie allein, sondern wird in den Hörbeispielen im Anschluss paraphrasiert. Dieses didaktisch zunächst sicher angemessene Vorgehen täuscht über die eigentliche Leistung von „hm“ hinweg. Kennzeichnend für die Funktionalität von Hörerrückmeldungen ist ihre Positionierung im Diskurs. Sie werden sowohl am Äußerungsende verbalisiert als auch simultan zur Sprecheräußerung – und müssen eben gerade nicht mehr paraphrasiert werden, da sie selbstsuffizient sind. In Übung 1c werden die Interjektionen im Dialog selbst zum Gegenstand: Die Gesprächspartner Hans und Karl warten allerdings immer das Äußerungsende ihres Gegenübers ab, um dann mittels einer Interjektion den eigenen Redepart einzuleiten. So entsteht der Eindruck, die Funktion der Interjektionen bestehe ausschließlich in der Redeeinleitung. Mittels der Interjektionen beansprucht der Hörer an sich aber nicht das Rederecht. Lediglich einmal (in Satz 8) ist „hm“ ausschließlich als Hörerrückmeldung allerdings nach Turnabschluss – und nicht äußerungssimultan – zu finden. Wenden wir uns einem Beispiel aus einem Mittelstufelehrwerk zu: „Auf Neuen Wegen“ (S. 64) führt die Ausdrücke „ja“ und „mhm“ unter der Rubrik „Gesprächspartikeln“ ein: „Gesprächspartikeln Funktion: Sie steuern das Gespräch, zeigen z.B. einen Sprecherwechsel an oder signalisieren eine bestimmte Einstellung zu dem Gesagten, z.B. Interesse (ja, mhm), Zustimmung oder Ablehnung (genau, eben, nein), Zweifel (naja, gut aber) oder Überraschung (ach, ah). Auch das Gesprächsende kann mit ihnen eingeleitet werden (schön, gut).“ (Auf neuen Wegen, S. 64, Hervorhebung i.O.) „Hm“ und „ja“ wird lediglich die Funktion des Signalisierens von „Interesse“ am „Gesagten“ (ebd.) zugeschrieben. Diese Kategorisierung verschleiert u. E. die eigentliche Funktionalität. Es wird weder auf die unterschiedliche Intonierung eingegangen noch 4 5 Die Arbeitsanweisung fordert zunächst: „a) Hören Sie die Interjektionen, und sprechen Sie beim zweiten Hören nach.“ (ebd.) In der Anschlussübung erfolgt folgender Auftrag: „b) Hören Sie zu jeder Interjektion einen Beispielsatz, und ergänzen Sie oben die folgenden Bedeutungen: Nachdenklichkeit, Bedauern, Überraschung, Überraschung/Bestürzung, angenehmes Gefühl, Enttäuschung, Bewunderung.“ (ebd.) Die Beispielsätze zu ‚HM’ lauten: „3. Hm –, das muss ich mir noch überlegen.“; „4. Hm v, das denke ich auch.”, „5. Hm /\, das tut mir leid.“ (ebd.) Die steigend-fallende Variante von „hm“ (Ü 1a Satz 5) zum Ausdruck von Un-Behagen ebenso wie die Interjektionen „ach“, „oh“ etc. dienen der Herstellung von emotionaler Gemeinsamkeit. Sie sind mit Ehlich (1986: 254) „solidaritätsheischend“ bzw. dienen nach Ehlich (2007) „der Synchronisierung gemeinsamer Handlungs- und Erwartungssysteme“ (ebd. 9). Sie unterscheiden sich also von der Klasse HM in spezifischer Weise. Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 329 die damit verbundene divergierende Funktion. Auch die zeitgleiche Verbalisierung, also die Tatsache, dass die Rückmeldungen simultan zur Sprecheräußerung erfolgen können, wird nicht erwähnt. Insgesamt zeigt sich, dass sich die Lehrwerke zwar mit den Redemitteln des Zustimmens und Ablehnens beschäftigen – allerdings vorwiegend in lexikalisierter Form als Redemittel. Die Interjektionen als Hörerrückmeldungen werden weitgehend ausgeblendet. Dies steht im Kontrast zu ihrer Bedeutung in der sprachlichen Realität, da gerade letztere Ausdrucksmittel im Vorkommen häufiger sind. Zudem erweist sich die Binnendifferenzierung der Klasse „HM“ als komplex – und gerade nicht universell. Die Rückmeldungen erfolgen simultan zur Sprecheräußerung und werden deshalb in den Lehrwerksdialogen – selbst wenn sie in den Audioaufnahmen versprachlicht werden – meist nicht verschriftlicht. Dieser wesentliche Bereich der wechselseitigen Verständigung bedarf u.E. einer systematischen Vermittlung, und dies bereits auf der Stufe A1 (GER). Abschließend sei auf ein durchaus weiterführendes Vermittlungsbeispiel aus einem berufssprachlichen Lehrwerk verwiesen: „Gesprächstraining Deutsch für den Beruf“ wendet sich an Lerner mit Grundstufenkenntnissen. Gegenstand des zweiten Kapitels bildet der „Smalltalk“. Dem Lerner werden wesentliche Kennzeichen der Sprechsituation vermittelt: Kommunikation wird als Interaktion zwischen einem Sprecher und einem Hörer beschrieben. Neu ist, dass der Part des Hörers als ebenso wesentlich für den gelingenden Verlauf der Kommunikation hervorgehoben wird wie der des Sprechers: „Ein guter aktiver Zuhörer - zeigt, dass er zuhört und versteht (bzw. zeigt, wenn er etwas nicht versteht). - zeigt, dass er an dem Gespräch und dem Sprecher interessiert ist. - zeigt, wie er das Gesagte aufnimmt (positiv, überrascht, kritisch...).“ (a.a.O., S. 25, Hervorhebung im Original) Zudem werden mögliche Realisierungsformen des Hörer-Feedbacks, differenziert in die Bereiche sprachliche Formulierungen, Interjektionen und Körpersprache, zum Gegenstand. Hervorzuheben ist, dass im Lehrwerk die besondere Stellung der Interjektionen einmal in Hinblick auf ihre Relevanz im Gespräch, aber auch ihr interkulturelles Missverstehenspotential und ihre schwierige Fassbarkeit, da sie nicht lexikalisiert sind, deutlich gemacht werden. Der anschließende Übungsteil, der sich in fünf Teilaufgaben der Interjektion „HM“ widmet, bleibt leider hinter dem Erklärungspotential dieser systematischen Einführung in den Phänomenbereich zurück. Die Lerner sollen sich selbst die Varianten des Ausdrucks „HM“ erarbeiten: „1. Sagen Sie dieses ‘Wort’: ‘Hm’. Wie viele verschiedene ‘Hms’ können Sie sagen?“ (a.a.O.: 26). In den weiteren Übungen ist immer wieder von „verschiedenen“ „Hms“ die Rede, die als „Hm-m-m“, „Hm-m“ und „Hmmm“ verschriftlicht werden. Weder die Bedeutung dieser differierenden Schreibung noch die Art der Verschiedenheit werden zum Thema gemacht. An keiner Stelle erfolgt ein expliziter 330 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo Verweis auf die Rolle der Intonation zur Differenzierung der verschiedenen Ausdrucksvorkommen und ihrer unterschiedlichen Funktion. Die Formulierungen der Aufgaben suggerieren allenfalls Phänomene, die jedoch explizit benannt werden könnten und sollten. Die in den Aufgaben gewählte analytische Vermittlungsform wird u.E. um ihren Punkt gebracht, da eine systematische Rückbindung an die Intonationskonturen und ihre jeweilige Funktion notwendig wäre. Anders gewendet: Der Übungsteil ist sicher weiterführend, wenn die Lehrkraft einen Bezug zur Systematik der Ausdrucksklasse „HM“, der vier Typen und der jeweiligen Intonationskontur (s. Ehlich 1979, 1986 und 2007) herstellen kann. 2.2 Übergangspunkte Der zweite Teil der Lehrwerksbegutachtung widmet sich dem Redewechsel. Dafür werden als Grundlage für die Lehrwerksbegutachtung zunächst wesentliche Charakteristika des Redewechsels skizziert. Es existieren verschiedene Mechanismen des Sprecherwechsels, die sich folgendermaßen beschreiben lassen: 1. Der aktuelle Sprecher kann jemanden zum nächsten Sprecher machen, wenn er an ihn z.B. eine Frage adressiert. 2. Wenn der aktuelle Sprecher seinen Beitrag beendet hat, kann ein Interaktant von sich aus zu sprechen beginnen. 3. Wenn keiner der Interaktanten das Wort ergreift, kann der Sprecher selbst einen neuen Turn beginnen. (Sachs; Scheggloff; Jefferson 1974) Die einfachste Form des Sprecherwechsels lässt sich beispielsweise beim Small-talk beobachten. In komplexeren Konstellationen ist der Sprecherwechsel aber auch über die Diskursart geregelt. So hat der Sprecher bei einer Erzählung das Rederecht so lange inne, bis er bei dem Punkt der Erzählung angelangt ist, an dem er das Muster der Erzählung abgearbeitet hat. Daher muss der Sprecher, bevor er die Erzählung beginnt, zunächst die Erzähllizenz einholen6. Neben der Erzählung, einer Diskursart, bei der das Rederecht standardmäßig bei einer Person verbleibt, existiert eine große Anzahl an Diskursarten mit systematischem Sprecherwechsel. Beispiele dafür sind u.a. das Beratungsgespräch oder ein Einkaufsgespräch auf dem Markt7. Solche, nach ihrer Funktion differenzierten Diskurse besitzen eine bestimmte Struktur und damit verbunden sind bestimmte kommunikative Anforderungen, die native speaker einer Sprache im Spracherwerb gelernt haben. Für den Fremdsprachenlerner sind nun verschiedene Probleme denkbar: Sie können mit einer abweichenden Struktur in der Ausgangssprache konfrontiert sein; die verwendeten sprachlichen Mittel können andere sein; oder aber die Gesprächsart fehlt in der Ausgangssprache völlig. 6 7 Eine Pionierarbeit zur Analyse alltäglicher Erzählungen stellt die Arbeit von Labov; Waletzky (1973) dar. Einen knappen Überblick über die Ergebnisse der neueren Forschungsliteratur zum alltäglichen Erzählen bietet Zifonun et al. (1997: S. 122-126). Eine linguistische Analyse mit einem Vorschlag zur Verwendung von aufgenommenen und transkribierten Diskursen wie einem Marktgespräch bietet Moll (1997). Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 331 Zudem ist der Sprecherwechsel durch institutionelle Vorgaben geprägt. Er vollzieht sich in Institutionen nach anderen „Regeln“ als beim Alltagsgespräch. Dies lässt sich deutlich am Unterrichtsdiskurs in der Schule erkennen. Dort hat immer der Lehrer das Rederecht inne. Er kann es an die Schüler übergeben, indem er sie aufruft oder zur Selbstwahl auffordert, die Schüler haben in diesem Fall sogar eine Redepflicht. Allerdings kann er selbst dann, wenn er z.B. in einer Diskussion die Schüler direkt miteinander interagieren lässt, jederzeit das Rederecht wieder für sich beanspruchen. Nach dieser knappen Skizzierung der Mechanismen des Sprecherwechsels im Allgemeinen soll nun der Übergangspunkt, also der Punkt, an dem der Sprecherwechsel zustandekommt, detailliert betrachtet werden. Abb. 2 aus Zifonun et al. 1997: 477 Der Übergangspunkt (s. Abb. 2) ist zwischen dem Vorgänger- und dem Folgeturn zu verorten. Der Vorgängerturn kann intonatorisch fallend am Ende einer einfachen „Mitteilung“, einer Assertion, oder bei einer Frage steigend ausfallen. Häufig tritt in der Übergangsphase eine Pause auf. In der Grammatik der Deutschen Sprache (Zifonun et al. 1997: 476) wird der Übergangspunkt folgendermaßen beschrieben. Er ist gegeben, wenn: „(a) der Turn vollendet ist (a1) in seiner syntaktischen Konstruktion: zweiter Teil der Verbklammer mit vollständiger Realisierung des Verbalkomplexes und evtl. besetztem Nachfeld mit Wortabschluß bzw. rechter Phrasengrenze; (a2) intonatorisch: mit einem Grenztonmuster und/oder deutlicher Pause (Satzpause) und/oder verminderter Lautstärke, (a3) semantisch: mit der Verbalisierung (oder regulärer Rekonstruierbarkeit) einer vollständigen Proposition; (a4) lexikalisch: mit der Verbalisierung eines nachgestellten „Sprechhandlungsaugments“ (Rehbein 1979) aus der Klasse ja, nicht wahr ne, oder (nicht) mit steigendem Tonverlauf, das auf eine Musterkomplettierung mittels einer Handlung des Bestätigens, Akzeptierens usw. zielt, (a5) kommunikativ: mit der Realisierung einer Illokution (Besetzung einer Position in einem Handlungsmuster); (a6) nonverbal: der Sprecher wendet, falls sie zuvor anders ausgerichtet waren, Rumpf, Kopf und Blick dem Hörer zu, der nächster Sprecher werden kann oder soll; oft entspannt er sich und atmet wahrnehmbar ein, oder wenn 332 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo (b) der Sprecher deutlich einen Ausstieg [...] oder eine phatische Ellipse [...] realisiert und nicht etwa mit einem Abbruch zu einer Retraktion bzw. Reparatur [...] übergeht.“ Es ist also zunächst zwischen einem vollendeten Turn (a) und (b) zu unterscheiden: Bricht der Sprecher ab, obwohl der Turn noch nicht „vollendet“8 ist, muss dies deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Der „vollendete“ Turn kann in sechs verschiedenen Hinsichten – nicht nur in syntaktischer (a1) – vollendet sein: intonatorisch (a2), semantisch (a3), lexikalisch (a4), kommunikativ (a5) und nonverbal (a6). Die Vollendung der syntaktischen Konstruktion zeigt sich beispielsweise an der vollständige Realisierung der zweiten Verbklammer. Intonatorisch ist immer ein steigendes oder fallendes Grenztonmuster zu beobachten. Zusätzlich kann es eine Pause geben und der Sprecher kann zum Ende des Turns hin leiser werden. Semantische Vollständigkeit ist dann gegeben, wenn die Proposition vollständig ist, wenn sie also entweder vollständig verbalisiert oder rekonstruierbar ist. Lexikalisch kann die Vollendung mit nachgestellten Sprechhandlungsaugmenten (vgl. Rehbein 1979) wie zum Beispiel „ja“, „nicht wahr“, „ne“, „oder (nicht)“ in Kombination mit einer steigenden Intonation realisiert werden. Kommunikativ zeigt sich die Vollendung an der Besetzung einer Position in einem Handlungsmuster. Dies kann beispielsweise die Frage im Frage-AntwortMuster ebenso wie die Antwort auf eine Frage sein.9 Nonverbal kann der Sprecher dadurch, dass er sich einer Person direkt zuwendet, signalisieren, dass diese als nächste „drankommen soll“. Häufig ist lediglich eine Entspannung des Sprechers zu beobachten, gefolgt von einem hörbaren Einatmen. Das Rederecht nicht zu verlieren bedeutet also, dass mögliche Übergangspunkte kontrolliert werden müssen. Dies ist durch unverminderte Lautstärke, Vermeidung von Pausen und Grenztonmustern ebenso zu erreichen wie durch eine gleichbleibende Körperhaltung ohne Hinwendung zu anderen Sprechern. Hat sich der Sprecher, etwa vor einer längeren Erzählung, die „Lizenz zum Sprechen“ eingeholt, ist das Rederecht normalerweise nicht in Gefahr. Inwiefern nun die eben dargelegten linguistischen Merkmale des Redewechsels in den Lehrwerken Berücksichtigung finden, soll im Folgenden untersucht werden. Dabei werden zunächst Beispiele aus Lehrwerken angeführt, in denen eine kognitive Vermittlung zu finden ist, dann Beispiele, in denen die Vermittlung auf der Basis einer analytischen Sprachbetrachtung stattfindet und abschließend solche, in denen Modelle zur Vermittlung herangezogen werden. 8 9 „Vollendet“ ist hier in Anführungszeichen zu sehen, denn der Sprecher geht natürlich davon aus, dass das, was er sagen möchte, vom Hörer selber mental bereits „vollendet wurde“, so dass er dies nicht mehr verbalisieren muss. Der Turn scheint also an der sprachlichen Oberfläche unvollendet (hier wird meist von Ellipse gesprochen); für die Verständigung zwischen Sprecher und Hörer dagegen ist der Turn als vollendet zu betrachten. (Eine solche Auffassung von „Ellipse“ ist bei Hoffmann (1999) zu finden.) Das Muster Frage-Antwort findet sich ausführlich analysiert in Ehlich; Rehbein 1986. Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 333 2.2.1 Kognitive Vermittlung Den Weg der kognitiven Vermittlung gehen hauptsächlich Lehrwerke der Mittel- und Oberstufe, zumeist in Form von kleinen Texten. Sie dienen dazu, den Lernern Erklärungen zu sprachlichen Phänomenen zu geben, die als „Lerntipps“ zu verstehen sind. Im Rahmen dieser Lerntipps werden in „Auf neuen Wegen“ (S. 254f.) tatsächlich mehrere Aspekte der gesprochenen Sprache thematisiert. So wird eingegangen - auf die Tatsache, dass meist keine Zeit zum Planen des Gesprächsbeitrags bleibt und die Gesprächsteilnehmer die eigene Planung beeinflussen, so dass also Sprecher und Hörer einbezogen sind; - auf den institutionellen Aspekt, und zwar insofern, als Sprecher und Hörer jeweils „feste Rollen“ wie „Chefin - Angestellter“ haben; - auf das Sprachregister, das nach „distanziert/formell“ und „persönlich/informell“ differenziert ist und - auf „Merkmale mündlicher Kommunikation“, wo beispielsweise Phänomene der Intonation, Kurzformen wie „Was machsdn da?“, Ellipsen, Satzabbrüche und korrigierende Neuanfänge, Partikeln und nonverbale Mittel beschrieben werden. Der Sprecherwechsel ist in diesem kleinen Lernertext lediglich einmal erwähnt, und zwar unter dem Punkt „Kommunikationsmittel“. Dort heißt es: „4 Kommunikationsmittel - [...] - Mit anderen Kommunikationsmitteln können Sie das Gespräch organisieren (Sprecherwechsel). Dazu gehören die Gesprächspartikeln (wie mhm oder ach) ebenso wie eine Reihe von Wendungen wie ich meine oder wenn ich da einmal einhaken dürfte. - [...].“ (a.a.O.) Hier sind Ansätze zur Beschreibung des Redewechsels erkennbar. Der Übergangspunkt wird zwar nicht erwähnt, weder terminologisch noch in seiner Phänomenologie, auch wird nicht zwischen einem eigenen Turn und einer redebegleitenden Hörerrückmeldung unterschieden („dazu gehören ... Gliederungspartikeln wie mhm und ach“ (a.a.O.)) – beide Beispiele kommen vorrangig bei Hörerrückmeldungen zum Einsatz. Es werden aber auch zwei „Wendungen“ erwähnt, die im Zusammenhang mit dem Redewechsel gesehen werden können: „ich meine“ dient dazu, mit relativ geringem Planungsaufwand eine „gefährliche“ Pause zu füllen und so den Turn zu behalten; „wenn ich einmal einhaken dürfte“ ist geeignet, einen Redewechsel einzuleiten. Damit ist eine Turnübernahme sprachlich ausgestaltet, was für den Lerner sicherlich hilfreich sein kann. Allerdings wäre es notwendig, im Kommunikationszusammenhang den Übergangspunkt vor dem Einsatz der Wendung zu erkennen. Dieser Notwendigkeit wird im Lehrwerk nicht Rechnung getragen. Das zweite Beispiel für eine kognitive Vermittlung stammt ebenfalls aus einem Mittelstufenlehrwerk, aus „em“ (Abschlusskurs). In der Übung „Welche Fehler machen diese Gesprächspartner?“ (em Abschlusskurs, S. 115) werden „Gesprächsregeln“ thematisiert, indem insgesamt vier fehlerhafte Verhaltensweisen im Gespräch in kleinen Texten beschrieben werden: „unaufmerksam 334 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo sein“, „zu wenig Abstand“, „zur gleichen Zeit reden“, „schlaffer Handschlag“. Dabei sind verschiedene Phänomene der gesprochenen Sprache berücksichtigt, darunter auch der Redewechsel, der vor allem in dem Abschnitt „zur gleichen Zeit reden“ unter diesem ganz spezifischen Aspekt behandelt wird. Die Gesprächsregel ist folgendermaßen formuliert: „Unterbrechen Sie nie Ihren Gesprächspartner. Lassen Sie ihn ausreden, bevor Sie antworten. So erscheinen Sie höflich, und auch er kann Ihnen dann besser zuhören und versteht, was Sie sagen.“ Dieser Ratschlag spiegelt die sprachliche Wirklichkeit in den deutschsprachigen Ländern u.E. nicht wider, er erscheint uns als zu pauschal und nicht geeignet, da viele Situationen vorstellbar sind, in denen die beschriebene Strategie nicht zielführend ist. So gibt es systematisch Unterschiede zwischen Alltagsgesprächen und institutionellen Diskursen. Aber selbst in Alltagsgesprächen kann es zu Überlappungen kommen, insbesondere um den Übergangspunkt herum, die nicht grundsätzlich als unhöflich empfunden werden10, so dass man sagen kann, dass jemand, der seinen Gesprächspartner nie unterbricht, unter Umständen gar nicht zu Wort kommt. Ein zweiter kleiner Text, der sich dem „Unaufmerksam sein“ widmet, geht ebenfalls am Rande auf den Redewechsel ein, hier durch die Beschreibung der Blickrichtung der Gesprächspartner („In eine andere Richtung sehen, während jemand mit Ihnen spricht, ist schlechtes Benehmen.“).11 Nicht erwähnt werden dagegen sprachliche Möglichkeiten des Hörers, um Aufmerksamkeit zu zeigen, wie sie durch den Gebrauch von Hörersignalen gegeben sind (s. §3.1). Das liegt daran, dass die Übung auf Fehler ausgerichtet ist, also lediglich auf das, was man in einem Gespräch unterlassen sollte. Das einzige Grundstufenlehrwerk, das eine Strategie zum Erhalt des Turns in der Vermittlung berücksichtigt, und zwar sowohl in der Grammatikerklärung als auch in Übungen, ist „Tangram aktuell 2“ (LB, S. 35). Unter der Bezeichnung „Echofragen“ („Mit Echofragen kann man zurückfragen [...] oder Zeit gewinnen (und länger über die Antwort nachdenken).“) wird die Möglichkeit des Sprechers behandelt, dem Hörer ohne großen Formulierungsaufwand deutlich zu machen, dass man den Turn weiter beansprucht. Zwei Übungen werden dazu angeboten. In Übung 1 soll der Lerner auf vorgegebene Fragen mit einer Echofrage reagieren („Was machst Du denn am Wochenende? – Was ich am Wochenende mache? -->Ich weiß noch nicht genau. Vielleicht ...“). Es handelt sich also um eine stark formalisierte Übung. Daran schließt sich eine freiere Übung 2 an. Die Lerner haben die Aufgabe, ein Partnerinterview zu vorgegebenen Themen zu führen und dabei in den Antworten Echofragen zu benutzen. Beide Übungen trainieren die Lerner – leider nur im Hinblick auf eine einzige Strategie –, wie sie in einem Diskurs den Turn behalten können. Hervorzuheben ist, dass sogar die Intonationskontur angegeben ist. 10 11 Anders als das beispielsweise in Finnland der Fall ist. Dies ist unseres Wissens das einzige Beispiel, in dem auf nonverbale Mittel im Zusammenhang mit dem Redewechsel eingegangen wird. Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 335 2.2.2 Analytische Vermittlung Neben der kognitiven Vermittlung finden sich auch Beispiele für eine analytische Vermittlung („Gegensätze neu“, z.B. S. 145, S. 163, S. 176). Dabei erhält der Lerner sprachliche Realisierungen (meist auf Tonträger, von Schauspielern eingesprochen), die mit einer Analyseaufgabe verbunden sind. „Gegensätze neu“ arbeitet systematisch bei den Hörübungen zunächst mit Fragen zum globalen Hören. Hier geht es häufig um die Sprache der Sprecherinnen und Sprecher. Ankreuzoptionen sind: - „spricht frei und spontan“ - „kann man gut verstehen (Gründe)“ - „kann man nicht so gut verstehen (Gründe)“ („Gegensätze neu“, S. 176) Die „Hörtexte“ sind dabei in Form von Radioreportagen präsentiert. Daher gibt es sowohl (abgelesene) Moderationsteile als auch frei gesprochene Interviewteile. Die Analyse zielt genau auf diese Unterschiede ab, ohne allerdings Hilfestellungen zu geben, worauf der Lerner im Einzelnen achten soll. Kaum in Hörübungen von Lehrwerken zu finden sind Grenztonmuster, wie sie die Sprecher (die Interviewpartner des Beitrags) im genannten Hörbeispiel realisieren. Diese Form der Höraufgabe böte also Möglichkeiten, Phänomene des Redewechsels, sogar Merkmale des Übergangspunktes zu behandeln und zu erklären. Dazu fehlen allerdings Hinweise und Analyseaufgaben im Lehrbuch. Zudem kommt es, bedingt durch die gewählte Diskursart der Radioreportage, nicht zum Redewechsel, da die zu hörenden Beiträge im Rahmen eines Interviews elizitiert wurden und damit die „Lizenz zum Sprechen“ gegeben war, die Wechselrede dagegen durch die anschließende Bearbeitung am Schneidetisch zustande kommt. Festzuhalten ist, dass die Vermittlung der Redebeiträge, auch die Kohärenz zwischen den Redebeiträgen, durch die Moderatorin hergestellt wird. Der Redewechsel wird bei der Analyseaufgabe also nicht betrachtet – er bleibt gerade durch die Wahl der „Text-/ Diskursart“ systematisch ausgeschlossen. Das bedeutet nicht, dass eine Radioreportage nicht ins Hörprogramm für Deutschlernende gehört. Allerdings scheint uns diese Wahl dann problematisch, wenn fast ausschließlich diese eine Diskursart präsentiert wird, wie es im Lehrwerk „Gegensätze neu“ der Fall ist. Positiv hervorzuheben sind aber auf jeden Fall das Auftreten von Merkmalen der gesprochenen Sprache wie Konstruktionsabbrüche, Planungspausen, Verkürzungen („s is“), Interjektionen („huh“, „äh“, „ah“), syntaktische Phänomene („fix was eingekauft“), die über die oben genannte Analyseaufgabe auch vermittelt werden12. Eine Analyseübung zur Realisierung des Übergangspunktes in kommunikativer Hinsicht bietet „em Abschlusskurs“13 (Arbeitsbuch S. 95). Im Rahmen eines Aussprachetrainings findet sich eine Übung mit dem Titel „Fragezeichen oder Ausrufezeichen“. Die Lerner haben die Aufgabe zu entscheiden, ob es sich bei „Wörter[n] oder Sätze[n]“ um eine Frage oder um einen – dies ist sehr unspezifisch – Ausruf handelt. Erkannt 12 13 Dabei ist die Expertise auf die Lehrkraft ausgelagert, da sich die Merkmale der gesprochenen Sprache nicht unmittelbar aus den Aufgaben selbst erschließen. Diese Übung findet sich auch (auf der gleichen Seite) im Arbeitsbuch von „em neu Abschlusskurs“. 336 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo werden soll hier die Illokution, d.h. die kommunikative Qualität, der Äußerung, und dies einzig an der Intonation. Es handelt sich also um eine Übung, die das Identifizieren von Illokutionen ebenso schulen kann wie das Erkennen von Grenztonmustern. Leider werden bei den Äußerungen, die gehört werden, lediglich isolierte Einzelwörter und -sätze angeboten – was zu Übungszwecken sicherlich sinnvoll ist, aber in weiteren Schritten ergänzt werden sollte, so dass Illokutionen – als Fernziel – eben als Musterpositionen in Gesamtdiskursen sicher identifiziert werden können (was man unseres Erachtens auf C1-Niveau („em Abschlusskurs“) auf jeden Fall können sollte). 2.2.3 Modellbildende Vermittlung Eine sowohl für Grund- als auch für Mittelstufe-Lehrwerke beliebte Vermittlungsform von Dialogstrukturen bilden didaktisch aufbereitete Musterdialoge – meist mit zwei Interaktanten. Die Wechselrede wird, graphisch abgesetzt, dem jeweiligen Sprecher zugeordnet. Das Gespräch selbst erscheint als lineare Abfolge von Gesprächsbeiträgen. Diese Gesprächsschritte sind entweder in ihrer Handlungsqualität benannt („ein Gespräch einleiten“) oder als Handlungsanweisung versprachlicht („Eröffnen Sie das Gespräch mit einer Begrüßung“). Außerdem können verschiedene sprachliche Realisierungsmöglichkeiten mit angegeben werden. Einbezogen werden sowohl formelle als auch informelle Gespräche (Beratungs-, Verkaufs-, Partygespräche); auffällig ist die große Anzahl an Telefonaten. Im Folgenden (siehe Abb. 3) sei exemplarisch ein „Beratungsgespräch“ aus dem „em Abschlusskurs“ (Lehrbuch S. 39) angeführt. Ratgeber und Ratsuchender stehen einander gegenüber, was visuell durch die Aufteilung in linke und rechte Seitenhälfte unterstützt wird. Die Pfeile sollen einen Sprecherwechsel markieren. Die Lerner erhalten sowohl eine Handlungsanweisung als auch Formulierungsvorschläge. Die Lücken, jeweils durch drei Auslassungspunkte markiert, geben Raum für eine inhaltliche Ausfüllung. Diese Darstellung macht eine Behandlung der Mechanismen des Redewechsels allerdings schwer. Aussagen über mögliche Turnübergangspunkte verbunden mit der Frage, wann ein Turn vollendet ist, weichen der sprachlichen Formulierungsarbeit. Das eigentliche Lernziel scheint im Einüben von Redemitteln und der „kreativen“ inhaltlichen Ausgestaltung zu liegen. Das vorgestellte Beratungsgespräch weist Anfang und Ende auf; es ist vollständig repräsentiert mit Kontaktaufnahme/Begrüßung und Verabschiedung. Allerdings bildet der Dialog eine lineare Abfolge von Gesprächsbeiträgen ab, die nicht die Spezifik, also den Zweck eines Beratungsdiskurses, berücksichtigt. Die sequentielle Abfolge der einzelnen Gesprächsschritte erscheint weitgehend intuitiv („Nennen Sie das Problem.“ „Gehen Sie auf den Ratsuchenden ein.“ „Geben Sie Beispiele.“ etc.). Die Redebeiträge bilden nicht die Musterpositionen ab, die abgearbeitet werden müssen, um ein Erreichen des Diskurszweckes zu ermöglichen. Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht Abb. 3 Beratungsgespräch 337 338 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo Dies scheint darüber hinaus auch gar nicht intendiert: In der Übungsanweisung wird der Dialog als Beratungsgespräch ausgewiesen – jedoch bemerkenswerterweise als „unernstes“. Es geht also nicht um den Erwerb von Handlungskompetenz in einer bestimmten Diskursart, in dem die Aktanten unterschiedliche Ziele verfolgen bzw. Aufgaben und Interessen haben, die sie sprachlich bearbeiten. Die Künstlichkeit bzw. der Spielcharakter stehen im Vordergrund, also der reine Übungszweck Sprache als Sprache, Sprechen als Selbstzweck. Was bedeutet dies für die Lerner? Die Lerner sind bei der Formulierung ihrer Beiträge auf die kleinschrittigen kommunikativen Anweisungen angewiesen. Übungsziel ist zunächst die angeleitete Verbalisierung der Äußerung. Die syntaktisch, semantisch und kommunikativ adäquate Vollendung einer Äußerung ist somit Gegenstand. In Bezug auf die syntaktische Form bleibt jedoch anzumerken, dass die Übungssätze sich am schriftsprachlichen Modell orientieren und damit für das Gesprochene nicht repräsentativ sind. Der kommunikative Abschluss einer Äußerung ist Übungsziel (Handlungsanweisungen geben die Handlungsqualität vor, die die Lerner sprachlich formulieren sollen) – allerdings auf der Basis eines vereinfachten Konstruktes des Diskurstyps. Die nonverbale Dimension sowie intonatorische Phänomene zur Kennzeichnung eines Turnabschlusses bzw. eines Übergangspunktes sind nicht notiert. Insgesamt zeigen die in den Lehrbüchern abgedruckten Musterdialoge inklusive der angegebenen Redemittel die Rederolle sehr übersichtlich an. Diese Übersichtlichkeit kann jedoch auch eine Abfolge des Redewechsels suggerieren, die so in der Realität nicht gegeben ist. Die systematisch durch den Gesprächszweck erforderlichen Mechanismen des Sprecherwechsels sind nicht explizit Gegenstand der Vermittlung. 3. Fazit – Ergebnisse und Vorschläge für den DaF-Unterricht Ergebnis unserer Untersuchung ist ein offensichtliches Desiderat in Hinblick auf den Redewechsel als Vermittlungsgegenstand. Aspekte und Phänomene, die in den Lehrwerken angesprochen sind, sind in ihrer Vermittlung als sporadisch, implizit und nicht systematisch zu bezeichnen. Aus diesem Grund fällt die Auswahl der für die Vermittlung geeigneten Gegenstände nicht auf durch die linguistische Analyse als wesentliche Merkmale herausgestellten Merkmale, sondern auf Randphänomene. Einzig in „Stufen“ beispielsweise werden die formal auffälligen Interjektionen, auch HM, in ihrer Intonationsstruktur vermittelt. Leider wird aber auch dort nicht erwähnt oder an einem Beispiel gezeigt, dass diese Mittel üblicherweise simultan gebraucht werden. Ebenso wenig wird zwischen dem Gebrauch der Interjektionen durch den Sprecher und den Hörer unterschieden. Gerade Hörerrückmeldungen, die durch Interjektionen realisiert werden und die für das In-Gang-Halten der Kommunikation von grundlegender Bedeutung sind, werden nicht aufgegriffen. Während die Vermittlung eines Wissens über verschiedene Textarten mittlerweile standardmäßig Bestandteil der meisten Lehrwerke ist, wird die Vermittlung von verschiedenen Diskursarten vernachlässigt. Meist wird vereinfachend von „Dialog“ gesprochen, und dies ohne Spezifizierung. Gerade die verschiedenen Diskursarten (mit Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 339 den relevanten Musterposition) sind aber als eine Voraussetzung für die Realisierung des Sprecherwechsels zu betrachten, da ihre Struktur Einfluss auf das Rederecht hat, nämlich über die kommunikative Vollendung des Turns, die den Übergabepunkt bestimmt. Eine Übung, die – allerdings an isolierten Einzelsätzen, also gerade ohne den diskursiven Zusammenhang – das Erkennen von Illokutionen, also relevanten Musterpositionen, trainiert, ist die erwähnte Übung aus „em“ („Frage oder Aufforderung“). Für eine gelungene Alltagskommunikation ist es außerdem notwendig, dass die Lerner weitere Illokutionen (Drohungen, Warnungen, aber auch Rechtfertigungen u.ä.) identifizieren können und ein Wissen darüber haben, wie Reaktionen sprachlich angemessen zu realisieren sind. Ein Bereich, der weder kognitiv noch analytisch oder gar modellbildend in den Lehrwerken angesprochen wird, ist der „sportive“, „wettkampfliche“ Aspekt des Redewechsels bei Alltagsgesprächen. Bildlich ausgedrückt geht es beim Kommunizieren darum, „den Ball zu kriegen“ und „den Ball zu behalten“. In diesem Zusammenhang erscheint die Gesprächsregel aus „em“, man solle seinen Gesprächspartner nicht unterbrechen, eher kontraproduktiv, da manchmal nur ein „Frühstart“, der alltagssprachlich als Unterbrechung zu bezeichnen ist, gewährleistet, auch wirklich zu Wort zu kommen. Abschließend sollen, ausgehend von unseren Analyseergebnissen, einige Anregungen für den Unterricht gegeben werden. Wie könnte man also den Redewechsel zum Unterrichtsgegenstand machen? Auch hier unterscheiden wir die kognitive und die analytische Vermittlung. Über eine kognitive Vermittlung lassen sich die Charakteristika des Sprecherwechsels klären. Wesentliche Aspekte hierbei sind vor allem die Unterschiede, die zwischen alltäglichen und institutionellen Diskursen auftreten. Für die Alltagsgespräche sollte die kompetitive Grundstruktur, bildlich ausgedrückt das „Den-Ball-Bekommen“ und das „Den-Ball-Behalten“, deutlich gemacht werden. Hier bietet es sich für bestimmte Lernergruppen an, einen interkulturellen Vergleich des Gesprächsverhaltens anzuschließen. Beide eben beschriebenen Aspekte ließen sich auch über analytische Aufgaben vermitteln. Dabei geht es darum, systematisch ermittelte relevante Punkte des Redewechsels, also beispielsweise die Beschaffenheit des Übergangspunktes in seiner Vielfalt, anhand von geeigneten Beispielen zu veranschaulichen. Abschließend möchten wir noch einige mögliche Übungen skizzieren: Da man nur sinnvoll einen Gesprächspartner „unterbrechen“ kann, oder positiver formuliert, „den Ball“ nur dann sinnvoll „bekommen“ kann, wenn man bereits weiß, wie der Gesprächspartner wohl fortfahren wird, ist eine Antizipationsübung geeignet. Die Aufgabe der Lernenden besteht darin, seinen Gesprächspartner zu unterbrechen, sobald er antizipieren kann, was dieser sagen möchte. Die Übung muss also (in der Form von Wechselspiel) so konstruiert sein, dass der Sprecher vorgegebene Beispiele bekommt, bei denen für die jeweilige Niveaustufe der Lerner Antizipationen möglich sind. 340 Andrea Schilling, Kristin Stezano Cotelo Wie oben erwähnt wurde, spielt auch der Zuhörer, der nicht das Wort ergreift und einen Redewechsel vollführt, eine aktive Rolle. Diese aktive Zuhörerrolle kann unterstützt werden durch die Einführung von Vokabular, das sich dafür eignet. Darunter fallen Ausdrücke „echt?“, „oh toll“, „find’ ich auch“14. Daneben sollte aber auch der Einsatz von Interjektionen in der bedeutungsmäßig richtigen Intonationsstruktur trainiert werden, so dass der Lernende rein mit dem sprachlichen Mittel Interjektion deutlich machen kann, dass sein Gegenüber weiß, dass er weitersprechen soll oder aber gerade nicht. Eine weitere Übung, die insbesondere die Unterschiede zwischen Alltagskommunikation und institutioneller Kommunikation verdeutlichen hilft, ist eine Zuordnungsübung, bei der der Lernende Gesprächsbeiträge eines vollständigen kurzen Diskurses, beispielsweise eines Ratgeberdiskurses, erhält, ohne zu wissen, wer Rat sucht und wer Ratschläge erteilt. Aufgabe ist es dann, diese Rollenzuweisungen vorzunehmen. Von dieser Basis ausgehend, ist es in einem zweiten Schritt dann auch möglich, die institutionsspezifische Verteilung von Redebeiträgen zu reflektieren. Literatur Lehrwerke: Albrecht, Ulrike et al. (2001): Passwort Deutsch – der Schlüssel zur deutschen Sprache. 5 Bd. Stuttgart: Klett. Aufderstraße, Hartmut; Müller, Jutta; Storz, Thomas (2003): Delfin. Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache. 3 Bd. Ismaning: Max Hueber. Bovermann, Monika; Penning, Sylvette; Sprecht, Franz; Wagner, Daniela (2003): Schritte. Deutsch als Fremdsprache. 6 Bd. Ismaning: Max Hueber. 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Willkop, Eva-Maria; Wiemer, Claudia; Müller-Küppers, Evelyn; Eggers, Dietrich; Zöllner, Inge (2003): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache für die Mittelstufe und Oberstufe. Ismaning: Max Hueber. 14 s. dazu auch Liedke (1996). Redewechsel als Thema im DaF-Unterricht 341 Weitere Literatur: Beile, Werner (1979): Hörverstehen im Fremdsprachenunterricht – Lernziele und Korpuserstellung. In: Amsterdamer Werkstattgespräch. Lehr- und Lernmaterialentwicklung zur gesprochenen Sprache für DaF-Lehrerstudenten. München: Kemmler; Hoch, 65-74. Ehlich, Konrad (1979): Formen und Funktionen von ‘HM’. Eine phonologisch-pragmatische Analyse. In: Weydt, Harald (Hg.): Die Partikeln der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter, 503-517. Ehlich, Konrad (1983): Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Assmann, Aleida & Jan; Hardmeier, Christoph (Hgg.) Schrift und Gedächtnis. München: Fink, 24-43. Ehlich, Konrad (1986): Interjektionen. 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Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 343-371. Wolfgang Rug (Dornburg/Tübingen ) Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 1. Die DaF-didaktische Perspektive Der Beitrag zum Themenschwerpunkt „Gesprochene Sprache“ ist aus DaF-didaktischer Perspektive formuliert. Die in Gang gekommene linguistische Bemühung um die Fragen, „Was“ alles kommunikationsfunktional und formenphänomenologisch zur Gesprochenen Sprache dazugehört, wie man das begrifflich fassen und gliedern kann, um dann – über das Kapitel „Gesprochene Sprache“ in der 7. Ausgabe der DudenGrammatik noch hinausgehend – voranzuschreiten zu einer genuinen kommunikationsfunktionalen Grammatik der Gesprochenen Sprache, das alles verdient große Sympathie, Anerkennung und gespannte Erwartung.1 Mein Ausgangspunkt dagegen ist die Frage: Was soll der Gegenstand „Deutsch“ denn eigentlich sein, wenn wir – im Inland wie im Ausland – Deutsch als Fremdsprache unterrichten und für diesen Zweck Lehrer/innen ausbilden?2 Dabei ist die Situation der DaF-Didaktik und der linguistischen Bemühung um die Gesprochene Sprache ja zu einem Teil vergleichbar: Beide haben traditionell zu leiden unter einer schriftsprachlichen Dominanz3: in der Grammatikbeschreibung und Termi1 2 3 Fiehler (2005: 1175-1256, 2006: 22-39), Fiehler; Barden; Elstermann; Kraft (2004); Schwitalla (2003), Ehlich (2006), Henning (2007). Vergleichbare Fragestellungen bei Krumm (2006), Hirschfeld (1997) u.a. Fiehler (2005: 1176f.), Ehlich (2006: 12-15). Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich der Grammatik der Schriftsprache statt nur eines Anhangs zur Gesprochenen Sprache wie in der 7. DUDEN-Auflage von 2005 in Zukunft eine völlig eigenständige, „gleichberechtigte“ „Grammatik der gesprochenen Sprache“ mit eigenen linguistischen Beschreibungskategorien entgegenstellen lässt (vgl. Fiedler 2006: 23) und wie sich das schon in der Begrifflichkeit angelegte Paradoxon „Grammatik der gesprochenen Sprache“ in Zukunft wird auflösen lassen, ob und wie die Einbettung der gesprochenen Sprache in kommunikatives 344 Wolfgang Rug nologie auf der einen Seite, in der Text- und Papierlastigkeit von Lehrwerken und der weithin geübten Unterrichtspraxis auf der anderen Seite. Und selbst im Bereich der Aussprache, wo man doch annehmen könnte, dort der Mündlichkeit der Sprache ganz besonders nahe zu sein, war der fachhistorische Ausgangspunkt ebenfalls die Beschreibung (genauer: die Konstituierung) einer „Deutsche Hochlautung“ oder „Bühnensprache“: diese kann man als die lautschriftliche Transkriptionsweise einer normierten Schriftsprache Deutsch4 bezeichnen. Inzwischen sind – sicher auch erheblich begünstigt durch die seit den 60er Jahren sich etablierenden technischen Möglichkeiten der Sprachaufzeichung für didaktische Zwecke (Tonbandgeräte, Sprachlabor, Kassettenrecorder, Videoaufzeichnung, AudioDiscs für den PC, Online-Sprachkurse) – die Türen weit geöffnet für eine DaF-Didaktik, bei der die Mündlichkeit deutlich vom Rand näher ins Zentrum gerückt ist: - Kaum noch ein DaF-Lehrwerk, das nicht mit begleitendem Audimaterial, inzwischen mehr und mehr auch mit dem Anspruch der Authentizität deutscher Sprachklänge in verschiedenen Varietäten ausgestattet ist;5 - Inzwischen steht eine breite Palette überwiegend guter phonetischer Grundlagenund Übungsmaterialien zur Verfügung;6 - Ein Katalog mündlicher Sprachkompetenzen als Ziele des DaF-Unterrichts wird zunehmend als notwendig diskutiert: freies Sprechen, Gespräche in alltäglichen Lebenssituationen führen können, sich argumentativ auseinandersetzen können, frei referieren können, rhetorische Wirksamkeit ausüben können; - Es gibt mehr und mehr didaktische Impulse zur Förderung der mündlichen Kompetenzen (Sprachlernen in Stationen, in Projektform, Lernen mit Musik und Rhythmus, Theaterdidaktik, Rhetorik).7 Dennoch: Das alles ist noch keineswegs der Mainstream des täglich praktizierten Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts im In- und Ausland; zahlreich und gut hörbar sind also die Klagen: 4 5 6 7 Handeln eine fundierte Basis für entsprechende Beschreibungskategorien wird liefern können (vgl. Ehlich 2006). – Bzgl. der DaF-Didaktik (und allgemein: Fremdsprachendidaktik) sei auf die Entwicklung von der (ja in der Praxis oft noch zäh nachhängenden) Grammatik-Übersetzungs-Methodik hin zur Kommunikativen Fremdsprachendidaktik verwiesen (vgl. Neuner, Gerhard; Hunfeld, Hans 1993). Als Beispiele für Aussprachelehrbücher, die z.T. weit entfernt sind von der Realität der gesprochenen Sprache Hochdeutsch: Siebs, Theodor (1969), Rausch, Rudolf; Rausch, Ilka (1992). Dazu: Stock (1996). Beispiele neben anderen: Dimensionen (2002), Studio D, Berliner Platz, hören-sprechen-richtig schreiben (2003). Es wäre reizvoll, die Audio-Materialien DaF einmal in ihrer Bandbreite von demotivierender Labor-Künstlichkeit bis zu lebensnaher und vorbildlicher Sprechwirklichkeit als ein Stück DaF-Geschichte darzustellen, sinnvollerweise als online-Bericht, um auch mithören zu können. Als Beispiele: Stock, Eberhard; Hirschfeld, Ursula (1996), Hirschfeld, Ursula; Reinke, Kerstin (1998); Schiemann, Endrik; Bölck, Martina (2003). Als Beispiele das Themenheft „Sprechen“ in Fremdsprache Deutsch (1/1996) und die Fernstudieneinheit 20 „Fertigkeit Sprechen“ (2006); Häussermann, Ulrich; Piepho, Hans Eberhard (1996) Kapitel 7. 242-284. – Genannt seien die vier Blaubeuren-Fachtagungen „Mündlichen Kommunikation“ des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache (fadaf), zuletzt im Frühjahr 2008 mit dem Thema „Wege zum freien Sprechen“. Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 345 - dass oftmals (welt-und institutionenweit) noch Deutsch gelehrt und gelernt wird, als ob es eine tote Papier-Sprache wäre; - dass standardisierte und dominante Prüfungserwartungen einen „Gesprächsunterricht“ vereiteln;8 - dass Lehrer über kein wirklich eingeübtes, gekonntes und gelingendes Repertoire von Methoden verfügen, wie im Unterricht eine für das freie Sprechen förderliche Atmosphäre entstehen kann;9 - dass die Sprechfrequenz der Lehrkraft, im Zusammenwirken mit ungeeigneter Unterrichtsorganisation und mit lehrerzentrierten Unterrichtsformen, übermäßig dominiert und dadurch das Sprechenlernen eher behindert; - dass die den Unterricht bestimmende Sprache Deutsch in ihrer klanglichen Präsentation – durch vordergründige Grammatikorientierung, übermäßige Korrektheitsorientierung, diktierartige Verlangsamung etc., nicht zuletzt: durch „fossilierte“ Klangfremdheiten – vom Ziel, im Lernprozess richtiges Deutsch zu hören, zu erfahren und zu sprechen, eher wegführt.10 Vor diesem Hintergrund, nämlich (1) einer immer noch zu konstatierenden Dominanz schriftsprachen-orientierter Sprachvorstellungen, Termini, Lernziele, Bewertungsverfahren und Unterrichtsformen und (2) immer noch zu konstatierender Schwächen in der sprechdidaktischen Ausstattung vieler Deutschlehrenden ist die Frage zu klären, was in klanglicher Hinsicht der Gegenstand des Faches Deutsch als Fremdsprache ist, wenn wir – im Inland wie im Ausland – Deutsch als Fremdsprache unterrichten und für diesen Zweck Lehrer/innen ausbilden. Meine Antwort ist: In klanglicher Hinsicht ist der Gegenstand von Deutsch als Fremdsprache die Gesprochene Sprache Hochdeutsch.11 Zur Definition verwende ich die Formulierung von Häussermann; Piepho: „die ‘normale’ gesprochene Sprache, die mittlere Schicht zwischen der Hochsprache (Schriftsprache) einerseits und den Dialekten andererseits“ (bei „Dialekte“ sind hier in unserem Kontext mitzudenken: Migrantensprachen, Szenensprachen, Jargons).12 Dies sei die Sprache, die unter den ca. 100 Millionen Deutschsprachigen in der Welt von fast 2/3 aller Teilnehmer der deutschen Sprachgemeinschaft gesprochen werde13, gegenüber 8 9 10 11 12 13 Als langjähriger Dozent in DaF-Fortbildungsseminaren für Studienreferendare in Baden-Württemberg liegen mir zahlreiche kritische, oft drastische Reportagen aus dem Deutschunterricht an britischen Schulen vor. Vgl. dazu die beherzigenswerten knappen Äußerungen von Häussermann; Piepho (1996: 242f.). Vgl. Butzkamm, Wolfgang (1996); im Sinne der Aufforderung von Hans-Jürgen Krumm in seiner Rezension (1996: 61), das Repertoire der Redemittel für die Sprache im Unterricht zu ergänzen, wäre zu wünschen, die Unterrichtssprache Deutsch auch in ihrer Klanglichkeit zu beschreiben und kritisch zu reflektieren. Mir ist dabei durchaus bewusst, dass diese Aussage in einem Spannungsverhältnis zu der nicht nur regionalen („deutschländische“ regionale Aussprachefärbungen), sondern im D-A-CH-Rahmen auch „national“ konstituierten Plurizentrizität („nationale Varietäten“) des deutschen Sprachraums steht. (Ammon 1995, 1996, 1997, 2004, 2006); (Krumm 1997, 2006); Fremdsprache Deutsch 37 (2007). Häussermann, Ulrich; Piepho, Hans-Eberhard (1996: 188). Diese Quantifizierung stammt von Walter Henzen (1954: 19); sie dürfte inzwischen zu modifizieren sein, nicht zuletzt unter Einbeziehung der (auch) Deutsch sprechenden Bevölkerungsteile mit Migrationshintergrund, aber die Tendenz der Aussage kann nach wie vor gelten. 346 Wolfgang Rug höchstens 1/3 Dialektsprechern und nur „ganz wenigen“ Sprechern der Hochsprache, unter der wir uns eine von allen Wassern lebendiger Lebenspraxis ungetrübte glatte Sprachkorrektheit vorstellen können.14 Wobei der fast selbstverständliche Sachverhalt zu konstatieren ist, dass diese „mittlere Schicht“ nach beiden Nachbarschichten hin immer wieder ausfranst, nach oben hin etwa, wenn am Küchentisch den mauligen Kindern, die das von den Eltern erwartete Ritual, nach dem Essen den Tisch abzuräumen und die Spülmaschine zu füllen, (wohl nur gespielt aggressiv) entgegengehalten wird: „Ich erzähl euch gleich was von ‘Unterdrückung einer Minderheit’ und ‘Zwang zu unbezahlter Kinderarbeit’, und zwar gehörig hinter die Ohren“. Oder nach unten hin, hier in der Beschreibung von „Missingsch“ in Tucholskys Schloß Gripsholm „Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein Plattdeutscher Hochdeutsch sprechen will. Er krabbelt auf der glatt gebohnerten Treppe der deutschen Grammatik empor und rutscht alle Nase lang wieder in sein geliebtes Platt zurück.“15 Oder wenn wir den derzeitigen Innenminister Wolfgang Schäuble hören, wenn er die „Inschtitutionen des freien Rechtsstaats“ gegen alles aufmarschieren lässt, was auch „nur im Geringschten des Terrorismus verdächtig ischt“, vielleicht hat er sogar gesagt: „nur im Geringschte“. Ich füge hinzu: Aber sicher geglaubt, dass auch er Hochdeutsch spricht.16 Soll heißen: dass zwar die Grenzen zwischen den genannten Sprachschichten nicht scharf getrennt, in beiden Richtungen durchlässig sind17 und oft erhebliche Bandbreiten der Toleranz und Akzeptabilität beanspruchen können18, dass aber doch auch ein intuitiver und kollektiv etablierter Konsens zu bestehen scheint, um festzustellen, dass der Innenminister aus dem Badischen in jedem Satz eine Tucholsky’sche Treppenstufe herunterrutscht (vermutlich noch nie ganz hinaufgekommen ist), und dass dem alerten 14 15 16 17 18 Als Beispiel mag etwa – mit dem Klang der authentischen Stimme vergegenwärtigt – das Zitat von Guido Westerwelle gelten: „Ich bitte das Präsidium des Bundestages, sich dieser Frage einmal anzunehmen und vor allen Dingen der Regierung mitzuteilen, dass hier das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag tagt und die Regierung gefälligst mit Respekt gegenüber den Parlamentariern aufzutreten hat. Das muss an dieser Stelle endlich einmal gesagt werden.“ (Rede zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Deutschen Bundestag am 14.03.2003. www.liberale.de/files/542/Rede_Westerwelle_Regierungserklaerung_14-03-03.pdf). Das ist gesprochene Sprache, aber „wie gedruckt“. – Es ist eben ein Unterschied, ob sich eine nur „hochdeutsch aufgeputzte“ Spracheform im „nach oben geschobenen“ Registerrepertoire mündlich darbietet, oder ob es sich um legitime Registervarianten handelt wie Theatersprache, Rezitation, Unterrichtsdiktat. – Das Problem zeigt sich ja auch im Bereich der Schriftlichkeit, wo Verwaltungssprache, Juristensprache (auch: Wissenschaftssprache) in ihrer die Kommunikation häufig erschwerenden, lebensfernen Stilform (mit ihrem innerem Sprachklang) kritisch zu hinterfragen sind (dieser Satz will – als paradoxon – selbst ein Beispiel dafür sein). Fortschrittlich denkende Oberbehörden der Verwaltung bemühen sich verstärkt darum, durch Formulierungshilfen und Schulung Abhilfe zu schaffen zugunsten größerer „Bürgernähe“. Vgl. Bundesverwaltungsamt (2004). Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm – Eine Sommergeschichte. Zitiert nach der Ausgabe des Verlags Volk und Welt. Berlin (1975) 19. – Vgl. auch das Kapitel 4.2. „Dialekt und Standarddeutsch“ bei Schwitalla (2003: 48-55). Die Zitat-Elemente sind dem derzeitigen Bundesinnenminister – mit Bemühung, den „authentischen Klang“ zu treffen – in den Mund gelegt. Vgl. dazu auch Schwitalla; Betz (2006). Vgl. Götze (2001). Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 347 FDP-Vorsitzenden (Anm.14) irgend was zu fehlen scheint, dass wir also als Muttersprachler kollektiv zu wissen glauben, was zum genuinen Bereich der gesprochenen Sprache Hochdeutsch dazugehört, was eher nicht oder ganz entschieden nicht. Drei Abgrenzungen scheinen sinnvoll, bevor der „Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch“ ins Zentrum gerückt wird: 1. Wenn wir aus fremdsprachendidaktischer Perspektive auf das Thema Gesprochene Sprache blicken, so können wir – weil wir diese Sprache ja zum Zwecke der Erlernbarkeit darstellen, durch Lehrersprache und Audiomaterialien einführen, beispielhaft vorführen und konkret lehren wollen – eine ganze Reihe gesprochensprachlicher Phänomene außer Acht lassen oder wenigstes an den Rand rücken: Phänomene wie Anakoluth19, bestimmte Ellipse20-Strukturen, „Apokoinukonstruktionen“21, Wortverdoppelungen, stockendes oder stotterndes Sprechen, Denk- oder (Verlegenheits)-Pausenfüller22, die unter den zeitlichen, situativen, institutionellen und kommunikativen Bedingungen zahlreich vorkommen und deswegen durchaus legitime Gegenstandsbereiche einer linguistischen Beschreibung der Gesprochenen Sprache sein können.23 Was nicht heißt, dass sie bei der Aufbereitung authentischer Sprachmaterialien ängstlich und puristisch weggereinigt werden müssten. 2. Wenn wir die Klanglichkeit der gesprochenen Sprache Hochdeutsch zum Thema machen, dann spielen zwar die auditiv zu erfassenden phonetischen, prosodischen und rhetorischen Elemente die Hauptrollen, diese sind aber immer eingefügt in das Gesamthörbild gesprochener Sprache (vorstellbar also als Filmsequenz mit Bild und Ton), zu dem auch die grammatische Ebene, die Wortwahl und Idiomatik, die „Nonverbalität“ (sprich: Körpersprache), die Pragmatik und Funktionalität des situativen und kommunikativen Geschehens gleichermaßen beitragen. Soll heißen, dass es auch von diesen Ebenen her erheblich „mitklingt“, sei es nur tonfärbend oder dominant. In der Äußerung Verdammt noch mal , jetz geht’s mir aber langsam über die Hutschnur , die Mistkerle von nebenan , jetz habm se schon wieder die Musikanlage voll rauf gedreht, die volle Dröhnung . spielen alle Ebenen zusammen: - im phonetischen Bereich die wiederholte Elision des Endkonsonanten bei jetzt , die Endungsassimilation bei habm und die Zusammenschmelzung der nachge19 20 21 22 23 Konstruktionsabbruch oder -wechsel; vgl. Schwitalla (2003: 118-130). oder „Analepsen“: weitgehende Streichungen sprachlicher Elemente aus der Äußerung aufgrund des gemeinsam bekannten Kommunikationsrahmens, so dass ein stark reduzierter Fach- oder Gruppenjargon entsteht; vgl. Schwitalla (2003: 107-111). Konstruktionen der mündlichen Kommunikation, in denen ein Bedeutungselement in Mittelstellung „syntaktisch korrekt“ sowohl mit dem unmittelbar vorangehenden als auch mit dem unmittelbar folgenden Element harmoniert, nicht aber mit beiden zusammen, z.B. Die habm ja nicht mehr alle Tassen im Schrank habm die. Vgl. Fiehler (2005: 1212). Schwitalla (2003: 88-90) fasst die „stillen“ und (vokalisch oder spirantisch) „gefüllten“ Pausen unter der Bezeichnung „Verzögerungsphänomene“ zusammen. Hierzu generell das Kapitel 3 Grundbedingungen mündlicher Verständigung bei Fiehler (2005: 1188-1199) und Schatz (2006: 32-35). 348 - - - Wolfgang Rug stellten Personalpronomina sie bei habmse und es bei geht’s , die Formverkürzung bei mal und die veränderte Vorsilbe bei rauf gedreht im prosodischen Bereich die emotionalisiert starke Satzakzentuierung bei Verdammt , die als emotionaler Bogen bis Hutschnur reichen kann, und die kurzatmigen Phrasierungen aller fünf Phrasen , vor allem die „Frontierung“24 von die Mistkerle von nebenan, die haben … die emotionale „Untertreibung“ von langsam im Verbund mit der Übertreibung über die Hutschnur und der Verwendung der „Redepartikel“ aber , die ja auch eine rhythmische Wirkung hat als extrem unterartikuliertes und unbetontes „Sprungbrett“ für den folgenden starken Satzakzent auf Hutschnur. und das sind ja bereits auch Abweichungen von der grammatisch-schriftsprachlichen Norm die emotionsgeladene Wortwahl und Idiomatik (verdammt noch mal, über die Hutschnur gehen, Mistkerle und auf volle Dröhnung, raufdrehen (alle ), – die ebenfalls emotional motivierte zweifache Verwendung von voll ) die pragmatische Funktionalität in der Situation – Wutexplosion und verbales Dampfablassen, gerade noch im gebremsten Selbstgespräch, das als solches den schon recht ungezügelten Schimpfwortgebrauch ermöglicht, das aber möglicherweise auch Auftakt sein könnte zu einer entsprechenden Handlungsfolge, einer verbalen (dann sicher anders formulierten) oder tätlichen Konfrontation mit den Nachbarn. Das alles „klingt“, auf allen Ebenen, gleichzeitig und ineinander und macht zusammen die Musik. Das entsprechende Bild dazu würde die Körpersprache machen – wir hören und sehen den Sketch25. 3. Die Frage, ob es denn in der deutschsprachigen Gemeinschaft, nicht zuletzt unter der Bedingung von D-A-CH, überhaupt korrekt ist, einen Begriff wie „Hochdeutsch“ zum Gegenstand von Deutsch als Fremdsprache zu erklären, muss diskutiert werden. Fakt ist, dass der deutsche Sprachraum plurizentrisch strukturiert ist26, dass – siehe das extreme Beispiel Schäuble, aber es können auch fast alle führenden deutschen Politiker, ob Adenauer, Heuss, Ehrhard, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel oder Ulbricht und Honecker als klangliche Referenz dienen – bis in höchste gesellschaftliche Karrieren hinein dialektale Färbungen eine dominante Rolle spielen können und durchaus toleriert werden.27 Aber auch grammatische, le24 25 26 27 „Linksherausstellung“, „freies Thema“ Schwitalla (2003: 111-113); „Linksversetzung“ als Beispiel für „Referenz-Aussage-Strukturen“ (Fiehler 2006: 1210-1211). Zu „Sprachstilen“ Fix (2006). Vgl. das Themenheft „Plurizentrik im Deutschunterricht“ in Fremdsprache Deutsch (2007), die Arbeiten von Ulrich Ammon, den Thematischen Teil des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache Bd. 23 (1997). Harald Weinrich nennt das den „besonderen landschaftlichen Geschmack und Geruch“ der deutschen Sprache (zitiert nach Krumm (2006: 462)). – Ohne diesen Sachverhalt, also ohne dialektal identifizierbaren Figuren wie Bienzle, Leitmayr, Ehrlicher, Freddy Schenk, Stoever, Schimanski, Eisner u.a. wäre eine Endlosserie wie der ARD-Tatort gar nicht denkbar, und auch im umgekehrten Fall – wenn also der Kommissar mit seinem „hochdeutschen“ Idiom extrem mit der dialektalen Umgebung kontrastiert (wie z.B. Beispiele Jochen Senf als Palu in Saarbrücken, Ulrike Folkerts als Lena Odenthal in Ludwigshafen, Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 349 xikalische und idiomatische Besonderheiten spielen in regional gültige Konzepte der „mittleren Ebene“ der gesprochenen Sprache in großer Formenfülle mit hinein - ich kann das nicht ab und ja, ich erinnere das im Norden, - auf Arbeit und ebmt im Osten - die „Präteritumschwäche“ und Formen wie bin gesessen und sind gestanden im Süden - viele nur regional verbreitete Wörter oder Idiome, die dort aber dann dominanten Rang beanspruchen (das schweizerische Velo oder das erstsilbenbetonte ’Hotel, das südliche heuer oder der saarländische Dummschwätzer als Beispiele) - oder die vielen Ausdrücke, deren Vokalismus bzgl. Länge und Kürze (und was damit zusammenhängt) keineswegs deutsch-weit geklärt ist (das/daas, Obst/Oobst, Rost/Roostwurst, schon/schoon, Spass/Spaaß – beim letzten Beispiel hätte das sogar neurechtschreiberische Orthographie-Konsequenzen). All das ist ja – bei aller innerdeutschen Freude mit dem landsmannschaftlichen Gefrotzel und der landesüblichen Verteilung von aus tiefstem Herzen dringenden gegenseitigen Zu- und vor allem Abneigungen gegenüber den regionalen Einfärbungen – erfreulicherweise in der deutschsprachlichen Sprachkultur mit einer großen Toleranzbereitschaft ausgestattet.28 Heißt das nun aber, dass eigentlich „alles geht“ und sich klanglich in einem weitgehend „normenfreien“ Raum abspielt. Jeder, der mit dem Berufswunsch spielt, Hörfunkmoderator zu werden oder im PR-Bereich tätig zu werden, weiß, dass dies keineswegs der Fall ist, trotz und gerade wegen der sprachlichen und sprachklanglichen Plurizität des im deutschen Sprachraum gesprochenen Deutsch. Ich schlage – immer im Blick auf das Unterrichten von Deutsch als Fremdsprache – folgende Definition vor: „Gesprochene Sprache Hochdeutsch“ ist eine von der Sprachgemeinschaft kollektiv konstituierte Fiktion, eine Sprache, die - (um ihr in topographischer Annäherung einen Platz zuzuweisen) der Regionalsprache der muttersprachlichen Menschen, die in einer Region von grob gedachten 130 km im Umkreis der niedersächsischen Stadt Hildesheim (südlich von Hannover) leben, klanglich zwar nicht gleich, aber am nächsten kommt;29 - (um ihr in berufssoziologischer Annäherung einen Patz zuzuweisen) von Menschen mit Moderatoren- und Sprecherfunktion in überregionalen Hörfunk- und Fernsehredaktionen sowie – neben fließendem Englisch – im PR-Bereich überregional bzw. global agierender Firmen, Gesellschaften, Hotelrezeptionen erwartet wird; 28 29 Jan-Josef Liefers als Professor Boerne in Münster) – wird mit dem gleichen Spannungsmuster gespielt. Weitere Beispiele finden sich unter http://www.rubycon.de/tatort/karte.php?Ort. Erinnert sei auch daran, dass seit den bahnbrechenden „Hessischen Rahmenrichtlinien für das Fach Deutsch“ in den 70er-Jahren in der alten BRD erfreulicherweise der Regionalität der Sprachkultur der gebotene breitere Raum auch in der muttersprachlichen Deutschdidaktik und generell in der schulischen Sprachkultur eingeräumt worden ist, vgl. Christ (1974). Das Gebiet, eine topographische Annäherung, reicht an die südlichen Grenzen der Stadtstaaten Bremen und Hamburg knapp heran, umfasst ein Stück Südwest-Mecklenburgs und Nordwest-Brandenburgs, den Norden von Sachsen-Anhalt, ein Stück Nordthüringens und Nordhessens, Westfalen und bis ins Ruhrgebiet hinein sowie vor allem den größten, landeinwärts gelegenen Teil Niedersachsens. 350 Wolfgang Rug - (um sie sprachdidaktisch auf Deutsch als Fremdsprache zu beziehen) – von den Lehrerinnen und Lehrern nicht des Schulfaches Deutsch, aber doch des Berufsfeldes DaF beherrscht und gesprochen werden sollte, und zwar – das sei mit gebotener Diskretion gesagt – auch im Deutschunterricht im Ausland, und zwar insbesondere deshalb, weil dieser Sprachform bzw. diesem Sprachklang generell der größte Nutzwert, Verkehrswert für die Deutschlernenden zugesprochen werden kann.30 - für den Bereich DaF, für das fremdsprachliche Lehren, linguistisch in ihren verschiedenen Ebenen, ihrer handlungs- und kommunikationsgeleiteten Funktionalität wie ihrer Klanglichkeit und Körperlichkeit aufbereitet, transparent und regulativ dargestellt wird und als Sprach- und Sprech-Norm für den DaF-Unterricht, also als Zielsprache angeboten wird; - und zwar ausgestattet mit der Besonderheit, dass sowohl im einzelnen Bestand von Funktionen und Formen wie auch an den Rändern ihrer Registerbreite deutliche Toleranzen und Entscheidungfreiräume, Spiel- und Stilräume ihrer Formulierung und Klanglichkeit eingeräumt bleiben, in denen nicht die Dichotomie richtig/falsch, sondern vielmehr angemessen/weniger angemessen relevant ist.31 2. Elemente der Klanglichkeit 2.1 Ebene der Laute: Vokale – Diphthonge – Konsonanten Im zweiten Teil seien überblicksartig die wichtigsten Klangformen der Gesprochenen Sprache Hochdeutsch32 aufgelistet, die gemeinsam den klanglichen Fundus des „D“ in DaF konstituieren können. 30 31 32 Argumente dazu bei Hirschfeld (1997: 178, 183, 185, 187). Diese mehrteilige Definition bedeutet keineswegs, dass nicht ein DaF-Unterricht in einer bestimmten deutschen Sprachregion (sei’s Berlin, Leipzig, Stuttgart, München, Saarbrücken, Zürich oder Wien), aus landeskundlicher Neugier und zugunsten einer Förderung der Alltagskompetenz der Lernenden, didaktische Ausflüge ins jeweils regionale Klangerlebnis oder in die Wunderwelt des autochthonen Dialekts gestattet und geboten wären. Ebenso zulässig und für DaF in Österreich und der Schweiz geboten ist es, ausländischen Lernern, die ihr Deutschlernen vor allem für eine Lebenspraxis in einer bestimmten Region hin planen, Anleihen aus der und Assimiliationen an die Klanglichkeit der Regionalsprache zu gestatten und auch didaktisch zu fördern. – Anders und mit großem Fingerspitzengefühl zu diskutieren ist dagegen die Frage, ob es gestattet oder opportun ist, die ausländischen DaF-Kolleginnen und Kollegen mit vom deutschen Sprachraum ausgehenden normativen Erwartungen bzgl. der gesprochensprachlichen Kompetenzen zu konfrontieren; eine Herausforderung an die internationale Aus-, Fortund Weiterbildung von DaF-Lehrkräften ist es auf jeden Fall (vgl. Hirschfeld 1997:187). Interkulturell aufgeschlossene und erfahrene DaF-Dozenten und Kursorganisatoren (z.B. bei Internationalen Sommerkursen für ausländische Germanisten, internationalen Fortbildungsveranstaltungen, im deutschen Auslandsschulwesen. in ausländischen Deutsch-Lektoraten und Goethe-Instituten) werden damit professionell umzugehen wissen. Zu den nachfolgenden Abschnitten finden sich zahlreiche einschlägige Ausführungen, Beispiele und didaktische Tipps und Tricks bei Rug (2007b). Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch Nr. Bezeichnung 1 2 3 4 33 34 35 36 Lautschrift 351 Beispiele/Kommentare 1533 Klangliche Definition : : : : (a) im Kontrast zu innerdeutschen 3 der 8 langen Vokale bzgl. : : : y Varietäten (z.B.: leben schwäb.vs. Vokalität (gerundet/flach), hochdeutsch (hd); wohnen plattTonhöhe (hoch/tief), deutsch vs. hd) Artikulationsorts (vorn/ (b) im Kontrast zu interlingualen hinten), Diskrimination von Varietäten Nachbarlauten; (z.B.: leben englisch vs. hd) im Anlaut mit hartem (c) im Kontrast zu individuellen  Glottislaut Varietäten34 Die mittleren Laute : : und die gerundeten Laute : y sind besondere didaktische Herausforderungen. 2 Annahme von mehreren Republik, Legalität; Programm,  „kurzen Langvokalen“ in grotesk; isoliert unbetonten Vorsilben bzw. Das steht so bisher nicht in den Erstsilben „internationaler DaF-üblichen Phonemtabellen.35 Wörter“ Klangliche Definition der 7     hatte/alles – wenn/hätte/essen/ändern 3 betonbaren kurzen Vokale-    – bin/in – hoffen/offen – rund/und bzgl. Vokalität, Tonhöhe, – können/öffnen – dünn Artikulationsort, Diskrimination von Nachbarlauten; im Anlaut mit hartem Glottislaut  Außer  sind alle kurzen Vokallaute didaktische Herausforderungen, besonders bzgl. der Tonhöhe und der Diskrimination von Nachbarlauten. 5 Klangliche Definition der hätte/hätt’   2 unbetonbaren kurzen aber, ändern, ver-, er(genauer: reduzierten, minimalisierten) Vokale – bzgl. ihrer Vokalität (gerundet/ungespannt) Die didaktischen Herausforderungen sind: Minimalisierbarkeit des Silbenwerts, bei  häufig Elidierbarkeit und damit ihre Funktion für Rhythmus und Prosodie der gesprochenen Sprache; Spannungslosigkeit; Diskrimination von Nachbarlauten   ; die eminente Bedeutung beider Vokale in der gesamten Morphologie.36 Die Ziffern benennen – gestützt auf eigene langjährige Lehrerfahrung und einen Fundus von über Tausend Tondokumenten von Sprechern von ca. 20 Herkunftssprachen – von 1: marginale Abweichung, leicht behebbare Lernschwierigkeit bis 5: zentrales Klangphänomen der deutschen Aussprache bzw. Hauptschwierigkeit. Alle drei Kontrastweisen spielen grundsätzlich bei allen Klangelementen als Varietäten mit und müssen deshalb hier nicht mehr jedes Mal angemerkt werden. Eine (eher marginale) Fehlstelle in den führenden DaF-Phonetikbüchern, z.B. bei Dieling; Hirschfeld (2000: 38-40, 196). Rug (2001: 615f., 2007a: M1-3, 8; V6-7, 11-17; N1, 8-9; W3; GUST2; 2007b: 12, 14-21, 29-30, 61-63). Wolfgang Rug 352 5 2 a) innerdeutsche Varietäten (z.B. weich österr. vs. hd; Maschendrahtzaun sächs. vs. hd; Deutschland „adenauerisch“ vs. hd) b) zahlreiche interlinguistische Kontraste (z.B. Heidelberg für Amerikaner, RAI/Reis für Italiener, Europa für Franzosen, Spanier) Wichtig ist, im Blick auf die kontrastiv bedingten Fehlerquellen, die Erfahrung der Kombination zweier Kurzvokale und der Kürze-Tendenz der Diphthonge.37 6 Silbenauslautendes oder in unbetonter Silbe eingebettetes -r (-r-) bildet/ kann … bilden - in lockerer, „unmarkierter“ Sprechweise Diphthonge mit den vorangehenden 8 langen Vokalen und mit 6 (von 9) Kurzvokalen 37 38 39 40 41 Klangliche Definition der 3    „klassischen Diphthonge“: Sie konstituieren sich aus dem Bogen zwischen zwei Kurzvokalen (nicht Langvokalen) und haben insgesamt eine eher kurze als lange Klangform. : war, wahr38 : Meer, sehr : wir, Bier : Ohr, bohrst : zur, fuhrst : Bär, wer : Möhrchen y Tür, führst  Herz, gern  wird, wirst  Ort, Horst  kurz, Wurm  örtlich  kürzlich 5 Eine ziemlich zähflüssige Entwicklung, von der ursprünglichen Annahme von nur 3 Diphthongen39, dann zunächst nur den langen Vokalen diese Fähigkeit zuzugestehen, mit -r Diphthonge zu bilden40, bis zur Annahme von insgesamt 17 „deutsch“sprachigen Diphthongen,41 also auch bei den kurzen Vokalkombinationen, immer unter der Bedingung „unmarkiert“ gesprochener Sprache. Was in den einschlägigen Phonetiken als Problem meist übersehen wird, vgl. Dieling; Hirschfeld 2000: 39), Stock; Hirschfeld (1996: 99, 199) benennen die Kombination von Kurzvokalen, nicht aber die Kürzetendenz des gesamten Diphthongs. Das Problem wird deutlich, wenn man den Unterschied von den hier diskutierten „schließenden“ zu den langvokalischen „öffnenden“ Diphthongen, z.B. Legion Legion,, Leguan Leguan,, Guano,, die aus nichtdeutschen Sprachen stammen, betrachtet (Fiehler 2005: 43, 55). Guano Die Beispiele im Kapitel „Besonderheiten der Lautlichkeit“ bei Fiehler (2005: 1209) zum Stichwort „Wegfall von r nach Vokalen“ Mark  :: und wahr w: spielen zwar regional oder aus Gründen der Flüchtigkeit der gesprochenen Sprache eine Rolle, sind aber nicht geeignet, die Gespr. Sprache Hd. zu charakterisieren und daher nicht DaF-adäquat. Gleiches gilt für die vorgestellte Einsilbigkeit von waren, wahr in der Klangform  :: ::. Z.B. in den älteren Ausgaben von Siebs vor 1969; in den Tabellen aber noch bis heute. Dieling; Hirschfeld (2000: 133-135), Hirschfeld; Reinke (1998: 101f.), Stock; Hirschfeld (1996: 143148). Rug (2007b: 18-28, 30-31, 35-36); durch den sich in der modernen deutschen Sprachrealität ständig erweiternden „Internationalen Wortschatz“ ergeben sich natürlich weitere Diphthonge: vorweg o: o:durch die produktive Wortbildung mit -ion; aber auch  ii in Baby und u in Bowling Bowling.. Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 353 In markierten Sprechsituationen 5 (Rezitieren, Gesang, Theater, Aggression etc.) ist bei allen Vokalkombinationen konsonantische Aussprache (Reibe-r, gerolltes Zungen- oder Zäpfchen-r) möglich, bei regional oder individuell motivierten Roll-r-Sprechern ohnehin. Demgegenüber ist die weitgehende vokalische, diphthongische Sprechweise für die DaF-Didaktik von größtem Nutzen. Nur konsonantisch wegen der zu Ausnahme: * geringen Opposition zwischen  Also: hrt, und  krtfl ktfl Die r-Aussprache ist ohnehin schon eine Hauptschwierigkeit beim Erlernen deutscher Aussprache (und einer der Hauptquellen für „Fremdklang“ auch bei gut ausgebildeten Deutschlernern); um so mehr ist es die Aussprache des vokalischen bzw. vokalisierbaren -r (bis zu 2/3 aller r-Grapheme in deutschen Texten, geschrieben oder gesprochen).42 Dabei könnte sich der Laut  auf universale Kompetenz stützen; der weltweite DaFUnterricht und die beklagte, hartnäckige schriftsprachen- und schriftgrammatkorientierte Praxis sind die eigentlichen Fehlerquellen, ein unglaublicher Umweg und eigentlich ein „DaF-deutschdidaktischer Skandal“. Gleichzeitig hat dieser Klangbereich ja einen besonderen didaktisch-kreativen Charme als eminent ergiebige, bisher weitgehend ungenutzte Fundgrube für die enge klangliche Verbindung von Phonetik und Grammatik.43 Die folgende Auflistung des Konsonanten-Lautbestands beschränkt sich auf die Aspekte, die in DaF-didaktischer Hinsicht besonders relevant sind oder die signifikante Unterschiede zu einer schriftsprachlich orientierten Darstellungsweise aufzeigen. 6 42 43 Vgl. Ulbrich (1972); Graf, Meißner (1996). Rug (2001: 615f., 2007a). Wolfgang Rug 354 7. Vier Härtegrade von b-d-g: (a) inlautend: weich/leicht stimmhaft (b) anlautend: leicht gehärtet/fast stimmlos (c) in Kombinationen wie bl-, gl- und br-, dr- und grzunehmende Härte/ noch weniger oder keine Stimme (d) Auslaut/Auslautgruppe: sehr hart/stimmlos, nahe an   . – Der besondere Kontakt an Silben- oder Wortgrenzen von td, pb, kg (nicht getrennt, nicht voll assimiliert)   44 (a) aber, jeder, Wege (b) bei, der, gut (c) blau, gleich, braun, dran, groß Hier sind vor allem Kontraste einer „weich/stimmhaften“ Aussprache in einzelnen Sprachen bzw. Sprachgruppen relevant (z.B. slaw. Sprachen, Franz., lateinamerik. Span., Amerik., Englisch). 3 4 (d) ab/habt, und/sind’s. – gtdas45 apbi:g Weg/weg   statt hd: k g weg/bewegt An den Silbengrenzen: „Hart 5 besiegt Weich, Links besiegt Rechts“ („progressive Assimilation“ bei Russisch, Französisch etc., „regressive A.“ bei D.) Die innerdeutsche Opposition des 1 auslautenden -g k mit  hat keine interlinguale Entsprechung. Darstellung der unterPosition von hd. zwischen Spa1 schiedlichen Härte/Aspinisch (weicher) und britischem riertheit von p-t-k Englisch (stark aspiriert)   Didaktisches Ziel ist es, das gesprochene Hd. gegenüber Regionalklängen (z.B. Sächsisch, Fränkisch, Österreichisch) und vielen internationalen Sprachen (z.B. slawische Sprachen, manche romanische Sprachen, amerik. Englisch) als „härter“ vorzuführen und zu üben. Besonders relevant sind die Klangstrukturen im Auslaut („harte Silbengrenzen“, keine weichen Assimilationen), ein Ausspracheproblem, das den gesamten Sprachbereich mit konsonantisch auslautenden Wörtern und Silben bei anschließendem „weichem“ oder stimmhaftem Konsonanten durchzieht). 44 45 Es sei hier darauf hingewiesen, dass die IPA-Lautschrift für eine exakte Beschreibung des Dt. partiell ungeeignet ist (Beispiele: die Mehrstufigkeit stimmhaft/stimmlos und weich/hart bei b, d, g und s; konsonantische r-Aus-sprache bei harten/stimmlosen Konsonanten (pr-, tr-, kr-, schr-, fr-); die sprachdidaktisch ungünstigen IPA-Zeichen wie , v, :, :, y,  und  im Blick auf die deutschen Klänge). Diesen Mangel zu diskutieren und kreativ zu beheben ist für das Fach DaF notwendig und nützlich; also Widerspruch zu der didaktisch zu unbeweglichen, Lernenden und Lehrenden zu wenig zutrauenden Argumentation bei Neuber (2007: 2-4, 7-9), Dieling; Hirschfeld (2000: 37), Häussermann; Piepho (1996: 50). Auch hier trifft das Beispiel für „Verschmelzungen“ bei Fiehler (2005: 1209) gdas nicht das Gespr. Hd. Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 8 9 355 3 Die drei s-Laute (für die es   Starke Kontraste bestimmter nur zwei IPA-Lautzeichen Sprachen zu hd: Französisch/Slagibt) wische Sprachen in den Positi(a) im Inlaut: relativ stimm- (a) Rose, Wiese onen (a) und (b) zu stimmhaft; haft Spanisch/Dänisch (und süd(b) im Anlaut: schwach deutsche dialektale Varietäten) zu (b) so, süß stimmhaft stimmlos. (c) im Auslaut, nach Lang- (c) das, dass An der Silbengrenze keine „provokal/ Diphthong oder in Straße, lassen gressive Assimilation“ (wie bei 7.) 5 ss-Wörtern: stimmlos es gibt Didaktische Aufgabe: Die drei s-Lautstufen der Gesprochenen Sprache Hochdeutsch auf der Skala zwischen „extrem stimmhaft“ (was sehr „säuselnd“ klingt) und „extrem stimmlos“ (was sehr scharf klingt) vorzuführen. Die Opposition des Ich- und AchDie Lautgruppe „Ich-Laut“,     Lauts – linguistisch, aber nicht „Ach-Laut“ und der sch DaF-didaktisch nur eine regelLaut, auch im Verhältnis z.B. verschiehafte komplementäre Verteilung47 zum stimmlosen  stehen dene – durchzieht von Süden nach in verschiedenen Sprachen ich-Klänge: Norden die deutschen Regionalin unterschiedlichen „Aus- schweiz:  varietäten. –  ist für Sprecher spracheschwierigkeits-Op- amerik:  positionen“.46 franz.: i, i bestimmter Muttersprachen 5 (Engl., Slaw. Sprachen, Franz., dänisch: s Dän. u.v.a.) eine Hauptschwierigkeit. – Der „Ich-Laut“ weicht aber auch innerdeutsch in seiner Lautform z.T. von der hd. Sprechnorm ab (zu hell in Schlesw.-Holst., artig in Hessen, in Richtung auf  im Saarland oder in Thüringen und Sachsen. –  ist bei franz. oder slaw. Sprechen in der Gefahr, 3 weich und stimmhaft zu werden. Es erweist sich für DaF als hilfreich, wenn der „Ich-Laut“ in seiner Klanglichkeit (nicht zu hell, nicht zu dick, sondern „cheese-artig“, ein scharf aspiriertes j) als „Gesprochenes Hd.“ fixiert wird. – Wobei übrigens das Wort „durch“ mit seinem hd. vokalischen r-Klang die Klanggrenze zwischen „dunklen“ Vokalen (a, o, u – lang oder kurz, sowie au) und „hellen“ Vokalen (alle übrigen, von  als dunkelster Hellstufe aufwärts) definieren kann. 46 47 Der Begriff soll den fremdsprachendidaktischen Blick auf die sprachlichen Beobachtungen unterstreichen. Duden (2005: 34); für den DaF-Unterricht ist an der Annahme von zwei unabhängigen Phonemen zu bestehen, weil nur so kontrastiv bedingten Aussprache-Hauptschwierigkeiten hilfreich begegnet werden kann. Wolfgang Rug 356 10 Der inlautend oder auslautend in –ng-Wörtern auftretende Laut ist von eher marginaler Relevanz. Relevant dagegen ist die Endungsassimilation von -en-Endungen bei Wörtern mit auslautendem -g, -k, -ng Kontrast von hd. zur innerdeutschen Varietät (Ruhrgebiet, West2 falen: Rechtfertigungk); hartnäckig ist die Schwierigkeiten bestimmter Kontrastsprachen mit 5 dem -Laut: fälschlich: g. Einige Lernende (ostas. Sprachen) sprechen auslautendes  nasaliert, -artig aus. 4 Diese Endungsassimiliation verläuft gleich wie bei Wörtern wie haben  und klappen : ein zentraler Punkt der Definition der gesprochenen Sprache Hd.; nicht die volle Endsilbigkeit, sondern das, was in der „mittleren Ebene“ der (auch des anspruchsvollen) Alltagssprache gesprochen wird, ist die Norm; nur so öffnet sich – auch für Sprecher aus „silbenzählenden“ Herkunftssprachen – die Tür zu auch rhythmisch gutem Deutsch. 5 Probleme: Lernprobleme entstehen aus z.T. 11 Der h-Laut (wortanlau Vokal starken Kontrasten zu bestimmten tend) ist im Gespr. Hd.   Sprachen (z.B. Franz., Ital.: die klar definiert.48 Inlautend (genauer: endungssilben * unsichere Opposition zum harten anlautend) wird -h- in der :, : Vokalanlaut; Slaw. Sprachen: zum 3 Gespr. Spr. ganz elidiert; statt: :h Teil starke Reibung; Jap.: Anstren1 ausgesprochenes Inlaut-h gung, Luftverlust) würde markiert klingen. Gesprochenes Hochdeutsch verfügt über die Technik kleinster, unaufgeregter Luftstöße zur Artikulation von . 12 Der hochdeutsche l-Laut Kölle, Hilversum Der innerdeutschen Varietät eines 3 vs. Köln, Hilfe; dunklen, gerollten l-Klangs im love vs. Liebe; linksrheinischen NRW (Eifel bis Niederrhein) entsprechen die Ausspracheklänge von niederl. und engl.-amerik. Lernenden. Ein Problem ist auch die niederl. Ten- 1 Wolga in russ. denz zu einem Sprossvokal nach vs. hd. Klang -l. Ähnlich die dunkle Klangform 3 slaw. Sprecher. Für DaF ist der l-Laut artikulatorisch mit  und  in Verbindung und zu üben (gespannter Zungenspitzenkontakt mit den oberen Schneidezähnen; keine palatale Artikulation). 48   gegang-gen Tübing-gen gegen:  wecken:  Krankenhaus: … Im Schweizerischen aber mit hörbarer Reibung. Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 357 5 Extrem starke innerdeutsche Variantenvielfalt; extrem starke kontrastive Aussprache- und Lernschwierigkeiten; entsprechend kreativ müssen die Trainingsmethoden und Übungstricks sein.49 Für die DaF-Didaktik plädiere ich entschieden dafür, (a) zunächst eine gesprochensprachlich normative Vokalisierung im Silbenauslaut bzw. in der Silbenauslautgruppe vorzustellen und zu üben (s.o. die Nr. 4 und 6) und (b) im konsonantischen Bereich (anlautend oder in Konsonantengruppen anlautend) eine gesprochen-sprachliche Norm eines weder zungen- noch zäpfchengerollten r- vorzustellen. Diese erscheint in den drei Stufen (a) stark gerieben (eigentlich: gekratzt) in Kombination mit den harten Plosiven p, t, k und mit den stimmlosen Reibelauten sch- und f-; (b) schwächer gerieben (nur noch schwach gekratzt) in Kombination mit den weichen Plosiven b-, d-, g- (s.o. Nr. 7c) und (c) ganz schwach gerieben (gar nicht gekratzt), nur „uvular angetippt“ bei silbenanlautendem r-. – Die regionalen (z.B. Ostelbisch, Friesisch, Sauerländisch u.v.a.) oder individuellen Rollvarianten (z.B. Willy Brandt, Ulrich Wickert) bilden landeskundlich interessante, aber für den DaF-Unterricht eher marginale Illustrationen. „Hochdeutsche“ Relevanz haben sie nur beim „markierten“ Sprechen: Chorsingen, Rezitieren, Reden vor großem Publikum, starke Emotionalität, Aggressivität. 13 Das konsonantische r stellt inner-deutsch wie interlinguistisch kontrastiv eine der größten Herausforderungen für DaF dar. (a) Kraut, träge, pro, schrill, frei (b) bringen, draußen, grün (c) raus, herein 2.2 Ebene des Rhythmus: 33 34353637383940414243444546474849 Vier einfache rhythmische Grundmuster der Gesprochenen Sprache Hochdeutsch50 Betonter Stamm, kurze, unbetonte, „minimalisierte“, „reduzierte“ Endung, aber unter Innerdeutsch ist das hd. Grundmuster (Stamm+Endung) umringt von regionalen Varianten, die ganz unterschiedlich mit 1 49 50 Rug (2007b: 21-34, 36). Ich präsentiere hier nur vier einfache Grundmuster des Gesprochenen Hochdeutsch. Es gibt also mehr, in verschiedenen Kombinationsmustern; eine detailliertere und didaktisch kommentierte Darstellung bei Rug (2007a: 5-9 u.a.). Wolfgang Rug 358 14 51 52 Beibehaltung der Silbigkeit: das wichtigste Rhythmusmuster der dt. Grundgrammatik: der Endungsmorphologie umgehen: - totale Elision (z.B. saarl.: e schee Määre – ein schönes - nominale Wortbildung Mädchen) - nominale Pluralbildung - Elision des Vokals und - Verbmorphologie Verschmelzung des Endungs- Artikelwörter, Pronomen konsonanten mit dem Stamm „Schweinchen“. - Adjektiv, Komparation zur Einsilbigkeit (z.B. schwäb. 1 : 0,05 a scheens Mädle) u.v.a. – Dies Löffel/Löffl mit dem komischen Effekt, Küsse/Küsse dass von um Korrektheit machn, würde bemühten Hd.-Sprechern eine, deine die Endungen unangemesschöne, schöner/schöna sen aufgeblasen werden (Ulla Schmidt- oder Franz Beckenbauer-Hochdeutsch). – Kontrastiv haben fast alle 5 internationalen Sprecher (außer Engl., Niederl., Dän.) größte Schwierigkeiten, den dt. Ton zu treffen. – Die grammatikalische und schriftorientierte Lehr- und Lerntradition verschlimmert das Problem erheblich. Es gilt also, für eine hochdeutsche Sprechnorm Regeln anzubieten und entsprechend zu üben: (1) Elision des Endungs-  in bestimmten grammatischen und lexikalisch-idiomatischen Positionen – s. hierzu unten die eigene Nr. 19. (2) Bei -en und -em-Endungen Wegfall des Vokals, aber Beibehaltung einer minimalisierten Silbigkeit (schaffn, machen, diesm; bei -men, -nen, -len, -ren bleibt ebenfalls eine, wenn auch extrem minimale, Silbigkeit in den Gruppen mn/mm, nn, ln, rn bestehen; also fallen vs. Köln, Brem en oder Brem ,m vs. Brehm.51 (3) Als didaktische Vorgabe für das Quantitätsverhältnis von Stamm zur Endung kann modellartig 1:0,1 oder 1:0,05 vorgegeben werden; sehr hilfreich sind Musik, Raps, Perkussionstechniken, Körperbeteiligung.52 dammda Fiehler (2005: 1209) verwischt (bei 3.: „regressive Nasalassimilation“) die Grenze zwischen Gespr. Hd. und Dialekt- oder „Nuscheldeutsch“, wenn er einsilbige Klänge wie  für kommen und  für tragen anführt, statt n oder m und g, jeweils mit leichtem zweitem, silbigem Nachklang. Fischer (2007a, 2007b); Butzkamm (2000); Rug (2007b). Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 15 359 Kurze, unbetonte, oft „minimalisierte“ Vorsilbe, betonter Stamm, also umkehrt wie 14. da Es ist das Rhythmusmuster für - Part. II der Verben der „t-Klasse“53 („schwache Verben“), also hochfrequent „Käfer“- 0,1 : 1 und bedeutsam im Rahmen gesagt, bewegt der deutschen Grundgramversagt, erlaubt matik - entsprechende Wortbildung. Innerdeutsch sind viele (süddt.) Regionalfärbungen durch Elision von  in den Vorsilben be- und ge- (schwäbisch Gschwätz), entsprechend gehört die extreme Übertreibung zum Typus „Beckenbauer-Hochdeutsch“ (wie bei Nr. 14)54. Kontrastiv (und noch ver5 schärft durch die „grammatfixierte“ Unterrichtsweise) machen die internationalen Lernenden Rhythmusfehler (das gilt kaum für Engl., das über das gleiche rhythmische Grundmuster verfügt wie Dt. – Beispiele: towards, forget). Didaktisch ist es produktiv, zwischen den vier „ganz kleinen“ Vorsilben ge-, be-, er- und -ver mit extremer „Minimalisierung“55 und den größeren, bis hin zu den zweisilbigen Vorsilben (zer-, ent-, miss-, über- etc.), die etwas mehr, aber immer doch deutlich reduziertes Gewicht haben, zu unterscheiden. – Auch wird deutlich, dass der DaF-übliche Begriff „unbetonte Vorsilbe“ (im Verbund mit „untrennbare“) den wesentlichen Sachverhalt des Gespr. Hd., nämlich die extreme rhythmische Minimalisierung, weitgehend verfehlt.56 – Die beiden Grundmuster 14 und 15 (wie auch 16) lassen sich übrigens hervorragend im Unterricht als Perkussions-Raps trainieren.57 damm 53 54 55 56 57 Die Terminologie folgt dem Lehrwerk von Rug; Tomaszewski (1993, 2001); dazu demnächst ein Beitrag des Autors in „Linguistik Online“. Beispiele von Fiehler (2005: 1209) wie sind also keine DaF-geeignete Beschreibung der Gespr. Sprache Hd., sondern der Dialektfärbung. Rug (2007a: M2, V6-7, 11-12, 15 und 17); (2007b: 29-30) Der Begriff „untrennbares Auftakt-Präfix“ würde deutlicher das vorn fixierte Element herausstellen und gleichzeitig das klangliche Phänomen des minimal kurzen rhythmischen Auftakts charakterisieren. Rug (2007a: 6 und 2007b: ), S. 6 sowie die dortigen Anmerkungen 7 und 8. Wolfgang Rug 360 16 17 Kurze, unbetonte, oft „minimalisierte“ Vorsilbe, betonter Stamm, kurze, unbetonte, „minimalisierte“ Endung, also die Kombination 14 und 15. da dammda s. die Kommentare zu Nr. 15 und 17. Es ist das Rhythmusmuster für - Verben mit „untrennbarer „Schildkröte“. Vorsilbe“ - Part.II der Verben der „Vo- 0,1: 1 : 0,05 5 kalklasse“ („starke“ Verben58) vergessen Geschehen (also hochfrequent und bedeutsam in der deutschen Grundgrammatik) - davon abgeleiteter Wortbildung. DaF-didaktisch sollte man auch hier nicht von „Dreisilbigkeit“ sprechen, sondern immer noch von „Einsilbigkeit mit Kurz-Auftakt und Schwänzchen“. Mit der gehörigen musikalischen und körperrhythmischen Schlag- und Schlagzeuguntermalung wird das leicht ins Ohr gehen. Innerdeutsch bereiten hier „Satzakzentuierte“ (trenndie regionalen oder soziobare) Vorsilbe vor Stamm. daa lektischen Varietäten kaum Es ist das Rhythmusmodell Probleme bei der Definition für von Gespr. Hd.59 - nominale Ableitungen von Verben mit betonter, trennbarer Vorsilbe - und grundsätzlich das MuModell „Biber“ ster für zweigliedrige Wort3 bildung (unabhängig von der 1 : 0,4 Anfang, Vorlage Silbenzahl beider Glieder). endlich, wertlos Probleme macht der KonGrundrecht, trast von Sprachen mit der Entwicklungshilfe Tendenz zur Endbetonung: Frankreich – Fronggraaisch dam 58 59 S. Anm. 39 In manchen Dialekten ist eine Verkürzung dieses Modells zum Modell in Nr. 14 zu beobachten: Kirchmess’ zu Kirmes, Kirchweih zu Kirbe, Kerwe; Mannheim zu Mannem, was sich aber nicht auf das Gespr. Hd. auswirkt. Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 18 361 Die vier präsentierten Rhythmusmuster (14-17) führen durch Kombination zu weiteren rhymthmischen Sprechmustern, die sich aber erkennbar und nachvollziehbar auf die 4 Grundmuster beziehen lassen. Hier nur 3 weitere Beispiele: Innerdeutsch wirken die dialektalen Färbungen stark dammdaada auf die gesprochene Sprache wegfahrn , ein (z.B. Schwäbisch oikauft -– eingekauft, abgfahre – abgefahren) mit Auswirkung im dammdadaada Rhythmus. weggefahrn Im Zusammenwirken der Rhythmusmodelle wirken sich alle oben in 14-16 5 dammdadaa genannten Hauptschwierigabgemacht keiten bei internationalen Sprechern aus. Vor allem die Senkungen werden viel zu markant und gedehnt gesprochen, quasi ein „SilbenBuchstabieren“, eine dadurch leiernd klingende, „stakkato“artige Sprechweise. In der Wortbildung potenziert sich das Problem durch die Länge und innere Syntagmatik der Wortgefüge (Beispiel: Wiedervereinigungsbegeisterung). Man erkennt: Für DaF ist die Tür zum besseren Gespr. Hd. in erster Linie nicht die Starkbetonung, sondern im Gegenteil die Minimialisierungstechnik. Die Starktöne (Wort- und Satzakzente) haben vielmehr die didaktische Funktion, den rhythmischen Ablauf, auch in den angemessenen kleinen Zeitabständen, festzu„klopfen“, so dass für langsames, grammatikalisierendes, silbenzählendes Aussprechen der Tonsenkungssilben keine Zeit bleibt; sie haben also „mitreißende“ Funktion. Ein wichtiger Hinweis auch dafür, dass nicht didaktisch verlangsamte und laborartig neutralisierte Tonvorgaben, sondern Echtzeit-O-Töne den DaF-Unterricht bestimmen sollen. 515253545556575859 2.3 Ebene der Grammatik und einzelner Gebrauchswörter Die Klanglichkeit des Gespr. Hd. macht sich grammatische Strukturen und Wörter „sprechbarer“, „mundgerecht“60. 59 60 Ich habe in meinen Unterrichtsmaterialien dafür den bildhaften Ausdruck „Abschleifung“ verwendet; s. auch Rug (2007a: 46ff. und Anm. 35) Wolfgang Rug 362 1961 Endungs-  wird in bestimmten gramm. und lexik.-idiom. Positionen elidiert, was das erste rhythmische Grundmuster (14) einsilbig macht: - bereits etabliert und auch schrift-sprachlich durchgesetzt: Imp.Sg. - Dativ Sg. einsilbiger Nomen62 - in einzelnen frequenten Wörtern, (auch: -e-Varianten noch üblich) - in der 1. Ps. Sg. - in der 1. und 3. Ps. Sg. Konj. II mach mal! dem Kind heut’ Abend, gern zu/nach Haus ich hab’, mach’ ich würd’, er hätt’ In vielen Regionalvarietäten geht diese Entwicklung hin zur Einsilbigkeit noch weiter (i hott (ich hatte), i musst, i wollt); es bedarf also einer Definition für das Gespr. Hd.: Kein eigentliches „Lernproblem“, aber internationale Lerner wagen es auch im Inland – trotz ihrer umgangsspr. 4 Umgebung – nur zögernd, die „grammatische Krücke“ der Schriftform zugunsten der Sprechform aufzugeben; der DaF-Unterricht muss also anleiten und selbst eine vorbildliche gesprochene Unterrichtssprache pflegen.63 Interessant wäre eine diachrone vergleichende Untersuchung des Sprachwandels im Engl. und Dt. – von sprachhistorischer Mehrsilbigkeit hin zu immer mehr „Einsilbigkeit“; in dieser Entwicklung ist Engl. dem Dt. einige Schritte voraus. Die Entwicklung ist in der Sprachmoderne durch das hohe Maß an dominanter Schriftlichkeit verlangsamt, aber keineswegs gestoppt, der Motor der Entwicklung ist die Gesprochene Sprache. 61 62 63 In diesen Zusammenhang gehört auch der Ausfall von bestimmten unbetonten, reduzierten Zwischensilben, z.B. intressant, ich radle, eure, teure; die beiden letzteren sind auch schriftsprachlich üblich geworden. Konservativ erhalten ist das -e in idiomatisierten, literarisierten, markierten Formeln: Wie sag’ ich’s meinem Kinde?, im Sinne von…, im Geiste der Aufklärung. Von internationalen Austauschstudenten hört man in Sprachkursen oft das Argument, mit „so einer Sprache“ könnten sie sich zu Hause bei ihren heimatlichen Deutschinstituten nicht blicken (hören) lassen. Das verweist auf notwendige Intensivierung der Kooperation von DaF in den drei Inländern zu den internationalen, vor allem DaF-Lehrer ausbildenden Institutionen. Vgl. auch Davies (2006: 489), Köster (2006: 503). Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 20 21 64 65 66 In nachgestellten, also unbetonten und unmarkierten Positionen werden in der Gespr. Sprache Hd. die Artikelwörter - bestimmter Artikel (D: dem, der und A: den) und - unbestimmter Artikel (N: ein, eine, D: einem/einer und A: ein/eine) verschmolzen – teils schon als Schreibform, teils geschrieben mit ’ oder nur zur lautlichen Imitation.64 (a) Bestimmt: im, am, beim etc. ins, ans, fürs etc. Gesprochen auch: indn, überdn65 (b) Unbestimmt:  ’n Mann, ’ne Frau, mit ’ner Frau, mit ’nem Mann, ’nenKerl, ’n Kerl 363 Hier sind innerdeutsch die dialektalen Varietäten zahlreich und im Gebrauch hochfrequent. 5 Auch hier: Kein eigentliches Lernproblem, aber ein Bereich der Grundgrammatik Deutsch, in dem sich die Lernenden „an der Grammatik festhalten“ und nur unsicher bewegen. Ihr Lernerdeutsch klingt überartikuliert, überkorrekt. Es kommt also darauf an, den internationalen Deutschlernenden eine moderne Definition von Gespr. Hd. anzubieten66, deutlich über das hinaus, was die meisten Lehrwerke und Übungsgrammatiken anbieten. 5 Personalpronomina in (a) schreibbar: nur Kommentar wie bei 20. nachgestellter, also unbegibt’s u.ä. tonter, unmarkierter Posi- (b) sprechbar: tion werden im Gespr. Hd. isses, hata, kommta (er mit dem vorangehenden oder ihr), machtse, Verb verschmolzen: habmwa, hapich – Fragen; – Imperative der Sie-Form; – Aussagesätze, die nicht mit dem Agens beginnen. Duden (2005: 622-625), wo konzidiert wird, dass immer mehr Verschmelzungsschreibweisen akzeptiert werden und generell in diesem Bereich ein Sprachwandel konstatiert wird. Wichtig ist, dass bei den Formen A. mask. der d-Laut erhalten bleibt, um die bestimmte Artikelposition gegenüber der unbestimmten hörbar zu machen. Insofern ist es eher misslich, dass Fiehler (2005: 1209: 5. Verschmelzungen) Beispiele anbietet wie (hier in Buchstabenschreibweise wiedergegeben) aufa Bank (für auf einer Bank) oder mim Eimer (für mit einem Eimer) angibt; statt auf ’na und mit’nem als Formen des Gespr. Hd. Wolfgang Rug 364 22 23 67 68 69 3 In den Dialekten sind unterschiedliche Tendenzen zur Verkürzung zu beobachten: z.B. Norddt. auch; Rück mal was zur Seite. oder: Da komm ich leider nich rauf. (statt: drauf). – Für Deutschlernende ist das anlautende r- (statt her/hin-) artikulatorisch sogar eine Erschwernis, die aber aufgewogen wird durch den Wegfall der kaum zu vermittelnden her-/hinDeixis. Eine ganze Reihe hochInnerdeutsch ist die Varian- 2 ist is (aber: hat), frequenter Gebrauchstenbreite groß, so dass der nichts nix, wörter können im Gespr. Spielraum für Gespr. Hd. nicht nich, sind Hd. durch Elisionen oder bestimmt werden muss. sin, und un, mal Assimilation am Wortende Lernprobleme stellen alle ma, man ma, mundgerechter gemacht wenn we, jetzt jetz, diese Wörter nicht dar (nix werden. ist sogar bei den Lernenden schon scho Hier ist eine „Hitliste“: ab Beginn ein richtiger Favorit). Lernziel: Gespr. Sprache Hd. klingt gerade bei häufigen Gebrauchswörtern durch zu große Exaktheit kommunikativ markiert, ein Effekt, den die Deutschlernenden zunehmend in die eigene Hand bekommen sollten. Bei einer Reihe von häufigen Gebrauchswörtern setzen sich die Kurzformen als Gespr. Hd. durch. Hier einige frequente Beispiele: - etwas67 was - einmal68 mal - her-/hin-Vorsilbe69: r- daran, darüber etc. dr- Ich muss dir mal was ganz Tolles erzählen. Komm doch mal rüber, Mann. Und bitte denk dran, dass … Ich werd’ drüber nachdenken. in der Bedeutung von engl. something; nicht verkürzt wird etwas in der Bedeutung von ein wenig, ein bisschen (z.B. Würden Sie bitte etwas zur Seite rücken?) in der Bedeutung von engl. once; nicht verkürzt in der Bedeutung von ein einziges Mal, z.B. Einmal macht doch nichts, ich tu’s auch nie wieder. So verweigern bisher die einschlägigen Deutsch-Wörterbücher wie Duden (2006), Wahrig u.a. die Lexikalisierung dieses großen Wortschatzes unter Buchstabe R, sondern lexikalisieren unter her- bzw. hin-. Das Pons-Wörterbuch von Heinz Küpper (1990), Wörterbuch der deutschen Umgangssprache lexikalisiert den umfangreichen (vor allem) Verbwortschatz mit ran-, rauf-, raus-, rein-, rüber-, rum-, runtervorbildlich unter R. Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 24 365 5 Redepartikel spielen im Gespr. Hd. eine zentrale kommunikationsstrategische Rolle und sind hochfrequent, wobei sich gewisse regionale Varianten zeigen (z.B. eh nur im Süddt.). – Für Deutschlernende sind sie nur schwer fassbar und lernbar, mit der Konsequenz, dass in ihr 5 Sprechen keine Lebendigkeit, zu wenig (oder die falsche) Emotion hineinkommt; sicherer Gebrauch ist nur durch kontinuierliche Mündlichkeit des Unterrichts und Authentizität von Audio-Texten lehrbar, und zwar von der Grundstufe an. Die kommunikative Funktion der Redepartikeln ergibt sich aus (a) der kommunikationsstrategischen Funktion der Partikel selbst (Auswahl), (b) der Position im (Ausage-, Frage-, Appellativ-)Satz und (c) der rhythmischen Linie der ganzen Phrase; mit Blick auf (c) können Partikel mit starker Betonung „Emotionsträger“ sein (Hör blooooß auf mit dem Blödsinn!) oder können – in extremer Tonsenkung – quasi „emotionales Sprungbrett“ auf das unmittelbar benachbarte stark akzentuierte Wort sein (Wie siehst’n duuuuu aus?). Es gibt zahlreiche andere Spielschemata: Eine absolute Herausforderung für gute DaF-Lehrwerke, DaF-Lehrende und DaF-Unterricht. Es wird auch deutlich, dass hier schriftliche Lehrmaterialien fast ganz versagen, und dass DaF im Inland gegenüber DaF im Ausland wichtige Hilfestellung bieten kann, z.B. durch die Etablierung eines weltweit gut und aktuell funktionierenden Audio-Online-Service, einer Art „Deutsche DaF-Welle“.71 Verkürzung, „Vernuschelung“ bestimmter (unbetonter) Redepartikel70, vor allem: - denn - eigentlich - übrigens - aber ( v) - eben - sozusagen Die Redepartikel denn spielt dabei die wichtigste Rolle; selbst in schnellster Sprechweise bleibt ein dn oder ein –n erhalten. Was is’n los? Wo is ei(g)ngtlich unser Auto? Übriens/üwriens muss ich dir noch was beichten. Awa morgen bist du dran. ’S geht ebm nich anders. Wo kommstd’n du her/Wo kommst du’dn her? Wie siehst du’n aus? 2.4 Die Ebene des gesprochenen Textes und Sprechstils (Äußerung, Dialog, Redebeitrag, Gespräch, Referat, Hörfunktext) – Was ist die Alternative zu „Papierdeutsch“? Hier verlässt die Erörterung von „Klang der gesprochenen Sprache Deutsch“ die Ebene der Lautlichkeit und der grammatischen Kleinstrukturen in ihrer kommunikativen Funktionalität und geht in ein „Stilistikum der gesprochenen Sprache“ über. Dass es dabei immer noch um „Klänge“ geht, ist jedem lebenserfahrenen Zeitgenossen klar, der gesprochenes „Papierdeutsch“ vom Klang des gesprochenen Worts unterscheiden 70 71 Rug; Tomaszewski (2001: Kapitel 18); besser wäre vielleicht noch „Gesprächspartikel“; die Begriffe „Modalpartikel“ oder „Abtönungspartikel“ (Duden (2005: 592-601) sind weniger „sprechend“. Rug (2007b: 52-54). 366 Wolfgang Rug kann, das Berufsgeheimnis guter Hörfunkredakteure, Rechtsanwälte, Pfarrer, kommunikationsfähiger Redenschreiber und Politiker. Auch auf der grammatisch-stilistischen Ebene hört man also „Klänge der Sprache“, selbst beim Lesen. Eine knappe (und keinesfalls vollständige) Aufzählung wichtiger beteiligter Strukturen soll hier genügen:72 y Die Grundverben bewältigen die Modalität der Aussagen, nicht ihre schriftsprachlichen Varianten: Ich will das hier nicht näher ausführen. – statt: Ich nehme davon Abstand, das an dieser Stelle näher auszuführen. y Die Zeitvorstellungen werden mit einfachen Tempusstrukturen realisiert: Das ist schon immer so gewesen so und das bleibt auch so. – statt: Das galt schon in der Vergangenheit so und wird auch in Zukunft so bleiben. y Passiv ist wirklich nur für wirklich semantisch-passive Funktionen reserviert und daher niedrigfrequent: Wir sprechen hier halt so. – statt: Hier wird üblicherweise so gesprochen. y Die „würde“-Formen dominieren (bis auf die Grundverben) den Konjuntiv-II-Gebrauch: Ich würde das nicht für einen Nachteil halten. – statt: Ich hielte das nicht für einen Nachteil. y In Gesprächssituationen wird oft auf „ganze Sätze“ verzichtet, wie überhaupt „Kürze“ und „Verkürzung“ eine positive Qualität mündlicher Kommunikation darstellt: A: Wer war das? – B: Der Gerichtsvollzieher. – statt …B. Das war der …. y Lebendigkeit, Fokus, Emotion werden in die Sätze gebracht, indem die „normale“ Satzstruktur durch einen Set von „Regeln“ (Mustern) der Frontierung und Postierung (Links- bzw. Rechts-Herausstellung) verändert wird: Der Kerl da, der soll mir gestohlen bleiben. – statt: Der Kerl soll mir gestohlen bleiben. y Bei den Klassen der Funktionswörter „Präpositionen“, „Artikelwörter“ und „Konjunktionen“ steht ein (relativ schmaler, aber wirkungsmächtiger) Set gesprochensprachlicher Formen zur Verfügung, die anderen werden vermieden: Wir haben viele Ausdrücke zur Verfügung, aber die meisten davon nehmen wir nicht in den Mund. statt: Obzwar ein umfangreicher Fundus von Ausdrücken zur Verfügung steht, eignet sich die Mehrheit der Ausdrücke nicht für die gesprochene Sprache. y So wie der Nominalstil (komplexe Nominalphrasen) geschriebene Texte dominiert, so bevorzugt die gesprochene Sprache verbale Formulierungen (Sätze). Damit entfallen weitgehend komplexe Attributionen, der Kasus Genitiv, attributive Adjektive, Hypotaxen (Relativsätze, Konjunktionalsätze), verkürzen sich die Sätze. y Auf Funktionsverb-Gefüge und andere komplexe Nomen-Verb-Verbindungen wird weitgehend verzichtet: Solche Funktionsverb-Gefüge verwendet man beim Sprechen nicht. statt: … kommen nicht zur Verwendung). y Der gesprochenen Sprache steht ein weitgehend eigener Fundus an Wörtern und idiomatischen Ausdrücken zur Verfügung, der mit den aufgezählten grammatischen und textlichen Strukturen in klanglicher Hinsicht eine ästhetische Gesamtwirkung des Registers „Gesprochene Sprache Hochdeutsch“ ergibt. Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch 367 3. Ausblick Die Konsequenzen für die DaF-Didaktik, Lehreraus- und fortbildung seien angedeutet: ein anderes Bewertungssystem fremdsprachlicher Kompetenzen; eine eigene Professionalität bei der Bewertung mündlicher Kompetenzen; eine weit sprechpraktischere Gestaltung von Lehrwerken und Lehrmaterialien; Etablierung von Standards der phonetischen Kompetenz der DaF-Lehrkräfte (mit gebotenen Respekt sei betont: auch der nicht muttersprachlichen DaF-Lehrkräfte im Aus- und Inland); die Entwicklung eines großen und lebendigen Arsenals mündlicher Lehrmaterialien, die geeignet sind, den Deutschlernenden vor allem auch dort, wo Deutsch so richtig schwierig ist, den nötigen Motivationsschub und die erforderlichen Erfolgserfahrungen zu vermitteln; und ein D-A-CH-inländischer DaF-Bereich, der sich als Serviceleister für DaF weltweit versteht und auch kulturpolitisch auszustatten versteht. Ein ausgreifender Gedanke soll am Schluss stehen: Im aktuellen gesellschaftlichen und damit einhergehend sprachlichen Wandel – ich nenne die Stichworte: die noch unbewältigte Integration vor allem der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland extrem ungleich verteilten Bildungschancen (das schließt bildungsferne „deutsche“ Schichten mit ein), die Anglizismenüberflutung durch Medien und Kommerz, die aberwitzige „Leitkultur“-Ideologie in einigen Köpfen der politischen Elite kommt einer entschiedenen, und zwar weltzugewandten und mental offenen, Pflege und Förderung der Gesprochen Sprache Hochdeutsch erhöhte Bedeutung und Verantwortung zu. Es ist ja immerhin denkbar, vielleicht ein großer Traum, dass so etwas entstehen könnte wie eine – es scheint signifikant, dass im Deutschen der Begriff dazu fehlt – „Common Language Deutsch“, die gesprochene Sprache einer deutschsprachigen, gegenüber Varietäten toleranten, insgesamt aber vor allem weltoffenen Zivilgesellschaft.73 73 Dazu Eichinger (1997: 170-172). 368 Wolfgang Rug Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich (1996): Deutsch als plurinationale Sprache: Unterschiedliche Aussprachestandards für Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz. In: Krech; Stock (Hrsg.) (1996: 194-203). Ammon, Ulrich (1997): Die nationalen Varietäten des Deutschen im Unterricht von Deutsch als Fremdsprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 23, 141-158. Ammon, Ulrich u.a. (Hrsg.) (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. 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Ralf Bernick (Berlin) & Minka Hoheisel (Tartu) Podcasting: Methodische Aspekte beim Einsatz eines neuen Mediums im DaF-Unterrricht. Ein Erfahrungsbericht Ein immer weiter anwachsendes Angebot an Radio-Sendungen im Internet, so genannten Podcasts, kann den Fremdsprachenunterricht mit authentischem Audio-Material bereichern. Kreativer und produktiver ist es jedoch, die Lerner solche Radio-Sendungen in der Zielsprache selbst produzieren zu lassen. In diesem Bericht stellen wir Ihnen unser Projekt „Internationale Podcastwerkstatt“ vor und präsentieren damit ein Beispiel, wie neue Web-Anwendungen tatsächlich neue Möglichkeiten für einen lerner- und handlungsorientierten Fremdsprachenunterricht schaffen. Was sind eigentlich Podcasts? Das Wort Podcast setzt sich zusammen aus Ipod und Broadcast und ist per Definition eine Serie von Audio oder auch Videosequenzen, die über das Internet verbreitet werden. Die einzelnen Folgen eines Podcast, die Episoden, liegen meist im MP3-Format vor und können entweder manuell heruntergeladen oder über so genannte RSS-Feeds automatisch bezogen werden. RSS (Really Simple Syndication) ist eine Technik, die es ermöglicht, bestimmte Inhalte einer Webseite – also auch Audiodateien – zu abonnieren. Hierzu muss die Feed-Adresse in einen Podcast-Client eingefügt werden. Ein Beispiel für eine solche Software ist das Musikverwaltungsprogramm „itunes“. Neue Episoden werden so automatisch, ohne dass man die verschiedenen Webseiten auf neue Veröffentlichungen prüfen muss, auf den eigenen Rechner oder – durch entsprechende 374 Ralf Bernick, Minka Hoheisel Synchronisation – auf den MP3 Player geladen. Somit wird der Hörer unabhängig von bestimmten Zeiten, man hört die Sendung, wann und wo man will und verpasst keine Folge mehr. Doch nicht nur die Art des Empfangs ist völlig neu: Fast noch revolutionärer ist es, dass das Produzieren von eigenen Sendungen so einfach geworden ist, dass prinzipiell jeder, der über einen Computer mit Internetanschluss verfügt, selbst auf diese Weise zum Sender werden kann. Hierzu müssen mit einfachem Mikrofon direkt am Computer oder mit externen Geräten (MD- oder MP3-Player) Sprachaufnahmen gemacht werden, die anschließend mit frei verfügbaren Schneideprogrammen (wie Audacity) bearbeitet und in das MP3 Format konvertiert werden. Die fertige MP3-Datei muss nun nur noch auf einen Webserver hochgeladen und in einen RSS-Feed, der auf der Webseite platziert ist, eingetragen werden. Auch dies erfolgt durch entsprechende Programme automatisch. Sendelizenzen werden nicht mehr benötigt. Podcast ist noch ein sehr junges Medium. Obwohl die RSS-Technik seit 2002 existiert, wurde sie erst 2004 erstmals für Audiodateien nutzbar gemacht und es entstanden die ersten Podcasts. Einen entscheidenden Schub erfuhr das neue Medium aber erst im Jahr 2005 durch die Veröffentlichung einer neuen Version von itunes, die den automatischen Bezug von Podcasts in dieses Programm integrierte. Als wir im Sommer 2006 mit dem Projekt „Podcastwerkstatt“ begannen, konnten viele Lerner mit dem Begriff „Podcast“ noch gar nichts anfangen. Auch wenn in jüngster Zeit die Entwicklung dahin geht, dass auch immer mehr kommerzielle Anbieter, wie die großen Rundfunkanstalten, Teile ihres Angebots als Podcast zugänglich machen, handelt es sich dabei nach wie vor um ein sehr experimentelles Medium. Kennzeichnend für Podcasts, ähnlich den Weblogs, ist die Suche der Produzenten nach neuen Themen, die noch nicht von den Massenmedien abgedeckt werden. Den wohl größten Teil der im Internet angebotenen Podcasts machen Personalitiy-Shows aus, eine Art hörbares Webtagebuch. Des Weiteren gibt es auch zahlreiche Themen-Podcasts, die überwiegend ein Spartenprogramm abdecken. Ingesamt sind Podcasts also tendenziell gekennzeichnet durch unkonventionelle Themen und Sprache, durch Subjektivität und Experimentierfreude. Nicht zuletzt diese Freude am Experimentieren und am kreativen Umgang mit der (Fremd)-sprache brachte uns auf die Idee, Lerner selbst Radiosendungen produzieren zu lassen und auf diese Weise insbesondere die Fertigkeit Sprechen zu trainieren. Rahmenbedingungen unseres Projekts Wir haben mit der Podcastwerkstatt bisher an zwei verschiedenen Einrichtungen Erfahrungen sammeln können: An der Sprach- und Kulturbörse, einem Sprachlernzentrum an der Technischen Universität Berlin und am Lehrstuhl für Germanistik an der Universität Tartu in Estland. An der TU Berlin bestanden unsere Lernergruppen aus 8-10 Teilnehmern aus den unterschiedlichsten Ländern. Sprachlich waren die Lerner in etwa auf dem Niveau B1-B2. Podcasting im DaF-Unterricht 375 Die meisten Teilnehmer waren erst seit kurzer Zeit in Deutschland, viele von ihnen Austausch-Studenten. Die beiden Kurse in Tartu waren Wahlpflichtkurse für die Germanistikstudierenden im ersten Studienjahr. Die Teilnahme war demnach freiwillig. Die Teilnehmerzahl war auf acht begrenzt. Das sprachliche Niveau lag zwischen B1 und C1. Wir haben mit mobilen Aufnahmegeräten und mit den Rechnern der Einrichtung gearbeitet bzw. die Studierenden haben ihre eigenen Laptops mitgebracht. Das Bearbeiten und Schneiden haben wir mit dem im Internet frei zugänglichen und einfach zu erlernenden Programm „Audacity“ durchgeführt und die fertigen Beiträge beim auf Podcast spezialisierten Internet-Hoster „Podhost.de“ hochgeladen. Das ist ein bis zu einer bestimmten Datenmenge kostenloser Service, bei dem automatisch auch gleich die entsprechenden RSS-Feeds und sogar ein zugehöriges Weblog generiert werden. Dieses Weblog bietet außerdem die interessante Möglichkeit, durch die Kommentarfunktion in einen direkten Kontakt mit den Hörern zu treten. Die Podcastwerkstatt an der TU Berlin wurde als 40- bzw. 60-stündiger Kurs angeboten. In den bisher statt gefundenen zwei Kursen entstanden bisher 29 Folgen. In Tartu entstanden innerhalb eines Semesters zwei Podcastsprojekte mit jeweils etwa 10 Episoden. Im Folgenden werden wir nun auf einige methodische Besonderheiten unserer Arbeit eingehen. Methodische Besonderheiten der Internationalen Podcastwerkstatt Selbstbestimmtes Lernen Besonders effektiv ist das Fremdsprachenlernen dann, wenn Inhalte und Themen mit den Interessen und Erfahrungen der Lerner übereinstimmen. Aus diesem Grund lassen wir die Lerner die Themen frei wählen, was zur Folge hat, dass die Lerner nicht nur ein Thema aus ihrer Lebenswelt wählen, sondern instinktiv auch ein Thema, das sie einerseits sprachlich bewältigen können, dessen Bearbeitung sprachlich aber dennoch eine Herausforderung für sie darstellt und somit ihre sprachliche Weiterentwicklung sichert. Für Teilnehmer, die nicht auf Anhieb ein geeignetes Thema finden oder zu breite Themen wählen, nutzen wir auch Methoden des kreativen Schreibens wie Mindmaps, Assoziagramme oder Automatisiertes Schreiben. Die Vorstellung anderer Podcasts erwies sich ebenfalls als inspirierend bei der Themenfindung. In der Praxis zeigte sich, dass unsere Lerner besonders an interkulturellen Thematiken interessiert waren. Die meisten von ihnen waren noch nicht lange in Deutschland, so dass die ihnen auffallenden kulturellen Unterschiede sie sehr beschäftigten und sie dankbar von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihre Beobachtungen mitzuteilen. Diese Voraussetzungen motivieren die Lernenden ungemein. Sie haben ein sehr großes Interesse daran, ihre Geschichten zu erzählen und dies steigert ihre Kreativität. Sie schöpfen alle Möglichkeiten ihres derzeitigen Sprachkönnens aus, um sich so auszudrücken, dass die anderen gerne und gut zuhören können. Es gelingt auf diese 376 Ralf Bernick, Minka Hoheisel ganz natürliche Weise etwas, worum wir Lehrende immer bemüht sind: Die Lernenden kommen so ganz natürlich an ihre sprachlichen Grenzen. Sie probieren aus, erhalten Unterstützung durch die Trainer oder Mitlernende und können sich dadurch sprachlich weiterentwickeln und – im Idealfall – so ihren eigenen Stil in der Fremdsprache ausbilden. Ein weiterer positiver Nebeneffekt ist, dass der unmittelbare Kontakt und das gemeinsame Arbeiten mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen durch seinen sehr emotionalen Zugang auch ein intensiveres interkulturelles Lernen ermöglichen. Die Lerner in unserer Gruppe, die aus den unterschiedlichsten Ländern stammten, lernten sich intensiver kennen und verbrachten mehr Zeit zusammen, auch außerhalb der regulären Unterrichtszeit beim Vorbereiten von Beiträgen, als in herkömmlichen Kursen. Dadurch stieg die Bereitschaft, sich gegenseitig zuzuhören und zu unterstützen, und die Neugier, andere Sichtweisen kennen zu lernen, wuchs. Zielorientierung Die Erkenntnis, dass Lerner ihre sprachliche Handlungsorientierung auf ein konkretes Ziel hin entwickeln, wird im traditionellen FSU oft nicht genügend beachtet. Zielorientierung beim Podcasting bedeutet die Ausrichtung auf ein zu erstellendes Produkt, nämlich eine im Internet veröffentlichte Radiosendung. Besonders motivierend hierbei ist, dass das Produkt auch in der außerschulischen Welt zugänglich gemacht wird. Es ist keine reine Simulation mehr, sondern real. Diese Öffnung der beschützten Unterrichtssituation der außerschulischen Welt gegenüber erwies sich als besonders fruchtbar. Die Lerner spüren, dass sie nicht mehr „für den Papierkorb“ produzieren, sondern ein dauerhaftes Produkt erschaffen, welches sogar außerhalb des schulischen Rahmens wahrgenommen wird. Dadurch steigt ihre Motivation und sie sind bereit, mehr Zeit und mehr Mühe für die Erstellung ihres Produkts aufzubringen. Handlungsorientierung Beim Lernen in der Podcastwerkstatt geht es nicht vordergründig darum AN der Fremdsprache herumzutüfteln, sondern IN und MIT der Fremdsprache selbständig zu handeln. In der Podcastwerkstatt entstehen fast alle Beiträge in Kleingruppen, wodurch diese Arbeitsform einen wesentlich größeren Raum einnimmt als im herkömmlichen FSU. Die Forderung der Fremdsprachendidaktik nach Lernen durch Interaktion, durch Handeln in der Fremdsprache, kann hier eingelöst werden: Deutsch ist nicht nur Ziel-, sondern auch Arbeitssprache für den gesamten kreativen Arbeitsprozess, von der gemeinsamen Planung eines Beitrags bis hin zur Lösung von technischen Problemen bei der Aufnahme. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, frei sprechen zu lernen. Im Wesentlichen entwickeln die Lernenden dabei ihre pragmatischen Kompetenzen, die sie befähigen, ihre sprachlichen Ressourcen funktional einzusetzen, in dem sie auf interaktionelle Szenarien zurückzugreifen. Einen wichtigen Stellenwert nimmt dabei auch das Plenumsgespräch, unsere „Redaktionssitzung“, ein: Vorbereitete oder auch bereits aufgenommene Beiträge werden im Plenum allen Teilnehmern vorgestellt und Podcasting im DaF-Unterricht 377 ausführlich diskutiert. Durch Schaffung einer vertrauensvollen Lernumgebung ist es dabei auch möglich, dass die Lerner die Beiträge der anderen inhaltlich und sprachlich kritisieren und Verbesserungsvorschläge machen und dass solche Kritiken auch dankbar angenommen werden. Denn als Sprecher möchten wir zunächst verstanden werden und anschließend die gewünschte Reaktion erfahren. In der Podcastwerkstatt ist das nicht anders: Die Lernenden wollen sich so ausdrücken, dass die Trainer, die Mitlernenden, aber vor allem die Hörer des Podcasts sie verstehen, sich gar angeregt fühlen zu lachen oder nachzudenken. Das setzt natürlich voraus, dass sie lernen, hörerorientierte Texte zu schreiben und zu sprechen. Doch auch außerhalb der Lerngruppe bieten sich weitere Möglichkeiten der Interaktion: Etwa durch die Aufnahme von Interviews mit Muttersprachlern. Der von uns angestrebte Abbau von Sprechhemmungen bewirkte, dass die Lerner offen auf Interviewpartner zugehen, Interviews mit diesen planen und durchführen konnten. Eine weitere Möglichkeit ist die schriftliche Interaktion mit Hörern des Podcasts dank der Kommentarfunktion der Webseite. Prozessorientierung Prozessorientiertes Lernen und Arbeiten fördert die kognitive Verarbeitung der Lerner und ermöglicht es, Teilprozesse – dem eigenen Lerntempo optimal angepasst – besonders zu üben. Die Arbeitsschritte reichen von der Themenfindung, über die Informationssammlung und Recherche (mit Internet oder anderen Medien, was sich wiederum positiv auf die Medienkompetenz der Lerner auswirkt), bis hin zur Planung/Erstellung eines Konzepts und schließlich das freie Sprechen mit der Aufnahme und das anschließende Bearbeiten der Aufnahme mit technischen Mitteln. Noch ein weiterer Aspekt des neuen Mediums ermöglicht prozessorientiertes Arbeiten mit der mündlichen Sprache: Podcasts entsprechen tendenziell eher einer alltagssprachlichen (bzw. nähesprachlichen) Varietät als ein klassischer Radiobericht, der in der Regel eine mündlich vorgetragene Form eines schriftlichen Textes ist. Die Produktion selbst ähnelt jedoch in gewisser Weise dem Prozess des Schreibens: Es bestehen aufgrund der Aufnahme des Produkts zahlreiche Möglichkeiten der Revision und des Verbesserns. Das kritische Hören der selbst aufgenommenen Sprache entspricht dem Monitor des erneuten Lesens des gerade Geschriebenen. Man kann neu aufnehmen, herausschneiden, entfernen usw. So können die Vorteile einer prozessorientierten Schreibdidaktik auch im mündlichen Bereich angewendet werden. Wir haben besonders darauf geachtet, dass das Sprechen möglichst frei erfolgt und sich nicht im Ablesen bereits schriftlich vorformulierter Texte erschöpft. Relativ schnell erkennen aber die Teilnehmer auch selbst, dass vorgelesene Beiträge für Hörer schwerer verständlich sind als frei gesprochene, auch wenn letztere natürlich Satzabbrüche und grammatikalische Fehler enthalten. Die Erkenntnis, dass Verständlichkeit in der Kommunikation höher zu bewerten ist als unbedingte sprachlich-grammatikalische 378 Ralf Bernick, Minka Hoheisel Korrektheit, muss hier nicht vermittelt werden: Die Lernenden erfahren dies durch das kritische Hören ihrer Beiträge selbst. Die intensive Beschäftigung mit konzeptionell mündlicher Sprache in Podcasts bietet die Möglichkeit, die Lerner auf die Merkmale der gesprochenen Sprache wie fehlerhaften Satzbau, Ellipsen, Flexionsbrüche und Eigenkorrekturen hinzuweisen. Dies kann, besonders für die ängstlicheren Lernenden, sehr hilfreich sein. Flüssiges Sprechen zu erreichen bedeutet auch, sich von der üblichen Fixierung auf die Schriftsprache ein wenig zu entfernen. Viel wichtiger ist hörerorientiertes, unterhaltsames und anregendes Erzählen sowie eine verständliche Aussprache. Meist stellt die eigene Fehlerintoleranz vieler Lernender ihnen bei der Umsetzung ein Bein. Beruhigend für viele – und darüber hinaus ein deutlicher Vorteil im Gegensatz zu anderen Übungen zur Entwicklung der mündlichen Fertigkeiten – ist natürlich die Möglichkeit, Aufnahmen zu wiederholen und die gröbsten Fehler herauszuschneiden. Doch erst, wenn die Lernenden akzeptieren, dass sie in ihrem momentanen Sprachsystem Fehler machen, sind die Voraussetzungen geschaffen, Hemmungen beim Sprechen abzubauen. Wir betrachten es als unsere Aufgabe, den Lernenden Mut zu machen, damit sie ihren Perfektionismus ein wenig in Ruhe lassen. In diesem Sinn sehen wir Lehrenden unsere Rolle und unsere Aufgabe weniger darin, Wissen zu vermitteln oder Lernkontrollen durchzuführen, als vielmehr den Arbeitsprozess des weitgehend autonomen Lernens unterstützend und beratend zu begleiten. Fazit Einige Nachteile der von uns durchgeführten Methode waren die hohe Betreuungsintensität, die lange Planungsphase aufgrund des bei vielen Teilnehmern noch immer unbekannten Mediums und der unbekannten Textsorte Podcast sowie das zwar einfache, aber auch zeitraubende Arbeiten mit der Technik, insbesondere beim Schneiden der Beiträge. Podcasting eignet sich daher nicht als eine Übung „für zwischendurch“ im regulären FSU, sondern eher als zusätzliches, als längerfristiges Projekt angelegtes Angebot. Als solches überwiegen aber eindeutig die Vorteile: Die Podcastwerkstätten an der TU Berlin und Universität Tartu zeigen, wie neue Medien den Unterricht so bereichern können, dass wichtige Forderungen der Fremdsprachendidaktik eingelöst werden. Es geht hier nicht darum, E-Learning um seiner selbst Willen zu benutzen, oder weil neue Medien gerade Mode sind. Podcasting bietet allein aufgrund der Technik neue, vorhandene Möglichkeiten: Prozessorientiertes Arbeiten an und mit der gesprochenen Sprache durch die Möglichkeit des Aufnehmens und Schneidens sowie die Möglichkeit, im Unterricht entstandene Produkte in der außerschulischen Welt zu veröffentlichen und so weitere Kommunikationsprozesse zu ermöglichen. Der Erfolg des Projekts zeigte sich an den auffälligen Fortschritten der Lerner, an einer deutlichen Verbesserung der Fertigkeit Sprechen, am Abbau von Sprechhemmungen, aber auch an der Erweiterung der interaktionalen und interkulturellen Kom- Podcasting im DaF-Unterricht 379 petenzen. Ebenso gewinnen sie an Sicherheit im Umgang mit diesem Medium und erlangen die Fähigkeit höreransprechende Texte zu konzeptionieren. Wir beobachteten, dass die Lerner unserer Podcastwerkstatt im Laufe der Zeit Routine bekamen. Sie wurden lockerer und machten letztendlich weniger Fehler. Auch die anfangs eher zurückhaltenden Lernenden beteiligten sich zunehmend am Unterrichtsgespräch und fanden Gefallen daran, etwas vor anderen oder gar ins Mikrofon zu erzählen. Unsere These bestätigte sich: Wer keine Angst mehr hat, ins Mikro zu sprechen, der traut sich auch, vor anderen Leuten Deutsch zu sprechen. Die einfache, aber wahre Erkenntnis, dass man eine Sprache nur durch Sprechen lernt, haben die Teilnehmer der Podcastwerkstatt tatsächlich erfahren, wie auch einige Aussagen aus einem anonymen Feedbackbogen zeigen: Hat der Kurs deinen Erwartungen entsprochen oder nicht? Warum? „Ja, ich habe frei zu sprechen gelernt. Früher hatte ich ein bisschen Angst. Jetzt probiere ich.“ Hast du Lernerfolge gehabt? „Ja, ich habe auf Deutsch über viele Themen nachgedacht und ich habe auch frei gesprochen vor einem Mikrophon.“ „Der Kurs hat mir geholfen, sicherer frei zu sprechen, hat mich selbstbewusster gemacht. Danke sehr!“ Findest du, dass sich das Medium Podcast zum Deutschlernen eignet? Warum? „Ja, sicherlich. Hier gibt es eine schöne Gelegenheit zu sprechen, ohne den Druck, dass alles perfekt sein muss. Und das war überhaupt nicht langweilig!“ „Ja, jetzt bin ich sicherer in meinen Sprachkenntnissen.“ „Ja, weil man die Sprache in vielen verschiedenen Formen benutzt.“ „Ja, man muss schreiben, vorbereiten und aussprechen. Das finde ich sehr gut.“ Zum Anhören http://skbpodcast.podspot.de (15.09.2007) http://verliebt-in-t.podspot.de (15.09.2007) http://pustekuchen.podspot.de (15.09.2007) der, die, DaF – linguistische Perspektiven umgangssprachliches Pronomen 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 381-400. Klaus Geyer (Vilnius) der, die, DaF – linguistische Perspektiven auf ein vermeintlich umgangssprachliches Pronomen als Lerngegenstand für Deutsch als Fremdsprache 1. Vorüberlegungen Der vorliegende Beitrag untersucht die transphrastische (satz- bzw. äußerungsübergreifende) Syntax des Verweispronomens der, die, das – im Folgenden kurz d-Pronomen – im gesprochenen Deutsch in Strukturen wie (1), einem zwar konstruierten, aber durchaus plausiblen Beispiel spontansprachlichen Erzählens: (1) Und dann kam da ne Frau zum Haus raus, die hatte ne Kollegin oder so dabei, und mit der is se dann zum Kiosk an der Ecke gegangen, und dort hat se se dann einfach stehen gelassen. In (1) sind sowohl Frau als auch Kollegin Feminina und kommen somit zunächst gleichermaßen als Antezedenten für die pronominalen Referenzen in Frage. Die Herstellung der „richtigen“ Referenzen, d.h. die Rekonstruktion der von Sprecherin oder Sprecher intendierten Referenzen durch Hörerin oder Hörer, bereitet trotz dieser Ambiguität keine Schwierigkeiten: Die Referenzausdrücke der d- wie auch der anderen Verweispronomina (enklitisches -se) lassen sich jeweils eindeutig bestimmen. (2) verdeutlicht noch einmal die Referenzen aus (1) anhand der Indizes i und j: (2) Und dann kam da ne Fraui zum Haus raus, diei hatte ne Kolleginj oder so dabei, und mit derj is sei dann zum Kiosk an der Ecke gegangen, und dort hat sei sej dann einfach stehen gelassen. In diesem Beitrag werde ich für die These argumentieren, dass zur Herstellung der „richtigen“ Referenzen in ambigen Kontexten nicht allein die semantische Plausibilität 382 Klaus Geyer o.Ä. beiträgt, sondern dass die Art des Verweispronomens als Reflex der informationsstrukturellen Gegebenheiten von zentraler Bedeutung ist. Dies ist selbstverständlich nicht auf (vermeintlich) ambige Kontexte wie (1) beschränkt, wird in solchen allerdings besonders deutlich. Dass das d-Pronomen auch und gerade außerhalb solcher – in gewissem Sinne auch kontrastierender – Verwendung vorkommt und zur informationsstrukturellen Profilbildung, v.a. zur Etablierung eines neu eingeführten Referenten als Topik für den folgenden Diskurs, beiträgt, wird als eine wesentliche Erweiterung dieser These vertreten. Bevor dies ausführlicher diskutiert wird, sind zwei Vorüberlegungen vorauszuschicken: zunächst zur Wortklasse der Pronomina, anschließend zur gesprochenen Sprache. 1.1 Pronomina Pronomina sind eine notorisch problematische Wortart – sofern sie überhaupt eine Wortart konstituieren. Während insbesondere die Personalpronomina der 1. und 2. Person sowie die einfachen Verweispronomina der 3. Person als die typischen Vertreter gelten (vgl. z.B. Mühlhäusler 2001), wirft die Frage, welche Wörter an der Peripherie (z.B. alle) auf Grund welcher Eigenschaften und Kriterien noch oder nicht mehr als Pronomina zu betrachten sind, Schwierigkeiten auf (vgl. hierzu Zifonun 2001: Kap. 1). Als ein weiterer Diskussionspunkt ist die Abgrenzung von Artikelwörtern vs. Pronomina zu nennen. Während traditionell vielfach zwischen „substantivischen“ und „adjektivischen“ Pronomina1 unterschieden wird, zählt Eisenberg (1998) nur die „substantivischen“ als Pronomina, während er die „adjektivischen“ als Artikelwörter klassifiziert. Dieser Auffassung folge ich hier. Vater (2000) hingegen argumentiert im Rahmen der DP-Hypothese der generativen Grammatik dafür, beide Klassen zusammenzufassen („‘Pronominantien’“). Für die vorliegende Untersuchung im DaF-Kontext müssen diese Fragen nicht im Detail erörtert werden. Es reicht aus, das d-Pronomen auf formaler Ebene einerseits vom definiten Artikel und andererseits vom Relativpronomen zu unterscheiden. Dies ist auf Grund morphologischer und syntaktischer Kriterien möglich: • Das d-Pronomen unterscheidet sich vom definiten Artikel im morphologischen Paradigma in allen Formen des Genitivs sowie im Dativ Plural: dessen/deren/dessen//deren vs. des/der/des//der sowie denen vs. den. Hinzu kommt das syntaktische Kriterium, dass ein definiter Artikel als Determinierer stets phraseneinleitend mit Substantiven vorkommt, während ein d-Pronomen gerade nicht zusammen mit einem Determinierer auftreten kann. • Das d-Pronomen unterscheidet sich vom Relativpronomen zwar nicht im Formenbestand (!), jedoch durch die Syntax. So leitet das Relativpronomen – ggf. als Objekt einer Präposition – einen Nebensatz (Attributsatz) mit obligatorischer Verbletztstellung ein, während das d-Pronomen diesbezüglich keinen Restriktionen unterworfen ist. 1 Beispiele: „adjektivisch“ – „substantivisch“ Da liegt ein Hund. – Dort ist noch einer. Das ist mein Hund. – Dort ist deiner. Da ist kein Hund. – Und dort ist auch keiner. der, die, DaF – linguistische Perspektiven umgangssprachliches Pronomen 383 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass ein Pronomen nicht „für ein Nomen steht“, wie die Bezeichnung Pro-nomen es nahe zu legen scheint, sondern, wenn schon die in der Sprachdidaktik etablierte Idee der Stellvertretung aufgerufen wird, dann für eine ganze Phrase. Das Konzept der Stellvertretung im Sinne einer gleichsam mechanischen syntaktischen Prozedur der Ersetzung einer NP durch ein Pronomen ist allerdings generell problematisch; vgl. hierzu die Beispiele (3) mit (4) mit unterschiedlicher Form der Numerusinkongruenz zwischen Antezedensausdruck und Pronomen, die der Annahme einer solchen Stellvertretung widersprechen: (3) Das Mädchen trug ein Kleid wie sie bei Folklorekonzerten üblich sind. (4) Im Auto saß ein Paar. Sie stritten sich heftig. In (5) und (6) fehlt der Antezedensausdruck gänzlich: (5) Mein Bruder hat keine Kinder, wohl aber meine Schwester. Und sie (oder besser: die) sind wirklich süß. (6) Kennst du ihn (oder besser: den) dort? Abschließend kann festgestellt werden, dass durch die getroffenen Abgrenzungen das d-Pronomen als Untersuchungsgegenstand hinreichend bestimmt ist. 1.2 Gesprochenen Sprache Bei der Untersuchung des d-Pronomens wird sehr schnell deutlich, dass es sich um ein Phänomen handelt, das überwiegend – wenn auch nicht ausschließlich, s.u. – der so genannten gesprochenen und weniger der so genannten geschriebenen Sprache zuzurechnen ist. Was aber heißt gesprochen vs. geschrieben? Es sei daran erinnert, dass mindestens zwei Ebenen zu unterscheiden sind, die mediale und die konzeptionelle (vgl. auch Schwitalla 2003: 20ff.): • die mediale Ebene mit der Unterscheidung von phonisch vs. graphisch. Phonisch und graphisch sind diskrete Kategorien. Hybridformen sind nicht möglich, wohl aber die parallele Realisierung. Ein Fernsehfilm mit Untertexten beispielsweise realisiert beide Kategorien parallel, er stellt jedoch kein Übergangsphänomen zwischen phonisch und graphisch dar, denn der Ton ist ausschließlich phonisch, die Untertexte hingegen sind ausschließlich graphisch. • die konzeptuelle Ebene mit der Unterscheidung mündlich vs. schriftlich (oder: ungeplant vs. geplant) als skalare Kategorien, die es erlauben, unterschiedliche Texte bzw. Textsorten relativ zueinander als stärker mündlich oder stärker schriftlich einzuordnen. Trotz der prinzipiellen Unabhängigkeit der beiden Dimensionen finden sich bevorzugte Kombinationen: Konzeptuell schriftliche (geplante) Sprache tritt bevorzugt in medial graphischer Form auf, konzeptuell mündliche (ungeplante) Sprache bevorzugt in medial phonischer Form. Die Darstellung in Fig. 1 veranschaulicht dies: Klaus Geyer 384 mündlich a b c d e f g graphisch h k i j l phonisch m n o p schriftlich Fig. 1: Mediale × konzeptionelle Dimension: Bevorzugte Kombinationen, Textsortenbeispiele, in Anlehnung an Koch; Oesterreicher (1994: 588): a = Schmerzensäußerung, b = Streit, c = Konversation, d = Chat, e = Email, f = spontane Erzählung, g = Tagebuchnotiz, h = Privatbrief, i = Vorstellungsgespräch, j = Podiumsdiskussion, k = Zeitungsinterview, l = frei gehaltene Rede, m = Vortrag, n = Leitartikel, o = Aufsatz (redigierter Text), p = Gesetzestext Unter gesprochener Sprache verstehe ich im Folgenden konzeptionell stark in Richtung Ungeplantheit orientierte und zugleich medial phonisch realisierte Sprache (Rede). Sie konstituiert zugleich das zentrale Untersuchungsobjekt der Linguistik. Das viel zitierte – aber selten verfolgte – Primat der gesprochenen Sprache lässt sich ontogenetisch wie phylogenetisch motivieren, geht doch beim Menschen sowohl als Individuum wie als Spezies das Sprechen dem Schreiben voraus (vgl. z.B. Lyons 1989: 39ff). Unterstützend sei die Tatsache angeführt, dass zwar alle Sprachen gesprochen, nur relativ wenige aber geschrieben werden, was Konsequenzen für die Vergleichbarkeit und die Aussagefähigkeit über den Gegenstand „menschliche Sprache“ nach sich zieht. Gesprochene Sprache ist somit adäquat als eigenständiges Phänomen zu analysieren und nicht als fehlerhafter und vergeblicher Versuch, den Schriftstandard zu erreichen („Performanzfehler“). Für die Sprachtypologie und die Sprachwandelforschung sind (geschriebene) Standardvarietäten ohnehin minder interessant, da diese in der Regel massiven sprachplanerischen Eingriffen ausgesetzt sind. In Sprachgemeinschaften mit einer stark implementierten Standardvarietät bieten sich deshalb Dialekte als „natürliche Sprachen erster Ordnung“ (Weiß 1998: 3) als beste Untersuchungsobjekte an, die entsprechende Aufbereitung der Daten vorausgesetzt (vgl. Geyer 2004). Abgesehen von solchen grundlegenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen ist deutlich, dass auch der DaF-Unterricht, insbesondere mit Fortgeschrittenen, im Stande sein muss, dem gesprochensprachlichen Input, dem die Lernenden im Alltag begegnen, Rechnung zu tragen und adäquate Beschreibungen sowie schlüssige Erklärungen für dessen Phänomene anbieten zu können (vgl. z.B. Reershemius 1998). 2. Grammatische Darstellung des d-Pronomens Das d-Pronomen als ein Phänomen, das überwiegend in der gesprochenen Sprache anzutreffen ist, findet wenig Beachtung in den Grammatiken des Deutschen bis in die jüngste Zeit. Dies hat seine Ursache zweifelsohne in der traditionellen Schriftstandard- der, die, DaF – linguistische Perspektiven umgangssprachliches Pronomen 385 Orientierung in der Grammatikschreibung. Die erste detaillierte Einzeluntersuchung zum d-Pronomen ist m.W. Bethke (1990); mit Ahrenholz (2006) ist jüngst eine fundierte und materialreiche Monographie zum Thema erschienen, die auch die DaF-Perspektive berücksichtigt. Die Informationen, die sich aus den gängigen grammatischen Darstellungen des Deutschen zum d-Pronomen entnehmen lassen, geben die Sprachwirklichkeit jedoch zumeist nur unzureichend wieder. Sie lassen sich in drei Gruppen subsumieren, die wie folgt umrissen werden können: 2.1 Pragmatischer Mythos 1: Umgangssprachlichkeit Aus einer de facto präskriptiven Perspektive (trotz eines beanspruchten deskriptiven Ansatzes) wird das d-Pronomen in älteren Darstellungen wie z.B. DUDEN (1984) und DUDEN (1985) als ein im stilistischen Sinne umgangssprachliches Phänomen verstanden, dass auf Grund dieser Umgangssprachlichkeit im „richtigen und guten Deutsch“ vermieden werden soll.2 Selbst bei Zifonun; Hoffmann; Strecker (1997) wird das d-Pronomen als „sozial markiert“ bezeichnet, wobei allerdings implizit bleibt, dass es sich um eine negative und nicht eine positive soziale Markierung handele. Man muss annehmen, dass sich diese Position auch heute noch in vielen grammatischen Darstellungen für den mutter- wie fremdsprachlichen Deutschunterricht finden lässt. Korpusuntersuchungen (siehe unten) zeigen, dass das d-Pronomen in der Tat vor allem, aber nicht ausschließlich ein Phänomen der gesprochenen Sprache darstellt. Es ist dabei aber keineswegs auf umgangssprachliche Register beschränkt, sondern auch im gesprochenen Standard durchaus anzutreffen – vgl. die Datenbasis bei Ahrenholz (2006). 2.2 Die ‘Akzentuierungshypothese’ Weit verbreitet ist eine Auffassung, die als ‘Akzentuierungshypothese’ bezeichnet werden kann und die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Das d-Pronomen, da auf ein ahd. Demonstrativpronomen dër/diu/da<z> und letztlich ein ie. Demonstrativpronomen *to- zurückführbar (vgl. Szemerény 1990: 215f), ist auch im Gegenwartsdeutschen demonstrativ. Da Demonstrativpronomina durch eine besondere Betonung in der Äußerung herausgehoben würden, müsse auch das d-Pronomen (stets oder meist) betont sein. Dass d-Pronomina prosodisch markiert seien, behauptet z.B. Engel (1996: 660 „stets betont“), ähnlich Helbig; Buscha (2001: 229) und Schulz; Griesbach (1996: 170: „Unterscheidungston“), auch Bethke (1990: 57). Für den DaF-Bereich können Schanen (1995: 168: „meist betont“) und Hering; Matussek; Perlmann-Balme (2002: 48) angeführt werden, wobei diesen beiden Grammatiken zugute zu halten ist, dass sie (i) das Thema d-Pronomen überhaupt behandeln und (ii) prosodische Gegebenheiten zu berücksichtigen versuchen.3 2 3 Die aktuelle Auflage DUDEN (2005) äußert sich sehr viel zurückhaltender. Hering; Matussek; Perlmann-Balme (2002) unterläuft das bedauerliche Missgeschick, die informationsstrukturelle „Auffälligkeit“ der d-Pronomina (vgl. Abschnitt 2.4) mit prosodischer Hervorhebung gleichzusetzen; vgl. auch Matussek (2003: 226): „[...] den unterschiedenen Merkmalen <UNAUFFÄLLIGKEIT> [er und sie] bzw. <AUFFÄLLIGKEIT> [der und die] entsprechen ‘betont’ bzw. ‘unbetont’.“ 386 Klaus Geyer Korpusuntersuchungen widerlegen die ‘Akzentuierungshypothese’ eindeutig; so treten z.B. im Korpus von Geyer (2003) bei 384 Vorkommen betonte d-Pronomina nur vereinzelt auf. Auch Ahrenholz (2006: 230) stellt zu den verarbeiteten Korpora mit 1801 Instanzen von d-Pronomina fest, „dass bis auf sehr wenige Vorkommen mit besonderem Kontrastakzent keine besonders auffallende Betonung vorliegt“. Gerade unter Kontrastbedingungen kann aber jedes Wort (vgl. das Beispiel bei Kohler 1995: 119) und bei expliziter Korrektur sogar jede Silbe betont werden, und dies gilt auch für d-Pronomina. Dass eine historische Grund- oder Ausgangsbedeutung bzw. -funktion der d-Pronomina keineswegs dem gegenwartssprachlichen Gebrauch entsprechen muss und somit kein valides Argument in der synchronen Analyse darstellt, versteht sich von selbst – auch das Relativpronomen oder der Definitartikel gehen auf die Wurzel *to zurück, ohne dass für diese Wörter ernsthaft Betonung postuliert würde. 2.3 Pragmatischer Mythos 2: Unhöflichkeit Schließlich ist ein zweiter Mythos der Sprachverwendung bei der Grammatikographie des d-Pronomens zu konstatieren, der zunächst von derselben Voraussetzung ausgeht wie die Akzentuierungshypothese, nämlich von der nicht weiter hinterfragten Zugehörigkeit des d-Pronomens zu den Demonstrativa. Demonstrativa sind typische „Zeigewörter“ (nach Bühler 1934, im Gegensatz zu „Nennwörtern“). Nun gilt es aber als unhöflich, auf Personen zu zeigen (mit dem Finger, vgl. die Ermahnung an Kinder: „Man zeigt nicht mit dem nackten Finger auf angezogene Leute“, wie auch sprachlich). Deshalb wird das d-Pronomen bzw. seine Verwendung als unhöflich angesehen und sollte wiederum im „guten und richtigen Deutsch“ vermieden werden (vgl. auch hier DUDEN (1984) und DUDEN (1985)). Aus dieser Annahme ergeben sich unmittelbar die folgenden Probleme und Widersprüche: (i) Die Pronomina er/sie/es und dieser/diese/dieses sind ebenfalls „Zeigewörter“, bzw. im Falle dieser/diese/dieses sogar zweifelsfrei Demonstrativa, gelten aber nicht als unhöflich. Demnach kann das „Zeigen“ nicht der Grund für die vermeintliche Unhöflichkeit des d-Pronomens sein. – (ii) d-Pronomina kommen im Gesprochenen ausgesprochen häufig vor, was bedeuten würde, dass die Deutsch Sprechenden unentwegt unhöflich sind. – (iii) Höflichkeit bzw. Unhöflichkeit kommt in erster Linie durch die Prädikation zu Stande, nicht durch ein Pronomen. Zutreffend ist allerdings, dass d-Pronomina – und insbesondere dann, wenn sie betont werden – gegenüber einem er/sie/es als konturschärfer (vgl. auch den Plural bei V-Anredepronomina, Weinrich 1986) beschrieben und damit als weniger distanziert interpretiert werden können; Distanziertheit ihrerseits stellt dabei jedoch ein Charakteristikum von Formalität und nicht von Höflichkeit dar (vgl. hierzu z.B. Löbner 2003: 36, FN 10). der, die, DaF – linguistische Perspektiven umgangssprachliches Pronomen 387 2.4 Die „Entdeckung“ der informationsstrukturellen Relevanz des d-Pronomens Eine wesentliche Funktion des d-Pronomens besteht unbestreitbar in der Disambiguierung von Doppeldeutigkeiten der Referenz in Beispielen wie Peter wollte mit Paul Tennis spielen. Doch er war krank. vs. Peter wollte mit Paul Tennis spielen. Doch der war krank. Hier besteht eine klare intuitive Präferenz dafür, er auf das Subjekt des vorhergehenden Satzes Peter, zu beziehen, der hingegen auf das Nicht-Subjekt Paul. Allzu häufig müssen solche (vermeintlichen?) Unklarheiten in natürlicher Kommunikation jedoch nicht aufgelöst werden, und das Vorkommen von d-Pronomina ist denn auch keineswegs auf Kontexte beschränkt, in denen potenziell ambige Referenzen vereindeutigt werden sollten. Für wichtiger als diese Funktion der Disambiguierung von Referenz, die auf den vorausgehenden Text bezogen ist und die man regressiv nennen könnte, halte ich deshalb eine andere Funktion, die – progressiv – auf den Folgetext abzielt und die mit der Informationsstruktur und insbesondere mit der Etablierung eines Referenten als neues Diskurstopik in Verbindung steht. Weinrich (1993) gebührt das Verdienst, den Stellenwert des d-Pronomens im System deutscher Verweispronomina in diesem Zusammenhang erneut4 thematisiert zu haben – zumindest was die Beschreibung in Referenzgrammatiken angeht („thematische“ vs. „rhematische Pronominalisierung“). Nicht schlüssig ist jedoch die Interpretation, dass die rhematischen d-Pronomina als Einheiten mit dem Merkmal [AUFFÄLLIGKEIT] besonders sparsam verwendet würden, um sich nicht „abzunutzen“ (Weinrich 1993: 385). Zifonun; Hoffmann; Strecker (1997) unterscheiden, in Anlehnung an Ehlich (1979), zwischen deiktischer (d-Pronomen) vs. phorischer Prozedur (Anapher, ‘einfaches Personalpronomen’); vgl.: “The anaphoric procedure is a linguistic means to make the hearer sustain a previously established focus towards a specific item. The deictic procedure is a linguistic means to achieve the focusing of the hearer’s attention towards a specific item.” (Ehlich 1979, zit. nach Bosch 1983: 56) 3. Datengrundlage der Untersuchung Die vorliegende Darstellung versteht sich als Vorstudie zu einer umfangreicheren Untersuchung, bei der eine Reihe von Korpora und Beispielsammlungen, teils auch Streubelege, die Datengrundlage bilden. Dialektales, umgangsdeutsches und standardverietätliches Material wird dabei mit der Produktion von DaF-Lernenden verglichen. Die Materialbasis setzt sich zusammen aus folgenden Texten: • Dialekt: Bhatt; Lindlar (1998) (Kölsch, mit Tonaufnahmen), Geyer (2003) (Ostfränkisch, mit Tonaufnahmen); • Umgangsdeutsch: pear stories „Birnengeschichten“ (vgl. Chafe 1980) bei Himmelmann (1997), homileische Kommunikation aus Redder; Ehlich (1994) (mit Tonaufnahmen), Telefondialoge von Brons-Albert (1984); 4 „Erneut“ deshalb, weil sich wesentliche Beobachtungen zur Funktion des d-Pronomens schon bei Behaghel (1923) finden lassen, indem er dem Pronomen er/sie/es die Eigenschaft zur „ruhigen Weiterführung“ (329) zuschreibt gegenüber dem Aufbau einer „gewissen Spannung“ (327) beim d-Pronomen. 388 Klaus Geyer • Standarddeutsch: Freiburger Korpus (IdS Mannheim, teils mit Tonaufnahmen), Streubelege z.B. aus Brinker; Sager (2001) und Henne; Rehbock (2001). • DaF: pear stories „Birnengeschichten“ (mit Tonaufnahmen) einschließlich einleitendem Spontanmaterial fortgeschrittener Studierender der Deutschen Philologie, von denen manche als Au Pair-Mädchen in Deutschland waren und dort weitgehend ungesteuert Deutschkenntnisse erworben haben, während andere die deutsche Sprache überwiegend in Sprachkursen in Litauen und/oder in Deutschland sehr gut (d.h. Niveaustufe C nach dem GER) erworben haben (eigenes, bislang unveröffentlichtes Material). Aus der noch unvollständigen Durchsicht des Materials lässt sich folgende Arbeitshypothese aufstellen: Litauische Studierende mit Au Pair-Erfahrung verwenden signifikant mehr d-Pronomina als Studierende ohne Au Pair-Erfahrung. Als Tendenz aus den bislang 4 (2+2) Aufnahmen ergibt sich derzeit, dass ehemalige Au Pair-Mädchen d-Pronomina ähnlich wie L1-Deutsche in gesprochener Sprache verwenden, diejenigen ohne Au Pair-Erfahrung dagegen überhaupt nicht. Die Sprachproduktion letzterer umfasst im Material nur minimal Vorkommen von d-Pronomina (abgesehen von das für Bezugnahme auf Propositionen, Äußerungen oder Sätze). 4. Vorkommen und Funktionen des d-Pronomens 4.1 Verweispronomina im gesprochenen Deutsch Soll das System der pronominalen Wiederaufnahme im gesprochenen Deutsch formal und funktional adäquat beschrieben und analysiert werden, ist m.E. von drei Paradigmata auszugehen: (i) dem d-Pronomen (ungefähr [ : ]) <der/die/das>, (ii) dem klitischen oder k-Pronomen (einfache Klitika, ungefähr [- - -]) <-ë/-s(ë)/-s> und (iii) dem – in der Regel als Personalpronomen der 3. Person oder als Anapher bezeichneten – s-Pronomen [ : ] <er/sie/es>. Die lautliche Realisierung der Pronomina schwankt erheblich. Auf die Besonderheiten der Opposition von klitischem und s-Pronomen im gesprochenen Deutsch kann im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden (vgl. hierzu z.B. Nübling 1992 und Geyer 2003). 4.2 Häufigkeiten Stichproben für das umgangsdeutsche und das dialektale Material liefern mit hohen Zahlen für d-Pronomina recht überraschende Ergebnisse hinsichtlich der Vorkommenshäufigkeiten der verschiedenen Verweispronomina im Text: a) Umgangsdeutsch: Delisle (1993) benutzt die 35 transkribierten Telefongespräche bei Brons-Albert (1984) als Datenbasis und zählt mit 552 der/die/das-Pronomina deutlich mehr Vorkommen als für die er/sie/es-Pronomina mit 410. Dabei sind Pronomina, die nicht auf Entitäten, sondern auf Propositionen, Sätze, Äußerungen etc. referieren, hier sinnvoller Weise ausgeschlossen. Klitische Pronomina werden nicht explizit angeführt, sind aber vermutlich unter er/sie/es subsumiert. der, die, DaF – linguistische Perspektiven umgangssprachliches Pronomen 389 b) Dialekt: Das Korpus dialektaler Sprache (Hetzlerisch, Ostfränkisch) bei Geyer (2003) umfasst gut 10.000 laufende Wörter, davon sind 188 d-Pronomina, 190 klitische Pronomina und lediglich 25 s-Pronomina, d.h. diejenigen Formen, die als der Normalfall pronominaler Wiederaufnahme gelten und gelehrt werden. Auch hier wurden Pronomina, die nicht auf Entitäten referieren, ausgenommen. 4.3 Beispiele In diesem Abschnitt wird das Vorkommen von d-Pronomina anhand einiger ausgewählter Beispiele illustriert. Bereits die einführenden Beispiele in 4.3.1 konturieren ein Schema für das Vorkommen von d-Pronomina. Die deutschen L1-Daten aus den so genannten Birnengeschichten in 4.3.2 dienen der Präzisierung dieses Schemas. Die Beispiele in 4.3.3 erlauben darauf aufbauend eine Einordnung der Produktionen von DaFLernerinnen unterschiedlichen Typs. 4.3.1 Einführende Beispiele Ein typisches umgangsdeutsches Textbeispiel ist (7) (aus Redder 1994, Hervorhebung K.G.): (7) [...] Da haben zwei Mann, die haben/ der eine hat in China . . Hongkong da oben . hat der ein Vermessungsbüro sich aufgebaut, . und der andere . hat . so ein Bergungsunternehmen für Seeschiffe, nich? Tauchangelegenheiten und so was, Tauchausrüstung und alles so was. Dann ham se immer schon vorgehabt, wir beiden, wenn wir mal irgendwie Zeit oder . ( ) dafür haben, dann gehen wir mal auf Wrackse/ auf Wracksuche. [...] Der eine war nen Engländer, un der andere nen Schweizer. . Un dann sind se losgezogen . auf Wracksuche. [...] Gesprochenes Standarddeutsch, aus einer Talkshow im Fernsehen mit J. Fuchsberger, zeigt (8) (aus Brinker; Sager 2001: 88, Hervorhebung K.G.): (8) meine Partnerin in einem Wallace-Film damals äh Sie wissen ja ich hab son paar von den dingern gemacht also dieser partnerin trachten krokodile nach dem leben die lag in sonem grabn da unten drin [...] Dialekt (Kölsch) wird schließlich in (9) demonstriert (aus Bhatt; Lindlar 1998: 52): (9) Ming Oma wor en herrliche Frau. Wenn mer met där met de Iesebahn fuhr, da dät et wirklich keen fünnef Menutte bruche des se all Lück em Abteil kenne dät. [...] Bereits aus den drei einführenden, allgemeinen Beispielen (7) bis (9) ergibt sich das folgende tentative Schema (10) für die Referenz und insbesondere für die pronominale Wiederaufnahme: (10) volle NP – d-Pronomen – k-/s-Pronomen – k-/s-Pronomen – ... Klaus Geyer 390 4.3.2 „Birnengeschichten“ „Birnengeschichten“ – Nacherzählungen des Birnenfilms (pear story) von W. Chafe5 – existieren in einer Reihe von Sprachen und eignen sich daher sehr gut zum Sprachenvergleich. Für die vorliegende Fragestellung bietet sich die Arbeit mit dem Birnenfilm an, weil (i) darin eine ganze Reihe von Personen auftritt, die beim Erzählen durch verschiedene For men der Wiederaufnahme identifiziert werden müssen, und weil (ii) die Produktionen durch einen identischen Stimulus besser vergleichbar werden. Ergänzt wird die Nacherzählung bei meinen Datenerhebungen stets durch so genanntes Spontanmaterial, das meist umfangreicher ist als die Birnengeschichte selbst. Das bereits in 4.3.1 gegebene Schema findet sich z.B. in Beispiel (11), einer umgangsdeutschen Version der Birnengeschichte („Version B“, aus Himmelmann 1997: 235, Hervorhebungen K.G.): (11) B1 B2 B3 B4 B5 B6 B7 B8 B9 B10 jaa also das war’n Film mit {0.8äh} ganz vielen Birnen {0.5} und ’ paar Leuten {0.2} und ich fang jetzt erstmal systematisch an {2.0 ähm} also man sieht erst ’n Mann auf ’nem Birnbaum {1.0} der Birnen pflückt {1.4} und {0.6 ähm} dann die Leiter runterklettert und die Birnen in Körbe entleert {0.7} eigentlich in einen Korb | da stehen aber drei Körbe insgesamt {1.0} und äh dann geht er wieder rauf auf ’n Baum {0.2} [...] Zu beachten ist, dass die Form der in B6 einen Relativsatz einleitet und deshalb nicht als d-Pronomen zu werten ist. Eine Modifikation erfährt das tentative Schema (10) durch die teils umgangssprachlichen, teils dialektalen Beispiele (12) bis (15). Hier treten zwei aufeinanderfolgende Instanzen von d-Pronomina auf, bevor die Referenz mittels k-Pronomina (bzw. ggf. s-Pronomina6 im Falle von Umgangsdeutsch) erfolgt; vgl.: Umgangsdeutsch, „Version F“, Himmelmann (1997: 241f, Hervorhebungen K.G.), mit k-Pronomen: (12) F1 F2 F3 F4 5 6 jaja also das is der Birnenfilm | der berühmte von Chafe | is ne typisch amerikanische Story | ne| da schwenkt so die Kamera gleich so erstmal Großaufnahme auf so’ne Farmlandschaft {1.3} und dann sieht man einen Mann | der sieht aus wie so’n Latino {0.3} Mexikaner oder so was ähnliches {0.1} der {0.7} Eine relativ kurze, jedoch komplette umgangsdeutsche Birnengeschichte („Version E“, aus Himmelmann 1997: 241) findet sich im Anhang zu diesem Beitrag. Zu beachten ist, dass es sich bei der Form der in E1 um ein Relativpronomen handelt; das zweite der (in E4) ist ein d-Pronomen. Das Schwanken von k(litischem)-Pronomen und dem s-Pronomen er/sie kann immer auch ein Transkriptionsproblem widerspiegeln, da die k-Pronomina so genannte einfache Klitika (vgl. Zwicky 1994), d.h. in der lautlichen Substanz aus den s-Pronomina reduzierte Formen darstellen. der, die, DaF – linguistische Perspektiven umgangssprachliches Pronomen F5 F6 F7 391 fümmelt da <an> auf einer Leiter {0.7} rum und is am Birnenpflücken {0.7} ne un’ dann geht=a runter {0.9} [...] Umgangsdeutsch, „Version A“, Himmelmann (1997: 234, Hervorhebungen K.G.), mit (transkribiertem) s-Pronomen: (13) A3 A4 A5 A6 A7 A6 also da {0.7} is ein {0.15} äh Mann {0.2} und der pflückt Birnn an ’nem Baum und der hat unten {0.2} drei Körbe stehen wo die Birnen drin sind und davon sind zwei voll {1.3 <tiefes Luftholen>} und während er da oben steht {0.25} [...] Dialekt (Kölsch), (Himmelmann 1997: 243, Hervorhebungen K.G.):7 (14) K1 K2 K3 K4 K5 jo {0.2} do sieht ma ne Mann {1.4} dä is Birre am plöcke {2.1} un dä steht op ener Leider {1.5} un do deit=e di: Birre immer he in su e Säcksche wat=e um de Buch eröm hät {1.8} […] Ebenso: Dialekt (Hetzlerisch, Ostfränkisch), aus Geyer (2003: 86, Hervorhebungen K.G.):8 (15) also gut, do war a Mõõ {0.2} und deë hot {0.3} Birn grissn {1.6} und also deë war sehr stolz auf sei(ne) Birn, hat=s aa immer abputzt und so {1.1} und dann hat=er ein(en) Korb [...] In Beispiel (16) finden sich sogar drei d-Pronomina: Umgangsdeutsch, „Version D“, Himmelmann (1997: 239f, Hervorhebungen K.G.): (16) D2 D3 D4 D5 [...] D10 D11 D12 7 8 da war so’n so’n Indio {0.4} der hat en {0.3} Cowboyhut und en Tuch um und {0.3 eh} der hat halt Birnen gepflückt als der hat {1.4 ehm} [Zwischenfrage des Publikums, 4 Pauseneinheiten] ja und dann hat der die Birnen gepflückt und hat die alle {0.5} schön in ’nen Korb gestapelt {1.2} und {0.2} „<e> ist generell als Schwa [] zu lesen.“ (Himmelmann 1997: 243) Hier in vereinfachter Transkription. Klaus Geyer 392 D13 man sah lange Zeit | also man hörte immer irgendwelche Geräusche von irgendwelchen Tieren im Hintergrund | en Hahn krähen und en {0.7} D14 ne Ziege mähen {0.5 <lacht>} D15 mäh {1.6} D16 ja und dann {1.3 ehm} D17 hat=a die alle fein säuberlich in Körbe gestapelt und irgendwann [...] Das dritte Vorkommen von der in D10 dürfte allerdings dem Umstand zuzuschreiben sein, dass nach der Unterbrechung durch eine Zwischenfrage der Referent erneut aufgenommen wird, und zwar in der Form, die der Unterbrechung vorausgegangen ist. Somit ergibt sich das modifizierte Schema (17) mit einem optionalen zweiten dPronomen: (17) volle NP – d-Pronomen – (d-Pronomen) – k-/s-Pronomen – k-/s-Pronomen – ... 4.3.3 DaF-„Birnengeschichten“ Die Produktionen der ehemaligen Au Pair-Mädchen aus Litauen entspricht im Wesentlichen dem umgangsdeutschen Muster mit, vgl. (18) und (19): DaF Au Pair (Litauen / 1 Jahr Unterschleißheim): (18) Lb1 Lb2 Lb3 Lb4 Lb5 Lb6 Lb7 Lb8 Lb9 so wie ich verstehe (...) der Sommer weil die Birnen werden geerntet ja <lacht> ja und auf dem Lande ja ein Mann dann steigt so auf den Leiter und dann also (...) pflückt Birnen und dann wenn der was schon viele hat dann geht der runter und legt die alle in’n Korb und da als er im Baum ist dann [...] DaF Au Pair (Litauen / 1½ Jahre im Großraum München bei 2 Familien): (19) La1 La2 La3 La4 La4 La5 La6 La7 La8 soweit ich verstanden hab das müssen keine Deutschen gewesen sein ich der Mann der sah so wie ein aus Georgien aus so irgendwie ich mein so ein bisschen ich mein die Berge und die Birnn die der kann man sagen gepflückt hat und und äh ja er hat eben die Birnen gepflückt und die einen Korb so gelegt oder gesammelt Das zweite der in La4 steht zwar in einem Relativsatz, ist aber kein Relativpronomen (das Relativpronomen ist das vorausgehende die). Als Beispiel für einen Birnengeschichten-Anfang einer fortgeschrittenen DaF-Lernerin, die überwiegend gesteuerten Spracherwerb genossen hat, sei (20) angeführt: DaF, kein Au Pair (Litauen / 3 Wochen Sommerkurs in München): der, die, DaF – linguistische Perspektiven umgangssprachliches Pronomen (20) Lc1 Lc2 Lc3 Lc4 Lc5 Lc6 393 also in diesem Film sehen wir einen Mann vielleicht einen Bauer ich weiß nicht äh der als mm auf äh den Baum hinauf äh gestiegen ist und er äh pflückt die Birnen Die Form der in Lc4 ist aufgrund der Verbletztstellung in Lc5 als Relativpronomen zu analysieren. Somit findet sich in der Produktion dieser DaF-Lernerin das charakteristische Schema für d-Pronomina nicht. Eine plausible Erklärung ist, dass sie dieses wichtige Phänomen im Rahmen des gesteuerten Fremdspracherwerbs des Deutschen nicht oder nicht ausreichend differenziert kennen gelernt hat. 4.4 Funktion Nachdem in den vorausgehenden Abschnitten 4.1 bis 4.3 das Vorkommen von d-Pronomina aus deskriptiver Perspektive behandelt worden ist, folgt nun die Erklärung des Phänomens auf funktionaler Basis. Dabei stütze ich mich v.a. auf die Untersuchung zur Schnittstelle von Informationsstruktur und Syntax von Lambrecht (1994). Dort werden zunächst drei sprachliche Bereiche unterschieden, die für die Kodierung von Diskursreferenten und ihre informationsstrukturelle Relevanz wesentlich sind: (i) die Prosodie, insbesondere im Sinne von Äußerungsakzent; (ii) die Opposition von lexikalischer NP vs. Pronomen; (iii) sofern in der Sprache vorhanden, die Opposition von definiter vs. indefiniter Markierung. Alle drei Bereiche sind für das gesprochene Deutsch wirksam. Um die Herstellung der „richtigen“ Referenzen zu gewährleisten, stellen Lambrecht zufolge SprecherInnen Hypothesen über die mentale Repräsentation von Diskursreferenten bei ihren HörerInnen auf und verwenden dementsprechende sprachliche Ausdrücke. HörerInnen schließen ihrerseits aus den verwendeten sprachlichen Ausdrücken wie aus einer Art Suchanweisung, wo im Kontext die zugehörigen Diskursreferenten in der jeweiligen Situation zu finden sind. Hinsichtlich des informationsstrukturellen Status eines Diskursreferenten unterscheidet Lambrecht die beiden mentalen Kategorien Identifizierbarkeit und Aktivierungsgrad, wobei letzterer nur bei identifizierbaren Diskursreferenten eine Rolle spielt: unidentifizierbar Identifizierbarkeit identifizierbar nicht verankert verankert Aktivierung inaktiv zugänglich textuell situationell inferenziell aktiv Fig. 2: Kategorien der Identifizierbarkeit und Aktivierung von Diskursreferenten, nach Lambrecht (1994: 109) Identifizierbarkeit und Aktivierungsgrad sind auf der Ebene der mentalen Repräsentationen von Diskursreferenten wirksam. In einem nächsten Schritt ist nach dem bevor- Klaus Geyer 394 zugten sprachlichen Ausdruck der genannten mentalen Kategorien zu fragen. Dieser wird durch die folgenden Beispiele verdeutlicht: • unidentifizierbar, nicht verankert: indefinite lexikalische NP, nicht satzinitial Bsp.: Plötzlich stand da ein seltsamer Hase. • unidentifizierbar, verankert: indefinite lexikalische NP, auch satzinitial Bsp.: Eine Freundin von mir sagte, es ist der Osterhase. • identifizierbar, inaktiv: definite lexikalische NP Bsp.: Eine Freundin von mir sagte, es ist der Osterhase. • identifizierbar, zugänglich: definite lexikalische NP oder Pronomen Bsp. textuell: Obwohl es den doch eigentlich gar nicht gibt. Bsp. situationell: Sieh doch mal vor der Tür nach. Bsp.: inferenziell: Seinen Eierkorb hat er allerdings stehen lassen. • identifizierbar, aktiv: unbetontes Pronomen Bsp.: Dann kommt er bestimmt bald noch mal zurück. Für die Diskussion von Pronomina sind dabei nur identifizierbare Referenten von Interesse, da andernfalls die Referenz mittels Pronomen gar nicht möglich ist. Die Akzeptabilität eines Diskursreferenten als Topik in einem Satz (bzw. in einer Äußerung) – verstanden als “what a sentence is about” (Comrie 1989: 64)9 – korreliert mit seinem Aktivierungsstatus: Aktivierungsstatus aktiv zugänglich inaktiv (nicht identifizierbar) Akzeptabilität als Topik maximal ↑ ↓ (minimal) Fig. 3: The Topic Acceptability Scale, nach Lambrecht (1994: 165) Soll die sinnvolle und konsequente Unterscheidung zwischen der mentalen und der sprachlichen Ebene beibehalten werden, ist wie schon in den vorhergehenden Beispielen ein gesonderter Blick auf den sprachlichen Ausdruck erforderlich. Verschiedene sprachliche Ausdrucksformen sind nach Van Valin; LaPolla (1997: 199ff) unterschiedlich gut bzw. weniger geeignet (unmarkiert – markiert), um die mentalen Repräsentation topikaler Diskursreferenten sprachlich zu kodieren. Dies wird in Fig. 4 dargestellt. Je weiter rechts eine Ausdruckskategorie steht, desto markierter ist sie als Topikausdruck: Zero Clitic/bound Pronoun pronoun [-stress] Pronoun [+stress] Definite NP Indefinite NP –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––→ Markedness of occurrence as topic Fig. 4: Skala der Markiertheit von Topikausdrücken nach Van Valin; LaPolla (1997: 205) 9 Detaillierte Definitionen von Topik als pragmatisches Phänomen und Topikausdruck als grammatischer Einheit gibt Lambrecht (1994: 131). der, die, DaF – linguistische Perspektiven umgangssprachliches Pronomen 395 Die Datenanalyse zum d-Pronomen bestätigt diese typologische Generalisierung, vgl. das in (17) dargestellte Schema, erlaubt aber darüber hinaus für den untersuchten Gegenstand, das d-Pronomen im gesprochenen Deutsch, eine wesentliche Erweiterung10: Nach der Einführung „neuer“, d.h. unidentifizierbarer Referenten durch indefinite oder – falls verankert – definite NPs zeigt ein d-Pronomen (in der Regel unbetont) an, dass der nunmehr identifizierbare und zugängliche Referent im kommenden Diskurs Topikfunktion erfüllen soll. Ist dieser Referent sodann nach ein bis zwei Wiederaufnahmen mittels d-Pronomen als Topik etabliert und aktiv, erfolgt die Wiederaufnahme durch klitische Pronomina. Mit anderen Worten hat das Auftreten eines d-Pronomens die Funktion, neue Topiks zu etablieren, also anzuzeigen, dass ein (mittels voller NP) eingeführter Diskursreferent im weiteren Text als Topik eine Rolle spielen wird. Dies gilt für die Produktions- wie die Rezeptionsperspektive gleichermaßen. • Das d-Pronomen ist in hohem Maße funktional bei der Informationsstrukturierung in Äußerungen und keineswegs eine stilistisch minderwertige Alternative zu er/sie/es (bzw. zu den entsprechenden Klitika). • Die progressive Funktion der Topiketablierung des d-Pronomens verdient gegenüber der traditionell hervorgehobenen regressiven Funktion der Vereindeutigung der Referenz bei potenziell ambigen pronominalen Bezügen stärkere Aufmerksamkeit. • Das Schema zur Etablierung eines neuen Topiks im gesprochenen Deutschen lautet: volle NP (idf./def.) – d-Pronomen – (d-Pronomen) – k-/s-Pronomen – k-/s-Pronomen – ... • Dieses Schema spiegelt eine typologisch fundierte, sprachübergreifende Verallgemeinerung wider, die Anknüpfungspunkte für sprachvergleichenden (dabei nicht notwendigerweise kontrastiven) Sprachunterricht des Deutschen als Fremdsprache bieten sollte. • Vielversprechende erste Ansätze wie der von Willkop; Thurmair (2003), die das Thema d-Pronomen adäquat für den DaF-Unterricht aufbereiten, müssen konsequent weiterentwickelt und erweitert werden. • Methodisches: Nicht Introspektion oder die Orientierung an (vermeintlichen) Stilidealen, sondern die Analyse sprachlicher Korpora liefert wissenschaftlich solide Ergebnisse. Dies ist für DaF insofern relevant, als kein Konstrukt, sondern ein auf der Sprachwirklichkeit basierendes Deutsch (mit Variation!) gelehrt werden soll. 5. Schlussfolgerungen 10 Dies gilt zunächst für den Haupttyp narrativer Texte, in denen Topiks linear aufeinander folgen. In den weniger frequenten Texten oder Textsequenzen mit konkurrierenden Topiks etc. sind die Verhältnisse komplexer. 396 Klaus Geyer Literatur Ahrenholz, Bernt (2006): Verweise mit Demonstrativa im gesprochenen Deutsch: Grammatik, Zweitspracherwerb und Deutsch als Fremdsprache. Berlin etc.: de Gruyter. (= Linguistik – Impulse und Tendenzen; 17) Behaghel, Otto (1923): Deutsche Syntax: eine geschichtliche Darstellung. Bd. 1: Die Wortklassen und Wortformen. A: Nomen. Pronomen. Heidelberg: Winter. Bethke, Inge. 1990. der, die, das als Pronomen. München: Iudicium. (= Studien Deutsch; 11) Bhatt, Christa; Lindlar, Markus (Hrsg.) (1998): Alles Kölsch. Eine Dokumentation der aktuellen Stadtsprache in Köln. Bonn: Bouvier. 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(2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 401-430. Heike Brandl & Melanie Brinkschulte & Stephanie Immich (Bielefeld) Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende an der Universität Bielefeld Einleitung Besonders in der Hochschulpolitik und -verwaltung wurde viele Jahre lang angenommen, dass internationalen Studierenden das erfolgreiche Bestehen der „Deutschen Sprachprüfung für den Hochschulzugang“ (DSH, früher PNdS) oder vergleichbarer Deutschprüfungen zur Bewältigung der anschließenden Studienanforderungen reiche. Wie verschiedene empirische Studien zeigen, ist in zahlreichen Fällen jedoch das Gegenteil der Fall und die Studienabbrecherquote unter internationalen Studierenden deutlich höher als die von Muttersprachlern (vgl. z.B. Heublein et al. 2004, Hosseinizadeh 2005). Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben der Klärung von Fragen zum Aufenthaltsrecht, müssen sich internationale Studierende ein neues soziales Umfeld aufbauen und die Finanzierung des Studiums sicherstellen. An der Hochschule sind die Organisationsstrukturen und fachlichen Anforderungen des jeweiligen Studienganges zu verstehen, die sich stark von denen im Heimatland unterscheiden können. Die Bewältigung dieser Anforderungen erfordert viel Eigeninitiative und Durchhaltevermögen. Sprachbeherrschung ist dabei eine unverzichtbare Voraussetzung. Zahlreiche Studien aus dem Bereich der Linguistik zeigen, dass vor allem bei der Bewältigung der Studienleistungen trotz des bereits hohen Sprachniveaus Schwierigkeiten auftreten. Das Spektrum erstreckt sich dabei von Kommunikationsschwierigkeiten mit Dozenten, über Probleme bei der Rezeption von Vorlesungen bis zur selbstständigen Weiterentwicklung Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich 402 wissenschaftssprachlicher Handlungskompetenz. Die Unsicherheiten treten nicht nur zum Studienbeginn auf, sondern können sich bis zum Ende des Studiums erstrecken. Angesichts dieser Problemkonstellation hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass internationale Studierende zur effektiven und erfolgreichen Bewältigung des Fachstudiums studienbegleitende sprachliche Unterstützung benötigen. So zieht Koreik (2005: 72) in einer Vergleichsstudie zwischen DSH und Test-DaF folgendes Resümee: „Mit der neuen Rahmenordnung [der DSH; H.B.] ist das sprachliche Eingangsniveau auf einer Ebene fixiert, wie es auch der Praxis in anderen europäischen Ländern vergleichbar ist, was jedoch nicht bedeutet, dass zukünftige internationale Studierende in sprachlicher Hinsicht in der Weise handlungsfähig sein werden, wie es bisher [...] vorausgesetzt wurde. Dies macht umso deutlicher, dass eine zukünftige Aufgabe der dafür zuständigen Einrichtungen in den Hochschulen im Bereich des studienbegleitenden Deutschunterrichts liegen wird.“ Und auch Althaus (2004: 86) schlussfolgert: „Die Internationalisierung der deutschen Hochschulen wird langfristig nur erfolgreich sein, wenn neben der studienorganisatorischen Betreuung ausländischer Studierender auch eine intensive sprachliche Begleitung an qualifizierten DaF-Einrichtungen gesichert wird.“ An der Universität Bielefeld haben wir die Hochschulstrukturreform im Rahmen des Bologna-Prozesses und die Einführung der konsekutiven Studiengänge Bachelor (BA) und Master (MA) zum Anlass genommen, fächerübergreifende Angebote zur Vermittlung von studienrelevanten Schlüsselkompetenzen aufzubauen. Für die Gruppe der internationalen Studierenden stellten wir uns dabei die Frage, wie effektiver studienbegleitender DaF-Unterricht aussehen müsste und entwickelten von Oktober 2005 bis Februar 2007 das „Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende an der Universität Bielefeld“, das vom Deutschen Akademischen Austauschdienst im Rahmen der „Profis“1-Projekte gefördert wurde (vgl. www.uni-bielefeld.de/profis). In diesem Beitrag wird zunächst das Gesamtkonzept des Sprachbegleitprogramms vorgestellt, um einen Überblick zu bieten. Exemplarisch werden anschließend zwei Bausteine daraus näher erläutert, einer zum Rezipieren von Vorlesungen für die Gesamtgruppe der internationalen Studierenden und ein zweiter für die Zielgruppe der Doktoranden zur Vorbereitung auf die Disputation. Dabei werden wir im Rahmen dieses Artikels nicht auf alle Details der Workshops eingehen können. Interessierte möchten wir auf die 2008 erscheinende ausführliche Publikation verweisen. 1. Konzept des Sprachbegleitprogramms 1.1 Hintergrund Studienbegleitende Angebote für internationale Studierende, vor allem zum akademischen Schreiben, existieren an der Universität Bielefeld bereits seit 1998 im Rahmen 1 Programm zur Förderung der Internationalisierung an den deutschen Hochschulen (http://www.daad. de/hochschulen/betreuung/profis/05094.de.html) Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 403 des PunktUm-Projektes, das dem akademischen Fach Deutsch als Fremdsprache zugeordnet ist. Eine Auswertung der mehrjährigen Arbeit mit dieser Zielgruppe führte zu der Erkenntnis, dass internationale Studierende sprachliche Unterstützung in Bezug auf alle akademischen Textarten suchen. Der größte Sprachlernbedarf besteht direkt nach den Sprachprüfungen zum Hochschulzugang zum Studienbeginn. Dennoch ist wissenschaftssprachliche und schreibdidaktische Unterstützung während des gesamten Studiums notwendig, da sich zum einen Zeitpunkt und Art der sprachlichen Leistungsanforderungen innerhalb der einzelnen Disziplinen unterscheiden, zum anderen der Beratungsbedarf zum Studienende vor allem in Hinblick auf das Verfassen der Abschlussarbeiten noch einmal ansteigt. Das folgende Diagramm veranschaulicht den individuellen Schreibberatungsbedarf internationaler Studierender im Rahmen der individuellen Schreibberatungen des Profis-Projekts an der Universität Bielefeld im Jahr 2006 (Brandl 2006): Textarten in Einzelberatungen Selbstlernberatung 6,29% jur. Gutachten 2,98% Bewerbungen 1,32% Referat 2,98% mündliche Prüfung 7,62% Zusammenfassung 0,66% Exposee 2,98% Dissertation 6,29% Praktikumsbericht 2,65% Hausarbeit 36,42% Abschlussarbeit (Dipl., Mag., usw.) 24,83% Klausur 4,97% Abb. 1: Textarten in der Schreibberatung 2006 (N= 302 Stunden) Es wird deutlich, dass fast alle produktiven Textarten des Studiums behandelt wurden: Zusammenfassungen, Praktikumsberichte, Referate, juristische Gutachten, Klausuren und mündliche Prüfungen, Exposés, Haus- und Abschlussarbeiten sowie Dissertationen. Vereinzelt wurden nach erfolgreich abgeschlossener Studienleistung Sprachlernberatungen durchgeführt, in denen die im Verlauf der Beratung als problematisch erkannten sprachlichen Phänomene wiederholt und eingeübt wurden. Einige inter- 404 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich nationale Studierende wandten sich nach erfolgreichem Studienabschluss auch mit Fragen zum Schreiben von Bewerbungen an die Schreibberatung. Insgesamt zeigt die Auswertung, dass der Beratungsbedarf hinsichtlich der schriftlichen Qualifikationsarbeiten Haus- und Abschlussarbeit, die ein hohes Maß an Sprachbeherrschung und Selbstorganisation verlangen, besonders groß ist. Allein die Schreibberatungen zu Haus- und Abschlussarbeiten machten im Jahr 2006 gut 50 % der individuellen Schreibberatungsarbeit aus. Dabei betreffen die Schwierigkeiten der Studierenden alle Ebenen der akademischen Textproduktion (vgl. Büker 2001): Auf der inhaltlichen Ebene ergeben sich Probleme, die aus den Fachinhalten entstehen und eher kognitiver als sprachlicher Art sind. Hierbei kann es z.B. um das Verstehen von in der Fachliteratur dargelegten Theorien, Forschungsmethoden, Argumentationen gehen. Ein zweiter Bereich umfasst die Domänenspezifika, die die Studierenden kennenlernen und in ihren akademischen Texten anwenden sollen. Schwierigkeiten entstehen dabei nicht nur in Bezug auf den für alle Studierenden gleichen Lernprozess, sondern auch durch Differenzen, die zwischen den fachspezifischen Konventionen im Heimatland und denen an der deutschen Hochschule bestehen. Die Schwierigkeiten mit der deutschen (alltäglichen) Wissenschaftssprache mit durchaus individuell variierenden Unterschieden machen jedoch den Großteil der bei vielen internationalen Studierenden festzustellenden rezeptiven wie produktiven Schwierigkeiten aus, wie inzwischen in zahlreichen empirischen Studien belegt ist (vgl. hierzu z.B. Börner 1989, Ehlich 1999, Eßer 1997, Kaiser 2003, Hufeisen 2002, Krings 1992, Wiesmann 1999). Der Studienerfolg internationaler Studierender hängt jedoch nicht allein von der Sprachkompetenz ab. Faktoren wie Studienfinanzierung, aufenthalts- oder versicherungsrechtliche Fragen, vor dem Studium erworbene Fachkenntnisse ebenso wie soziale Kontakte bzw. die familiäre Situation beeinflussen das Studienhandeln und den Studienverlauf (vgl. hierzu Hentschel 1991, Heublein et al. 2004, Hosseinizadeh 2005, Schnitzer 1999). Auf der Basis dieser Erkenntnisse entwickelten wir für die Universität Bielefeld die folgende Strategie, mit der die Betreuungssituation internationaler Studierender nachhaltig verbessert werden soll. 1.2 Vernetzung aller Betreuungsangebote für internationale Studierende Vor dem Hintergrund dieser komplexen Studien- und Lebenssituation ist die Vernetzung aller Beratungs- und Betreuungseinrichtungen, die für die verschiedenen Belange der internationalen Studierenden an der Hochschule zuständig sind, ein erster wesentlicher Schritt zur effizienten Betreuung. Zum Netzwerk an der Universität Bielefeld gehören neben dem akademischen Fach DaF und dem International Office • die für die fachliche Betreuung zuständigen Fakultäten/Dozenten, • die zentrale Studienberatung, • andere für alle Studierenden zugängliche Service- und Beratungseinrichtungen wie z.B. die Bibliothek oder das Hochschulrechenzentrum, • die studentischen Beratungseinrichtungen wie der AStA und • der Internationale Studierendenrat. Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 405 Bei regelmäßigen Treffen (Runder Tisch der universitätsinternen Beratungsstellen, Austausch mit Fakultätsvertretern etc.) werden Erfahrungen und Probleme angesprochen und gemeinsame Lösungswege zur besseren Betreuung und Begleitung internationaler Studierender gesucht. Eng damit verbunden sind der Aufbau und die Etablierung eines Sprachbegleitprogramms, das auf die Anforderungen des Studiums zugeschnitten ist. 1.3 Das Sprachbegleitprogramm Adressaten Die Unterstützungsangebote wenden sich an die an der Universität Bielefeld studierenden und forschenden ausländischen Studierenden in allen Bachelor-, Master- und Promotions-Studiengängen. Gleichzeitig werden auf der Basis des Betreuungskonzepts Multiplikatoren (Studierende in Master-Studiengängen und Promovierende) ausgebildet, die durch ihre anschließende Arbeit im Sprachbegleitprogramm zur Verstetigung des Projekts beitragen und sich dabei selbst sprach- und hochschuldidaktisch qualifizieren. Wissenschaftliche Grundlagen und inhaltliche Prinzipien Das Sprachbegleitprogramm basiert auf den Forschungserkenntnissen der fremdsprachlichen Schreibprozessforschung, der Sprachlehr- und -lernforschung, der Linguistik sowie der hochschuldidaktischen Forschung. Den internationalen Studierenden werden vor allem Kenntnisse in folgenden Bereichen vermittelt: • Anfertigungsprozesse von (mündlichen/schriftlichen) Studienarbeiten (Planung des Schreibprojekts, Auswertung von Literatur, Exzerpieren, Schreibstrategien, Vorstrukturierung und Überarbeitung der eigenen Textprodukte etc.) • wissenschaftliche Textnormen, Wortschatz und Grammatik • kulturelle Unterschiede in wissenschaftlichen Stilen und ihre Spiegelung in wissenschaftlichen Textarten • selbstständiger Umgang mit der fremden Wissenschaftssprache (Förderung des autonomen Lernens) (vgl. hierzu in Kapitel 2 und Kapitel 3 die genauere Darstellung der Angebote für die verschiedenen Zielgruppen Bachelor-, Master-Studierende und Promovierende). Fachliche und sprachliche Differenzierungskriterien Ziel des sprachlichen Betreuungsprogramms ist es, die ausländischen Studierenden darin zu unterstützen, die Anforderungen des Fachstudiums besser und schneller zu bewältigen. Durch die Einführung des konsekutiven Studienmodells werden die sprachlichen Voraussetzungen2, vor allem jedoch die fachliche Vorbildung ausländischer Studierender bei der Aufnahme des Studiums, zunehmend heterogener sein. Aus diesem Grund wird das studienbegleitende Sprachlernangebot nach Zielgruppen und verschiedenen Bausteinen differenziert: Ausländische Studierende in Bachelor-Studiengängen: 2 (DSH/Test-DaF, aber Befreiung von der obligatorischen Sprachprüfung in Graduierten-Kollegs u.Ä.) 406 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich 1. Voraussetzungen: Sie haben in der Regel die DSH- oder Test-DaF-Prüfung absolviert, bringen sehr unterschiedliche Schreibsozialisationen aus ihren Muttersprachen und keinerlei Erfahrungen mit dem wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben in Deutschland mit und haben lediglich laienhafte Vorstellungen von Wissenschaft. 2. Anforderungen: Sie müssen im Studienverlauf die nötigen Kenntnisse der Fach- und Wissenschaftssprache erwerben und sich die in Deutschland geltenden wissenschaftlichen Arbeits- und Dokumentationsweisen aneignen. 3. Inhalte: Die Bausteine für diese Gruppe knüpfen an diesen Voraussetzungen an und trainieren die grundlegenden sprachlichen Fertigkeiten und Strategien, die zur erfolgreichen Bewältigung der Aufgaben im jeweiligen Studienfach notwendig sind, so z.B. Einübung von Lesestrategien, systematische Auswertung und Verarbeitung wissenschaftlicher Texte, Exzerpieren, Zusammenfassen, Übung von Schreib- und Überarbeitungsstrategien, Einführung in den wissenschaftssprachlichen Wortschatz, Kennenlernen wissenschaftssprachlicher Formalia und Normen. Ausländische Studierende in Master-Studiengängen: 1. Voraussetzungen: Auch sie haben die obligatorischen Sprachprüfungen erfolgreich absolviert. Da sie einen ersten qualifizierten Hochschulabschluss bereits in ihrem Heimatland in ihrer Muttersprache oder in Deutschland in der Zielsprache erworben haben, ist es ein Ziel dieser Studierenden, die Sprache des eigenen Faches schnell zu erwerben bzw. zu vertiefen. 2. Anforderungen: Dabei müssen sie erkennen, dass wissenschaftliche Normen auch kulturell bedingt sind und sich dies in vielen Aspekten (z.B. Konventionen des Zitierens, Ausführung bestimmter Sprechhandlungen, wie z.B. dem Kritisieren) in wissenschaftlichen Texten sprachlich spiegelt. Die ausländischen Studierenden müssen sich damit eventuell von Vorstellungen lösen, die sie aufgrund ihrer langjährigen Bildungssozialisation im Heimatland erworben haben. 3. Inhalte: Die Bausteine für diese Gruppe knüpfen an den genannten Voraussetzungen durch einen stärker interkulturell ausgerichteten Zugang an. Die Spracharbeit setzt an den bereits vorhandenen fach- und wissenschaftssprachlichen Kenntnissen der Studierenden an (z.B. wissenschaftliche Arbeitstechniken und Normen im Kontrast zur Herkunftskultur, Reflexion und Vertiefung von Schreiberfahrungen und -strategien in der Fremdsprache, Überarbeitung eigener Texte nach wissenschaftlichen und sprachlichen Kriterien, Vertiefung des Fachwortschatzes) und fördert dabei besonders die Entwicklung von Selbstlernstrategien. Ausländische Promovierende: 1. Voraussetzungen: Diese Gruppe der Hochqualifizierten ist sprachlich heterogen zusammengesetzt. Einige ausländische Promovierende haben die üblichen Sprachprüfungen und gegebenenfalls sogar ein Studium in Deutschland absolviert.3 Andere kommen zum Promovieren an eine deutschsprachige Universität, nachdem sie im Heimatland erfolgreich studiert haben. 2. Anforderungen: Für sie gilt, hohe fachliche Anforderungen in einer entsprechend elaborierten sprachlichen Form erfüllen zu müssen. 3 Demgegenüber sind andere Graduierte, z.B. Teilnehmende an internationalen englischsprachigen Graduate Schools oder überwiegend deutschsprachigen Graduiertenkollegs bzw. Forschungsstipendiaten von den Sprachprüfungen befreit. Während des Forschungsaufenthalts werden jedoch auch für diese fach- und wissenschaftssprachliche Kenntnisse wichtig, um relevante deutschsprachige Fachliteratur rezipieren oder aktiv an deutschsprachigen Veranstaltungen (Seminaren, Kolloquien, Vorträgen etc.) teilnehmen zu können. Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 407 3. Inhalte: Das für diese ausgewählte Gruppe erstellte Konzept knüpft hieran an und trainiert die sprachlichen Fertigkeiten und Strategien, die zur erfolgreichen Bewältigung des Promotionsprojekts im jeweiligen Studienfach erforderlich sind, z.B. wissenschaftliche Arbeitstechniken und -normen im interkulturellen Vergleich, Zeitplanung großer Schreibprojekte, Funktion, Form, Aufbau und Wortschatz des Exposés, systematische wissenschaftssprachliche Wortschatzarbeit, insbesondere Methodenwortschatz, Einübung verschiedener wissenschaftlicher Textmuster, Einübung elaborierter sprachlicher Strukturen, Selbstevaluierung, Sprachlernstrategien. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das Fördern von Bachelor- und MasterStudierenden sowie Promovierenden in gemeinsamen Bausteinen meist nicht sinnvoll ist, da sich die Fach- und Methodenkenntnisse der Gruppen ebenso stark unterscheiden wie die Anforderungen, die an sie gestellt werden. Ein weiterer Grund, das gesamte Begleitangebot nach Qualifikationsphasen zu strukturieren, liegt in der Erfahrung begründet, dass sich die Probleme und Fragen zum wissenschaftlichen Arbeiten in der Fremdsprache von Studienanfängern sehr von denen fortgeschrittener Studierender (hier Master-Studierende oder Promovierender) unterscheiden. Vor dem Hintergrund dieser Heterogenität der sprachlichen und wissenschaftlichen Kenntnisse ist die Ausdifferenzierung des Sprachbegleitprogramms nach Statusgruppen erforderlich. Um eine intensive sprachliche Begleitung und Rückmeldung für alle Qualifikationsstufen gewährleisten zu können, ist die Teilnehmerzahl in den Veranstaltungen auf eine angemessene Größe begrenzt. Ratsuchende erhalten eine Analyse des individuellen Sprachlernbedarfs und wählen die für das eigene Profil geeigneten Bausteine. Von obligatorischen Sprachkursen wird abgesehen, da unsere bisherigen Erfahrungen zeigen, dass ein möglichst individualisiertes sprachliches Betreuungssystem die größten Erfolgsaussichten hat. 1.4 Leistungspunkte Die Universität erkennt den zusätzlichen sprachlichen Arbeitsaufwand an, der mit dem Erwerb der Wissenschaftssprache für ausländische Studierende verbunden ist. Im Rahmen der Angebote werden daher Leistungspunkte vergeben, die im individuellen Ergänzungsbereich anrechenbar sind. 1.5 Didaktische Prinzipien Grundsätzlich wird für die ausländischen Studierenden im Rahmen der sprachlichen Betreuungsangebote ein geschützter Raum geschaffen, in dem alle Fragen, die mit der Bewältigung des Studiums zusammenhängen, angstfrei besprochen werden können. Die Inhalte einzelner Bausteine werden nach dem Prinzip der Lehrmethodenvielfalt, einschließlich des Einsatzes digitaler Medien vermittelt und berücksichtigen die verschiedenen Voraussetzungen und das jeweils angestrebte Qualifikationsziel der ausländischen Studierenden. Die verwendeten Materialien sind authentisch. Alle Angebote sind auf den Arbeitsprozess und das jeweilige Produkt (Referat, Masterarbeit, Promo- 408 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich tion etc.) bezogen sowie aufgaben-, anwendungs- und übungsorientiert. Darüber hinaus werden die Kooperation und der Austausch der Studierenden untereinander gefördert. 1.6 Säulen des Sprachbegleitprogramms Das Modell des Bielefelder Sprachbegleitprogramms ruht auf vier Säulen: 1. den fächerübergreifenden Angeboten, 2. den fachspezifischen Angeboten, 3. den individuellen Angeboten und 4. einer Multiplikatorenfortbildung, die im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht weiter dargestellt wird. Die Grafik (Abb. 2) zeigt die Umsetzung des Sprachbegleitprogramms. Abb. 2: Das Bielefelder Sprachbegleitprogramm im Überblick Die erste Säule des Sprachbegleitprogramms, die fächerübergreifenden Angebote, besteht aus einer für alle internationalen Studierenden so genannten offenen Sprechstunde sowie spezifischen Kursen und Workshops für die Zielgruppen Bachelor- und Master-Studierende sowie für Promovierende. Die offene Sprechstunde ist ganzjährig vier Stunden pro Woche geöffnet, so dass internationale Studierende eine konstante Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 409 Anlaufstelle haben, um aktuelle Fragen und Probleme zeitnah klären zu können. In einem ersten Gespräch wird eruiert, worin das genaue Anliegen besteht, ob es sofort gelöst werden kann oder ob eine komplexere Strategie entwickelt werden muss, die z.B. aus dem Besuch eines oder mehrerer Angebote bestehen kann. Insgesamt ist die offene Sprechstunde eine niedrigschwellige gut erreichbare Einrichtung, die den Zugang zu den studienbegleitenden Sprachlern- und Beratungsangeboten erleichtern soll. Die einzelnen Angebote für die Zielgruppen Bachelor, Master und Promovierende werden in Kapitel 2 und 3 kurz vorgestellt. Sämtliche Angebote berücksichtigen die folgenden Unterrichtsformate: In der Regel handelt es sich um ein- und zweitägige Workshops, die zu Zeiten angeboten werden, die sich möglichst nicht mit anderen Studienverpflichtungen überschneiden. D.h. diese Angebote finden in Randstunden, an Wochenenden oder zu Beginn der vorlesungsfreien Zeit statt, damit die hier erworbenen Kenntnisse über den akademischen Arbeits- und Schreibprozess direkt in den anstehenden Klausuren, mündlichen Prüfungen, Hausoder Abschlussarbeiten angewendet werden können. In einer semesterbegleitenden Veranstaltung mit 2 SWS, wird demgegenüber kontinuierlich an der Rezeption und Einübung wissenschaftssprachlicher Handlungen, Lexik und Strukturen gearbeitet. Die zweite Säule, die fachspezifischen Angebote, befinden sich derzeit noch im Aufbau. Weit entwickelt ist bereits ein Fachsprachenangebot für Juristen. In diesem wird das Schreiben juristischer Gutachten in der Fremdsprache Deutsch auf verschiedenen Wegen unterstützt. Eine genauere Beschreibung des Konzeptes und der Didaktisierungen ist in diesem Band bei Langelahn zu finden. Die dritte Säule des Angebots stellt die individuelle Schreibberatung dar (vgl. hierzu auch Büker 2001). Auch wenn sich in Kursen und Workshops vieles thematisieren und üben lässt, stehen die internationalen Studierenden im Anschluss an diese Veranstaltungen vor der Aufgabe, das neu erworbene Wissen in Bezug auf das Schreiben eines spezifischen akademischen Textes umsetzen zu müssen. Fragen, die akademische Arbeits- und Schreibprozesse sowie (wissenschafts-)sprachliche Schwierigkeiten betreffen, werden in der Schreibberatung behandelt. Inhaltliche Fragen werden hierbei nicht thematisiert; allerdings werden Sprechstundengespräche mit Dozent/innen vorbereitet, so dass Studierende gezielt fachwissenschaftlichen Rat einholen können. Die Ratsuchenden kommen in der Regel mit einem unvollständigen Text, der nach verschiedenen Kriterien analysiert wird. Anschließend wird gemeinsam eine Lösungsstrategie entwickelt, deren Umsetzung von der Beraterin anschließend über mehrere Sitzungen begleitet wird. Eine Beratungssitzung dauert dabei in der Regel eine Zeitstunde. Die individuelle Schreibberatung ist somit ein insgesamt sehr zeitaufwändiges Angebot. Allerdings lohnt sich dieser Aufwand unseres Erachtens aus mehreren Gründen: Gut 95% der internationalen Studierenden, die im Jahr 2006 an Einzelberatungen teilnahmen, beendeten die jeweilige Schreibaufgabe mit gutem bis sehr gutem Erfolg und können so, wie es das Ziel des Sprachbegleitprogramms ist, ihre Studien kontinuierlich fortsetzen. Wie Rückmeldungen durch die beratenen Studierenden und Analysen der Schreibberatungen zeigen, verhilft die Einzelberatung den Ratsuchenden zu einem 410 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich Bewusstsein über eigene Stärken und Schwächen. Zudem scheinen sie nach einer Beratung motivierter zu sein, sich mit weiteren Aspekten deutscher Wissenschaftssprache auseinanderzusetzen sowie eigene Strategien zu entwickeln, um vorhandene sprachliche Kenntnisse zu vertiefen. Diese Form der Fehleranalyse und Textrückmeldung unterstützt jedoch nicht nur die Studierenden. Den Schreibberater/innen dient sie ebenfalls als Ressource, Problembereiche der Studierenden tiefergehend kennenzulernen und daran anknüpfend weitere Kursmaterialien bzw. Übungsmöglichkeiten zu entwickeln. Insbesondere die Verknüpfung der Säulen von offener Sprechstunde, Kursangeboten und Einzelberatung schaffen ein umfassendes Angebot für internationale Studierende und Promovierende, um sie beim Verfassen wissenschaftlicher Texte zu unterstützen und ihnen das Entwickeln eigener Lernstrategien zur Verbesserung ihrer wissenschaftssprachlichen Kompetenz zu ermöglichen. Zwei Elemente aus diesem Angebot, der Workshop Strategien zur Mitschrift in Vorlesungen für BA- und MA-Studierende sowie der Workshop Vorbereitung auf die Disputation für internationale Promovierende, werden in den folgenden zwei Kapiteln skizziert. 2. Konzept des Workshops ‘Strategien zur Mitschrift in Vorlesungen’ für internationale BA- und MA-Studierende 2.1 Die Textarten Vorlesung und Mitschrift als Problemfeld für ausländische Studierende Die Vorlesung ist ein an deutschen Universitäten weit verbreiteter Lehr- und Lerndiskurs, dessen Ziel es ist, Sachthemen oder Problemstellungen überblicksartig zu präsentieren, d.h. eine große Fülle an Grund- oder Spezialwissen im fachlichen Zusammenhang zu vermitteln. Dabei weist sie jedoch einige Charakteristika auf, die internationalen Studierenden ihre Rezeption und damit auch das Erstellen von Mitschriften erschweren. So zeigen z.B. die ausgewählten Analysen von „Textsorten und Gesprächstypen im Studium ausländischer Studierender“, die Casper-Hehne (2005a: 251ff.) resümierend vorstellt, dass internationale Studierende nicht nur die produktiven Fertigkeiten (schriftlich und mündlich), sondern bereits die rezeptive Fertigkeit des Hörverstehens, vor allem in Vorlesungen, als problematisch erachten.4 Auch Schlabachs (2000) Zusammenstellung von Erfahrungsberichten finnlandschwedischer Wirtschaftsstudierender über einen Studienaufenthalt in Deutschland zeigt Ähnliches. Erschwert wird die Rezeption von und die Wissensentnahme in Vorlesungen z.B. durch folgende ihrer Merkmale: Die Vorlesung ist zum einen gekennzeichnet durch eine asymmetrische Kommunikationssituation zwischen den Studierenden als Hörern 4 Casper-Hehne bezieht sich auf die Untersuchung des Instituts für Deutsch als Fremdsprache/Transnationale Germanistik der LMU München, die 1999 durchgeführt wurde (Auswertungen in Steets 2001, vgl. auch Ehlich; Steets 2003), auf eine unveröffentlichte Untersuchung von Claußen an der Universität Leipzig 2002 sowie auf eine eigene Studie an der TU Braunschweig, ebenfalls im Jahr 2002 durchgeführt. Unterschiede in den Empfindungen der Studierenden scheinen durch die Fachrichtung bestimmt; so beschreiben besonders Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften das Zuhören und Mitschreiben in Vorlesungen als problematisch. Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 411 einerseits und dem Dozenten andererseits, der in der Regel einen großen Wissensvorsprung aufweist und seinen Zuhörern neue Inhalte vermittelt (vgl. Grütz 1995, 2002). Dabei wird von den Dozenten/innen häufig ein Allgemein- und Weltwissen seitens der Studierenden als Verständigungsgrundlage vorausgesetzt, das internationale Studierende aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes jedoch nicht immer mitbringen können (Brinkschulte in Vorb.). Zum anderen kann aber selbstverständlich auch die Sprache, die in der mündlich realisierten Textart Vorlesung von den Dozent/innen verwendet wird, zu Problemen beim Verständnis führen. Es ist jedoch weniger die gesprochene Fachsprache, die den Studierenden Schwierigkeiten bereitet, als vielmehr die alltägliche Wissenschaftssprache. So konnten z.B. Ehlich (1995, 1999) und Graefen (1997, 1999) zeigen, dass der häufig unterschätzte Bereich der alltäglich gebrauchten und doch wissenschaftlich verwendeten Ausdrücke alles andere als trivial ist, sondern ein beachtenswertes Problempotenzial für Studierende nicht deutscher Herkunft bereit hält. Meist alltagssprachlich werden von den Dozent/innen beispielsweise Kommentare und Bewertungen formuliert. Gerade letztere markieren jedoch die Relevanz einzelner Themenbereiche sowie die Haltung der Dozent/innen diesen Bereichen gegenüber. Schlabach (2000) zeigt anschaulich, dass beispielsweise seinen finnischen Studierenden die für die sinnvolle Wissensentnahme in Vorlesungen wichtigen Bewertungshandlungen oft verborgen bleiben. Ebenfalls häufig alltagswissenschaftlich formuliert sind die zahlreichen Hinweise der Vortragenden auf die eigene Textstruktur5, weshalb sie von den Studierenden meist nicht als solche wahrgenommen werden. Doch gerade diese textorganisierenden Handlungen der Dozent/innen stellen bei einer entsprechenden Bewusstmachung eine Erleichterung des Verständnisses und der strukturierten Wissensentnahme für die Studierenden dar; denn sie verweisen auf den inhaltlichen Aufbau des Vortrags und machen ein systematisches und gut gegliedertes Mitschreiben überhaupt erst möglich (vgl. auch Wilde-Stockmeyer 1990). Bereits 1988 werden von Bohn die hohen Anforderungen angemerkt, die an ausländische Studierende durch das Mitschreiben in Vorlesungen gestellt werden: „In der Verbindung von verstehendem Hören und Schreiben sind sprachrezeptive und sprachproduktive Komponenten aufs engste verflochten, und die Ausführungshandlung selbst bedingt den kombinierten Einsatz von Fähigkeiten des Selektierens und des sprachlichen Verdichtens sowie eine entwickelte Schreibmotorik.“ (Bohn 1988: 361) Die Teilhandlungen Rezipieren, Verstehen, Selektieren und schriftliches Fixieren müssen dabei weitgehend gleichzeitig ablaufen, so Bohn weiter (vgl. auch Neuf-Münkel 1980: 219). Bedenkt man diese komplexe Natur der Aufgabe des Mitschreibens in Vorlesungen, so erscheint es unverständlich, dass sich das Rezipieren von Vorlesungen und gleichzeitige Anfertigen von Mitschriften in studienvorbereitenden und studienbegleitenden Veranstaltungen zum wissenschaftlichen Arbeiten nach wie vor kaum als wesentlicher Unterrichtsbestandteil etabliert zu haben scheint. 5 Mehr über die strukturierenden Textbausteine ist in Grütz (1995) nachzulesen. 412 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich Diesen Umstand und vor allem das Bewusstsein über die besondere Relevanz der Kenntnis von textorganisierenden Handlungen, die in Vorlesungen zur Erleichterung der Wissensentnahme zum Tragen kommen, haben wir zum Anlass genommen, diese Handlungen der Dozent/innen zum Schwerpunkt eines Workshops für internationale Studierende zum Mitschreiben in Vorlesungen an der Universität Bielefeld zu machen, der im Folgenden vorgestellt werden soll. Zu diesem Zweck wird zunächst das gesamte Angebot für Bachelor- und Master-Studierende des Profis-Projekts skizziert, in das der Workshop Strategien zur Mitschrift in Vorlesungen eingebettet ist. Anschließend wird kurz die Zielgruppe dieses Workshops charakterisiert, bevor der Workshop selbst in seinem Verlauf und mit seinem Übungsangebot beschrieben wird. Ein Ausschnitt aus dem Angebot – eine Übungseinheit zum Rezipieren von textorganisierenden Handlungen in authentischen Vorlesungsmitschnitten – wird exemplarisch detaillierter beschrieben. Abschließend folgen evaluierende Hinweise von einzelnen Teilnehmenden, die als Grundlage für eine mögliche Weiterentwicklung des Workshops dienen könnten. 2.2 Überblick über das Gesamtangebot für Bachelor- und Master-Studierende Die folgende Abbildung 3 gibt einen Überblick über das komplette Angebot für BAund MA-Studierende im Rahmen des Profis-Projekts Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende und Promovierende an der Universität Bielefeld. Abb. 3: Gesamtangebot für internationale BA- und MA-Studierende des Profis-Projektes Der Workshop Strategien zur Mitschrift in Vorlesungen wurde als einzige Veranstaltung für beide Zielgruppen gemeinsam durchgeführt (zu den Zielgruppen siehe unten 2.3). Dabei sind alle Workshops vorwiegend prozessorientiert ausgerichtet und fokussieren die notwendigen Arbeitsschritte und deren Besonderheiten in Bezug auf die jeweilige Textart. Das semesterbegleitende Seminar stellt hingegen die wissenschaftliche Sprachverwendung im Deutschen in den Mittelpunkt. Abgerundet wird das Angebot durch die Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 413 ganzjährig durchgeführte Schreibberatung und Textrückmeldung (siehe 1.6). Eine ausführliche Darstellung der einzelnen Bausteine erfolgt in einer Handreichung für Hochschulen (vgl. Brandl; Brinkschulte; Immich in Vorb.) 2.3 Zur Zielgruppe des Workshops Mit dem hier vorgestellten Workshop ist eine sehr heterogene Gruppe von Teilnehmenden angesprochen, die sich sowohl aus Studienanfängern als auch aus fachlich bereits fortgeschrittenen Studierenden zusammensetzt. Letztere sind zum einen BA-Studierende, die bereits ein BA-Studium in ihrem Herkunftsland absolviert haben, oder MA-Studierende, die ebenfalls ein abgeschlossenes Studium vorweisen können, das nicht in Deutschland durchgeführt wurde. Ob Anfänger oder fachlich bereits Fortgeschrittene, alle teilen die Schwierigkeiten mit dem Hörverstehen, besonders in Bezug auf Vorlesungen, was es nach anfänglichen Versuchen der getrennten Durchführung gerechtfertigt erscheinen ließ, die Differenzierung nach BA und MA in diesem Workshop aufzuheben. Diese Schwierigkeiten mit dem Hörverstehen führen unweigerlich auch zu Problemen bei der Wissensentnahme in den besuchten Vorlesungen sowie beim Anfertigen von gut strukturierten Mitschriften. Bedenkt man, dass diese Mitschriften in zahlreichen Fällen als weitere Lerngrundlage für klausurrelevante Lerninhalte dienen, wird schnell deutlich, dass viele internationale Studierende einen besonders großen Unterstützungsbedarf hinsichtlich des Rezipierens von und Mitschreibens in Vorlesungen haben. Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Anforderungen an den Workshop: Die Teilnehmenden müssen zunächst grob die allgemeinen Funktionen und die Strutur von Vorlesungen kennenlernen.6 Ein weiteres Ziel ist die Vermittlung von Strategien zur Vor- und Nachbereitung von Vorlesungen. Da den meisten Teilnehmenden diese Strategien bereits bekannt sind, handelt es sich jedoch vielmehr um eine Bewusstmachung der Strategien und eine Sensibilisierung der Studierenden für die große Relevanz der tatsächlichen Durchführung der Vor- und Nachbereitung, denn an der Umsetzung mangelt es zumeist. Den Schwerpunkt des Workshops bildet allerdings die Sensibilisierung der Studierenden für den Einsatz von sprachlichen Mitteln zur Markierung wichtiger Wissenselemente sowie für die textorganisierenden Handlungen der Dozentinnen und Dozenten, die das Anfertigen von gut strukturierten Mitschriften ermöglichen. 2.4 Verlaufsplan und Lehr-/Lernziele des Workshops Der Workshop besteht aus acht Unterrichtseinheiten à 45 Minuten, deren Durchführung an einem Tag vorgesehen ist. Dies ist nicht zuletzt den geringen zeitlichen Ressourcen der BA- und MA-Studierenden geschuldet, die eine wiederholte Durchführung an mehreren Tagen nahezu unmöglich machen, wie die Erfahrung in unserem Projekt gezeigt hat. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die einzelnen Einheiten. Die 6 Es ist uns dabei bewusst, dass es nicht die Vorlesung schlechthin gibt. Für die Übungszwecke im Rahmen des Workshops erschienen uns eine Vereinfachung und das Ausgehen von einer prototypischen Form von Vorlesungen jedoch als sinnvoll. Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich 414 zeitlichen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen an anderen Universitäten mögen eine Anpassung dieser Konzeption notwendig machen. Noch einmal soll betont werden, dass das übergreifende Ziel dieses Workshops die Vermittlung von Strategien zur Mitschrift ist. Es handelt sich somit weniger um einen Sprachkurs im engeren Sinne. Vielmehr sollen Kenntnisse und Strategien vermittelt werden, die den Anstoß zur eigenständigen Weiterarbeit und zum selbstständigen Ausbau der sprachlichen Kompetenzen geben. UE 1 1 1 1 3 1 Ziele der Unterrichtseinheit Begrüßung, Kennenlernen, Fragenspeicher Überblick über die Funktionen einer Vorlesung gewinnen Sammeln und Bewusstmachen von Strategien zur effizienten Vorbereitung von Vorlesungen Kennenlernen der Handlungsphasen von Vorlesungen Übung zur Bewusstmachung eigener Gewohnheiten, Stärken/Schwächen beim Mitschreiben in Vorlesungen anhand authentischen Videomaterials Analyse von vorgefertigten Mitschriften zu den Vorlesungssequenzen Übungen anhand weiterer Vorlesungssequenzen zur Sensibilisierung für sprachliche (Gliederungs-)Signale der Dozenten Sammeln und Bewusstmachen von Strategien zur effizienten Nachbereitung von Vorlesungen Besprechung offener Fragen aus dem Fragenspeicher Feedback/Evaluation Tab. 1: Überblick über den Verlauf und die Lehr-/Lernziele des Workshops 2.4.1 Unterrichtseinheit 1 Die erste Unterrichtseinheit in allen Workshops, die von uns im Rahmen von Profis für internationale Studierende angeboten werden, ist stets dem gegenseitigen Kennenlernen gewidmet, das für eine angenehme und vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre in dem von uns angestrebten geschützten Raum unerlässlich ist. Das Kennenlernen dient nicht zuletzt auch dazu, die zum Teil isoliert lebenden internationalen Studierenden zu integrieren und möglicherweise einen Anstoß zur Bildung von Arbeitsgemeinschaften o. Ä. über den Workshop hinaus zu geben. Der so genannte Fragenspeicher dient dazu, zum einen der Lehrperson einen Einblick in die Fragen und Erwartungen der Teilnehmenden an den Workshop zu geben. Er wird am Ende jeder Veranstaltung noch einmal aufgegriffen, um festzustellen, welche Fragen eventuell ungeklärt bleiben mussten, jedoch auch, um Ratschläge zur selbstständigen Lösung und Beantwortung der Fragen geben zu können. Zum anderen dient der Fragenspeicher auch dazu, den Studierenden zu zeigen, dass sie mit ihren Fragen und Problemen nicht alleine stehen, sondern dass ihre Sorgen von zahlreichen anderen Studierenden geteilt werden. Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 415 Der Überblick über die Funktionen einer Vorlesung dient als Einstieg in die Thematik gegen Ende der ersten Einheit. Sie werden gemeinsam erarbeitet und durch ein Übersichts-Handout abgesichert. Insgesamt soll deutlich werden, dass Vorlesungen vor allem eine große Fülle von neuen Inhalten vermitteln sollen. Hier werden darüber hinaus Themen, die in einzelnen Seminaren tiefgreifender behandelt werden, in einen übergreifenden Gesamtkontext eingebettet. 2.4.2 Unterrichtseinheit 2 Das Sammeln und Bewusstmachen von Strategien zur Vorbereitung von Vorlesungen dient vor allem der Aktivierung der bereits vorhandenen Ressourcen der Studierenden. Analoges gilt für die Nachbereitung von Vorlesungen, die in der letzten Unterrichtseinheit thematisiert wird. Abgesichert und ggf. ergänzt werden die von den Studierenden selbst gesammelten Strategien wiederum durch entsprechende Übersichts-Handouts. Die grobe Dreiteilung einer Vorlesung in Eröffnungsphase, Phase der Wissensprozessierung und Abschlussphase ist der zweite Themenbereich dieser Unterrichtseinheit, der jedoch in der Regel nur kurz angesprochen werden muss, da den meisten teilnehmenden Studierenden diese Gliederung von Vorlesungen bereits bekannt ist. Visualisiert wird diese Einteilung durch eine Skizze auf einem Handout. 2.4.3 Unterrichtseinheit 3 In der dritten Unterrichtseinheit steht in erster Linie die Bewusstmachung des eigenen bisherigen Vorgehens beim Mitschreiben in Vorlesungen im Vordergrund. Die Teilnehmenden erhalten durch die Analyse der eigenen Mitschriften zu authentischen Vorlesungssequenzen einen bewussten Einblick in die eigenen Gewohnheiten, die anschließend kritisch reflektiert werden. Ein Vergleich der eigenen Mitschriften mit den Mitschriften anderer Teilnehmer/innen bzw. eine Diskussion über potenzielle Vor- und Nachteile des eigenen Vorgehens kann Stärken und Schwächen der eigenen Methode sichtbarer machen. An dieser Stelle sind einige kurze Anmerkungen zu den verwendeten Vorlesungssequenzen angebracht: Die zu Übungszwecken in diesem Workshop eingesetzten Mitschnitte von Vorlesungen wurden eigens für das Profis-Projekt durch das Service Center Medien der Universität Bielefeld angefertigt. Es handelt sich um drei unterschiedliche Mitschnitte: eine Vorlesung aus der Pädagogik, eine aus den Gesundheitswissenschaften und eine aus der Linguistik, jeweils an der Universität Bielefeld gehalten und jeweils mit einem eher einführenden inhaltlichen Charakter. Die Arbeit mit diesem Material ist für das Vorgehen im Workshop unerlässlich, wie im weiteren Verlauf dieser Ausführungen noch deutlich wird. Hierzu bietet sich zusätzlich die Arbeit in einem Multimedialabor an, in dem allen Teilnehmenden ein PC-Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Das Workshopkonzept beruht auf diesen räumlichen Rahmenbedingungen und muss ggf. modifiziert werden.7 7 Auch die Aufnahme weiterer Vorlesungssequenzen aus dem eigenen Kontext bietet sich an, vor allem wenn nicht fakultätsübergreifend, sondern fachintern gearbeitet wird. 416 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich 2.4.4 Unterrichtseinheit 4 Die vierte Unterrichtseinheit verfolgt vorrangig das Ziel, den Teilnehmenden unterschiedliche Techniken zur Mitschrift vorzustellen. Dies erfolgt anhand eigens angefertigter Mitschriftenmuster, die auf die verschiedenen eingesetzten Mittel hin untersucht werden sollen. Diese Beispielmitschriften dienen jedoch nur als Ideenpool für die Studierenden, denn ein weiteres wichtiges Ziel dieser Einheit ist es, den Teilnehmenden bewusst zu machen, dass Mitschreibetechniken individuell verschieden sein können und durchaus auch individuell angepasst sein sollen.8 2.4.5 Unterrichtseinheiten 5, 6, 7 Diese drei Einheiten wurden zu einer längeren Einheit zusammengefasst, da diese Phase den Schwerpunkt des Workshops darstellt. Hauptsächlich werden hier Hörverstehensübungen anhand der Vorlesungsmitschnitte durchgeführt. Diese Phase soll im nächsten Kapitel exemplarisch detaillierter beschrieben werden und wird hier deshalb zunächst ausgespart. 2.4.6 Unterrichtseinheit 8 Auf die Bewusstmachung der Strategien zur Nachbereitung wurde bereits unter 2.3 oben hingewiesen. Wichtig ist hierbei herauszustellen, dass eine gründliche und kontinuierliche Nachbereitung, insbesondere von klausurrelevanten Vorlesungen unabdinglich ist, gerade wenn man in einer Fremdsprache studiert. Das erneute Aufgreifen des Fragenspeichers wurde ebenfalls bereits unter 2.4.1 oben erläutert. Eine Feedback- und Evaluationsrunde schließt den Workshop ab. Einige wenige Beispiele werden am Ende dieser Ausführungen präsentiert (siehe 2.6). 2.5 Ein Ausschnitt aus dem Workshop: Sprachliche Mittel zur Markierung wichtiger Elemente und textorganisierende Handlungen in authentischen Vorlesungsmitschnitten auffinden Bei den im Folgenden beschriebenen Einheiten handelt es sich um die schwerpunktmäßige Phase der Veranstaltung, in der die Teilnehmenden vorwiegend Hörverstehensübungen durchführen. Das Ziel bei diesen Übungen ist es, die sprachlichen Mittel, die die Dozent/innen verwenden, um wichtige Elemente in ihrem Vortrag zu markieren, sowie deren textorgansierende Handlungen aufzufinden und sich die Verwendung dieser sprachlichen Mittel bewusst zu machen. Die Studierenden haben in dieser Phase einen eigenen PC-Arbeitsplatz zur Verfügung. Dadurch kann jede/r Teilnehmer/in die gekürzten Vorlesungsmitschnitte so bearbeiten, wie es dem eigenen Tempo entspricht. Die Wahl der jeweiligen Vorlesung bleibt dabei den Teilnehmenden selbst überlassen, je nach inhaltlichem Interesse (vgl. 2.4.3). 8 Dies mag trivial klingen, ist es aber erfahrungsgemäß nicht. Einige Teilnehmende erwarteten von der Dozentin eine Liste mit vermeintlich obligatorischen Abkürzungen. Hier musste zunächst Aufklärungsarbeit geleistet werden. Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 417 Die Aufgabenstellung in dieser Phase ist bewusst offen gehalten. Die Studierenden sollen vor allem für die sprachlichen Handlungen der Dozent/innen sensibilisiert werden, die ihnen das strukturierte Mitschreiben in Vorlesungen erleichtern können. Zu diesem Zweck wird ihnen viel Platz für die eigenständige Arbeit mit den Vorlesungsmitschnitten eingeräumt. In einem ersten Durchgang der Arbeit mit den Filmsequenzen sollen vorerst keine Mitschriften angefertigt werden. Die Teilnehmenden erhalten hingegen folgende Aufgabe: Sehen Sie sich den Ausschnitt zunächst an, ohne eine Mitschrift anzufertigen. Achten Sie ausschließlich auf die sprachlichen Handlungen der Dozentin/des Dozenten, die Ihnen dabei behilflich sein können, die Struktur der Vorlesung nachzuvollziehen oder die Relevanz bestimmter Aussagen einzuschätzen. Halten Sie ausschließlich diese sprachlichen Mittel schriftlich fest.9 Erst in einem zweiten Durchgang mit einer weiteren Vorlesungssequenz soll darüber hinaus eine Mitschrift angefertigt werden. Zugleich sollen die Teilnehmenden jedoch bei jedem ihrer Strukturierungsschritte festhalten, welche sprachliche Handlung des Dozenten/der Dozentin sie zu dieser Form der Strukturierung in der Mitschrift veranlasst hat. Diese Form der Übung ist jedoch nur dadurch durchführbar, dass die Studierenden die Möglichkeit zur eigenständigen Arbeit am PC haben, so dass ein Vor- und Zurückspulen je nach Bedarf möglich ist. Im Anhang zum vorliegenden Artikel ist eine (noch unvollständige) Liste der sprachlichen Handlungen zu finden, die die Studierenden bereits aus den Filmen herausgefiltert haben. Den Teilnehmenden wird diese Liste als Handout im Nachhinein via Email zugesandt; sie dient als Ansporn für die eigene Weiterarbeit in einzelnen Vorlesungen zur Erweiterung des Wortschatzes durch entsprechende Redemittel der Lehrenden. 2.6 Evaluation des Workshops durch die Teilnehmenden Einige repräsentative Feedbacks der Teilnehmenden sollen abschließend nicht vorenthalten werden. Hilfreich fanden die Teilnehmenden z.B. Folgendes: „‘Mitschreiben in Vorlesungen’ ist eine alltägliche Sache und jeder hat eigene Strategien. Trotzdem ist es immer noch chaotisch. Und das zu systematisieren und darüber zu sprechen und Erfahrungen auszutauschen ist eine gute Sache.“ „Es wurden die Gliederungssignale genannt, auf die man achten soll. Die praktischen Aufgaben (Versuch der Mitschrift am Anfang lassen mir erkennen welche Fehler ich mache und worauf ich verzichten muss.) finde ich sehr gut und hilfreich.“ (aus den Evaluationsbögen der Teilnehmenden) Es wurden jedoch auch Anregungen für eine zukünftige inhaltliche Gestaltung des Workshops gegeben: 9 In der vorherigen Unterrichtseinheit, in der die Mustermitschriften analysiert wurden, wurden bereits Vermutungen dazu angestellt, wie die Strukturierung dieser Mitschriften zustande kommt. Die Teilnehmenden werden so auf die sprachlichen Handlungen der Dozent/innen aufmerksam und können die sprachlichen Mittel auf dieser Grundlage gezielter auffinden.. 418 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich „Vielleicht statt der gezeigten Vorlesung eine schwierigere Vorlesung → die ohne Folien oder so was. [oder der Dozent wie ein Schlafmittel]“ (aus den Evaluationsbögen eines Teilnehmenden) Dieses etwas humorvolle Zitat kann stellvertretend für den Wunsch zahlreicher Teilnehmer/innen gesehen werden, auch anspruchsvollere Vorlesungsbeispiele als die drei von uns mitgeschnittenen einzusetzen. Bei einer Adaption dieses Workshopkonzepts an die eigenen Gegebenheiten sollte dies eventuell berücksichtigt werden. 3. Konzept des Workshops ‛Vorbereitung auf die Disputation’ für internationale Promovierende 3.1 Überblick über das Gesamtangebot für internationale Promovierende Der Workshop Vorbereitung auf die Disputation ist ein Bestandteil des Bielefelder Sprachbegleitprogramms für internationale Studierende und Promovierende, das in Abbildung 4 dargestellt ist. Bis auf das Begleitseminar für Promovierende, das zwei SWS umfasst, handelt es sich bei den Veranstaltungen um Workshops mit unterschiedlichem Stundenvolumen, die je nach zeitlichen Ressourcen der Teilnehmenden an mehreren Abenden oder in Kompaktveranstaltungen angeboten wurden. Alle Kurse sind auf internationale Promovierende ausgerichtet, die auf Deutsch promovieren und bieten ein vorwiegend prozessorientiertes Vorgehen, so dass die Teilnehmenden einen Einblick in Arbeitsschritte beim wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben in der Fremdsprache Deutsch erhalten und diese auf ihre Dissertationsprojekte übertragen können. Abb. 4: Überblick über das Sprachbegleitprogramm für internationale Promovierende Das Angebot wird an dieser Stelle nur in einem kurzen Überblick vorgestellt, eine ausführliche Darstellung erfolgt in einer Handreichung für deutsche Hochschulen (vgl. Brandl/Brinkschulte/Immich in Vorb.). Der Workshop zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben im interkulturellen Vergleich bietet den neu immatrikulierten Promovierenden einen ersten Überblick über das wissenschaftliche Arbeiten und Schreiben an einer deutschen Hochschule und eröffnet Gelegenheiten, eigene Erfahrungen im wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben, z.B. von den Heimatuniversitäten, einzubringen Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 419 und ggf. zu kontrastieren. Das Begleitseminar für internationale Promovierende fokussiert zusätzlich wissenschaftskulturelle Aspekte, um die Teilnehmenden bei der Integration in das deutschsprachige Universitätsleben zu unterstützen. Der Workshop zum Schreiben von Exposés bietet internationalen Promovierenden, die am Anfang ihres Promotionsprojekts stehen, eine Möglichkeit, diese Textart in ihrer Struktur, ihrer Funktion und der sprachlichen Realisierung kennenzulernen und auf das eigene Projekt anzuwenden. Die Schreibwerkstatt zur Wissenschaftssprache ermöglicht den Teilnehmenden eine reflektierte Auseinandersetzung mit der deutschen Wissenschaftssprache und ihren funktionalen Einsatzmöglichkeiten. Gemeinsam mit der Vorbereitung auf die Disputation fokussiert der Workshop Wissenschaftliche Vorträge halten nicht allein schriftlich fixierte Textarten, sondern setzt sich mit der mündlichen Präsentation und Diskussion wissenschaftlicher Erkenntnisse auseinander. Das vollständige Sprachkursangebot ist verzahnt mit einem Angebot individueller Schreibberatung und offenen Sprechstunden (vgl. 1.6). 3.2 Die Disputation als Gegenstand des DaF-Unterrichts Die Disputation als mündliche Abschlussprüfung im Promotionsverfahren ist an der Universität Bielefeld in den Promotionsordnungen aller Fachrichtungen verankert. Da das Rigorosum als die andere Form der mündlichen Abschlussprüfung im Promotionsverfahren an der Universität Bielefeld nicht vertreten ist, wird in dem Workshop nur die Disputation thematisiert. Unter linguistischen Gesichtspunkten ist die Disputation als direkte, asymmetrische Kommunikationskonstellation einzuordnen, die innerhalb der Institution Hochschule eine Prüfungsleistung zur Erlangung des Doktorgrads darstellt. Insofern unterliegt sie spezifischen institutionellen Kommunikationsformen und -bedingungen (Ehlich; Rehbein 1994). Meer (1998a) untersucht auf gesprächsanalytischer Basis Magisterabschlussprüfungen muttersprachlicher Studierender diverser geisteswissenschaftlicher Studiengänge. Ihre Ergebnisse kombiniert sie mit Foucaults philosophischen und diskursanalytischen Abhandlungen. Anhand ihrer empirischen Analysen kann sie bislang weit verbreitete Analogieschlüsse zum kommunikativen Verhalten von Prüflingen für Magisterprüfungen an der Hochschule differenziert darlegen (Meer 2000: 3ff). Im Unterschied zu anderen Untersuchungen zu asymmetrischen Kommunikationskonstellationen hebt Meer hervor, dass eine Redepflicht bei den rangniederen Prüflingen liegt, die durch ihre kommunikativen Handlungen „ihr wissenschaftliches Wissen in den Mittelpunkt (.) stellen und sich damit bewertbar (.) machen“ (Meer 2000: 6; Hervorhebungen im Original). Den Prüfenden fällt dementsprechend die kommunikative Aufgabe zu, den Prüflingen Möglichkeiten und Anreize zu bieten, Redeanteile zu übernehmen (ebd.). Im Anschluss an ihre Analysen entwickelt sie hochschuldidaktische Vorschläge für Prüfende und Prüflinge, um ihnen Anregungen für ein kompetentes Handeln in der mündlichen Prüfungssituation zu bieten (Meer 1998b, 1999, 2000: 14ff). Ebenfalls in Form hochschuldidaktischer Empfehlungen für prüfende Hochschullehrende geht Bauer (2002) auf mündliche und schriftliche Prüfungen mit ausländischen Studierenden ein. Als Schwierigkeiten ausländischer Studierender in Prüfungen benennt er vor allem die 420 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich Kulturspezifik und sprachlichen Anforderungen von Prüfungen, denen ausländische Prüflinge nicht unbedingt gewachsen seien. Allerdings beschränken sich seine Empfehlungen für Hochschuldozenten im Wesentlichen darauf, dass Lehrende ihren Prüflingen das Vorgehen in Prüfungen transparent machen und die ausländischen Studierenden in einer von ihnen beherrschten Sprache schreiben bzw. reden sollten sowie die Prüfenden sensibel auf andere Kulturen reagieren sollten. Somit bietet er Hochschullehrenden, die sich bislang nicht mit der besonderen Situation ausländischer Studierender beschäftigt haben, einen ersten Einblick in die Thematik. Derzeit existieren unseres Wissens nach keine empirischen Untersuchungen, die die Prüfungsform der Disputation zum Untersuchungsgegenstand haben und sich aus linguistischer oder fremdsprachendidaktischer Perspektive mit dieser mündlichen Prüfungsform auseinandersetzen. Insofern fehlt es noch an wissenschaftlichen Erkenntnissen, um Materialien für einen Workshop zur Disputation fundiert erarbeiten zu können. Um diesem Problem zu begegnen, wurden neben den kurz vorgestellten Erkenntnissen von Meer zu muttersprachlichen mündlichen Magisterprüfungen allgemeine Erkenntnisse zur mündlichen Sprachproduktion in der Fremdsprache Deutsch sowie aus Ratgebern für Promovierende herangezogen (z.B. Knigge-Illner 2002). Allerdings ergab die Zusammenstellung noch keine hinreichenden Ergebnisse für die Materialentwicklung des Workshops, weshalb 23 Bielefelder Professor/innen aus unterschiedlichen Fachrichtungen zum Thema Vorbereitung auf und Erwartungshaltungen bei Disputationen interviewt wurden, um die spezifische Situation an der Universität Bielefeld näher zu bestimmen. Die Ergebnisse der Interviews flossen wesentlich in die Materialaufbereitung ein, um der Zielgruppe der internationalen Promovierenden eine möglichst umfassende Vorbereitung auf die Disputation zu bieten. 3.3 Zur Zielgruppe der internationalen Promovierenden Die internationalen Promovierenden, die an der Universität Bielefeld auf Deutsch promovieren, setzen sich entweder als so genannte freie Promovierende mit ihrem Promotionsthema auseinander oder sind in einen Promotionsstudiengang innerhalb eines Graduiertenkollegs immatrikuliert. Insofern haben sie bereits ihre deutschen Sprachkenntnisse in Form einer Hochschulzugangsberechtigung nachgewiesen und im Verlauf der Arbeit an den Forschungsprojekten ihre Kenntnisse in der alltäglichen Wissenschaftssprache Deutsch erweitert und fachspezifisch differenziert. Allerdings erfolgt durch die Arbeit an dem Dissertationsprojekt eine vornehmlich schriftliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsthema, die zum Teil durch wissenschaftliche Vorträge und Diskussionen (z.B. Doktorandenkolloquium, Fachtagungen) um eine mündliche Auseinandersetzung ergänzt wird. Daher kann bei diesen Promovierenden davon ausgegangen werden, dass sie eine größere schriftsprachliche Kompetenz im Darlegen wissenschaftlicher Zusammenhänge auf Deutsch besitzen, während sie im Mündlichen Unsicherheiten dabei aufweisen, wissenschaftssprachlich und in der Diskurskonstellation angemessen aufzutreten. Zudem zeichnet sich die Zielgruppe durch eine starke Belastung aus, da sie in der Regel in einen wissenschaftlichen Kontext eingebunden sind (z.B. wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 421 an einem Institut oder in einem Forschungsprojekt) und der eigenständigen Forschung am Dissertationsprojekt in der Regel sehr zielstrebig und ehrgeizig nachgehen. Aus diesen Voraussetzungen resultieren individuelle Ansprüche, die die interessierten Promovierenden an den Workshop stellen, der sich sowohl auf die organisatorische Realisierung (z.B. Zeit, Umfang) als auch auf die Schwerpunktsetzung von Inhalten bezieht. Um zu gewährleisten, dass die Teilnehmenden möglichst genaue Vorstellungen über die organisatorischen Rahmenbedingungen (z.B. Termin der Prüfung) und die inhaltliche Ausgestaltung der Prüfung (z.B. Themen) während des Workshops besitzen, um sich mit ihren Fragen und Bedürfnissen einbringen zu können, werden mit diesem Workshop internationale Promovierende angesprochen, die sich am Ende ihres Dissertationsprojekts und somit kurz vor der Abgabe befinden bzw. ihre Arbeit bereits eingereicht haben. 3.4 Verlaufsplan und Lehr-/Lernziele des Workshops Der Workshop ist auf einen Umfang von zehn Unterrichtsstunden mit je 45 Minuten ausgerichtet. Aufgrund der beschriebenen Zielgruppe wurde der Workshop so konzipiert, dass er in mehreren Abendveranstaltungen durchgeführt werden kann und die folgenden Lehr-/Lernziele berücksichtigt: • Vorstellung der Prüfungsform Disputation, • Eröffnung eines Spektrums von Anforderungen und Beurteilungskriterien, • Entwicklung von Vorstellungen über eine effiziente Vorbereitung, • Kennenlernen, vertiefen und üben wissenschaftssprachlicher Realisierungsformen in der Disputation (mündlich und schriftlich). UE Themen Aufgaben & Materialien Vorbesprechung (1-2 Wochen vor dem Promotionsordnungen der Teilnehmenden 2 Workshop): gegenseitiges KennenlerFragenspeicher nen; Bedürfnisermittlung Arbeitsblatt: Typischer Ablauf einer Dispu1 Typischer Ablauf einer Disputation tation Anforderungen an Promovierende in Arbeitsblatt: Erwartungshaltung von Profes1 der Disputation sor/innen Arbeitsblatt: Vorbereitung auf eine Dispu1 Vorbereitung auf eine Disputation tation Arbeitsblatt: Beispiele für Thesen, Erläute2 Thesen formulieren rungen der Beispielthesen Arbeitsblatt: Redemittel, Beobachtungsauf2 Simulation & Feedback gaben, Regeln zum Geben von Feedback 1 Evaluation & Abschluss Evaluationsbogen Tab. 2: Verlaufsplan des Workshops Vorbereitung auf die Disputation Die Lehr-/Lernziele werden in dem geplanten Verlauf umgesetzt (vgl. Tab. 2). Dies bedeutet für die Teilnehmenden, dass sie während des Workshops die Prüfung Disputation innerhalb ihrer institutionellen Verankerung kennenlernen und eine 422 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich Vorstellung über die an sie gestellten Anforderungen entwickeln, so dass sie zum einen ihre Vorbereitungen realistisch einschätzen und zum anderen ein Bewusstsein über mögliche Unterstützungen, z.B. in Form von Sprechstundengesprächen, aufbauen können. Durch eine intensive Auseinandersetzung mit Diskursstrategien, allgemeinsprachlichen und alltäglichen wissenschaftssprachlichen Ausdrücken können die Teilnehmenden ihre Kenntnisse über ein angemessenes interaktionelles Verhalten während der Disputation ausbauen bzw. vertiefen und in einem Rollenspiel anwenden. Dieses wird mithilfe von Beobachtungsaufgaben in einer sich anschließenden Besprechung reflektiert. Da Promotionsordnungen der Universität Bielefeld eine wissenschaftliche Diskussion auf der Grundlage eingereichter Thesen vorsehen, sind der Aufbau, die Funktion und die sprachliche Realisierung wissenschaftlicher Thesen ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Workshops. Diese Unterrichtseinheiten werden exemplarisch für das Vorgehen im gesamten Workshop im Folgenden detailliert vorgestellt. 3.5 Ein Ausschnitt aus dem Workshop: Wissenschaftliche Thesen analysieren Das Thema wissenschaftliche Thesen formulieren ist in dem Workshop mit einem Umfang von zwei Unterrichtseinheiten angesetzt und verfolgt die Lehr-/Lernziele, • die Funktionalität und sprachliche Gestaltung wissenschaftlicher Thesen sowie • das wissenschaftssprachlich angemessene Formulieren von Thesen kennenzulernen, um es auf das Formulieren eigener Thesen übertragen zu können. Damit diese Lehr-/Lernziele eingelöst werden können, werden zunächst Beispiel-Thesen im Hinblick auf ihre Lesart und sprachliche Gestaltung analysiert. Diese Thesen, die in einem Ausschnitt in Abbildung 5 abgedruckt sind, behandeln die kontroverse Diskussion um die Rolle der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache. Internationale Promovierende, die in der Zielsprache Deutsch ihre Dissertation anfertigen, haben sich zum Teil bereits aktiv mit dieser Diskussion auseinandergesetzt, weil sie sich bewusst für die Wahl der deutschen Sprache in ihrer Dissertation entschieden haben, oder sie können sich unproblematisch in das Thema einfinden, da sie in der Regel Englisch als internationaler Wissenschaftssprache auch in ihren Forschungsgebieten begegnet sind. Zudem sind die ausgewählten Thesen so formuliert, dass auch ein Außenstehender die Diskussion schnell erfassen kann. Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 423 Thesen zur deutschen Sprache in der Wissenschaft I. Auf internationaler Ebene hat Englisch eine wichtige Funktion als Kommunikationsmedium. II. Ein ausschließlicher Gebrauch der englischen Sprache innerhalb des deutschen Wissenschaftsbetriebes erschwert den Gedankenaustausch. III. Das Primat einer Einheitssprache im Bereich der Wissenschaft bedeutet geistige Verarmung. IV. Die Flucht in das Englische verhindert die Weiterentwicklung der deutschen Wissenschaftssprache. V. Die Preisgabe der Landessprache führt zur Dissoziation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. (Von Mocikat, Ralph; Hasse, Wolfgang; Dieter, Hermann H.; in: Zabel, Wolfgang (Hg.) (2005) Deutsch als Wissenschaftssprache. Thesen und Kommentare zum Problemkreis ‘Denglisch’. Paderborn: IFB, S.12-17) Abb. 5: Beispiele für wissenschaftliche Thesen Die Teilnehmenden erhalten die Thesen mit der Aufgabe, zunächst eine der Thesen auszuwählen und schriftlich die eigene Lesart anzugeben sowie eine kurze Stellungnahme zu formulieren. Im Anschluss finden sich die Teilnehmenden zu einer Gruppe zusammen, die dieselbe These bearbeitet haben. Jede Gruppe erhält zudem die Erläuterung der Autoren zu den wissenschaftlichen Thesen, die wissenschaftliche Belege enthalten und den Standpunkt der Autoren untermauern. Die Promovierenden stellen sich in den Kleingruppen ihre jeweiligen Lesarten und eigenen Meinungen zur These vor und vergleichen sie mit der Erläuterung der Autoren. Hierdurch wird deutlich, dass die Beispiel-Thesen auf eine kontroverse Diskussion angelegt sind, die zu einer Stellungnahme und einer Auseinandersetzung anregen. Die Ergebnisse der Gruppendiskussionen werden im Plenum vorgestellt, damit alle Teilnehmenden einen Eindruck von den unterschiedlichen inhaltlichen Auseinandersetzungen erhalten. Im Anschluss setzen sich die Teilnehmenden in Partnerarbeit zusammen, um sprachliche Merkmale zu sammeln, die in allen Beispiel-Thesen zu finden sind. Da die Thesen bereits bekannt sind, fällt die Aufmerksamkeitslenkung auf die sprachliche Gestaltung der Thesen leichter. Die Ergebnisse der Partneranalysen werden im Plenum gesammelt. In dem durchgeführten Workshop erarbeiteten die Teilnehmenden die folgenden Ergebnisse zur sprachlichen Gestaltung der Beispiel-Thesen: • Hauptsätze, keine komplexe Syntax, • Gebrauch alltäglicher Wissenschaftssprache; Fachtermini, die auch für Außenstehende verständlich sind, • nachvollziehbarer Gebrauch von Nominalisierungen, • Verwendung wertender, Stellung beziehender Ausdrücke (Verben, Adjektive). • in These V: Aufzeigen zukünftiger Entwicklungen. In einer gemeinsamen Abschlussdiskussion wird die Funktionalität der sprachlichen Mittel erarbeitet, damit sich die Teilnehmer/innen die Wirkung verdeutlichen können, denn im Anschluss sollen sie das Gelernte auf das Formulieren eigener wissenschaft- Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich 424 licher Thesen übertragen. Da mit der Analyse und Diskussion in der Regel zwei Unterrichtseinheiten ausgefüllt sind und zudem für die meisten Promovierenden ein konzentriertes Arbeiten mit den eigenen Unterlagen eher am vertrauten Arbeitsplatz möglich ist, wird das Formulieren eigener wissenschaftlicher Thesen als Hausaufgabe aufgegeben. Diese werden für die anderen Teilnehmenden und die Lehrperson entweder auf einer Lernplattform veröffentlicht oder zugemailt, so dass sie für das nächste Treffen von allen gelesen und mit einem Feedback versehen werden können. Bei dem nächsten Treffen sollte ein Austausch über die Formulierungsarbeit und die Lesarten der Thesen stattfinden, um den Autoren Aufschluss über die Wirkungsweise ihrer Thesen zu geben. 3.6 Evaluation des Workshops durch die Teilnehmenden Eine Evaluation des Workshops am Ende der Veranstaltung durch die Teilnehmenden ergab, dass die internationalen Promovierenden durchweg zufrieden mit den Inhalten und dem Ablauf waren, so dass sie ihre Erwartungen an den Workshop erfüllt sahen. Insbesondere hoben sie hervor, dass sie den „typischen Ablauf einer Disputation mit wichtigen Inhaltspunkten, die beachtet werden sollten“ (aus einem Evaluationsbogen einer Teilnehmerin) kennenlernen sowie in Simulationsübungen das Gelernte anwenden konnten. Allerdings wurde ebenfalls betont, dass für den Workshop doch mehr Zeit eingeplant werden sollte, um den individuellen Bedürfnissen der Lernenden gerecht zu werden: „Mehr Zeit, damit alle Teilnehmer die Möglichkeit haben, eine These vorzustellen und Feedback von den Andren zu bekommen. Nur dabei kann man richtig die Schwierigkeiten merken und die eigenen Stärken und Schwächen“ (aus einem Evaluationsbogen einer Teilnehmerin). Dies sollte – sofern es das zeitliche Budget der internationalen Promovierenden und der Lehrperson ermöglicht – in zukünftigen Workshops berücksichtigt werden. 4. Resümee Zusammenfassend lässt sich für das an der Universität Bielefeld entwickelte und erprobte Sprachbegleitprogramm zur deutschen Wissenschaftssprache für internationale Studierende und Promovierende festhalten, dass studienbegleitende Sprachkurse verzahnt mit Einzelberatungen die Teilnehmenden beim Erwerb der (alltäglichen) Wissenschaftssprache und kulturspezifischer Textarten optimal unterstützen. Das Sprachbegleitprogramm ist auf Lernende mit fortgeschrittenen Deutschkenntnissen ausgerichtet, da die Studierenden für ihre Zulassung zum Studium bereits einen Nachweis ihrer Studierfähigkeit in der deutschen Sprache erbringen mussten. Somit beinhaltet das Angebot des Sprachbegleitprogramms weniger sprachpraktischen Unterricht für DaF als vielmehr eine Vermittlung und Einübung von Selbstlernstrategien für das erfolgreiche und effiziente Studieren an einer kulturfremden Hochschule. Für die Internationalisierungsstrategien der Universitäten ist hervorzuheben, dass mit der Einführung international kompatibler Hochschulabschlüsse die Mobilität von Studierenden erhöht wird. Dies wird dazu führen, dass sich die Zielgruppe der internationalen Studierenden und Promovierenden in Bezug auf die sprachlichen und fachlichen Voraussetzungen zu- Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende 425 nehmend heterogener zusammensetzen wird, was bei der Entwicklung studienbegleitender Angebote berücksichtigt werden sollte. Im Unterschied zu international konkurrierenden Hochschulen im anglo-amerikanischen und europäischen Raum ist studienbegleitende Sprachbetreuung für international mobile Studierende an deutschen Hochschulen bis heute immer noch keine Selbstverständlichkeit, obwohl unumstritten ist, dass sich der Faktor Sprachkompetenz entscheidend auf die Studiendauer und Studienerfolgsquote auswirkt. Kalkulierbarkeit und Planbarkeit des Studienaufenthalts sind für hochqualifizierte international mobile Studierende und Promovierende jedoch wichtige Entscheidungskriterien bei der Wahl des Studienstandorts. Das hier vorgelegte differenzierte Sprachbegleitprogramm trägt dazu bei, diese Betreuungslücke zu schließen. Literatur Althaus, Hans-Joachim (2004): Der TestDaF. In: Deutscher Akademischer Austauschdienst (Hrsg.): Die Internationale Hochschule. Deutsch und Fremdsprachen. Ein Handbuch für Politik und Praxis, Bd. 8. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag, 80-87. Bauer, Ulrich (2002): Das Prüfen ausländischer Studierender. Probleme und Lösungen. In: Neues Handbuch Hochschullehre. H 3.1: 1-29. Bohn, Rainer (1988): Mitschreiben als ein Verfahren wissenschaftlichen Arbeitens – Anforderungen, Ergebnisse und Konsequenzen. In: Deutsch als Fremdsprache 25, 360-365. Börner, Wolfgang (1987): Schreiben im Fremdsprachenunterricht: Überlegungen zu einem Modell. In: Lörscher, Wolfgang; Hüllen, Werner (Hrsg.): Perspectives on language in performance: Studies in linguistics, literary criticism, and language teaching and learning: to honour Werner Hüllen on the occasion of his 60. birthday. 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Rekapitulation in der Eröffnungsphase Wir haben in der letzten Woche ... aufgearbeitet Sie erinnern sich daran, dass wir... Ein Blickpunkt, um den es ging, in der letzten Woche, war einmal ..., aber – auch das haben wir sehr ausführlich in der letzten Woche besprochen - ... Gliederung der Vorlesung Wir machen weiter im Verlaufsplan der Vorlesung... Ich möchte fünf Aspekte heute kurz behandeln... Das ist einmal ..., dann, ganz kurz, ..., dann ..., dann viertens einige Punkte noch einmal benennen..., und dann, abschließend etwas zu(r) ... ausführen, an dem Beispiel des .../von ... Gibt es bis hierher – ich möcht dann zum dritten Punkt kommen - Fragen? Dann gehen wir weiter zum dritten ... 430 Heike Brandl, Melanie Brinkschulte, Stephanie Immich Ausführung der neuen Themen und Inhalte Einführung neuer Wissenselemente Wir haben beispielsweise das ganz gut ausgedrückt in ... Ein anderer/Eine andere ... war/ist ... Jetzt möchte ich eine/ein eher auch ... darstellen. Verknüpfung von Elementen/ Teilthemen bzw. Einbettung in den Gesamtzusammenhang Zeitgleich zu ... Sie merken daran, auch hier ... Darüber haben wir ja schon mehrfach gesprochen, ... Darüber haben wir auch schon an der ein oder anderen Stelle gesprochen, ... Also, ich denke etwa an..., oder..., oder denken Sie an ..., aber auch noch ... In diesem Zusammenhang ... ..., und damit komme ich wieder ein Stück an den Anfang, ... Das wird noch mal sehr schön an ... deutlich/... daran deutlich, dass ... Das wird noch mal sehr schön in/durch ... zum Ausdruck gebracht ... gehört in diesen Kontext Dazu gehörte auch ... Und hier auch wieder ... Und auch diese Themen werden an ... festgemacht. ... gehen in vielerlei Hinsicht eng miteinander zusammen. Pointierung ..., und das ist das Entscheidende, worauf es mir ankommt bei ... ..., ein wichtiges Thema, auch in der ...forschung Zusammenfassung/Erklärung Das ist/sind die ..., die gemeint waren ..., die man zusammenfassen kann, unter dem großen Begriff der/des ... Insgesamt ging es hier um ... Also es war auch ... Also ... Zusammenfassung am Ende der Vorlesung Wir haben damit also, und ich möchte so eine kurze Zusammenfassung machen (und ... auf die nächste Woche verschieben), wir haben damit noch mal sehen können, dass einerseits..., andererseits haben wir sehen können ... Ich nenne nur noch mal ... Ausblick Bevor wir ab der nächsten Sitzung uns dann beschäftigen mit ... In der nächsten Woche wird es ja um ... gehen Aber da machen wir dann in der nächsten Woche weiter. ..., darauf komme ich zum Schluss der Vorlesung, ... Sprachmittlung im interkulturellen Kontext: Mehrsprachigkeit als Chance 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 431-442. Regina Freudenfeld (München) Sprachmittlung im interkulturellen Kontext: Mehrsprachigkeit als Chance für DaF/DaZ-Studierende 1. Großer Bedarf an Sprachmittlung Im Zuge der Reform des Ausländerrechts ist in den letzten Wochen und Monaten der Bedarf an interkulturellen Sprachdienstleistungen in den Vordergrund gerückt: Sprachkundige, die möglichst selbst über einen Migrationshintergrund verfügen, sollen in Behörden, Krankenhäusern, Schulen, in denen die Sprachkenntnisse der Einwanderer nicht ausreichen, übersetzend oder sprachberatend tätig sein. Während in offiziellen Kommunikationssituationen auf die Bereitstellung von Übersetzungen oder ausgebildeten Dolmetschern zurückgegriffen werden kann, sind weite Bereiche alltäglicher interkultureller Kontaktsituationen durch Konstellationen geprägt, die eine adäquate Verständigung vermissen lassen: In der Regel ist die Wahl der Sprache, in der kommuniziert wird, durch die landesübliche Sprache oder durch den institutionellen Rahmen vorgegeben. So wird in einem deutschen Krankenhaus, einer deutschen Behörde üblicherweise Deutsch gesprochen. Fehlen in einer interkulturellen Kontaktsituation Kenntnisse in der Zielsprache oder reichen die Kenntnisse in der Lernersprache nicht aus, so wird häufig auf Personen zurückgegriffen, die mehr oder weniger bilingual sind und ad hoc als „unprofessionelle Dolmetscher“ einspringen. Aufgrund zunehmender Migration ist der Bedarf an derartigen Sprachdienstleistungen bei alltäglichen interkulturellen Kontaktsituationen stark gestiegen; damit sich Ärzte und Patienten nicht mittels Zeichensprache verständlich machen müssen oder „die kroatische Putzfrau die Aufklärung für die anstehende Schrittmacher-OP übernehmen 432 Regina Freudenfeld muss“,1 sind professionelle Beratungsangebote gefordert, die kulturelle Differenzen, Sprach- und Wissensdefizite thematisieren und kompensieren.2 Weder die Ausbildungssituation im Bereich Deutsch als Fremdsprache noch die gegenwärtige „klassische“ Ausbildungssituation für Übersetzer und Dolmetscher können den sprachlichen Anforderungen an interkulturelle Kontaktsituationen auf dem Arbeitsmarkt gerecht werden. Zwar lässt sich im Translationsbereich, insbesondere im technischen Bereich, die Tendenz zur Diversifikation und Ausdifferenzierung des Ausbildungsangebots feststellen - ausgebildete Translationsfachleute arbeiten heute auch als Terminologen, Software-Lokalisierer oder Technische Redakteure - eine Professionalisierung hin zu interkulturellen Praxisfeldern, genauer zur Ausbildung mehrsprachiger kultureller Dolmetscher oder Moderatoren für den dolmetschenden Einsatz in Institutionen, Firmen, Krankenhäusern und Forschungseinrichtungen, ist von den Translationsstudiengängen bislang jedoch kaum in Erwägung gezogen worden. Auf der anderen Seite bieten DaF- und DaZ-bezogene Studiengänge zwar kommunikationsspezifische interkulturelle Inhalte, sie verfügen aber in der Regel nicht über Komponenten, die der Mehrsprachigkeit in interkulturellen Kontaktsituationen Rechnung tragen. Bei allem kulturspezifischen Wissen über die Andersartigkeit von Wert- und Moralvorstellungen, Handlungs- und Denkweisen3 ist die Einbeziehung sprachpraktischer Fragestellungen umso dringlicher, als weite Teile berufsbedingter und/oder institutionalisierter Kommunikation gerade durch das Zusammentreffen verschiedener Sprachen gekennzeichnet sind. Dabei müssen Lehrende und Studierende sich im Klaren darüber sein, dass die Anwendung interkultureller Kompetenzen nicht deckungsgleich mit der Anwendung traditioneller fremdsprachendidaktischer Theorien zum Spracherwerb ist. Denn aus fremdsprachendidaktischer Sicht verlangt berufsbedingte interkulturelle Fremdsprachigkeit weit mehr als nur die Vermittlung von Grammatik und Wortschatz oder den Einsatz von Sprech- und Hörverstehensübungen. So ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass kulturelle Missverständnisse oft nicht (nur) aus sprachlich bedingten Regelverstößen, sondern aus der Dynamik der Sprechsituation, aus den Prozessen erwachsen, die eine interkulturelle Situation mit sich bringt. Daher dürfen Defizite in der Kommunikation nicht bloß als Verletzungen einer sprachlichen Norm aufgefasst und mit Hilfe richtiger Sprechweisen korrigiert werden, sondern sind vielmehr der Frage unterzuordnen, wie die Beteiligten in einer konkreten interkulturellen Problemsituation fremdsprachlich zu agieren und zu reagieren haben. Dieses Lernziel, das eine Herausforderung für die gegenwärtige Fremdsprachendidaktik darstellt,4 schließt nach Liedke; Redder; Schreiber 1 2 3 4 Zitat aus einem im Februar erschienenen Artikel der Süddeutschen Zeitung zur Problematik der Kommunikation zwischen Einwanderern und Ärzten („Mein Kopf ist erkältet“, SZ vom 25.02.07). Ein bereits bestehendes Angebot ist der Dolmetscher-Service des Bayerischen Zentrums für Transkulturelle Medizin e.V. in München, der sich mit Projekten und Initiativen für eine kulturkompetente Sprachvermittlung einsetzt (www.bayzent.de). Diese Ausrichtung interkultureller Praxis ging vor allem von den kulturvergleichenden Arbeiten von Hofstede (1993) und Thomas (1993) aus. Vgl. A. Knapp-Potthoff (1997: 203): „Die Entwicklung interkultureller Kommunikationsfähigkeit ist nichts, wofür jeweils die Einzelphilologien zuständig wären.“ Sprachmittlung im interkulturellen Kontext: Mehrsprachigkeit als Chance 433 (2002: 153 f.) folgende unter diskursanalytischen Aspekten beschriebenen Fertigkeiten ein: • Das Wissen über verbales und nonverbales Handeln, seine Vorstrukturiertheit und Funktionalität; • Das Verfügen über ein Repertoire von sprachlichen Mitteln und das Wissen um ihre spezifischen Zwecke; • Die Fähigkeit, ablaufende Kommunikationsprozesse zu reflektieren, d.h. dieses Wissen auf eine konkrete Handlungssituation übertragen bzw. diese adäquat einschätzen zu können; • Die Fähigkeit, in die Kommunikation aktiv eintreten und einen Diskursverlauf angemessen verändern zu können (Prävention oder Reparatur); sowie • Die Fähigkeit, verstehenssichernde Verfahren handhaben zu können, gegebenenfalls aber auch Nichtverstehen zuzulassen. Im Folgenden sollen zwei DaF- bzw. DaZ-relevante Ausbildungskonzepte, die auf die Mehrsprachigkeit in interkulturellen Kontaktsituationen vorbereiten, vorgestellt werden. 2. Ein Zusatzangebot zur Fremdsprachenkorrespondentenprüfung: Äquivalenz5 Seit ca. 3 Jahren wird am Sprachen & Dolmetscher Institut München Studierenden mit den Muttersprachen Polnisch, Ungarisch, Kroatisch, Rumänisch und Bulgarisch die Möglichkeit gegeben, die staatliche Prüfung zum Fremdsprachenkorrespondenten auch auf die Muttersprache zu beziehen (Äquivalenzprüfung). Das Angebot beinhaltet Fachübersetzungen und Korrespondenzvorgänge (schriftlich) sowie Übungen im Verhandlungsdolmetschen (mündlich). Gerade die Einbeziehung der in Deutschland verbreiteten Minderheitensprachen erlaubt es den mehr oder weniger zweisprachig aufgewachsenen Studierenden, die Erstsprache, die sie während ihrer Schulzeit vernachlässigt haben, auf berufliche Kontexte anzuwenden und den professionellen Umgang mit der eigenen Sprache zu trainieren. Bei dem in der Muttersprache angebotenen Unterricht werden folgende Fächer unterrichtet: • Fachpraktische Übersetzung aus dem Bereich Wirtschaft in die Äquivalenzsprache (= Muttersprache) • Fachkunde Wirtschaft • Handelskorrespondenz • Gesprächsdolmetschen Die Handelskorrespondenz umfasst eine Übersetzung eines Geschäftsbriefes aus der Äquivalenzsprache ins Deutsche und eine Beantwortung des Briefes in der Äquivalenzsprache nach deutschen Stichworten, bereitet also auf authentische Situationen im Bereich der Unternehmenskommunikation vor. Ebenso simuliert das Gesprächsdol5 www.sdi-muenchen.de/ausbildung/bfs/informationen/aequivalenz/. Die Verfasserin dankt Birgid Schlichting für ihre unterstützenden Ausführungen zum Ausbildungsangebot. 434 Regina Freudenfeld metschen möglichst authentische Situationen, wie sie in einem Unternehmen bzw. in der Wirtschaft vorkommen, z.B. aus den Bereichen Touristik, Messe, Kooperationen oder Abwicklung von Import-/Exportgeschäften. Die aus der Unterrichtspraxis gewonnenen Erfahrungen haben gezeigt, dass die betreffenden Studierenden in ihrer Aufgabe, sprachmittelnde Funktionen in ihrer Muttersprache zu übernehmen, nicht nur neues Sprachbewusstsein, sondern auch neues Selbstbewusstsein aufgebaut haben. Standen viele ihrer Erstsprache zunächst als „stigmatisierter Minderheitensprache“ ablehnend gegenüber, so entwickelten sie dank ihrer Dolmetschkompetenz ein ausgeprägtes Kommunikationsbewusstsein und erleben ihre Anerkennung als zweisprachige Kulturvermittler durchweg positiv. 3. Der Masterstudiengang Interkulturelle Moderation und Mehrsprachige Kommunikation Die positiven Erfahrungen, die der Einsatz der Muttersprache für angehende Fremdsprachenkorrespondenten mit sich bringt, sind auch richtungsweisend für eine zweite berufsbezogene Ausrichtung, die im Rahmen des Masterstudiengangs „Interkulturelle Moderation und Mehrsprachige Kommunikation“ seit Oktober 2007 an der Hochschule für Angewandte Sprachen/Sprachen & Dolmetscher Institut München angeboten wird.6 Dabei wird mit Blick auf die fremdsprachliche Kommunikation von den Berufs- und Praxisfeldern ausgegangen, in denen sich sprachlich bedingte interkulturelle Probleme manifestieren. Hinsichtlich seiner didaktisch-methodischen Ausrichtung profitiert der Masterstudiengang „Interkulturelle Moderation und Mehrsprachige Kommunikation“ von der langjährigen institutsinternen Praxis der Ausbildung im Gesprächs- und Verhandlungsdolmetschen und verfolgt das Ziel, dass zweisprachig aufgewachsene Minderheitensprecher in ihrer Vermittlerrolle bei interkulturellen Konfliktsituationen sowohl übersetzend als auch beratend zum Einsatz kommen können. Dieser Doppelfunktion soll die Bezeichnung „Moderation“ gerecht werden: In ihrer Rolle als Mittler und Vermittler müssen mehrsprachige Moderatoren einerseits Gespräche dolmetschen (sprachmitteln), aber auch gleichzeitig in interkulturellen Kontaktsituationen erklärend, vermittelnd eingreifen (sprachlich vermitteln).7 Gedolmetscht wird in zwei Fremdsprachen, wobei der Einsatz von Englisch obligatorisch ist. Neben dieser Schwerpunktsetzung, die den Absolventen des Studiengangs im Vergleich zu anderen interkulturellen Studiengängen eine Zusatzqualifikation verleiht, werden die Studierenden in mehreren wissenschaftlichen Übungen mit Aufgabenfeldern der empirischen Forschung konfrontiert, mit dem Ziel, interkulturell relevante Kommunikationssituationen und -prozesse mit Hilfe geeigneter Medien konkret zu beobachten und Text- und Gesprächsstrategien zu identifizieren und zu systematisieren. Einblick in das interkulturelle Interaktionsverhalten kann überall dort gewonnen werden, wo alltägliche fachkommunikative Praktiken zwischen Deutschen und Minderhei6 7 Genaueres zum gesamten Studienangebot unter www.sdi-muenchen.de/hochschule/ma/ma-interkulturelle-moderation-und-mehrsprachige-kommunikation/ Die Rolle des Sprachmittlers als ‘nicht-professionellem Dolmetscher in Gesprächssituationen’ wird im Einzelnen beschrieben von Knapp; Potthoff (1985) und Knapp (2003). Sprachmittlung im interkulturellen Kontext: Mehrsprachigkeit als Chance 435 tensprechern stattfinden: an der Schnittstellenkommunikation global agierender Unternehmen, der institutionellen Kommunikation in Schulen, Hochschulen und Behörden sowie der interkulturellen Kommunikation in der Medizin. Für die Vermittlung der Sprachhandlungsmuster, die das Kommunikationsverhalten in den genannten Institutionen prägen, ist es vorteilhaft, dass diese weitgehend zweckgerichtet sind und in ihrer Zielgerichtetheit durch planende Strategien beschrieben werden können. Ein komplexer, in der interkulturellen Fachpraxis weit verbreiteter Sprachhandlungstyp ist das Beratungsgespräch (z.B. Ausländerbehörde). Da dieser Sprachhandlungstyp durch ganz bestimmte sequentiell organisierte Muster wie Frage − Antwort, Vorschlag − Gegenvorschlag usw. gekennzeichnet ist, lässt er sich im Unterricht mit Hilfe von Regieanweisungen problemlos rekonstruieren und − etwa durch Simulationen authentischer Fälle, die auf Video aufgezeichnet werden − in verschiedenen Facetten erproben. Die Gesprächssorte „Beratung“ ist daher besonders geeignet, auf interkulturelle Kontaktsituationen praxisnah vorzubereiten. Im Folgenden soll genauer auf ihre Vermittlung eingegangen werden. 3.1 Sprachberatung Studentische Tutorien als erster Schritt empirischer Aktionsforschung8 Es ist charakteristisch für die Ausbildung zum interkulturellen Moderator, dass das Studienangebot auf den faktischen interkulturellen Beratungsbedarf reagiert und methodisch-didaktisch auf berufsbedingte Beratungssituationen vorbereitet. Dabei sollen die Studierenden als Lernberater fungieren, indem sie Lernprojekte selbstständig vorbereiten und gestalten. In dem dreisemestrigen Ausbildungskonzept werden im 1. Semester zunächst didaktische und psychologische Grundlagen zum Spracherwerb vermittelt, um die Studierenden auf eine erste Sprachberatungstätigkeit vorzubereiten, bei der sie im 2. Semester einzelne Studierende aus anderen Abteilungen der Institution in Form einer Sprachlernberatung unterstützen können.9 Ein für die Entwicklung von Analysefähigkeiten wichtiger Schritt ist, den Studierenden die Gelegenheit zu bieten, eigenständige Bedarfserhebungen durchzuführen. Ausgehend von der Notwendigkeit, dass jeder Beratung eine Bedarfsanalyse vorausgehen muss, sollen die Studierenden Fremdsprachenlerner beim Lernen beobachten, indem sie das Unterrichtsgeschehen begleiten, die Lerner mit Hilfe von Fragebögen oder Interviews zum eigenen Sprachniveau befragen und anschließend ihre Beobachtungen auswerten. Die auf empirischer Basis gewonnenen Einsichten in Sprachstand und Lernverhalten ermöglichen eine individuelle Lernerbetreuung und ergänzen die Portfolioarbeit, bei der viele Lerner mangels Betreuung und Begleitung durch geeignetes Lehrpersonal überfordert sind. Die Ermittlung des Fremdsprachenbedarfs durch Studierende kommt auf diese Weise zweierlei didaktischen Zielsetzungen zugute: Zum einen dient sie den Tutees als Hilfe, 8 9 Dieses Forschungsziel mit ausgeprägter Anwendungsperspektive wurde auf der Berliner Jahrestagung von Claudia Riemer in ihrem Vortrag „DaF/DaZ und empirische Forschung: wechselnde Herausforderungen“ hervorgehoben. Dies ist leicht zu bewerkstelligen, weil Studierende der Hochschule und Schüler der Fachakademie/Berufsfachschule in der genannten Institution unter einem Dach unterrichtet werden. 436 Regina Freudenfeld ihren Sprachstand beurteilen und ihr individuelles Lernverhalten richtig einzuschätzen zu können. Zum anderen vermittelt sie den Tutoren die ersten notwendigen Kompetenzen, um „Aktionsforschung im Kleinen“ zu erproben. Die direkte Rückkoppelung mit dem Lerner dient anschließend der Erstellung von Lernhilfen, die im Rahmen einer schriftlichen Semesterarbeit entwickelt werden sollen. Beratungs- und Trainingsmaßnahmen Die dritte, abschließende Komponente des Ausbildungskonzepts „Interkulturelles Consulting“ betrifft Beratungs- und Trainingsmaßnahmen, die auf die institutionelle Praxis ausgerichtet sind. Die Vorbereitung auf die konkrete Arbeit mit Gesprächsprotokollen und -transkripten besteht in der Einsichtnahme in interkulturelle Behörden- und Schulkommunikation. Da die linguistische Datenerhebung aufwendig zu erstellen ist und von den Studierenden erst erlernt werden muss, ist eine Einführung in ihre Techniken und Methoden unverzichtbar. Der mit der Transkriptionsarbeit verbundene Aufwand lohnt sich, weil die Studierenden auf diese Weise einen fundierten empirischen Zugang zu diskursiven Handlungsstrukturen gewinnen und lernen, interkulturell relevante Kommunikationssituationen und -prozesse und die ihnen zugrundeliegenden Muster und Sprechhandlungen mit Hilfe geeigneter Medien konkret zu beobachten, zu identifizieren und zu systematisieren. Einsicht in die Gesprächssorte Beratung bieten Corpora zum interkulturellen Interaktionsverhalten, wie sie von Liedke; Redder; Scheiter am Gesprächsbeispiel „Ausländerreferat“ erstellt worden sind (2002: 158 ff.). Für Lehr-Lernprozesse umsetzbar sind Corpora aber nur, wenn sie von den Studierenden in eigener Recherchearbeit entwickelt werden. Daher sollen projektbezogene Lehrveranstaltungen die Studierenden zu eigener empirischer Aktionsforschung anregen und ihnen Gelegenheit bieten, eigene gesprächsanalytische Recherchen durchzuführen. Möglichkeiten bieten sich neben den genannten Behördengesprächen insbesondere in institutionellen Kontexten • mit einem hohen Anteil von Minderheitensprechern wie z.B. Schulen, in denen Schüler mit Migrationshintergrund unterrichtet werden, • mit einem hohen Bedarf an berufsbezogener Mehrsprachigkeit wie z.B. in international tätigen Unternehmen. Im Rahmen der Masterarbeit sind von den Studierenden Sprachstands- und Sprachbedarfsrecherchen durchzuführen, auf deren Grundlage ein Lernquellenpool entwickelt werden soll. Ziel ist die individuelle Beratung und Förderung der Lernenden durch geeignete Fördermaßnahmen und Trainingskonzepte. 3.2 Mehrsprachige Moderation Mehrsprachige Moderatoren sind Sprachexperten, die nicht nur übersetzen, sondern interkulturelle Prozesse steuern, kontrollieren und reparieren. In dieser berufspraktischen Ausrichtung kommt ihnen neben sprachmittlerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten die Rolle einer eigenen Gesprächsinstanz zu, die in institutionellen Mehrpersonendiskursen erforderlich, in der klassischen Dolmetschausbildung jedoch nicht vorgesehen ist. Die Sprachmittlung im interkulturellen Kontext: Mehrsprachigkeit als Chance 437 Zuweisung einer eigenen Gesprächsrolle ist insbesondere dann von Vorteil, wenn der Dolmetscher gesprächskoordinierende Funktionen zu übernehmen hat, weil trotz korrekter Übersetzungsleistung unterschiedliche Denk- und Handlungsweisen aufeinander stoßen und Missverständnisse verursachen oder in Institutionen gedolmetscht wird, in denen die Gesprächssituation durch ein großes kulturelles und soziokulturelles Gefälle der Teilnehmer geprägt ist. Die Notwendigkeit, wissens- und kulturbedingte Defizite ausgleichen zu müssen, entsteht besonders bei dem sogenannten Community Interpreting, dem Gemeindedolmetschen in Krankenhäusern, bei Polizei und Verwaltung, wo es gilt, die funktionalen Rollen, welche die Gesprächspartner innehaben (z.B. Experte und Laie in einem Verhandlungsgespräch), zu berücksichtigen. Neben der Aufgabe des Texttransfers fallen dem Dolmetscher dabei folgende Aufgaben zu: „Der Dolmetscher ist (...) nicht nur Sprachmittler, sondern vorübergehend auch direkter Gesprächsteilnehmer, die Rollen müssen ständig neu ausgehandelt werden. Das footing (d.h. die Beteiligungsrolle des Dolmetschers, R.F.) ändert sich zum Beispiel, wenn der Dolmetscher, um eine Äußerung für den Adressaten verständlicher zu machen, im Zieltext eigenverantwortlich Ergänzungen einfügt. Auch Rückfragen zur Klärung nicht verstandener Äußerungsteile oder Reparaturen von Verdolmetschungen, die zu Missverständnissen geführt haben, sind Interventionen des Dolmetschers, die seine Rolle vorübergehend verändern und den Verlauf der Interaktion verändern.“ (Gross-Dinter 2007:116) Bei der Mehrsprachigen Moderation ist das Klären, Reparieren von missverständlichen Verdolmetschungen ausdrücklich erwünscht. Die Einmischung soll so weit gehen, dass der Moderator den Verstehensprozess lenkt und Bedeutungen durch Nachfragen und weitere verständnissichernde Verfahren metakommunikativ erschließt. Dieses dynamische, dialogische Verfahren wird in der interkulturellen Theorie als „Aushandeln von Bedeutung“ beschrieben: Kommunikationswissenschaftliche und linguistische Ansätze richten ihr Augenmerk auf die Interaktions- und Kommunikationsdynamik, d.h. das Prozesshafte, das interkulturellen Kontaktsituationen innewohnt (Müller-Jacquier 1999). Neben der fremdsprachlichen Kompetenz ist es gerade der Anspruch an prozesshaftes handlungsgesteuertes Wissen, das der interkulturelle Moderator anwenden und umsetzen muss. Daher wird ihm in dem genannten Masterstudiengang – neben Gesprächsund Verhandlungstrainings in zwei Fremdsprachen – gesondert Rechnung getragen. Die Regularitäten, die in institutionellen Mehrpersonendiskursen die Gesprächsinstanz eines interkulturellen Moderators kennzeichnen, können wie folgt beschrieben werden: • Der Moderator eröffnet den Hauptdiskurs mit einem ersten Turn. • Er wählt (nach Turnangebot oder Verlangen einzelner Gesprächsteilnehmer) den nächsten Sprecher aus. • Der gewählte Sprecher erhält das Rederecht für einen eigenen Turn oder für den Dialog mit einem weiteren Sprecher. • Im Falle kommunikativer Defizite fällt das Rederecht an den Moderator zurück; dieser fasst das Gesagte zusammen, geht auf mögliche Verständigungsprobleme ein und macht den Gesprächsteilnehmern das Angebot, das Gesagte „auszuhandeln“. Regina Freudenfeld 438 • Wird das Ziel erfolgreicher Verständigung erreicht, kann der Diskurs beendet werden; im Falle kommunikativer Defizite wird der Moderator das Gesagte dolmetschen oder metakommunikative Hilfe leisten. Die Aktivitäten bei der interkulturellen Moderation sind vereinfacht so darzustellen: Mehrsprachige Moderation Diskursstrategie Kooperative Strategien Kompensationsstrategien eingreifen Verständnis sichern Rederecht zuweisen zuhören Rückfragen stellen um Wiederholung bitten zustimmen präzisieren einschränken Formulierungen aufgreifen Vielredner bremsen Begriffe aushandeln Übersetzen Englisch als Lingua F. Schweiger Ansprechen zusammenfassen Lösungsprozess abschließen Abb. 1: Mehrsprachige Moderation Die Rolle des mehrsprachigen Moderators unterscheidet sich von der Diskussionsleitung in einsprachigen Moderationen vor allem durch den verstärkten Einsatz kooperativer und kompensativer Strategien als verständnissichernder Verfahren: Während das Ziel einer Moderation auf den Gesprächsinhalt – der fachlich-inhaltlichen Klärung eines Themas – ausgerichtet ist, sind hier zusätzliche verständniskonstituierende Verfahren notwendig, um den Erfolg der Kommunikation zu gewährleisten. Dem Moderator soll dabei möglichst die Aufgabe zukommen, in das Gespräch einzugreifen, also den Turn selbst zu übernehmen, sobald die Verständigung ins Wanken gerät (eingreifen), ebenso können sich die Gesprächsteilnehmer selbst zu Wort melden und um Klärung inhaltlicher oder sprachlicher Missverständnisse bitten. Des Weiteren ist der Moderator als Kontrollinstanz gefordert: Er hat das Recht, einem Sprecher das Rederecht zu entziehen, wenn dieser zu viel Redezeit in Anspruch nimmt (Vielredner bremsen), inaktiven Teilnehmern soll dagegen explizit ein Turnangebot gemacht werden, auch wenn sie keine Redeabsicht gezeigt haben (Schweiger ansprechen). Schließlich kann der Moderator metakommunikative Hilfe anbieten (Begriffe aushandeln) und, um erfolgreiche Verständigung zu gewährleisten, die Inhalte des Gesprächs kommunikativ behandeln. Dies bedeutet nicht nur, dass Wissensdefizite kompensiert, Vagheiten und Unverständlichkeiten durch Verdolmetschen aufgelöst werden, sondern schließt auch die Bereitschaft mit ein, di- Sprachmittlung im interkulturellen Kontext: Mehrsprachigkeit als Chance 439 vergierende kulturelle Auffassungen zu diskutieren und unterschiedliche Standpunkte zu respektieren. Die anwendungsorientierten Komponenten des Studienangebots im Überblick: Sprachpraktische Module Gesprächs- und Ve r h a n d l u n g s training 1. Fremdsprache 2. Semester Gesprächs- und Ve r h a n d l u n g s training 2. Fremdsprache M e t h o d e n - / AnwendungsWahlpflichtmodul Projektmodule modul Tutoring, Consulting Mehrsprachig e Moderation ProjektManagement 3. Semester Interkulturelles Linguistische Consulting Datenerhebung Interkulturelle Kommunikation: Übungskonferenz Beobachtung und Auswertung Tab. 1: Anwendungsbezogene Studiengangskomponenten 3.2.1 Anwendungsbeispiel Im Folgenden soll an einem Beispiel konkretisiert werden, welche Rolle der mehrsprachige Moderator bei komplexen interkulturellen Kommunikationssituationen einnehmen kann. Wir gehen dabei von einem Mehrpersonendiskurs aus, bei dem ein sprachlich und inhaltlich defizitärer Ausgangstext den Impuls für eine interkulturelle Diskussion liefert. Der Text eines russischsprachigen Studierenden wird den Teilnehmern vorgelegt und in einem gemischtsprachigen Team von DaF-Studenten diskutiert. Der Moderator – ein Student russischer Muttersprache, der mit den Inhalten des Textes bereits vertraut ist – hat die Aufgabe, die Verständnisdefizite nach und nach mit Hilfe von kooperativen und kompensativen Strategien zu beseitigen. Text (Impuls) als Grundlage für das „Aushandeln von Bedeutung“ „Das Denkmal dem gefallen Soldaten in Estland, das 1960 errichtet wurde, wurde über Nacht entfernt und in einen andern Ort außerhalb der Stadt Tallin aufgestellt. Dieser Vorfall rufte – vor allem bei der russischen Bevölkerung in Estland – eine große Empörung mit daraus folgenden Demonstrationen, sogar Toten, hervor. An der Stelle, wo das Denkmal stand, sind im Krieg gefallenen estischen Soldaten begraben. Das Denkmal wurde nach dem Ebenbild eines dort begrabenen estischen Soldaten gemacht. Auch große Empörung in Russland. Präsiden Putin hat dieses Thema bei der Militärparade auf dem Roten Platz am 9. Mai (Siegestag) angesprochen.“ 440 Regina Freudenfeld Der Text behandelt den kulturellen Topos „Kriegerdenkmal“, der in vielen Kulturen ein wichtiges Erinnerungssymbol darstellt. Von dem Vorfall – der Beseitigung einer russischen Statue in Tallin, welche seitens der russischen Bevölkerung Demonstrationen ausgelöst und einen Toten zur Folge hatte − wurde im Mai 2007 auch in deutschen Medien berichtet. Für den Text kennzeichnend ist, dass er wie viele andere interkulturelle Diskurse durch Ambiguitäten geprägt ist. In diesem Fall handelt es sich um Mehrdeutigkeiten, die einerseits dem Medium des Textes entstammen – einem „flüchtigen“ Stegreiftext, der schnell geschrieben wurde und daher Flüchtigkeitsfehler und lernersprachliche Beschränkungen aufweist −, die andererseits aber auch darauf zurückzuführen sind, dass der Text aus russischer Perspektive geschrieben wurde und daher für nichtrussische Leser schwer zu rezipieren ist. Der Moderator hat nun die Aufgabe, die kritische Kommunikationssituation, die durch mehrere, auf verschiedenen Ebenen befindlichen Ambiguitäten geprägt ist, mit Hilfe seines kulturellen und kommunikativen Wissens zu klären. Kulturell ist der Text insofern für einen größeren Adressatenkreis interessant, als er die Wahrnehmungsmuster der kollektiven Erinnerung evoziert: Keine Kultur kommt ohne Gedenkfeiern und Denkmäler, ohne die Identifizierung mit großen Persönlichkeiten aus, so dass der Erinnerungstopos des „gefallenen Soldaten“ im kulturellen Wissen eines multinationalen Teams verankert sein müsste. Damit der Text sprachlich und kulturell der Zielkultur angepasst werden kann, muss der Moderator drei verschiedene Strategien anwenden. Diese sind im Einzelnen - Kompensierend: Der Moderator muss auf sprachlicher wie auf inhaltlicher Ebene Defizite ausgleichen. - Kooperierend: Der Moderator muss möglichst viele interkulturelle Anknüpfungspunkte finden, um angemessene Gesprächsanlässe herzustellen. 1. Strategie: Sprachliche Defizite korrigieren Interessanterweise leistet diese Strategie, bei der der Moderator sprachliche Regelverstöße korrigiert (u.a. „rief auf“ statt „rufte auf“, „estnisch“ statt „estisch“), nur geringes Kompensationspotenzial. Dies zeigt, dass es nicht sprachliche Restriktionen sind, die den interkulturellen Diskurs erschweren, sondern das Missverstehenspotenzial vielmehr auf inhaltlicher Ebene hervorgerufen wird. 2. Strategie: Wissensdefizite ausgleichen Erklärungsbedürftig ist für den Moderator die russische Perspektivierung, aus der der Text formuliert ist. Hier sind – in einem dialogischen Verfahren – je nach dem Vorwissen der Gesprächsteilnehmer eventuell mögliche Missverständnisse oder Wissensdefizite auszuräumen, es ist insbesondere zu verweisen auf: - Tallinn als Hauptstadt von Estland - die Unabhängigkeit Estlands - die Rolle der russischen Minderheit in Estland Sprachmittlung im interkulturellen Kontext: Mehrsprachigkeit als Chance 441 Darüber hinaus muss der Moderator den Vorfall in die jüngsten politischen Geschehnisse Estlands (regierungsfeindliche Demonstrationen) einordnen und den Erinnerungswert diskutieren, den die Beseitigung des Ehrenmals gerade für den russischen Teil der Bevölkerung hat. Damit der Text nicht nur für die kulturkonstrastive Ausrichtung auf zwei Länder – Deutschland und Russland – einsetzbar ist, kann eine kurze Erläuterung zum Konzept der „Erinnerungsorte“ hilfreich sein. Diese Thematik dürfte in einer Gruppe von Masterstudierenden ein interessantes Potenzial für den interkulturellen Landeskundeunterricht bieten. 3. Strategie: Interkulturelle Sprechanlässe bieten Das Konzept der Erinnerungsorte ist – wie populäre Zusammenstellungen französischer und deutscher Historiker gezeigt haben10 – ein geeignetes Mittel, um Geschichte erlebbar zu machen. Da sie als materielle Realität einen „fassbaren“ Kern besitzen, eignen sie sich für die Vermittlung geschichtlicher Themen. Ihr Einsatz im interkulturellen Landeskundeunterricht ist besonders reizvoll, weil die Studierenden lernen können, dass Geschichtsbilder einer Perspektivgebundenheit unterliegen: So evoziert der Erinnerungsort „Stalingrad“ in Deutschland und Russland bekanntlich unterschiedliche Erinnerungen. Analoges gilt für den Verweis auf den 9. Mai im obigen Text, den der Autor mit „Siegestag“ (d.h. dem Sieg über den Faschismus) verbindet: Hier ist vom Moderator eine Anpassung an die deutsche Zielkultur vorzunehmen, die mit dem 8. Mai, dem Tag der Kapitulation, verbunden ist. Die Aktualität der Ereignisse in Estland liefert interessante Vorlagen für die Aufbereitung geschichtlicher und landeskundlicher Themen: Die Studierenden sollen anhand von aktuellen Ereignissen historische Fakten erkennen und sich auf der Grundlage ihres eigenen geschichtlichen Vorwissens damit auseinandersetzen. So bietet der vorliegende Text eine Diskussionsgrundlage dafür, dass die Geschichte einer Nation durch „Verlierer“- oder „Sieger“-Gedächtnisse geprägt sein kann, ein Thema, das wegen seiner Multiperspektivik im interkulturellen Landeskundeunterricht weiter vertieft werden kann. 4. Berufliche Perspektiven für interkulturelle Moderatoren Wenn der Ausbildungsbedarf an interkulturellen Koordinatoren, Beratern, Trainern in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Veränderungen und globaler Entwicklungen auch geboten erscheint, ist mit dem hier beschriebenen Studiengang gleichwohl kein festes Berufsbild verbunden. Berufseinsteiger sollten in jedem Fall ein vorbereitendes Berufspraktikum in einem einschlägigen Bereich absolviert haben, angehende language consultants, die in der Wirtschaft arbeiten wollen, vor einem möglichen auslandsbezogenen Einsatz nicht zurückschrecken. Absolventen mit Migrationshintergrund haben aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität gute Chancen, als qualifizierte Koordinatoren und Berater bei der Umsetzung migrantenfördernder Maßnahmen in verschiedenen Institutionen, etwa innerhalb der Weiterbildung, tätig zu werden. Da sich der Markt und die Nachfrage nach interkulturellen Mittlern und Vermittlern ständig 10 S. die Zusammenstellung deutscher Erinnerungsorte in François; Schulze (2001). Zur Didaktik der Erinnerungsorte vgl. Schmidt; Schmidt (2007). 442 Regina Freudenfeld verändern, sollten Absolventen ihr Wissen flexibel einsetzen und sich den unterschiedlichen Bedingungen anpassen können. Sie sollten aber in jedem Fall den Mehrwert der Mehrsprachigkeit, den der beschriebene Studiengang bietet, als Zusatzqualifikation betrachten und für ihr berufliches Profil nutzen. Literatur François, Etienne; Schulze, Hagen (Hrsg.) (2001): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde., München: Beck. Gross-Dinter, Ursula (2007): Portfoliodidaktik in der Dolmetschausbildung. Ein Projekt für das bilaterale Konsekutivdolmetschen. In: Freudenfeld, Regina; Nord, Britta (Hrsg.): Professionell kommunizieren. Neue Berufsfelder – Neue Vermittlungskonzepte. Hildesheim: Olms. 109-126 (im Erscheinen). Hofstede, Geert (1993): Interkulturelle Zusammenarbeit. Kulturen – Organisationen – Management. Wiesbaden: Gabler. Knapp, Karlfried: Interpersonale und interkulturelle Kommunikation (2003). In: Bergemann, Niels; Sourisseaux, Andreas L.J. (Hrsg.): Interkulturelles Management. Berlin/ Heidelberg: Springer Verlag, 109-126. Knapp, Karlfried; Knapp-Potthoff, Annelie (1985): Sprachmittlertätigkeit in interkultureller Kommunikation. In: Rehbein, Jochen (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation. Tübingen: Narr, 450-463. Knapp-Potthoff, Annelie (1997): Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit als Lernziel. In: Knapp-Potthoff, Annelie; Liedke, Martina (Hrsg.), Aspekte interkulturelle Kommunikationsfähigkeit. München: iudicium, 181-205. Liedke, Martina; Redder, Angelika; Scheiter, Susanne (2002): Interkulturelles Handeln lehren – Ein diskursanalytischer Trainingsansatz. In: Brünner, Gisela / Fiehler, Reinhard; Kindt, Walther (Hrsg.), Angewandte Diskursforschung, Bd. 2: Methoden und Anwendungsbereiche, Radolfzell: Verlag für Gesprächsforschung, 148-179. Müller-Jacquier, Bernd (1999): Interkulturelle Kommunikation und Fremdsprachendidaktik. Studienbrief Kulturwissenschaft. Koblenz: Universität Koblenz-Landau (Fernstudium Fremdsprachen in Grund- und Hauptschulen). Schmidt, Sabine; Schmidt, Karin (2007): Erinnerungsorte – Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht. In: Info DaF 34, 4, 418-427. Sprachen & Dolmetscher Institut München (2007): www.sdi-muenchen.de/ausbildung/ bfs/informationen/aequivalenz. Sprachen & Dolmetscher Institut München (2007): www.sdi-muenchen.de/hochschule/ma/ma-interkulturelle-moderation-und-mehrsprachige-kommunikation/ Thomas, Alexander (1993): Kulturvergleichende Psychologie. Eine Einführung. Göttingen: Hogrefe. VIRTEX – Lehr- und Lernmaterielien für den Fremdsprachenunterricht 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 443-452. Sandra Ballweg (Marburg/Darmstadt) VIRTEX – Lehr- und Lernmaterialien für den Fachsprachenunterricht in Hotel und Gastronomie 1. Fachsprachenunterricht für Hotel und Gastronomie 1.1 Herausforderungen und Schwierigkeiten Eine Tätigkeit im Bereich Hotel und Gastronomie stellt in sprachlicher Hinsicht hohe Anforderungen an die Beschäftigten. Schon in der Muttersprache ist es nicht immer einfach, die richtigen Worte zu finden, wenn ein Gast sich beschwert oder man ihn bitten muss, etwas zu unterlassen. In der Fremdsprache ist es ungleich schwieriger. Dazu kommen kulturelle Unterschiede im Bereich der Höflichkeit. Wie viel Distanziertheit ist angemessen? Und wie drückt man sie adäquat aus? In den meisten Ausbildungen und Studiengängen im Bereich Hotel und Gastronomie wird Englisch als die erste Fremdsprache unterrichtet. Besonders in zahlreichen europäischen Ländern steht Deutsch nach wie vor als zweite Fremdsprache auf dem Lehrplan. Die Auszubildenden oder Studierenden in diesem Bereich müssen also im Laufe ihrer Ausbildung lernen, in der Muttersprache und auf zwei Fremdsprachen mit Gästen – und je nach Arbeitsumgebung auch mit Kollegen1 und Vorgesetzten – zu kommunizieren. Während im Englischen aufbauend auf mehrjährigen Schulunterricht am Ende der Ausbildung von einem mittleren Sprachniveau, etwa von B1 bis B2 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen, ausgegangen werden kann, wird im Deutschen 1 Feminine und maskuline Personenbezeichnungen werden im vorliegenden Text wechselnd benutzt und schließen jeweils beide Geschlechter ein. 444 Sandra Ballweg in vielen Ländern höchstens A2 erreicht. Diese Sprachkenntnisse sind unzureichend für die Anforderung, alle im Hotel oder Restaurant entstehenden Kommunikationssituationen zu bewältigen, zumal die Beschäftigten dabei nicht nur mit der Standardsprache, sondern auch mit verschiedenen Dialekten und sprachlichen Variationen konfrontiert werden (vgl. Leung 1994: 43). Ein zusätzliches Problem entsteht dadurch, dass eben diese Kommunikationssituationen beinahe ausschließlich mündlich stattfinden, wobei die Lernenden schnell reagieren müssen und worauf sie in vielen Fällen nicht ausreichend vorbereitet werden. Viele Lehrwerke, wie zum Beispiel Deutsch im Hotel. Gespräche führen (Barberis; Bruno 2000), fallen durch ihren deutlichen Schwerpunkt auf Lesetexte auf, was im Widerspruch zum Buchtitel steht. Natürlich werden auch und besonders im fachsprachlichen Fremdsprachenunterricht für diese Branche Hörtexte und Videos eingesetzt, doch augenscheinlich besteht hier noch deutlich größerer Bedarf am Training des Hörverstehens und der mündlichen Ausdrucksfähigkeit. 1.2 Das VIRTEX-Projekt Als sich Lehrende der Abteilung für Niederländisch als Fremdsprache am Horizon College in den Niederlanden mit dieser Problematik beschäftigten, entstand die Idee, Lernmaterialien speziell für die oben dargestellten Bedürfnisse zu entwickeln. Zu Projektbeginn fand zunächst an den beteiligten Ausbildungsinstitutionen eine Bestandsaufnahme statt, die die Probleme in der Mündlichkeit klar bestätigte. Die Lehrenden attestierten einem großen Teil der Lernenden Schwierigkeiten im Hörverstehen und in der Sprechfertigkeit und machten vor allem die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Sprachvermögen und den anspruchsvollen Inhalten offensichtlich, die zum Teil am Restauranttisch oder an der Hotelrezeption vermittelt werden müssen. Insgesamt wurde festgestellt, dass die vorhandenen Lehr- und Lernmaterialien kaum ausreichen, um die Lernenden individuell und gezielt vor allem auf mündliche Kommunikationssituationen vorzubereiten. So entstand die Kooperation im Projekt VIRTEX, was für „virtual experiences“ steht. In diesem LEONARDO-Projekt wurden zwischen 2004 und 2007 computergestützte Lernmaterialien in den Sprachen Deutsch und Englisch für den Fachsprachenunterricht für Auszubildende in der Branche Hotel und Gastronomie entwickelt. Zu diesem Zweck kooperierte die Abteilung Deutsch als Fremdsprache der Philipps-Universität Marburg mit sieben weiteren Institutionen aus sechs europäischen Ländern, darunter neben Forschungsinstitutionen und Universitäten auch berufsbildende Schulen. Die Aufgabe des Marburger Projektpartners bestand in der Konzeption, Koordination und Entwicklung von VIRTEX Deutsch, dem deutschen Teil des Projekts, um den es hier gehen soll. VIRTEX – Lehr- und Lernmaterielien für den Fremdsprachenunterricht 445 2. Konzeption der VIRTEX-Materialien 2.1 Zielgruppe Ausgehend von der zuvor kurz dargestellten Problematik richten sich die Lernmaterialien, die im Rahmen des Projekts entwickelt wurden, in erster Linie an Auszubildende im Bereich Hotel und Gastronomie, die eventuell auch ein Praktikum im deutsch- oder englischsprachigen Ausland anstreben oder in ihrer späteren Berufstätigkeit auch auf Englisch oder Deutsch mit Gästen kommunizieren werden. Allerdings muss sich der Einsatz nicht auf diese Zielgruppe beschränken. Auch Lernende, die schon in der Branche tätig sind und ihre Sprachkenntnisse auffrischen möchten, können auf die Materialien zugreifen und obwohl das Blended-Learning-Konzept, das später noch thematisiert wird, eine Kombination aus Selbstlernphasen am Computer und Aktivitäten im Klassenverband und unter Anleitung der Lehrperson vorsieht, kann mit kleineren Veränderungen auch völlig selbstgesteuert damit gearbeitet werden. 2.2 Sprachniveau der Lernenden Im Bereich des Sprachniveaus lagen der Konzeption die Ergebnisse von Befragungen an Ausbildungsinstitutionen zugrunde. Zwar finden Lernende auf den Niveaustufen A1 bis C1 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen bei VIRTEX ihrem Sprachniveau entsprechende Filme und Aufgaben, der Schwerpunkt liegt allerdings auf dem Niveau A2, da das der Kenntnisstand ist, den Lernende im Laufe der Ausbildung auf Deutsch meist erreichen. A2, das der „elementaren Sprachverwendung“ zugeordnet ist, wird nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen in Bezug auf den Informationsaustausch als ‘einfach’, ‘routiniert’ und ‘begrenzt’ beschrieben (Europarat, Rat für kulturelle Zusammenarbeit 2001:2 16). In den globalen Kann-Beschreibungen heißt es dann expliziter: „Kann Sätze und häufig gebrauchte Ausdrücke verstehen, die mit Bereichen von ganz unmittelbarer Bedeutung zusammenhängen […]. Kann sich in einfachen, routinemäßigen Situationen verständigen, in denen es um einen einfachen und direkten Austausch von Informationen über vertraute und geläufige Dinge geht. […]“ (Glaboniat u.a. 2001: 10). Auch wenn diese Beschreibung das Dilemma der Lernenden noch einmal verdeutlicht, da diese sprachlichen Mittel kaum ausreichen, um zum Beispiel auf Beschwerden im Restaurant oder an der Hotelrezeption zu reagieren, so liegt in der Betonung der routinierten Sprechhandlungen doch auch schon ein Schlüssel zur Problembewältigung: Die Lernenden sind auf diesem Niveau in der Lage, sprachliche Routinen aufzunehmen und entsprechend anzuwenden. 2.3 Arbeit mit sprachlichen Routinen Bei sprachlichen Routinen, die in den VIRTEX-Materialien stark eingesetzt werden, handelt es sich um „verfestigte, wiederholbare Prozeduren, die den Handelnden als fertige Problemlösungen zur Verfügung stehen.“ (Lüger 1992: 18). Im Fremdsprachenunterricht sind sie deshalb sinnvoll, weil sie sich in ihrer Form nicht wesentlich verändern 446 Sandra Ballweg und die Lernenden nicht nur bei der Konstruktion von sprachlichen Äußerungen entlasten, sondern ihnen auch ermöglichen, sich sicherer und anspruchsvoller auszudrücken (vgl. Lüger 1992: 19). Im konkreten Fall der Lernenden im Bereich Hotel und Gastronomie auf A2-Niveau bedeutet es, dass die Verwendung von Formulierungen und grammatischen Phänomenen möglich wird, die eigentlich nicht dem Sprachniveau A2 zugeordnet sind, wie etwa der Konjunktiv II in „Könnten Sie bitte …?“ oder das Passiv in „Ihr Gepäck wird auf Ihr Zimmer gebracht.“ Hieran schließt sich auch die Argumentation von Buhlmann und Fearns an, die erklären: „Für Fachsprachenlerner ist der Spracherwerb funktional. Sie betreiben den Umgang mit Sprache nicht im Sinne eines Philologen oder Linguisten; sie sind also weniger an Funktionszusammenhängen interessiert als am Funktionieren ihrer Lernersprache.“ (Buhlmann; Fearns 2000: 139). Doch obgleich grammatikalisches Wissen zum Teil hinter das Erlernen sprachlicher Routinen zurücktritt, spielt es nach wie vor eine wichtige Rolle, denn sprachliche Routinen ersetzen nicht einen regulären Sprachlernprozess, sie lassen die Lernenden nur schon vorgreifen. Diese Möglichkeit der Spracharbeit macht allerdings auch eine endgültige Zuordnung zu einem Sprachniveau nur schwer möglich, da zum einen schon grammatische Phänomene verwendet werden, die die eigentlichen Sprachkenntnisse übersteigen, und zum anderen auch die Einstufung von Wortschatz, insbesondere wenn es sich um Fachwortschatz handelt, nahezu unmöglich ist. Das Wort ‘flambieren’ ist beispielsweise Vokabular, das Fremdsprachenlernende selten überhaupt lernen, und wenn das doch der Fall ist, dann zu einem sehr späten Zeitpunkt. Für einen Koch hingegen gehört es zum Grundwortschatz. Dennoch werden die Materialien in ihrer Gesamtheit überwiegend dem Niveau A2 zugeordnet, ergänzt durch Filme und Aufgaben auf anderen Niveaustufen. 2.4 Einsatzbereich und Zielsetzung der Materialien VIRTEX ist nicht als kursstützendes Lehr- und Lernmaterial gedacht und sieht auch nicht vor, die Lernenden von einer Niveaustufe des Referenzrahmens auf die nächste zu begleiten, sondern es versteht sich vielmehr ergänzend zu anderen kursstützenden Materialien und legt einen besonderen Fokus auf die Verbesserung des mündlichen Sprachvermögens, die Beschäftigung mit kulturellen Aspekten und die Möglichkeit, Sprachkenntnisse auch in Phasen des selbstgesteuerten Lernens individuell und gezielt zu erweitern und zu vertiefen. Dabei liegt die Betonung auf der mündlichen Kommunikation, da im Arbeitsalltag sehr viele Kontakte mit den Gästen mündlich ablaufen, beispielsweise an der Hotelrezeption, bei einem Telefonat oder bei einer Weinempfehlung im Restaurant. Das Training der schriftlichen Fertigkeiten wird dabei keinesfalls als weniger wichtig erachtet, hier liegt jedoch nicht der Schwerpunkt des VIRTEX-Projekts. An dieser Stelle sei der Begriff der ‘Lehr- und Lernmaterialien’ in diesem Kontext noch einmal erläutert. Obwohl es sich um frei zugängliche, individuell einsetzbare, computergestützte Materialien handelt, die von den Lernenden alleine und außerhalb des VIRTEX – Lehr- und Lernmaterielien für den Fremdsprachenunterricht 447 Unterrichts bearbeitet werden können, handelt es sich doch um ein Blended-LearningKonzept, wofür auch Erfahrungen aus der Erprobungsphase sprachen. Der Mehrzahl der Lernenden fiel es schwer, fokussiert am Computer zu arbeiten und nicht nur einige Filme zur Unterhaltung auszuwählen. Die Materialien wurden daher so angelegt, dass computergestützte Selbstlernphasen mit Arbeit in der Gruppe kombiniert werden kann und die Lehrperson dabei als Beraterin und Moderatorin fungiert, beispielsweise bei der Erstellung eines Lernplans und der Vereinbarung von Lernzielen. 3. Themen und Inhalte 3.1 Aufbau der Materialien Der konkrete Aufbau der Materialien ergibt sich aus den Bedürfnissen der Zielgruppe und aus den weiteren zuvor dargestellten Überlegungen. Die Grundstruktur der deutschen Materialien entsteht durch die vier Kapitel ‘Lebensmittel und Gerichte’, ‘Küche’, ‘Im Restaurant’ und ‘Im Hotel’, die versuchen, die Bedürfnisse der doch breit gefächerten Berufsgruppe abzudecken. Dabei werden in dem Themengebiet ‘Lebensmittel und Gerichte’ Inhalte vermittelt, die in erster Linie als Grundlage für weitere sprachliche Aufgaben für Köche und Servicepersonal im Restaurant dienen. Die weiteren Einheiten richten sich gezielt an Köche sowie an Servicepersonal im Restaurant und im Hotel. Abb. 1: Startseite VIRTEX Um die Lernenden auf tatsächliche mündliche Kommunikationssituationen vorzubereiten, wird für den Fachsprachenunterricht vor allem der Einsatz von authentischem Videomaterial empfohlen (vgl. Buhlmann; Fearns 2000: 185). In diesem Fall handelt 448 Sandra Ballweg es sich um möglichst authentisches Fachsprachenmaterial, denn in den Filmen sind Beschäftigte eines kooperierenden Hotels zu sehen, die darauf achteten, dass die Sprache im Film der tatsächlich verwendeten Sprache im Beruf entspricht. Während in Filmen zur Wortschatzarbeit ausgebildete Sprecher und Sprecherinnen zu hören sind, sind an einigen anderen Stellen dialektale Einfärbungen erkennbar, wie sie auch in einem beruflichen Umfeld von den Lernenden verstanden werden müssen. (vgl. Buhlmann; Fearns 2000: 134). Dieses Filmmaterial ist innerhalb der vier Einheiten verschiedenen Themenkomplexen zugeordnet, wie beispielsweise ‘Beschwerden’ oder ‘Auschecken’ im Hotel, die unabhängig von einander ausgewählt werden können. Darüber hinaus ist jede der vier Einheiten in vier Lernphasen unterteilt. Unter dem Punkt ‘Zum Aufwärmen’ finden sich erste Filme mit Aktivitäten zum Hörverstehen und zur Bewusstmachung sprachlicher und kultureller Besonderheiten. Außerdem werden die Lernenden immer wieder aufgefordert, sich mit ihren eigenen Interessen und Meinungen in Diskussionen im Präsenzunterricht einzubringen. In einem zweiten Schritt findet eine Auseinandersetzung mit Wortschatz statt. Hier werden sowohl einzelne Begriffe mit Artikel und Pluralform als auch ganze Phrasen und Sätze bis hin zu vollständigen Dialogen und Monologen dargeboten und in unterschiedlichen Aufgaben geübt. Die dritte Stufe heißt ‘Und jetzt Sie!’ und fordert die Lernenden auf, selbst aktiv zu werden. Dazu gehören Anregungen zu Rollenspielen im Klassenraum oder am Computer, Internet-Recherchen und auch Hinweise darauf, wie man einen Praktikumsplatz in den deutschsprachigen Ländern finden kann. In dem letzten Teil ‘Hintergrund’ können Kenntnisse erweitert und Zusatzinformationen erworben werden. Hier werden beispielsweise kulturelle Aspekte diskutiert oder man erfährt auf unterhaltsame Weise, was man in einer Küche besser nicht tun sollte und lernt so noch einige Vokabeln. Abb. 2: Gliederung der Materialien 3.2 Inhalte Die Filme sollen nicht nur das Hörverstehen trainieren und sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten präsentierten, sondern auch kulturelle Informationen transportieren. In dem Film, in dem Passanten auf der Straße nach ihrem Lieblingsgericht gefragt werden, wird die ganze Bandbreite der deutschen Küche sichtbar und wer bis dahin dachte, Bratwurst oder Sauerbraten seien die deutschesten aller Gerichte, der erfährt hier, dass Pizza, Pasta und Döner deutlich beliebter sind. VIRTEX – Lehr- und Lernmaterielien für den Fremdsprachenunterricht 449 Auf einem höheren sprachlichen und inhaltlichen Niveau werden in einem Interview mit einem Hotelmanager kulturelle Unterschiede diskutiert, wo auch der Umgang mit Stereotypen eine Rolle spielt. Diese Interviews sind Beispiele für spontane Sprachäußerungen. Sie bieten eine große inhaltliche und sprachliche Vielfalt und ergänzen die Dialoge, die an Hotelrezeptionen, in Restaurants und in professionellen Küchen aufgenommen wurden und deren Inhalte in ihrer groben Struktur zuvor abgesprochen waren. Zu den Filmen und Audio-Dateien werden verschiedene Aufgaben gestellt. Die Übungen sollen die Lernenden auf einer ersten Stufe an das Thema heranführen, ihr Hörverstehen trainieren und ihren Wortschatz erweitern, bevor Aktivitäten folgen, die der Vorbereitung der eigenen Sprachproduktion dienen. Neben Anregungen zu Präsentationen besteht vor allem auch die Möglichkeit, sich in Rollenspielen auf zukünftige Sprechsituationen vorzubereiten. Zunächst kann am Computer trainiert werden, indem in Filmen die Rolle der Kellnerin oder des Rezeptionisten nicht vertont ist und die Lernenden ihre eigene Stimme aufnehmen müssen. Anschließend besteht die Möglichkeit, den Film vollständig anzusehen und durch Imitation zu lernen. Diese Übungsform ersetzt allerdings nicht das Rollenspiel mit Mitlernenden, bei dem auch Gestik und Mimik eine Rolle spielen und wo nicht nur vorausgesetzt wird, dass man den Gegenüber versteht, sondern dass man auch selbst verstanden wird. Anregungen dazu finden sich ebenfalls in den Materialien. 3.3 Funktionen in den Einheiten Abb. 3: Funktionen des Programms 450 Sandra Ballweg Bei der technischen Erstellung dieser Materialien stellte sich immer wieder die Frage nach der Benutzerfreundlichkeit. Die Oberfläche hat daher den Anspruch, möglichst übersichtlich zu sein und an jeder Stelle direkten Zugriff auf andere Bereiche (z.B. Hilfe-Funktionen) zu haben. Für Lehrpersonen, aber auch für die Lernenden besonders angenehm ist die Möglichkeit, Aufgabenstellungen, Filmtexte und Lösungen über die Funktion ‚Drucken’ als ungeschütztes Word-Dokument zu erhalten. So können Lehrpersonen Aufgaben beliebig variieren oder den Filmtext beispielsweise als Lückentext zum Training des selektiven Hörverstehens einsetzen. Die Lernenden haben die Möglichkeit, ihre Antworten direkt im Dokument zu speichern und sie der Lehrperson per E-Mail zukommen zu lassen. Sofern das Programm auf einem lokalen Server installiert ist oder auf CD eingesetzt wird, ist außerdem die Aufnahme-Funktion (Voice Recorder) einsetzbar. Hier können Lernende Sprachdateien erstellen, diese speichern oder sie auch direkt an die Lehrperson senden. 4 Planen und spielen: Zusätzliche Funktionen Abb. 4: Lernplaner Die Filmmaterialien und die dazugehörigen Aufgaben und Anregungen stellen den Mittelpunkt der Materialien dar, die Lernenden sollen damit jedoch nicht alleine gelassen werden. Gerade bei der Arbeit mit Videosequenzen und Internetlinks sind Maßnahmen zur Strukturierung des Lernprozesses notwendig, für die die Lehrperson nicht alleine verantwortlich sein muss, sondern die auch in das Programm integriert sind. Eine wichtige Funktion nimmt an dieser Stelle der „Lernplaner“ ein, mit Hilfe dessen die Lernenden alleine oder nach Absprache mit der Lehrperson für sie passende Aktivitäten und Schwerpunkte auswählen können. Dabei geben sie an, in welcher Fertigkeit (Hörverstehen, Sprechen), auf welchem Sprachniveau und für welche Umgebung (Hotel, VIRTEX – Lehr- und Lernmaterielien für den Fremdsprachenunterricht 451 Restaurant, Küche) sie an ihren Deutschkenntnissen arbeiten möchten. Ferner wählen sie ein thematisches Gebiet aus, sodass das Programm dann eine Liste von relevanten Modulen erstellen kann, die den Lernenden Orientierung gibt. Für die selbstgesteuerten Lernphasen und die allgemeine Unterstützung im Lernprozess finden sich unter der Kategorie „Lerntipps“ Hinweise darauf, wie Vokabeln gelernt werden können oder wo man zum Beispiel am besten einen E-Tandem-Partner findet. Die Lernenden sollen so aktiv werden, die Möglichkeiten des Computers, aber auch anderer Medien, besser nutzen und Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen. Die Rubrik „Ressourcen“ orientiert sich an Elementen der europäischen Sprachenpolitik. So stehen hier Materialien des Europäischen Sprachenportfolios zur Verfügung. Die Lernenden haben die Möglichkeit, ihre Spracherfahrungen und kulturelle Erfahrungen festzuhalten, ein Dossier gelungener oder wichtiger Arbeiten anzulegen, ihre eigenen Sprachkenntnisse zu überprüfen und einen individuellen Lernplan mit selbst gesetzten Zielen zu entwickeln. Die Hilfefunktion bietet inhaltliche und technische Unterstützung unterschiedlicher Art. Informationen für Lehrende und Lernende erläutern die Ziele des Programms und geben Orientierung bei der Arbeit damit. Außerdem finden sich hier technische Hinweise zu der Aufnahmefunktion und zu vielem mehr. Beim Sprachenlernen am Computer bietet es sich darüber hinaus an, spielerische Elemente zu integrieren, wie es auch in den VIRTEX-Materialien umgesetzt wurde. In einem Vokabel-Memory können die Lernenden ihren Wortschatz erweitern, in einem Quiz stehen neben der Spracharbeit vor allem kulturelle Aspekte im Mittelpunkt, so zum Beispiel kulinarische Spezialitäten aus verschiedenen europäischen Ländern. Der Computer bietet als Medium die Möglichkeit zur visuellen Darbietung und kann in diesen Aufgabenformen auch eine konkrete Rückmeldung über die Korrektheit einer Antwort machen, was natürlich nicht bei jedem Aufgabentyp möglich ist. 5. Unterrichten mit VIRTEX Bei der Arbeit mit dem Vokabel-Memory und dem Quiz ersetzt der Computer Lernpartner und Lehrperson. Das Spiel kann auch ohne ein lebendiges Gegenüber so unterhaltsam sein, dass eine längere Zeit damit zugebracht wird, und die Korrekturen sind sehr explizit. Bei anderen, weniger spielerischen Aufgabentypen ist die Motivation vermutlich geringer, das Durchhalten wird schwieriger und wenn keine Beschränkung auf leicht überprüfbare Aufgaben stattfindet, sind die Korrekturen der Lehrperson notwendig. Auch Aktivitäten mit Mitlernenden sollten integriert werden, insbesondere da das Kommunikationstraining am Computer zwar ein erster Schritt sein kann, aber keineswegs ausreicht. Vor diesem Hintergrund ist VIRTEX als Blended-Learning-Programm angelegt, wie zuvor dargestellt. Lehrende wie Lernende finden Anregungen und Empfehlungen in den jeweiligen Informationsmaterialien. Einige Aufgaben geben vor, ob sie alleine am Computer oder in der Zusammenarbeit mit anderen Lernenden bearbeitet werden 452 Sandra Ballweg sollen. An den Stellen, an denen das nicht der Fall ist, kann ganz unterschiedlich vorgegangen werden. So berichteten einige Lehrpersonen nach der Erprobungsphase, dass sie es vorgezogen hatten, Filme über einen Beamer im Plenum zu sehen und dann die Aufgaben in wechselnden Konstellationen zu bearbeiten, da die Lernenden so wesentlich fokussierter waren. Andere Lehrpersonen bevorzugten die Arbeit am Computer, da die Lernenden Filme zunächst nach Bedarf wiederholen oder anhalten konnten. Solche Entscheidungen sind von zahlreichen Kriterien abhängig, vor allem von den Bedürfnissen der Lernenden, aber auch von der Lehr- und Lernkultur in dem jeweiligen Land. Durch die Phasen selbstgesteuerten Lernens nimmt die Lehrperson weniger die Rolle eines „Wissensvermittlers“ ein, ihre Position ist dadurch jedoch nicht weniger wichtig. In der Lernplanung und im Lernprozess steht sie den Lernenden als Berater zur Verfügung und moderiert Klassenaktivitäten. Neben dieser Arbeit auf der metakognitiven Ebene sind auch Rückmeldungen auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene notwendig, vor allem bei Aufgabenstellungen, die umfassendere Reaktionen erfordern, als sie der Computer leisten kann. Insgesamt bietet es sich an, die VIRTEX-Materialien ergänzend zu den herkömmlichen Kursmaterialien einzusetzen und sie hier thematisch einzubetten. Außerdem lassen sich an die Arbeit mit VIRTEX weitere Aktivitäten und Projekte anschließen. 6. VIRTEX im Internet Sie finden VIRTEX unter folgenden Adressen: VIRTEX – das Projekt: http://www.waicicu.com/virtexsite/ VIRTEX Deutsch: http://www.waicicu.com/virtexdeutsch/virtex.html VIRTEX Englisch: http://www.waicicu.com/virtex/dishes.html Literatur Barberis, Paola; Bruno, Elena (2000): Deutsch im Hotel. Gespräche führen. München: Hueber. Buhlmann, Rosemarie; Fearns, Anneliese (2000): Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr. Ecke, Peter (2000): Im Restaurant: Simulationen im Anfängerunterricht. In: Unterrichtspraxis, 33, 45-49. Europarat, Rat für kulturelle Zusammenarbeit (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt Glaboniat, Manuela; Müller, Martin; Rusch, Paul; Schmitz, Helen; Wertenschlag; Lukas (2001): Profile Deutsch. Lernzielbestimmungen, Kannbeschreibungen und kommunikative Mittel für die Niveaustufen A1, A2, B1 und B2 des ‘Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen’. Berlin: Langenscheidt. Leung, Peggy (1994): How Students’ Work Experience Contributes to Course Development: English Courses for Hotel and Tourist-Industry Personnel. In: English Teaching Forum 32/1994, 42-45. Libbon, Stephanie (2004): Using Virtual Reality for Task-Based Exercises in Teaching NonTraditional Students of German. In: Unterrichtspraxis, 33, 132-142. Lüger, Heinz-Helmut (1992): Sprachliche Routinen und Rituale. Frankfurt: Peter Lang. Projektarbeit Sprachpraxis: Erkundungen bei städtischen Entscheidungsträgern 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 453-462. Hansjörg Bisle-Müller & Henry K. Ostberg (Augsburg) Projektarbeit Sprachpraxis: Erkundungen bei städtischen Entscheidungsträgern. Ein neues Konzept für den Internationalen Sommerkurs des Sprachenzentrums der Universität Augsburg. 30 Jahre erfolgreicher Sommerkurs – ein neues Konzept für die nächsten Jahre Seit 1977 findet (mit einer Pause im Jahr 2005) der Internationale Sommerkurs der Universität Augsburg statt. Die Rückmeldungen waren immer durchweg positiv, doch nach fast 30 Jahren und einer einjährigen Nachdenkpause entstand der Wunsch nach Veränderung. Der Kurs war bis dahin universitätsorientiert. Es gab drei etwa gleich große Leistungsgruppen, die vormittags Sprachunterricht hatten und nachmittags Vorträge verschiedener Wissenschaftler hörten. Exkursionen an den Wochenenden und Besuche kultureller Veranstaltungen rundeten das Programm ab. Unser neues Konzept basiert auf der Hinwendung zum Geschehen in der Stadt und auf sprachlich gesteuerter Projektarbeit. Den Teilnehmern wird von vornherein deutlich gemacht, dass in unserem Sommerkurs all das gemacht wird, was sie in ihrem Heimatland nicht machen können, was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, dass herkömmlicher Sprachunterricht nicht Schwerpunkt des Kurses ist. 454 Hansjörg Bisle-Müller, Henry K. Ostberg 1. Beweggründe für die Teilnahme an einem Sommerkurs in Deutschland Eine Umfrage im Auftrag des DAAD von 20011 ergab, dass 94% der Teilnehmer an Sommerkursen an erster Stelle eine Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse erwarteten. Dies traf in der Realität der Kurse aber vor allem auf die Verbesserung des Hörverständnisses und des mündlichen Ausdrucks zu. Bemängelt wurde jedoch, dass es zu wenig Kontakt mit Deutschen gegeben habe. Offensichtlich hat der Nachholbedarf beim Hörverständnis und beim mündlichen Ausdruck stark mit den im Herkunftsland fehlenden Gesprächskontakten mit Muttersprachlern zu tun. Bei der Entwicklung eines neuen Konzeptes galt es also nun das anzubieten, was im Land der Ausgangssprache kaum oder nur mit großem Aufwand möglich gemacht werden konnte. An zweiter Stelle bei der DAAD-Umfrage stand die Erwartung, Deutschland kennen zu lernen. Dies kann zuerst so verstanden werden, dass mehr Wissen über Deutschland erworben wird und persönliche Erfahrungen mit dem Leben in Deutschland ermöglicht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, welches Wissen und welche Erfahrungen auch ohne spezielle Hilfe der Kursorganisatoren erworben bzw. gemacht werden können und wo die gezielte Unterstützung durch einen Sommerkursveranstalter einsetzen muss. Viele Teilnehmer denken auch an ein späteres Studium oder eine Berufsausübung in Deutschland. Diese Bindung an das Zielland sollte unseres Erachtens im beiderseitigen Interesse gefördert werden. Wer Zukunftspläne für einen weiteren Aufenthalt in Deutschland schmiedet oder auch nur über eine zukünftige Zusammenarbeit mit Deutschen und Institutionen in Deutschland nachdenkt, profitiert natürlich von guten persönlichen Kontakten in Deutschland. Viele solcher Kontakte anzubieten sollte auch im ureigenen Interesse der deutschen Hochschulen und Städte liegen, in denen Sommerkurse stattfinden. Ein internationaler Sommerkurs erleichtert nicht nur Kontakte zu Deutschen, sondern natürlich auch das Zusammentreffen mit Studierenden aus der ganzen Welt. Dies ist ein Wert an sich, jedoch auch von Bedeutung für den Spracherwerbsprozess, denn so wird Deutsch zur primären Kommunikationssprache. Es wäre aber blauäugig zu glauben, dass die Teilnehmer eines Sommerkurses ausschließlich studien- oder berufsbezogene Erwartungen hätten. Natürlich soll ein solcher Kurs auch Spaß machen und Abwechslung bieten. Mit unserem neuen Konzept wollten wir auch dieser Erwartungshaltung gerecht werden. 2. Unser didaktisches Konzept im Internationalen Sommerkurs 2.1 Natürliche Spracherwerbsituation Was einen Deutschkurs in Deutschland besonders wirkungsvoll machen kann, sind die natürlichen Spracherwerbsituationen, die der Aufenthalt bietet. Dies betrifft nicht nur 1 Isoplan (2003: 99ff.) Projektarbeit Sprachpraxis: Erkundungen bei städtischen Entscheidungsträgern 455 das Umfeld der Kursteilnehmer, sondern auch die im Kurs selbst gemachten Angebote. Es geht dabei um authentische2 Rezeptions- und Produktionsaufgaben und ganz besonders um die erlebbar gemachte Kommunikationswirklichkeit. Gespräche, Mitnotieren, schriftliche Berichte und öffentliche Präsentationen sollen nicht nachempfunden oder nachgespielt werden, sondern „echt“ stattfinden und als erlebte interkulturelle Realität verstanden werden. Dies gelingt dann leichter, wenn die deutschen Gesprächspartner ein eigenes Interesse an der Berichterstattung über ihre Ideen und ihre Arbeit haben, ein Interesse, das sich gerade auch auf die universitäre und die regionale Öffentlichkeit bezieht3. Und so lag es für uns nahe, als Gesprächspartner wichtige Entscheidungsträger in der Stadt Augsburg auszusuchen, die unterschiedliche Bereiche und Ebenen des öffentlichen Lebens der Stadt abdecken. Ein echte Aufgabe lässt sich so am besten als Projektaufgabe4 durchführen, bei der die Kursteilnehmer Informationen beschaffen, die nicht einfach über das Internet oder Broschüren abrufbar sind, und bei der sie gleichzeitig durch die Interviews mit der interkulturellen Perspektive auch für die deutschen Gesprächsteilnehmer neue Erkenntnisse schaffen. Die Informationen werden so nicht für die Dozenten und den Unterricht eingeholt, sondern tragen wirklich zur Erfüllung eines interkulturellen Projektes bei, das für das öffentliche Leben der Stadt einen Beitrag leisten kann. Dabei profitieren natürlich die Kursteilnehmer, die die Gespräche führen, in ihrem Sprachlernprozess. 2.2 Fertigkeitstraining und die Nagelprobe im Projekt Bei der Durchführung der Projekte stehen folgende Fertigkeiten im Vordergrund: Gesprächsführung, Notizen machen, Berichte schreiben, öffentliches Präsentieren von Erkundungsergebnissen und natürlich Teamarbeit. Nachteilig ist, dass wir im Rahmen unseres Sommerkurses nur wenig Zeit zur sprachlichen Vorbereitung haben. So müssen wir das Niveau B2 des GER voraussetzen und können eigentlich nur zur Wiederholung die erwarteten Fertigkeiten trainieren. Dies geschieht bereits mit Bezug auf die vorgesehenen Themenbereiche und die einzelnen Projektaufgaben. Im Rahmen der Erfüllung der Projektaufgaben können dann die eigenen Fertigkeiten kritisch überprüft werden und wichtige Erkenntnisse über den eigenen Leistungsstand gewonnen werden. Die Erfüllung der Projektaufgabe kann so entscheidend zum Kompetenzfortschritt beitragen. Denn Kompetenz umfasst allemal auch die Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit. Dass diese Kritikfähigkeit dann auch wirklich gefördert wird, ist schon allein aufgrund des Feedbacks in der Projektgruppe und bei den einzelnen Interviews zu erwarten. Außerdem 2 3 4 Zum Begriff „Authentizität“ vgl. Kaikkonen (2002:8). Es geht uns wie Kaikkonen darum, „wie der Lernende erfahrungsorientiert der fremden Sprache und Kultur begegnen kann.“ Dass unsere Projekte hier schon eine entsprechende Bedeutung gewonnen haben, zeigt eine Pressemitteilung der CSU in Augsburg, in der das Gespräch des Oberbürgermeisterkandidaten der CSU mit unserer Projektgruppe zur Profilierung des Kandidaten genutzt wird. Auch diese Instrumentalisierung ist eine wichtige Erfahrung für unsere Studenten. Zur Projektarbeit im DaF-Unterricht vgl. Lehker 2003 und Schart 2003. Unser Konzept allerdings bietet keine Projektarbeit im Sprachunterricht oder im DaF-Sommerkurs, sondern der gesamte Sommerkurs besteht aus Projektarbeit. 456 Hansjörg Bisle-Müller, Henry K. Ostberg garantiert die Projektbegleitung durch die Dozenten und die Tutoren zusätzlich, dass die einzelnen Teilnehmer zur kritischen Überprüfung Ihrer Kenntnisse angeleitet werden. So kommt es zum permanenten Abgleich zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung und es ist nicht möglich, sich über die eigenen Probleme hinwegzulügen. Aber die Betreuung durch die Dozenten soll natürlich auch davor schützen, dass es zu Frustrationen und einer Motivationsabschwächung bei den anspruchsvollen Projektaufträgen kommt. 2.3 Hohes Motivationsniveau durch Deutschlandinformationen aus erster Hand Am Beispiel der Stadt Augsburg können Informationen direkt von denen, die das öffentliche Leben einer mittleren Großstadt in Deutschland mitgestalten, abgerufen werden. Dabei wird bei der Auswahl der Gesprächspartner darauf geachtet, dass unterschiedliche Positionen zu Wort kommen. Entscheidend ist, dass die Kursteilnehmer die Möglichkeit haben, ihre Fragestellungen selbst auszuarbeiten und die Entscheidungsträger Rede und Antwort stehen sollen und nicht einfach im Vortragsstil vorbereitete Statements abgeben. So wird ein Einblick ins öffentliche Leben in Deutschland geschaffen, der einem Deutschlerner wohl üblicherweise so nicht zur Verfügung steht. Durch diese Kontakte mit Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Bereich werden die Kursteilnehmer besonders stark motiviert. Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass nicht immer Vertreter der höchsten Entscheidungsebene in den einzelnen Bereichen als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Deshalb ist falschen Erwartungen entgegen zu wirken, die möglicherweise sogar demotivierend wirken könnten. Etwa nach der Einstellung: Die andere Gruppe interviewt eine Bürgermeisterin und wir müssen uns mit einer Sachbearbeiterin zufrieden geben! Dies verlangt ausreichende Vorinformationen über die einzelnen Gesprächspartner und eine entsprechende Präsentation der Projektaufgaben durch die Dozenten. Die Motivation wird auch wesentlich erhöht durch eine zu weckende „Journalistenneugier“, aus den Gesprächsteilnehmern Informationen herauszulocken. Unsere Erfahrung zeigt, dass dabei der Appetit mit dem Essen kommt. Das erste Interview spornt an, sich für die folgenden Interviews noch besser vorzubereiten. Zudem führen die Projektaufträge zu einer als positiv erfahrenen Konkurrenzsituation, bei der jede Gruppe sich freut, besondere Erlebnisse und Informationen vorweisen zu können. So werden die Präsentationen am Kursende zu unserer Überraschung bis in die Nacht hinein tatsächlich begeistert vorbereitet. Der dynamische Charakter von Motivation5 weckt auch für die anstrengende dritte Woche ungeahnte Kräfte. 2.4 Aufmerksamkeit auf Sprache In diesem Kurs soll die Sprachkompetenz im umfassenden Sinn erhöht werden. Dies betrifft nicht nur die üblichen Fertigkeiten und interkulturelles Wissen, sondern auch 5 Vgl. dazu Ellis (1997: 76): „... Motivation is dynamic in nature; it is not something that a learner has or does not have but rather something, that varies from one moment to the next depending on the learning context or task.“ Projektarbeit Sprachpraxis: Erkundungen bei städtischen Entscheidungsträgern 457 alles, was mit „Aufmerksamkeit auf Sprache“6 umschrieben werden kann. Dies wird vor allem umgesetzt durch die Kooperation bei der Eigenkorrektur, Revision und Edition der zu verfassenden Berichte. Die Teilnehmer an den Projektgruppen arbeiten gemeinsam am Bericht und der Präsentation, die Tutoren und Dozenten stehen als Berater zur Verfügung, die auch Erklärungshilfen bei Grammatik und Wortschatz geben, wenn sich bei der Projektarbeit bei einzelnen Teilnehmern Defizite herausstellen. Dies ist eine die Sprachhandlungen begleitende Spracharbeit, die so als unmittelbar relevant erkannt und damit wirkungsvoller wird.7 Im Rahmen unserer Projektaufgaben bietet sich auch genügend Gelegenheit, Kommunikations- und Lernstrategien zu erproben. Diese Strategien sind ja nichts von den Sprechhandlungen Abgelöstes, was man als Regeln einfach auswendig lernen und dann anwenden könnte. Sie müssen als Teil der Spracharbeit behandelt werden und können nur im Zusammenhang mit konkreten Sprechhandlungen und Lernschritten erarbeitet werden. Hierbei kommt der Vorbereitung und Nachbereitung der Erkundungsgespräche die größte Bedeutung zu. Natürlich hat dies bei einem dreiwöchigen Kurs alles vorerst nur eine exemplarische Bedeutung, aber der Nutzen von Beispielen ist ja, dass man aus ihnen auch längerfristig etwas lernen kann. 3. Der Projektablauf 3.1 Information über die zu verteilenden Projektaufgaben Bereits Monate vor Kursbeginn werden mögliche Interessenten über das Programm und die Themenbereiche informiert. Nach der Anmeldung bekommen die Teilnehmer genauere Informationen über die einzelnen Projektaufgaben. 2006 waren als Themenbereiche die Friedens- und Umweltstadt, die Mozartstadt (Musikstadt) und die Literaturstadt (Brechtstadt) vorgesehen. Da Augsburg sich als Friedens- und Umweltstadt positioniert, wird dieser Themenkomplex jeweils beibehalten, aber mit neuen Schwerpunkten gefüllt. Augsburg hat als einzige Stadt weltweit einen gesetzlichen Friedens-Feiertag, das „Hohe Friedensfest“, und vergibt einen eigenen Friedenspreis (zu den letzten Preisträgern gehörten Pfarrer Führer und Gorbatschow). Außerdem ist die Stadt Sitz des Bayerischen Landesamtes für Umwelt und eines Gründerzentrums für Umwelttechnologie Die Themenauswahl richtet sich nach den in der Stadt gelegten Schwerpunkten und aktuellen Jubiläen. Was dauernd oder im jeweiligen Jahr aktuell ist, soll auch von den Erkundungen erfasst werden. So waren 2006 das Mozartjahr (Augsburg ist die deutsche Mozartstadt) und das Brechtjahr (Brecht stammt aus Augsburg) Anlass, die Themenbereiche Musik und Literatur festzulegen. 6 7 Dieser Begriff ist nicht einfach gleichzusetzen mit “language awareness” (vgl. dazu Luchtenberg 1995). Wir meinen damit, dass bei den einzelnen Projekten die Bedeutung der eigenen Sprachkompetenz nicht aus dem Auge verloren wird, sondern im Gegenteil als mitentscheidend für die Erfüllung kommunikativer Ziele reflektiert wird. Ellis (1990:196) formuliert dies so: „Deviant output that is subject to corrective feedback raises conciousness and facilitates acquisition of the correct forms.” 458 Hansjörg Bisle-Müller, Henry K. Ostberg 2007 finden vielfältige Aktivitäten zum Thema Wasser und Frieden statt, so dass wir natürlich hier anknüpfend auch im Bereich „Friedens- und Umweltstadt“ das Thema Wasser mit aufgenommen haben. Da für Augsburg wie auch für andere Städte wegen der europäischen Feinstaubverordnung das Thema Fahrverbot in der Innenstadt ansteht, haben wir auch eine Projektgruppe „Umwelt und Verkehr“ vorgesehen. Mit der Stadt Augsburg untrennbar verbunden ist der Name Fugger, dessen Vermächtnis, die „Fuggerei“ , als älteste Sozialsiedlung Europas auch heute noch besteht. So ist ein Themenbereich 2007 die „Fuggerstadt“ (Wirtschafts- und Sozialstadt), bei dem es auch um die Profilierung der Stadt Augsburg als Wirtschaftsstandort geht. Dass der Maler Hans Holbein und Stadtbaumeister Elias Holl hier wirkten und heute wieder eine immer mehr beachtete Kunstszene entstanden ist, war uns Grund genug auch die Kunst- und Museenlandschaft als Themenbereich unter dem Titel „Kunststadt“ aufzunehmen. So besteht also schon vor Kursbeginn eine Orientierungsmöglichkeit über die Projekte. Die Projektinhalte und die Auswahl der Gesprächspartner müssen allerdings aus organisatorischen Gründen von der Kursleitung vorab festgelegt werden. Zusätzliche Informationsquellen und Gesprächspartner können aber durchaus von den Kursteilnehmern nach Festlegung der Projektgruppen noch bestimmt werden. 3.2 Sprachliche und inhaltliche Vorbereitung in drei Niveaugruppen In der ersten Kurswoche werden die TeilnehmerInnen nach einem Einstufungstest (CTest) in drei Niveaugruppen eingeteilt, um die Vorbereitung dem Sprachniveau entsprechend durchführen zu können. Als Voraussetzung für die Teilnahme werden Deutschkenntnisse auf dem Niveau B2 genannt, so dass durchaus mit einer Leistungsspanne von B2 bis C2 gerechnet werden kann. Auch ist nicht auszuschließen, dass einige Teilnehmer nur dem Niveau B1 entsprechen, da bei der Anmeldung die Niveaubestimmung notgedrungen nur über im Internet angebotene Sprachstandstests von den Interessenten selbst vorgenommen wird. Es bleiben uns leider nur drei Tage mit insgesamt 20 Unterrichtsstunden, um alle TeilnehmerInnen in diesen Niveaugruppen vorzubereiten. Grundlage der Vorbereitung sind Texte, die sich mit den drei Themenbereichen beschäftigen. Diese dienen dazu, einen für die Erkundungsgespräche notwendigen Wortschatz zu erarbeiten, in die Bereiche allgemein einzuführen, wichtige grammatische Strukturen zu wiederholen (Passivkonstruktionen, Modalverbverbindungen, Formen der indirekten Rede etc.), Notizentechniken zu üben und Gesprächsstrategien aufzuzeigen. Diese Vorbereitung erfolgt kursleitend durch entsprechend qualifizierte DozentInnen. Die in der zweiten und dritten Woche eingesetzen TutorInnen schließen dann an die von den DozentInnen geleistete Arbeit an, um die Arbeit in den einzelnen Projektgruppen zusätzlich zu betreuen. Der Unterricht in den Niveaugruppen lässt sich nur begrenzt vorbereiten, da das Leistungsniveau erst nach unserem Einstufungstest zuverlässig einschätzbar ist. Insofern wird von den DozentInnen ein hohes Maß an Flexibilität verlangt, das auch die kurzfristige Erarbeitung von Zusatzmaterialien verlangt. Hierbei werden sie dann auch Projektarbeit Sprachpraxis: Erkundungen bei städtischen Entscheidungsträgern 459 von den TutorInnen unterstützt, die vorzugsweise aus dem Bereich DaF kommen. Für jede der drei Niveaugruppen von etwa 20 Teilnehmern steht eine DozentIn zur Verfügung. Dazu kommen noch insgesamt sechs TutorInnen. 3.3 Entscheidung für die Projektgruppen und Vorbereitung auf die Erkundungen Am dritten Tag der Vorbereitung erfolgt dann die Festlegung auf den Themenbereich und die Projektgruppe. Hier muss die Kursleitung auch steuernd eingreifen, damit die Höchstzahl von 5 TeilnehmerInnen pro Gruppe nicht überschritten wird und möglichst in keiner Gruppe Teilnehmer mit der gleichen Muttersprache sind. Außerdem sollen TeilnehmerInnen aus allen drei Niveaugruppen in jeder Projektgruppe vertreten sein, um ein ausreichendes und einigermaßen gleiches Niveau für alle Projektgruppen zu garantieren. Aus dem ersten Kurs haben wir gelernt, dass wir auch darauf achten müssen, dass in jeder Projektgruppe mindestens zwei „Motivatoren“ sitzen, die die Gruppe in ihrem Engagement vorantreiben. Oder anders ausgedrückt, es muss vermieden werden, dass sich in einer Gruppe die eifrigsten KursteilnehmerInnen und in einer anderen Gruppe die bequemsten versammeln. Wer sich 2007 etwa für den Bereich Kunststadt Augsburg interessierte, bekam als Alternativen die Projektgruppen „Museenlandschaft, Galerien und Ausstellungen“, „Aktuelle Kunstszene in Augsburg“, „Architektur in Augsburg gestern und heute“ und „Malerei und Skulpturen im öffentlichen Raum der Stadt Augsburg“ angeboten. Für jede der Projektgruppen stehen in der Regel vier GesprächspartnerInnen zur Verfügung. Sollten die TeilnehmerInnen mehr Informationen wünschen, können sie mit Unterstützung der TutorInnen auch versuchen, zusätzliche Kontakte zu bekommen. Alle vier Projektgruppen, die sich mit einem Themenbereich beschäftigen, werden gemeinsam von einer DozentIn und 2 TutorInnen betreut. Am ersten Tag der zweiten Woche bereiten sie sich auf die Gespräche gezielt vor, werten die ihnen vorab zur Verfügung gestellten Informationen aus, recherchieren zusätzlich im Internet und arbeiten Fragen an die Gesprächspartner aus. Dabei müssen sie sich natürlich auch besonders Informationen über die zu Interviewenden und die von diesen vertretenen Institutionen beschaffen. In der Projektgruppe „Malerei und Skulpturen im öffentlichen Raum der Stadt Augsburg“ stießen sie dann auch sehr schnell auf ein für Augsburg nicht sehr schmeichelhaftes Kunstereignis, das in den Medien in ganz Deutschland Wellen geschlagen hat. Elenor Holland, die Herausgeberin der Augsburger Allgemeinen Zeitung, hat vor wenigen Jahren der Stadt Augsburg eine Skulptur von Markus Lüpertz geschenkt, die – als moderne Ergänzung zu den berühmten Brunnenfiguren von Adriaen de Vries – auf der „Prachtmeile“ der Stadt, der Maximilianstraße, aufgestellt werden sollte. Da aber die moderne Aphrodite von Lüpertz einigen umtriebigen Augsburgern als nicht aphroditenhaft genug erschien, wurde schließlich nach einer langen Kampagne das Geschenk gezwungenermaßen zurückgenommen. Heute steht es am Eingang des Verlagsgebäudes der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Die Beschäftigung mit dem Projektthema 460 Hansjörg Bisle-Müller, Henry K. Ostberg führt also sehr schnell zu allgemeinen Fragen der Lokalpolitik, zum Verhältnis der Presse zur politischen Führung der Stadt und zu Fragen der Bürgerbeteiligung. Hier waren die DozentInnen und TutorInnen gefordert, bei der Vorbereitung auf das Gespräch mit der Kulturredaktion der Zeitung die entsprechende Unterstützung zu leisten. 3.4 Erkundungen mit den Projektgruppen Die Gespräche mit den InterviewpartnerInnen sind natürlich das Herzstück der Erkundungen. Bei diesen Gesprächen sind die KursteilnehmerInnen dann völlig auf sich allein gestellt. Die Termine werden von der Kursleitung abgestimmt, die Gespräche werden mit Hilfe der DozentInnen und TutorInnen vorbereitet, aber dann gibt es keine fremde Hilfe oder Kontrolle mehr. Dies kann auch sehr aufregend sein. Wenn einer der weltweit besten Jazz-Vibraphonisten, Wolfgang Lackerschmid, in seinen „Traumraum“ einlädt und dann auch noch ein kleines Privatkonzert für fünf ausländische Studierende gibt, dann ist dies mehr als nur die Erfüllung eines Gesprächswunsches. Oder wenn 2007 der Oberbürgermeisterkandidat der CSU sich eine Stunde Zeit nimmt, um im Vorwahlkampf fünf unserer KursteilnehmerInnen für ein Gespräch über den Wirtschaftsstandort Augsburg zur Verfügung zu stehen, dann ist das vor allem dann ein besonderes Ereignis, wenn man weiß, dass dieser Kandidat das Thema Wirtschaftspolitik zu einem der Schwerpunkte seines Wahlkampfes machen will. Da hat also während unseres Sommerkurses der Wahlkampf schon begonnen und unsere Studierenden sind als Rechercheure mitten drin. Unsere KursteilnehmerInnen werden dabei durchaus ernst genommen. Wenn etwa ein Domkapitular mit einigen Jahren Vatikanerfahrung, der für die Weltkirche in führender Position tätig war und ist, auf seiner Website vom Besuch von fünf ausländischen Studierenden berichtet, dann zeigt sich, dass hier nicht nur ein Projektauftrag abgewickelt wird, sondern ein für beide Seiten interessantes Gespräch stattgefunden hat. Die Liste der Interviewpartner umfasste 2007 über 50 Personen, darunter die Bundestagsabgeordneten der Berliner Koalition, eine Bürgermeisterin und einen Oberbürgermeisterkandidaten, städtische Referenten, RepräsentantInnen des DGB und karitativer Institutionen, ProfessorInnen der Universität, renommierte Künstler, Geistliche verschiedener Glaubensrichtungen sowie VertreterInnen verschiedener Wirtschaftsunternehmen. In unserem ersten Sommerkurs 2006 wurden einige Gespräche auch auf einer DVD dokumentiert, die zeigt, mit welcher Begeisterung und Intensität die Interviews geführt wurden. 3.5 Auswertung in den Projektgruppen und Präsentation der Ergebnisse Die härteste Arbeit folgt in der dritten Woche8. Jede Projektgruppe muss einen schriftlichen Bericht von ca. 5 Seiten über ihre Erkundungsergebnisse anfertigen. Dieser Bericht soll nicht nur die in den Gesprächen erhaltenen Informationen enthalten, sondern 8 Die vorherrschende Stimmung in den Projektgruppen dazu formulierte im Sommerkurs 2006 eine Teilnehmerin aus Rumänien am treffendsten: „Die letzte Woche war ein bisschen ermüdend, aber am letzten Tag fühlten sich meine Kollegen und ich wie kleine Stars.“ Projektarbeit Sprachpraxis: Erkundungen bei städtischen Entscheidungsträgern 461 darüber hinaus einen zusammenfassenden Einblick in das der Projektgruppe gestellte Thema geben. Die Berichte werden dann für alle zugänglich ins Internet gestellt. Die Arbeit an den Berichten ist dabei für uns der entscheidende Punkt. Das Endergebnis darf lückenhaft und sogar in Grenzen fehlerhaft sein. Entscheidend ist, dass im Prozess der Erarbeitung und Bearbeitung der Texte Lernfortschritte erkennbar sind. Allerdings muss eine Endredaktion der Kursleitung sicher stellen, dass im Internet dann nur eine möglichst normgerechte Variante angeklickt werden kann. So soll ausgeschlossen werden, dass negative Übertragungseffekte den Sprachlernprozess stören. Um ein flexibles Arbeiten zu ermöglichen, muss jede Projektgruppe Zugang zu Computern haben, am besten natürlich über ein Notebook9 verfügen. Im Sommerkurs 2006 haben einige Gruppen bis in die Nacht hinein und am Feiertag in ihrem Wohnheim an der Fertigstellung ihrer Berichte gearbeitet. Nicht unter Zwang, sondern aus Lust an der Arbeit. Mit dem größten Eifer stürzen sich die TeilnehmerInnen in die Vorbereitung der Präsentationen am letzten Kurstag. Dafür haben sie ein bis zwei Tage Zeit, je nachdem wie schnell sie mit ihrem Bericht fertig geworden sind. Für die Präsentation werden außer zeitlichen keine Vorgaben gemacht. Jede Projektgruppe bekommt 20 Minuten, um die Ergebnisse ihrer Arbeit im für alle öffentlich zugänglichen Plenum zu präsentieren. Die Art der Beiträge ist völlig freigestellt: Vortrag, szenische Darstellung, PowerPoint-Präsentation – jede Gruppe verfährt nach eigenem Gutdünken . Die Studierenden vergaßen bei dieser intensiven Arbeit bisher aber auch nicht die Vorbereitung einer Abschluss-Party. Den Höhepunkt und Abschluss des Sommerkurses bildet die öffentliche Präsentation der Ergebnisse im großen Hörsaal am letzten Kurstag. Zu der viereinhalbstündigen, durch eine Mittagspause unterbrochenen Veranstaltung werden eigens die GesprächspartnerInnen (gezielt nach Themenbereichen) eingeladen. Unser Ziel ist es, eine immer größere Öffentlichkeit mit dieser Präsentation zu erreichen und so den Sommerkurs noch mehr ins öffentliche Leben der Stadt Augsburg einzubinden. Die Erfahrung des ersten Kurses zeigte aber auch, dass seitens der Kursleitung eine umfänglichere Moderation angesagt ist, um auch schwächere Präsentationen besser zur Geltung kommen zu lassen und den Ablauf gefährdende Zeitüberschreitungen zu verhindern. 3.6 Dokumentation, Feedback, Kontakte pflegen Der Kurs 2006 wurde dank des Engagements einer Augsburger Studentin der Mediendidaktik auf einer DVD dokumentiert, die allen TeilnehmerInnen als Erinnerung zugesandt und den GesprächspartnerInnen als Präsent übergeben wurde. Eine ungeschnittene Fassung unserer Abschlussveranstaltung konnte auch 2007 erstellt und allen KursteilnehmerInnen zugesandt werden. Die Berichte und Präsentationsmaterialien werden jedes Jahr soweit möglich aufbewahrt und auf der kurseigenen Homepage (http://www.uni-augsburg.de/projekte/sommerkurs/rueckblick2007) veröffentlicht. 9 Die Notebooks wären ideal, weil wir so die gemeinsame Betreuung in den Gruppenräumen durchgängig gewährleisten könnten. Leider ließ sich dies bisher noch nicht wie gewünscht verwirklichen. 462 Hansjörg Bisle-Müller, Henry K. Ostberg Aus den E-Mail-Rückmeldungen ergab sich bei beiden bisherigen Sommerkursen, dass einige TeilnehmerInnen sich eine Teilnahmebeschränkung auf die Niveaus C1 und C2 gewünscht hätten, da sie in den Projektgruppen eine Belastung durch Studierende auf dem Niveau B2 sahen. Andererseits zeigte sich aber, dass gerade für diese TeilnehmerInnen die große sprachliche Herausforderung sehr motivations- und kompetenzfördernd war. Auch mehr traditioneller Grammatikunterricht und Sprachlaborarbeit wurde teilweise gewünscht. Dies zeigt, dass wir unser Konzept den TeilnehmerInnen noch eingehender erläutern und bei der Gruppenarbeit in der ersten Woche und bei der Projektarbeit in der letzten Woche noch Verbesserungen vornehmen müssen. Das Bewusstsein, „ an einem unüblichen Sprachkurs“10 teilgenommen und in den abschließenden Präsentationen Hervorragendes geleistet zu haben, dominierte die Einschätzungen in den abschließenden Gesprächen und E-Mails. Dass der Kurs als erfolgreich empfunden wird, ist natürlich noch kein Beweis dafür, dass er es auch ist. Aber es freut uns schon, wenn nach drei Wochen harter Projektarbeit eine Studentin aus Kroatien in einer E-Mail festhält: „Dieser Sommer war der beste meines Lebens.“ Unsere Homepage bietet den TeilnehmerInnen zum einen durch ein täglich aktualisiertes Bildtagebuch die Möglichkeit, während des Kurses Freunden und Verwandten zu Hause einen Einblick in die vielfältigen Aktivitäten zu geben, andrerseits soll sie der Aufrechterhaltung und dem Ausbau entstandener Kontakte dienen. Dies ist eins unserer ambitioniertesten Ziele: Der Sommerkurs soll nachhaltig wirken und mehr sein als eine interkulturelle Begegnung für drei Wochen11. Damit uns dies gelingt, müssen wir noch einiges an Arbeit leisten. Literatur Ellis, Rod (1990): Instructed Second Language Acquistion. Oxford u.a.: Blackwell. Ellis, Rod (1997): Second Language Acquisition. Oxford u.a.: Oxford University Press. Isoplan (2003): Evaluierung des Programms „Hochschulsommerkursstipendien“. In: DAAD (Hrsg.): Hochschulsommerkurse – Status Quo und Perspektiven. Bonn: DAAD, 47110. Kaikkonen, Pauli (2002): Authentizität und authentische Erfahrung in einem interkulturellen Fremdsprachenunterricht. In: Info DaF 29, 3-12. Lehker, Marianne (2003): Projektarbeit im DaF-Unterricht. In: Info DaF 30, 562-575. Luchtenberg, Sigrid (1995): Language Awareness. Oder: Über den bewussten Umgang mit der Fremdsprache im Unterricht. In: Fremdsprache Deutsch, Sondernummer 1995, 36-41. Schart, Michael (2003): Was ist das eigentlich: Projektunterricht? – Ein fiktives Gespräch über eine vage Idee. In: Info DaF 30, 576-593. 10 11 Diese Formulierung einer italienischen Studentin gibt am besten den ersten Eindruck wieder, den unser Kurs auf die Teilnehmenden macht. Beispiele wie folgende E-Mail aus Italien wünschen wir uns natürlich in großer Zahl: „ ... und habe auch die in Augsburg entstandenen Kontakte persönlich ausgenützt. Nach dem Papstbesuch in Bayern habe ich per E-Mail mit Pfarrer Kreiselmeier der evangelischen St. Ulrichskirche und dem katholischen Domkapitular Meier kommuniziert und sie nach ihrer Meinung gefragt. Dies war ein sehr angenehmes Ergebnis des ISK Augsburg 2006.“ Texte lernerorientiert auswählen 1 Christoph Chlosta, Gabriela Leder, Barbara Krischer (Hrsg.) (2008): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der 35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 an der Freien Universität Berlin. Göttingen: Universitätsverlag, 463-485. Sylwia Adamczak-Krysztofowicz (Poznań) & Antje Stork (Marburg) Texte lernerorientiert auswählen. Folgerungen aus einer quantitativen Studierendenbefragung für die Textauswahl und Textarbeit im universitären Fremdsprachenunterricht Einleitung Texte nehmen in jeglichem Fremdsprachenunterricht eine zentrale Rolle ein. Der Fremdsprachendidaktiker Rudolf Nissen ging sogar so weit zu sagen: „Ohne ‘Text’ (in des Wortes weitester Bedeutung) kein sinnvoller FU!“ (Nissen 1974: 259). Brusch; Caspari (1998) deuten dies so, dass die Lernenden im Fremdsprachenunterricht in der Regel überfordert seien, wenn ein Thema ohne Textvorlage behandelt würde, da ihnen (im Gegensatz zu den Lernenden im Muttersprachenunterricht) die entsprechende Sprachund Redekompetenz fehle. Diese werde erst durch eine „sorgfältige fremdsprachliche Text- und Gesprächsdidaktik“ aufgebaut (Brusch; Caspari 1998: 169). An dieser Stelle kann nicht auf die zahlreichen Definitionen von „Text“ in den unterschiedlichen Disziplinen eingegangen werden1. Wir verstehen unter „Texten“ in Anlehnung an Altmayer (2002: 3f.) alle Formen der öffentlichen und medial vermittelten Kommunikation, die auch nicht-sprachliche Symbolsysteme (z.B. Bilder, Zeichnungen) einbeziehen können und die in herkömmlichen Printmedien (z.B. Zeitungen, Zeitschriften, Bücher), aber auch in neuen elektronischen Medien (z.B. Fernsehen, DVD, Internet) öffentlich zirkulieren: 1 Zum linguistischen Textbegriff vgl. z.B. Brinker (2005:10ff.), zu den Begriffen „Text“ und „Textsorten“ in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht vgl. z.B. Adamzik (2005). 464 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork „Zu ‘Texten’ in diesem Sinn gehören demnach traditionelle und rein sprachlich verfasste Zeitungstexte oder literarische Textsorten ebenso wie etwa Werbeanzeigen, Plakate, Karikaturen oder Lieder, die neben der Sprache auch andere Symbolsysteme wie Musik und/oder Bilder verwenden.“ (Altmayer 2002: 4). Um im DaF-Unterricht mit Texten zu arbeiten, ist zunächst einmal eine Auswahl vorzunehmen. Selbst wenn im Unterricht mit einem Lehrwerk gearbeitet wird, in dem eine Vielzahl von Texten angeboten wird, so ist doch zumeist aus folgenden Gründen die Einbeziehung von weiteren Texten angebracht: • Die Texte in Lehrwerken sind nicht immer authentisch. • Die Texte sind nur in begrenztem Maße aktuell. Im besten Fall sind die Texte bereits einige Monate alt, in den meisten Fällen wurden sie bereits vor mehreren Jahren verfasst. • Die Texte richten sich an eine sehr weite Zielgruppe. Sie orientieren sich daher nicht an den Wünschen und Bedürfnissen einer bestimmten Lerngruppe. In diesem Beitrag beschäftigen wir uns mit der lernerorientierten Auswahl von Texten für den universitären DaF-Unterricht. Dabei beziehen wir uns ausschließlich auf die Textarbeit in allgemeinsprachlichen Kursen. Als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen dient eine von uns im Wintersemester 2005/2006 an der Philipps-Universität Marburg (Deutschland) und der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań (Polen) durchgeführte Studierendenbefragung. In Abschnitt 2 werden wir die wichtigsten Ergebnisse darstellen, und zwar die studentischen Vorlieben bezüglich der Textauswahl (Abschnitt 1.1), der Themenauswahl (Abschnitt 1.2) sowie der Verfahrensweise bei der Textauswahl (Abschnitt 1.3). Im Anschluss entwickeln wir in Abschnitt 3 Bausteine für ein methodisch-didaktisches Konzept zur Auswahl und zum Einsatz von Texten an der Hochschule. Dazu stellen wir zehn Thesen zur Textauswahl und zehn Thesen zur Textbehandlung im universitären DaF-Unterricht dar (Abschnitt 2.1), schlagen einen vier Fragenkomplexe umfassenden Fragenkatalog zur Einschätzung authentischer Hör- und Lesetexte vor (Abschnitt 2.2) und präsentieren eine Liste mit ausgewählten, aktuellen Online-Materialien für die Textarbeit im DaF-Unterricht (Abschnitt 2.3). Ein Ausblick auf die Integration in ein methodisch-didaktisches Konzept zum Umgang mit Hörund Lesetexten im universitären DaF-Unterricht in Abschnitt 3 beschließt den Beitrag. 1. Resümee der Studierendenbefragung zu Text- und Themenpräferenzen An der von uns durchgeführten Studie, die bereits an einer anderen Stelle genauer erörtert wurde (vgl. Stork und Adamczak-Krysztofowicz 2006), haben 109 Studierende moderner Fremdsprachen teilgenommen, davon 60% aus Poznań (= 66 Studierende) und 40% aus Marburg (= 43 Studierende). Alle TeilnehmerInnen aus Poznań waren im Studium „Angewandte Linguistik“ eingeschrieben, die TeilnehmerInnen aus Marburg studierten überwiegend Englisch oder Deutsch als Fremdsprache. Der für die empirische Erhebung konzipierte Fragebogen (vgl. Anhang) ging der Hauptfragestellung nach, welche Texte für den Einsatz in der fremdsprachlichen Unterrichtspraxis an der Hochschule aus der Sicht von erwachsenen Lernenden besonders Texte lernerorientiert auswählen 465 geeignet sind und enthielt in diesem Zusammenhang sowohl Fragen zu Textsorten als auch zu Inhalten und Themen von Texten sowie zur Textauswahl. In den folgenden Abschnitten werden die Fragestellungen skizziert und die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt, welche die Basis bilden für unsere praktischen Hinweise zur lernerorientierten Textauswahl und Textarbeit an der Hochschule. 1.1 Studentische Vorlieben bezüglich der Textauswahl Die Studierendenbefragung zu Textpräferenzen hing mit folgenden Überlegungen eng zusammen: • Welche Texte (und warum) sind für Studierende für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht interessant und attraktiv? (vgl. Frage 3 des Fragebogens im Anhang) • Welche von den im FU an der Universität behandelten Textsorten halten die erwachsenen Lernenden für nützlich? (vgl. Frage 4 des Fragebogens im Anhang) • Welche Textsorten fehlen den Studierenden im universitären Fremdsprachenunterricht? (vgl. Frage 5 des Fragebogens im Anhang) Die Befunde der obigen textsortenbezogenen Fragen können wie folgt stichwortartig zusammengefasst werden: Als für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht interessant und motivierend2 wurden von allen Studierenden Lieder, Zeitungsartikel, Zeitschriftenartikel und Fernsehsendungen angesehen. Als uninteressant (weniger als 5% Nennungen) wurden dahingegen von beiden Gruppen Rezensionen, Briefe, Berichte, Prospekte und Bekanntmachungen gewertet. Interessante Differenzierungen zeigten sich zwischen den Antworten der Studierenden aus Poznań und aus Marburg. Abweichende Ergebnisse ergaben sich bei der Einschätzung des Stellenwerts von literarischen Texten, die in Marburg einen hohen Stellenwert einnahmen und in Poznań selten für erwähnenswert gehalten wurden. Allerdings lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Diskrepanz auf den kulturellen Hintergrund oder die Organisationsstruktur der jeweiligen Hochschule zurückzuführen ist, da nur jeweils eine Universität beider Länder in die Untersuchung einbezogen wurde. Was weitere Differenzen zwischen den Antworten der Posener und der Marburger anbetrifft, nahmen Fernseh- und Radiosendungen umgekehrt in Poznań einen höheren Stellenwert ein als in Marburg. Eine Erklärung dieser abweichenden Einschätzung von audiovisuellen Medien liegt möglicherweise in unterschiedlichen Organisationsstrukturen des Studiums, anderen Schwerpunkten bei der fachlichen methodischen Unterweisung sowie verschiedenen Vorlieben der polnischen und deutschen Lehrkräfte. Auch Witze hielten die Studierenden in Poznań für motivierender als die Studierenden in Marburg. Als Begründung für die oben aufgelisteten Präferenzen wurden von den befragten Studierenden häufig solche Faktoren wie didaktische Eignung von Texten, persönliche Interessen der Studierenden sowie Aktualität bzw. Authentizität von Textsorten genannt: 2 Zu den Ergebnissen der Fragen 3, 4 und 8 vgl. Stork; Adamczak-Krysztofowicz (2006), Abbildungen 4, 5 und 7. 466 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork „Zeitungen und Interviews lesen wir alle ab und zu und wenn man sie in einer anderen Sprache spricht, lernt man noch dazu, also Spaß und Lernen gleichzeitig.“ (Fb 22) „Lieder – beim Singen kann man sich besser die neuen Wörter merken; Bilder – sie eröffnen einen Interpretationsraum, fördern die Toleranz, denn jeder Schüler kann eine andere Meinung zu einem Bild haben; sie sind gute Sprechanlässe.“ (Fb 28) „Fernsehprogramme sind gut für Hörverstehen, aus Liedern kann man einen Lückentext machen, in Zeitungsartikeln findet man Wörter, die im Alltag vorkommen.“ (Fb 53) Als besonders nützlich für die sprachliche Progression wurden dagegen von beiden Studierendengruppen Zeitungsartikel und Zeitschriftenbeiträge, Lieder sowie Fernsehsendungen bezeichnet. Während noch Berichte von vielen Studierenden aus Marburg und aus Poznań in Bezug auf den Nutzen für die sprachliche Progression als erwähnenswert gehalten wurden, traf dies auf Prospekte und Briefe nicht zu. Auch Bedienungsanleitungen und Formulare wurden mehrheitlich abgelehnt. In ihren Begründungen zu den genannten Präferenzen wurden von den befragten Studierenden solche Faktoren hervorgehoben wie: Variation und Attraktivität von Textsorten sowie ihre didaktischen Funktionen bei der Entwicklung von sprachlichen Fähigkeiten und Subsystemen. „Diese Texte erweitern den Wortschatz.“ (Fb 40) „Ich finde, dass die Kästchen, die ich angekreuzt habe, ermöglichen alle Sprachfertigkeiten zu entwickeln; Unterstützung der Konzentration.“ (Fb 51) Die Frage, welche Texte den Studierenden im Unterricht fehlen, wurde nicht von allen TeilnehmerInnen beantwortet. Von den polnischen Studierenden wurden als fehlend am häufigsten genannt: Lieder (18 Nennungen), Fernsehsendungen (16), Radiosendungen (8), literarische Texte (7) und Zeitungsartikel (7). Die deutschen Studierenden nannten am häufigsten als fehlende Textsorten: Zeitschriftenbeiträge (6), Fernsehsendungen (5), Radiosendungen (5), Lieder (4) und Interviews (4). 1.2 Studentische Präferenzen bei der Themenauswahl In Bezug auf die Themenpräferenzen waren folgende Fragen von besonderem Interesse: • Welche Themen/Inhalte (und warum) sprechen Studierende besonders an? (vgl. Frage 2 des Fragebogens im Anhang) • Welche Themen/Inhalte (und warum) werden für die Behandlung im Fremdsprachenunterricht für nützlich gehalten? (vgl. Frage 6 des Fragebogens im Anhang) • Welche Inhalte fehlen den Studierenden im universitären Fremdsprachenunterricht (vgl. Frage 7 des Fragebogens im Anhang) Die Auswertung ergab zusammenfassend folgende Ergebnisse: Die Studierenden nennen als besonders ansprechende Themen/Inhalte (vgl. Abb. 1) Kultur, Gesellschaft und Auslandsnachrichten. Am wenigsten häufig (weniger als 5% der Nennungen) wird in beiden Gruppen Technik genannt. Texte lernerorientiert auswählen Themen/Inhalte Politik Geschichte Tourismus Kultur Sport Gesellschaft Medien Wirtschaft Technik Wissenschaft Inlandsnachrichten Auslandsnachrichten Gesundheit Wetter/Klima Sonstige 467 Poznań (Prozent) Marburg (Prozent) 23,8% 48,8% 12,7% 39,0% 15,2% 12,2% 65,1% 53,7% 20,6% 22,0% 58,7% 46,3% 36,5% 17,1% 9,5% 0,0% 3,2% 4,9% 6,4% 14,6% 22,2% 29,3% 28,6% 46,3% 25,4% 14,6% 3,2% 9,8% 19,0% 14,6% Abb. 1: Besonders ansprechende Themen/Inhalte (Frage 2) Die Marburger Studierenden werden stärker als ihre Kommilitonen aus Poznań von Politik und Geschichte angesprochen. Die Studierenden aus Poznań interessieren sich stärker für Medien und Gesundheit. Als Begründung wird Interesse genannt sowie die Aspekte Allgemeinwissen bzw. aktuelle Information: „Weil ich mich dafür interessiere.“ (Fb 3, 16, 59) „Wichtig für die Allgemeinbildung.“ (Fb 77) „Ich möchte gerne wissen, was in der Welt um mich geschieht und auf dem Laufenden sein.“ (Fb 104) Als für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht interessant werden von den Studierenden am häufigsten genannt: Kultur, Gesellschaft, Politik und Nachrichten. Am wenigsten häufig (unter 5% der Nennungen) werden Technik und Wetter angegeben (vgl. Abb. 2). Die Marburger Studierenden plädieren stärker für Politik und Geschichte, die Studierenden aus Poznań sprechen sich dahingegen stärker für Medien und Gesundheit aus. Gründe für die unterschiedlichen Inhaltspräferenzen könnten im kulturellen Hintergrund (insbesondere der geschichtlich-politischen Entwicklung beider Länder im 20. und 21. Jahrhundert) liegen. Als Begründung für die Nützlichkeit der genannten Textinhalte für den Fremdsprachenunterricht werden häufig der Stellenwert von landeskundlichem Wissen oder die Wichtigkeit der Aktualität von Textinhalten hervorgehoben: „Man sollte über das Land und die Leute informiert sein.“ (Fb 90) „Es ist wichtig nicht nur eine Sprache, sondern auch den kulturellen Hintergrund und die Menschen kennenzulernen.“ (Fb 93) „Man sollte sich mit dem Aktuellen beschäftigen und vor allem die Thematik an die Schüler anpassen.“ (Fb 43) 468 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork Themen/Inhalte Poznań Marburg Politik 38,1% 64,3% Geschichte 22,2% 57,1% Tourismus 22,2% 21,4% Kultur 77,7% 83,3% Sport 12,7% 7,1% Gesellschaft 63,5% 81,0% Medien 33,3% 26,2% Wirtschaft 17,5% 0,0% Technik 3,2% 0,0% Wissenschaft 12,7% 2,4% Nachrichten 39,7% 40,5% Gesundheit 17,5% 0,0% Wetter 0,0% 2,4% Sonstige 4,8% 0,0% Abb. 2: Nützliche Themen/Inhalte für den Fremdsprachenunterricht (Frage 6) Die meisten TeilnehmerInnen geben einen bis drei Textinhalte an, die im universitären Fremdsprachenunterricht ihrer Meinung nach fehlen. Von den polnischen Studierenden werden als fehlend am häufigsten genannt: Kultur (19 Nennungen), Gesellschaft (14), Geschichte (7), Technik (6), Medien (5), Nachrichten (5) und Politik (5). Die deutschen Studierenden nennen hingegen am häufigsten als fehlende Themen: Geschichte (9), Politik (7), Kultur (5), Sport (4) und Nachrichten (4). 1.3 Wünsche der Studierenden bezüglich der Verfahrensweise bei der Textauswahl In Bezug auf die Art der Textauswahl interessierte uns: • Wer sollte nach Meinung der Studierenden die Textauswahl vornehmen? (vgl. Frage 8 des Fragebogens im Anhang) • Welche Kriterien sind den Studierenden bei der Auswahl eines bestimmten Textes besonders wichtig? (vgl. Frage 9 des Fragebogens im Anhang) Folgende Ergebnisse erbrachte die Studierendenbefragung: Die Studierenden wünschen, dass die Auswahl der Textsorten für den Einsatz im universitären DaF-Unterricht nicht ohne Einbeziehung der Adressaten vorgenommen werden sollte. Nach Meinung von etwa drei Viertel aller Studierenden in Poznań und in Marburg sollte nämlich die Textauswahl durch den Fremdsprachenlehrenden nach Befragung der Lernenden erfolgen. Eine alleinige Textauswahl durch die Lehrperson ohne Beteiligung der Lernenden befürworten nur 3% der polnischen Studierenden und etwa 9% der deutschen Studierenden. In Bezug auf die Kriterien, die bei der Auswahl eines bestimmten Textes für den universitären Fremdsprachenunterricht besonders berücksichtigt werden sollen, stehen die Interessen und Bedürfnisse der Lernenden und die sprachliche Progression bei beiden Texte lernerorientiert auswählen 469 Studierendengruppen auf den Plätzen 1 und 2. Dies unterstreicht nochmals eindrucksvoll, dass die Studierenden in die Textauswahl einbezogen werden möchten. Das mangelnde Interesse an einer selbstständigen (das heißt, von der Lehrperson unabhängigen) Textauswahl interpretieren wir so, dass die Studierenden sich die für sehr wichtig erachtete Einschätzung des sprachlichen Niveaus des fremdsprachigen Textes nicht zutrauen bzw. nicht leisten wollen. Unterschiedliche Einschätzungen gibt es zum Kriterium der landeskundlichen Progression, das etwa die Hälfte der Marburger Studierenden als sehr wichtig bezeichnet im Gegensatz zu etwa einem Drittel bei den Posener Studierenden. Textauswahlkriterien Interessen und Bedürfnisse der Lernenden Sprachliche Progression Landeskundliche Progression Entspannung und Unterhaltung Allgemeinwissenund Horizonterweiterung Aktualität der Texte Authentizität der Texte Relevanz des Themas Variation von Texten Schwierigkeit der Texte Sonstige Poznań (Prozent) sehr nicht ab und zu wichtig wichtig Marburg (Prozent) sehr ab und zu wichtig nicht wichtig 84,1% 14,3% 1,6% 59,9% 38,1% 2,4% 75,8% 21,0% 3,2% 80,5% 19,5% 0% 31,2% 59,0% 9,8% 51,2% 48,8% 0% 33,9% 53,2% 12,9% 9,3% 53,5% 37,2% 45,9% 49,2% 4,9% 21,4% 52,4% 26,2% 52,4% 39,7% 7,9% 27,9% 58,1% 14,0% 33,9% 37,1% 29,0% 47,6% 33,3% 19,1% 21,7% 53,3% 25,0% 27,9% 62,8% 9,3% 39,3% 47,5% 13,2% 48,8% 48,8% 2,4% 44,4% 44,4% 11,2% 41,8% 48,8% 9,4% 0% 0% 0% 0% 0% 0% Abb. 3: Wichtigkeit von Textauswahlkriterien (Frage 9) 2. Bausteine für ein methodisch-didaktisches Konzept zur Auswahl und zum Umgang mit Texten an der Hochschule In diesem Abschnitt des Beitrags wird der Versuch unternommen, die empirischen Erkenntnisse zur Auswahl von Textsorten und Textinhalten in einen methodisch-didaktischen Leitfaden zur lernerorientierten Auswahl und Behandlung von Texten im DaF-Unterricht an der Hochschule zu überführen. Dieser Leitfaden sollte nicht nur die Aspekte Textsorten und Themen umfassen, sondern darüber hinaus auch die weiteren wichtigen Kriterien bei der Textauswahl berücksichtigen, relevante didaktisch-metho- 470 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork dische Postulate für die Textarbeit in der universitären Unterrichtspraxis präsentieren sowie mögliche praktische Hinweise zu aktuellen Online-Materialien für die Beschaffung von lehrbuchunabhängigen Hör- und Lesetexten geben. 2.1 Zwanzig Thesen zur Textauswahl und zur Textbehandlung im universitären DaF-Unterricht Im Folgenden richten wir zuerst unser Augenmerk auf die methodisch-didaktischen Leitprinzipien der Textarbeit in sprachpraktischen Lehrveranstaltungen mit Studierenden. Die Postulate werden in keiner zwingenden Reihenfolge, aber getrennt in Form von konkreten Thesen zur Textauswahl und dann zur Textbehandlung dargestellt. Zehn Thesen zur Textauswahl im universitären DaF-Unterricht 1. Lernerorientierung: Die Orientierung am Adressaten bedeutet bei der Textauswahl die Berücksichtigung solcher Voraussetzungen der Studierenden wie: Altersstufe, Interessen, Bedürfnisse, kulturelle Herkunft und Sprachgemeinschaft sowie bereits vorhandene Sprach- und Sachkenntnisse. 2. Lernzielorientierung: Die Lernzielorientierung bedeutet die Suche nach Texten, die zur sprachlich-landeskundlichen Progression der Studierenden wesentlich beitragen können. Um grundsätzliche Zieldimensionen (vor allem pragmatische und kognitive) des modernen Fremdsprachenunterrichts zu verwirklichen, sollen die ausgewählten Textsorten für junge erwachsene Lernende wichtige Kommunikationssituationen abbilden und solche sprachlichen Mittel enthalten, die für die Entwicklung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz von Belang sind. 3. Themenorientierung: Die gezielte Kombination verschiedener Texttypen zu einem übergreifenden „generativen“ Thema, das sich in verschiedenen Richtungen ausweiten lässt, erlaubt eine differenzierte Behandlung von solchen für Studierende interessanten Themenfeldern wie Kultur oder Gesellschaft. 4. Variation von Textsorten: Im universitären DaF-Unterricht ist auf eine größtmögliche Variation und Kontrastierung verschiedenartiger Textsorten zu achten. Nur auf diese Art und Weise kann Monotonie vermieden und die Kreativität der Studierenden angeregt werden. 5. Bevorzugung von Lieblingstextsorten der Adressaten: Bei der Textbeschaffung sollten jedoch solche Textsorten häufiger Berücksichtigung finden, die von den Studierenden als besonders interessant, motivierend und nützlich bezeichnet werden. Zu dieser Gruppe gehören Zeitungsartikel, Zeitschriftenartikel, Lieder und Fernsehsendungen. 6. Authentizität der Texte: Die für die universitäre Unterrichtspraxis ausgewählten Texte sollten authentisch bzw. didaktisch authentisch sein, d.h. sie müssen: • in der Realität vorgefunden sein oder zumindest in einer realen Kommunikationssituation zum Einsatz kommen können, • einen wirklichen Adressaten haben, • eine wirkliche Autorenintention aufweisen, • themenbezogen sein sowie • eine erkennbare äußere Form (lay-out) haben. Texte lernerorientiert auswählen 471 7. Relevanz und Aktualität der Texte: Die an der Hochschule behandelten Texte müssen inhaltlich wie thematisch aktuell und relevant sein, d.h. sie sollten den Studierenden Denkanstöße geben und zu Folgerungen in Bezug auf eigene Erfahrungen und Erlebnisse anregen. Besonderes Augenmerk verdienen Textsorten, die bedeutsame und lebhaft in den Medien eines Zielsprachenlandes (bzw. mehrerer Zielsprachenländer) oder eines Herkunftssprachenlandes diskutierte Probleme thematisieren. 8. Schwierigkeitsgrad der Texte3: Bei der Auswahl der Texte ist es auch wichtig, die Vertrautheit der Studierenden mit lexikalischen Einheiten sowie syntaktischen Erscheinungen, dem thematisch-inhaltlichen Gegenstand und schließlich mit der Struktur eines bestimmten Textes abzuschätzen. Im Falle eines „anspruchsvolleren“ Textes kann einer Überforderung der Studierenden jedoch durch eine sorgfältige Vorbereitung auf die Textrezeption sowie eine adäquate einfache Aufgabenstellung entgegengewirkt werden. 9. Bereitstellung der Liste mit Internetquellen für die Suche nach geeigneten aktuellen Hör- und Lesetexten: Bei der Suche nach lehrwerkunabhängigen Quellen und bei der Erstellung von zusätzlichen thematischen Textdossiers sollte den Studierenden ein breites Spektrum von aktuellen Internetadressen für die Auswahl von authentischen Hörund Lesetexten zur Verfügung gestellt werden. 10. Gemeinsame prozessorientierte Textauswahl als Teil der Lesekompetenz: Die Studierenden sollen in mündlicher oder schriftlicher Form an der Textauswahl beteiligt werden. Vorher müssen sie aber schrittweise in vielfältige Redemittel zur Diskussion der Textauswahl sowie verschiedene Aufgabenformen zur lernerorientierten Beteiligung an dem Auswahlprozess eingeführt werden. Eine mündliche Diskussion kann dann im Plenum oder in arbeitsgleicher Gruppenarbeit (z.B. mit Erstellung eines Posters) erfolgen. Bei einer solchen Diskussion handelt es sich zugleich um eine authentische Kommunikationssituation, in der die erwachsenen Lernenden auch Begründungen für einzelne Textarten benennen und so die Auswahl und Gewichtung der Textsorten mit der Gruppe und der universitären Lehrkraft aushandeln. Auch eine schriftliche Auseinandersetzung mit den einzusetzenden Textarten ist denkbar, indem die Studierenden z.B. in Kleingruppen kooperativ einen Brief an die Lehrperson verfassen und Vorschläge für die Auswahl unterbreiten. In einem Antwortbrief könnte die Lehrperson ihren – auf Grundlage der Briefe der Lernenden – entwickelten Vorschlag vorstellen und begründen, der dann in einem abschließenden Plenumsgespräch diskutiert wird. Zehn Thesen zur Textbehandlung im universitären DaF-Unterricht 1. Gute Strukturiertheit jedes Unterrichtsschrittes: Das Lernen kann wesentlich effektiver verlaufen, wenn jede Unterrichtsstunde gut strukturiert ist. Den Studierenden sollen daher die wichtigsten Ziele und Absichten jedes Unterrichtsschrittes verständlich gemacht werden. In diesem Zusammenhag fordert Roche (2001: 187), alle eingesetzten Lehrmittel (also Texte) klar darzustellen und die mit ihnen verbundenen Aktivitäten immer deutlich zu formulieren. 3 Vgl. für eine kritische Überblicksdarstellung verschiedener Verfahren zur Ermittlung der Textschwierigkeit Nübold (2006). 472 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork 2. Förderung einer verstärkten Selbstständigkeit der Studierenden: Bei der Textarbeit in universitärer Unterrichtspraxis sollen handlungsorientierte Verfahren und offene, möglichst viele Fertigkeiten integrierende Aufgaben bevorzugt werden, bei denen die Selbstständigkeit der Studenten angebahnt wird. Das gilt vor allem für die lernerorientierte Reflexion der Lernziele, individualisierende Lernaufgaben, Analyse der erworbenen Lese- und Hörstrategien sowie Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die Quellen der Informationsbeschaffung bei der individuellen Erarbeitung von ausgewählten Themenfeldern. 3. Intensivierung explorierenden Lernens: Das explorierende Arbeiten kann im universitären DaFUnterricht durch die Anwendung der Dossier-Konzeption und Integration sprachlichen und soziokulturellen Wissens in Form von Kurzreferaten gefördert werden. Mündliche Präsentationen gewährleisten beispielsweise die Einarbeitung in wissenschaftliche Techniken des Zitierens, Zusammenfassens, Gegenüberstellens verschiedener Meinungen, der Erstellung eines Posters und sind daher der praktische Ausgangspunkt eines handlungsorientierten Unterrichts, der pragmatische, kognitive und affektive Ziele gleichberechtigt zu vermitteln versucht. Die Fokussierung auf das explorierende Lernen hat aber Konsequenzen für die Rolle der Unterrichtenden und der Studierenden. 4. Änderung der Lehrerrolle: Der Hochschullehrer sollte nicht den Lernprozess allein steuern, sondern die Rolle des Lernpartners und Beraters übernehmen. Dabei muss er aber über ein breites methodisches Wissen verfügen und gute Kenntnisse der Zielkultur(en) sowie umfassende Informationen zu den aktuellen Quellen für geeignete Medien und Realien (z.B. Internetadressen) besitzen. 5. Änderung der Lernerrolle: Die Förderung einer verstärkten Selbstständigkeit der Lernenden erfordert auch den stärkeren Einsatz der Studierenden und verlangt von ihnen ein gewisses Maß an Flexibilität, an offener und positiver Einstellung gegenüber neuen offenen Formen des Unterrichts (z.B. Projektunterricht, Erstellen von Textdossiers, Postern), die individualisierende Lernaufgaben hervorheben. Eine nicht einfache Aufgabe des Hochschullehrers wird es daher sein, einen Lernwillen bei weniger anstrengungsbereiten Studenten zu wecken. 6. Differenzierte Sozialformen: Sozialformen sollen häufig in der Unterrichtspraxis gewechselt werden. Als goldene Regel gilt nach Roche (2001: 193) „eine Änderung alle 7-10 Minuten, um die Aufmerksamkeitsspanne optimal auszunutzen. Bei längeren Aktivitäten sollte eine Unterteilung erwogen werden“ (ebd.). 7. Differenzierte Aufgaben und Aktivitäten zur Beteiligung der Studierenden an dem Auswahlprozess und der Textbehandlung: In der universitären Unterrichtspraxis sollten solche Aufgabenstellungen besondere Beachtung finden, bei denen sich Studenten hoch motiviert an die Lehrmaterialien heranmachen. In diesem Zusammenhang wird daher für Aufgaben plädiert, die eigene Entscheidungen der Studenten erfordern (z.B. selbst einen Text auswählen und in Gruppen erarbeiten) und sie zu einem eher subjektiv-individuellen, teilweise auch spielerischen oder emotionalen Umgang mit Texten anregen. Vielfältige handlungs- und produktionsorientierte Aufgabenstellungen bei der Textarbeit werden beispielsweise von Kast (1994) und Caspari (1994, 2000) präsentiert. Texte lernerorientiert auswählen 473 8. Bewusste Einübung von Verstehensstrategien: Geeignete Hör- und Lesestrategien stellen relevante Hilfestellungen beim Erschließen von fremdsprachigen Texten dar. Daher sollten sie im Rahmen des universitären Unterrichts durch entsprechende Arbeitsaufgaben (z.B. Herausschreiben von Schlüsselwörtern oder Zuordnung von Überschriften den verschiedenen Absätzen eines Textes) immer wieder verdeutlicht werden. 9. Förderung der authentischen Rezeption und der authentischen Verwendung von behandelten Texten: Die authentische Rezeption kann in der Unterrichtspraxis umgesetzt werden, wenn der Hochschullehrer seine Studierenden in Zeitungen und Zeitschriften blättern und aus mehreren Texten mit unterschiedlichen Aspekten zu einem generativen Themenbereich eine Textsorte für die Behandlung in den Gruppen auswählen lässt. Die authentische Verwendung von Texten kann dagegen durch Arbeitsaufgaben gefördert werden, welche die Studierenden in eine authentische Kommunikation einbinden. Eine authentische Kommunikationsaufgabe könnte beispielsweise von den Studierenden verlangen, sich in Partnerarbeit auf Deutsch darüber auszutauschen, was sie nach dem ersten Hören bzw. Lesen eines neuen Textes verstanden haben. Ein authentisches Kommunikationsbedürfnis besteht auch bei der Anordnung von Textpuzzle bzw. Textbruchstücken in der richtigen Reihenfolge im Rahmen einer Gruppenarbeit, während derer Studierende Informationen nur auf Deutsch austauschen müssen. 10. Einbeziehung neuer Lerntechnologien und Medien bei der Behandlung von fremdsprachigen Hörund Lesetexten: Moderne visuelle, audiovisuelle und auditive Medien stellen einen integrativen Bestandteil der Lebenswirklichkeit und des Erfahrungsbereichs der Studierenden dar. Daher soll ihr breites Spektrum in der universitären Unterrichtspraxis dosiert, d.h. thematisch und zeitlich sinnvoll eingesetzt werden. Die im Rahmen des vorliegenden Beitrags präsentierten Thesen stellen „keine Wundermethode“ der Textarbeit dar und überschneiden sich teilweise mit einigen anderen kommunikativ, landeskundlich bzw. literarisch orientierten Postulaten (vgl. Hofmann 1985: 151ff., Roche 2001: 187ff., Adamczak-Krysztofowicz 2003: 230ff. oder Haberkern 2005: 2f.). Sie sind aber auf viele Wünsche der in Marburg und Poznań befragten Studierenden ausgerichtet. Daher sollen diese Prinzipien von den an den Hochschulen tätigen DaF-Lehrenden zur Kenntnis genommen und bei der Einschätzung und dann didaktischer Aufbereitung fremdsprachiger Hör- und Lesetexte berücksichtigt werden. 2.2 Fragenkatalog zur Einschätzung authentischer Hör- und Lesetexte Für die Auswahl von Lese- und Hörtexten werden in der Fachliteratur (vgl. u.a. NebeRikabi 1993, Eggers 1996: 35f., Schmölzer-Eibinger 1998, Wiemer 1999: 49) differenzierte lerner-, lernziel- und textbezogene Orientierungsmarken präsentiert (siehe dazu die Zusammenfassung der Diskussion bei Adamczak-Krysztofowicz 2003: 116ff. sowie Stork; Adamczak-Krysztofowicz 2006: 59ff.) Wir möchten auf diese eher allgemein formulierten Anforderungen nicht mehr eingehen, sondern aufbauend auf den empirischen Erkenntnissen unserer Studie 474 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork einen Prüfkatalog von relevanten Fragenkomplexen zur Diskussion stellen, die nicht nur den an den Hochschulen tätigen Lehrenden, sondern auch ihren Studierenden bei der Einschätzung der Eignung von authentischen Hör- und Lesetexten für die Unterrichtspraxis als Handreichung dienen können. Unter Berücksichtigung der in Abschnitt 2.1 angeführten Thesen zur Textauswahl und zur Textbehandlung im universitären DaFUnterricht sowie der in Abschnitt 1 zusammengefassten empirischen Befunde möchten wir folgende Liste von konkreten Fragenkomplexen (in absteigender Reihenfolge der Wichtigkeit) vorschlagen: 1. Fragenkomplex, welcher Studierende als Subjekte des Lernprozesses fokussiert • Entspricht der Text den altersspezifischen Interessen und Bedürfnissen der Studierenden? (Berücksichtigt er die Erwartungshaltung der Hörer bzw. Leser?) • Ist der Text der linguistischen Kompetenz der Studierenden angemessen? • Entspricht der Text dem intellektuellem Niveau und der Erfahrungswelt der Studierenden? • Knüpft der Text an das vorhandene Sprach- und Weltwissen der Studierenden an? (Fordert er Studierende zur Hypothesenbildung sowie zu Stellungnahmen heraus?) 2. Fragenkomplex, der den thematischen Schwerpunkt der Texte reflektiert • Ist das im Text behandelte Thema aktuell und relevant für Studierende? • Bietet die Thematik des Textes eine schrittweise Annäherung der Studierenden an sprachliche Varietäten des Deutschen und die kulturelle Vielfalt des deutschsprachigen Raums? • Regt der Inhalt des Textes Studierende zum Nachdenken und zum Reden über das dargestellte Thema an? • Sind die Informationsschwerpunkte über den ganzen Text verteilt, um den fremdsprachigen Prozess des Textverstehens nicht zu behindern? 3. Fragenkomplex, der im Zusammenhang mit dem Schwierigkeits- und Authentizitätsgrad der Texte zu stellen ist • Ist der Text von seinem sprachlichen und syntaktischen Schwierigkeitsgrad her für Studierende angemessen? (Ist er nicht zu lang? Wie hoch ist der Anteil neuer Vokabeln und unbekannter syntaktischer Erscheinungen?) • Sind die Studierenden mit der jeweiligen Textsorte und der Textorganisation vertraut? • Ist der Text klar strukturiert und deutlich in Abschnitte gegliedert, um top-down Verstehensprozesse in Gang zu setzen? • Ist der Text von seinem inhaltlichen Schwierigkeitsgrad her für Studierende angemessen? (Wie hoch ist seine Informationsdichte bzw. seine Informationsredundanz? Sind die Studierenden mit dem thematisch-inhaltlichen Gegenstand vertraut?) • Wirkt der Text authentisch? (Erfüllt er eine Reihe von typischen textinternen und textexternen Merkmalen der jeweils beabsichtigten Textsorte?) Texte lernerorientiert auswählen 475 4. Fragenkomplex, der mit didaktisch-methodischen Verfahren der Textbehandlung zusammenhängt • Welche Verständnisschwierigkeiten sollten zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden? • Wie gründlich und genau sollte der jeweilige Text behandelt werden? • Welche Verstehensstile und Verstehensstrategien lassen sich bei der Textbehandlung am besten fördern? • Lassen sich typische Textmerkmale der jeweiligen Textsorte erkennen, um sie dann im Unterricht heraus zu arbeiten? • Eignet sich der Text für ein möglichst breites Spektrum an Aufgaben und Folgeaktivitäten? Fördert er handlungsorientiertes Lernen? • Besteht ein Informationsdefizit? Müssen die Studierenden Hintergrundwissen erwerben? Es war nicht so schwierig, eine Liste von Fragen zu erstellen, die bei der Auswahl und Beschaffung von authentischen Hör- und Lesetexten in den Vordergrund treten sollten. Viel schwieriger ist es aber, fremdsprachige Texte zu finden, die allen oben genannten Anforderungen entsprechen. Aus diesem Grunde empfiehlt sich, bei der Textauswahl zuerst Studierende als Subjekte des Lernprozesses und dann jeweils einen anderen ausgewählten Fragenkomplex (z.B. den thematischen Schwerpunkt, die didaktisch-methodische Eignung oder den Schwierigkeits- und Authentizitätsgrad des Textes) in den Mittelpunkt zu stellen und sich bei der Recherche nicht nur der herkömmlichen Verlagslehrmaterialien, sondern auch der nützlichen Internetquellen zu bedienen, deren Auswahl wir nun zum Abschluss präsentieren möchten. 2.3 Liste mit aktuellen Online-Materialien für die Textarbeit im DaF-Unterricht: eine Auswahl Eine Liste in gedruckter Form mit Quellen im Internet für authentische, deutschsprachige (Primär-) Texte kann an dieser Stelle nur eine erste Orientierung und Impulse bieten. Sie ist zum einen eine Auswahl, bei der Vollständigkeit aufgrund der enormen Fülle an deutschsprachigen Wegseiten nicht angestrebt wird bzw. werden kann. Zum anderen stellt sie eine Momentaufnahme dar, die zu einem anderen Zeitpunkt (in einigen Jahren oder sogar bereits in einigen Monaten) gänzlich anders aussehen kann. Aufgenommen wurden nur Internetseiten, die legal kostenfreie schriftliche Texte, Hörtexte bzw. Videos anbieten. Da Texte zu Themen (wie Sport, Wirtschaft, Politik) mit Hilfe entsprechender Suchmaschinen im Internet (z.B. www.google.de, www.lycos. de, www.yahoo.de) relativ leicht aufgefunden werden können, gibt die Liste Hinweise zum Auffinden von Texten bestimmter Textsorten, und zwar Fernsehen, Horoskope, Interviews, Karikaturen, Lieder, literarische Texte, Nachrichten, Radio, Rezensionen, Rezepte, Werbung, Witze, Zeitschriften und Zeitungen. 476 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork Fernsehen (Stand: 25.05.2007). Verzeichnisse (weltweit) für Live Internet TV mit Online Streams: http://de.wwitv.com/ http://www.global-itv.com/de.php Die ZDF-Mediathek bietet zu sehr vielen Sendungen Ausschnitte als Videos an: http://www.zdf.de/ Horoskope http://www.brigitte.de/horoskop: Beim Jahreshoroskop sind die Horoskope für alle Sternkreiszeichen in einem Text vorhanden. Ansonsten erscheint (wie auf entsprechenden anderen Internetseiten) das jeweilige Horoskop nach Eingabe des Geburtsdatums. http://www.goastro.de/ Interviews www.planet-interview.de: Prominente, Musiker, Wissenschaftler, Politiker, Zeitzeugen und andere Persönlichkeiten im Interview. http://www.familie-im-web.de/familie/interviews/index.html: Interviews mit Stars und Prominenten. Karikaturen http://www.perlentaucher.de/artikel/3858: Chronologisches Archiv mit Karikaturen und Cartoons aus Zeitungen mit Angabe des Themas. http://karikatur.augsten.at/Karikaturist-Illustrator-Schnellzeichner.php: Linkliste zu Karikaturisten, Illustratoren und Schnellzeichner in Österreich, Deutschland und der Schweiz sowie Karikaturisten in Österreichischen Medien. Lieder Die folgenden Links beziehen sich auf Internetseiten, die zusätzlich zum Text auch das Hören der Melodie ermöglichen. http://www.volkslieder-songarchiv.de/index.php: Auswahl von 99 (davon 81) Volksliedern, traditionellen Kinderliedern, Schlafliedern, Jahreszeitenliedern. Mit Text, Harmonisierung und Melodie. http://musicanet.org/robokopp/Volksoam.html: Choräle, Hymnen, Spirituals, Gospel-, Grab-, Jagd-, Kinder-, Kirchen-, Kriegs-, Kunst-, Scherz-, Seemanns-, Trink-, Wander-, Weihnachts- und Volkslieder aus deutschsprachigen Ländern. Literarische Texte 70 Jahre nach dem Tod des Verfassers sind literarische Texte Copyright-frei. Aus diesem Grund findet sich zumeist klassische Literatur im Internet. Am bekanntesten ist das Gutenberg-Projekt, das 1971 in den USA mit dem Ziel gestartet ist, alle Copyright-freien literarischen Texte in einer digitalen Fassung im Internet kostenlos zur Verfügung zu stellen. Texte lernerorientiert auswählen 477 http://gutenberg.spiegel.de/index.htm: Stellt kostenlos klassische Literatur ins Internet und hat sich zur größten Online-Literatursammlung deutscher Sprache entwickelt. 14000 Gedichte, 1600 Märchen, 1200 Fabeln, 3500 Sagen, 1800 vollständige Romane, Erzählungen, Novellen. http://www.wortblume.de/dichterinnen: Gedichtsammlung mit Lyrik deutschsprachiger Dichterinnen vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert. 1300 Gedichte von 42 Autorinnen. http://www.sagen.at: Größte deutschsprachige Sagensammlung im Internet mit derzeit über 18000 Texten. 424 Sagen der Gegenwart, 15226 Traditionelle Sagen, 1240 Märchen. http://www.vorlesen.net/index.html: Rund 400 kostenlose mp3-Hörbücher von klassischen Autoren in deutscher Sprache zum legalen Download in CD-Qualität. Nachrichten www.tagesschau.de: Nachrichtensendungen der ARD (Deutschland). www.heute.de: Nachrichtensendungen des ZDF (Deutschland) http://www.rtl.de/news/rtl_aktuell.php: Nachrichtensendung des Privatsenders RTL (Deutschland). http://www.sf.tv/: Nachrichtensendungen von SF 1 (Schweiz). http://tv.orf.at/groups/information/pool/zib_profil/story: Nachrichtensendungen des ORF (Österreich). http://de.news.yahoo.com/nachrichten/videos.html: Nachrichtenvideos mit Themenangaben Radio. http://www.surfmusik.de/radios/radioauswahl.htm: Online-Radio von deutschsprachigen Sendern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. http://www.glist.com/radio/sender.htm: Linkliste zum Online-Angebot deutscher Radiosender http://www.dw.world.de/dw/0,1595,2146,00.html: Langsam gesprochene Nachrichten der „Deutschen Welle“ mit Transkription und z.T. Vokabelerklärungen. Rezensionen h t t p : / / w w w. f a z . n e t / s / Ru b 1 C 6 6 0 9 7 3 6 1 2 C 4 7 C C BA 1 D 9 E 4 9 6 7 F 3 1 3 B 2 / Tpl~Ecommon~Ssuche.html: Über 25000 Rezensionen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. http://rezensionen.zeit.de/: Über 1500 Rezensionen der ZEIT. http://buecher.nzz.ch/: Buchbesprechungen, die in den vergangenen vier Wochen in den verschiedenen Ressorts der Neuen Züricher Zeitung erschienen sind. http://www.spiegel.de/kultur/rezensionen: Über 10000 Rezensionen des Spiegel. http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/20/0,1872,2042868,00.html: Einzelne Besprechungen bzw. ganze Ausgaben der Sendung „Lesen“ mit Elke Heidenreich als Video abrufbar. 478 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork Rezepte www.chefkoch.de: Bietet über 70000 Kochrezepte, Diskussionsforen und weitergehende Informationen rund ums Kochen, Backen und die Küche. http://www.rezepte.li: Eine der größten deutschsprachigen Rezeptsammlungen im Internet, alles zum Thema kochen, braten und backen. Werbung http://www.clipfish.de/category.php?cat=30: Videos von Werbung Witze http://www.witze-fun.de: Mit ca. 10000 Witzen eine der größten deutschsprachigen Witzsammlungen. http://www.dein-witz.de: Über 10000 Witze in derzeit 68 Kategorien. Zeitschriften http://www.glist.com/zeitschstart.htm: Thematisch geordnetes Zeitschriftenverzeichnis: Auto, Bauen, Haus und Garten, Christ und Kirche, Computer, Druckindustrie, E-Zines, Elektronik, Erotik, Esoterik und Geisteswissenschaften, Essen und Trinken, Familie und Erziehung, Frauen und Mode, Gesundheit und Medizin, Illustrierte, Kunst und Kultur, Musik, Politik und Wirtschaft, Recht, Sport – Freizeit, TV, Wirtschaft, Wetter, Wissenschaft. http://www.utils.ex.ac.uk/german/media/indzsch.html: Thematisch geordnetes Zeitschriftenverzeichnis (Deutschland, Österreich, Schweiz). Zeitungen http://www.glist.com/zeitungen.html: Die Zeitungen Deutschlands von A-Z. http://www.zeitung.ch/: Die Zeitungen der Schweiz von A-Z. http://www.utils.ex.ac.uk/german/media/indzeit.html: Deutschsprachige Zeitungen aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Südtirol und anderen Ländern von A-Z. 3. Zusammenfassung und Ausblick auf die Integration in ein methodisch-didaktisches Konzept zum Umgang mit Hörund Lesetexten im universitären DaF-Unterricht In diesem Beitrag haben wir zu zeigen versucht, welche Aspekte es bei einer lernerorientierten Auswahl von Texten zu beachten gilt. Die von uns durchgeführte Studierendenbefragung hat nicht nur Präferenzen der Studierenden für bestimmte Textsorten und Textinhalte gezeigt, sondern auch deutlich gemacht, dass es (z.B. länderspezifische) Unterschiede zwischen Studierendengruppen geben kann. Ferner hat sich herausgestellt, dass sich die Lernenden ganz klar für eine Beteiligung an der Textauswahl aussprechen. Einige Vorschläge, wie eine solche Einbeziehung der Lernenden aussehen kann, haben wir bereits angesprochen. Wir verstehen die Fähigkeit des Lerners, Texte für sich auswählen und beschaffen zu können, als Teil seiner Lesekompetenz. Deshalb halten wir es im DaF-Unterricht für erforderlich, diese Kompetenz schrittweise zu entwickeln und den Lernenden in einer progressiven Form an der Texte lernerorientiert auswählen 479 Textauswahl zu beteiligen. Die Entwicklung eines didaktischen Konzepts ist in diesem Bereich noch Desiderat. Die von uns vorgestellten Bausteine für ein methodisch-didaktisches Konzept zur Auswahl und zum Umgang mit Texten an der Hochschule bieten einen Rahmen für die Textauswahl und die Textarbeit im universitären DaF-Unterricht. Das heißt, sie können Hilfestellung geben bei Entscheidungen zur Textauswahl; auf der Ebene der Textarbeit jedoch sind insbesondere bei den didaktisch-methodischen Verfahren die Spezifika der jeweiligen Textsorten zu berücksichtigen: • Lesetexte erfordern und ermöglichen eine andere Arbeit am und mit dem Text als Hörtexte. Während bei Lesetexten der Leser das Tempo der Textaufnahme selbst bestimmen kann sowie beliebig den Leseprozess unterbrechen oder wiederholen kann, wird dem Hörer das Tempo seiner Textverarbeitung vom Sprecher diktiert4. Dies hat praktische Konsequenzen für die Konzeption von Lese- bzw. Hörverstehensaufgaben. Als Sonderform von Hörtexten gelten sog. Hör-Seh-Texte (z.B. Fernsehen, Filme), die eine visuelle Unterstützung des Gehörten bieten. • Nicht-sprachliche Symbolsysteme wie Bilder oder Musik beeinflussen die Rezeption von Texten. Dies ist bei der methodisch-didaktischen Behandlung solcher Textsorten (z.B. Lieder, Karikaturen) zu berücksichtigen. Bei Liedern kommt zudem noch der für den Fremdsprachenunterricht wichtige Din-Effekt hinzu, d.h. das Nachklingen einzelner Text- insbesondere Refrainzeilen (vgl. Murphey 1990). • Literarische Texte und nicht-literarische Texte unterscheiden sich ebenfalls in der Art der Rezeption durch den Leser. „Literarisch“ bedeutet nach Müller (1998: 727) „primär eine besondere Art zu lesen, zu verstehen und zu kommunizieren“. Für literarische Texte sind andere Ansätze für die Textarbeit entwickelt worden als für nicht-literarische Texte. Die von uns vorgestellte Liste mit einer Auswahl von kostenlos zugänglichen InternetQuellen für die Arbeit mit authentischen Texten im DaF-Unterricht soll den Einsatz von aktuellen Texten in praktischer Hinsicht erleichtern. Hier ist zu erwarten, dass die rasante technologische Entwicklung dem DaF-Lehrenden in Zukunft weitere Quellen eröffnen wird – wie beispielsweise den Einsatz von Podcasts im Fremdsprachenunterricht (vgl. z.B. Klemm 2007). 4 Zu weiteren Unterschieden zwischen den Fertigkeiten Hören und Lesen im DaF-Unterricht vgl. Huneke; Steinig (1997). 480 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork Literatur Adamczak-Krysztofowicz, Sylwia (2003): Texte als Grundlage der Kommunikation zwischen Kulturen. Eine Studie zur Kultur- und Landeskundevermittlung im DaF-Studium in Polen. Hamburg: Dr. Kovač. Adamzik, Kirsten (2005): „Textsorten im Fremdsprachenunterricht – Theorie und Praxis“. In: Adamzik, Kirsten; Krause, Wolf-Dieter (Hrsg.): Text-Arbeiten. Textsorten im fremd- und muttersprachlichen Unterricht an Schule und Hochschule. Tübingen: Narr, 205237. Altmayer, Claus (2002): „Kulturelle Deutungsmuster in Texten. Prinzipien und Verfahren einer kulturwissenschaftlichen Textanalyse im Fach Deutsch als Fremdsprache“. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht [Online], 6/3 (http://zif.spz. tu-darmstadt.de/jg-06-3/beitrag/deutungsmuster.htm). Brinker, Klaus (2005): Linguistische Textanalyse. 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Seine Autorinnen (Dr. Antje Stork und Dr. Sylwia Adamczak-Krysztofowicz) bitten Sie um Ihre Teilnahme an dieser Befragung und garantieren, dass Ihre Antworten anonym bleiben und nur für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden. Sofern Sie zu der erbetenen Mitarbeit bereit sind, füllen Sie bitte diesen Bogen sorgfältig in deutscher Sprache aus. Für die Beantwortung aller Fragen benötigen Sie höchstens 20 Minuten. Studienrichtung/Name der Universität: ........................................................................... Studienjahr/Semester: ......................................................................................................... Geschlecht: □ männlich □ weiblich Geburtsdatum: ..................................................................................................................... Muttersprache: ..................................................................................................................... Bereits vorhandene Fremdsprachenkenntnisse (alle Sprachen) und ihr Niveau (Grundstufe I/A1, Grundstufe II/A2, Mittelstufe I/B1, Mittelstufe II/B2, Oberstufe I/C1, Oberstufe II/C2: .................................................................................................................................. Universitäre Fremdsprachkurse in den Sprachen: .................................................................... 1. Welche Texte lesen Sie am liebsten in Ihrer Freizeit? (Sie können max. vier Kästchen ankreuzen) Literarische Texte □ Zeitungsartikel □ Zeitschriftenartikel □ Bücher □ Interviews □ Rezensionen (z.B. Filmrezensionen) □ Briefe □ Berichte □ Werbeanzeigen □ Prospekte □ Nachrichten □ Bekanntmachungen □ Witze □ Horoskope □ Programme (z.B. Kinoprogramme) □ Internetquellen □ sonstige Texte, welche? ........................................................................................................... □ 2. Welche Themen/Inhalte sprechen Sie besonders an (max. 4 Nennungen)? □ □ □ Politik Geschichte Tourismus Texte lernerorientiert auswählen □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ 483 Kultur Sport Gesellschaft Medien Wirtschaft Technik Wissenschaft Inlandsnachrichten Auslandsnachrichten Gesundheit Wetter/Klima andere Themenbereiche/Inhalte, welche? ............................................................................. Begründen Sie stichwortartig Ihre Wahl: ......................................................................................................................................................... ......................................................................................................................................................... 3. Welche Texte sind aus Ihrer Sicht (zur Erhöhung der Motivation) für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht interessant? (Sie können max. vier Kästchen ankreuzen) □ Literarische Texte □ Zeitungsartikel □ Zeitschriftenartikel □ Lieder □ Fernsehsendungen □ Radiosendungen □ Bilder/Karikaturen □ Interviews □ Rezensionen (z.B. Buchrezensionen) □ Briefe □ Berichte □ Werbeanzeigen □ Prospekte □ Nachrichten □ Bekanntmachungen □ Witze □ Bücher □ Horoskope □ Programme (z.B. Theaterprogramme) □ Internetquellen □ Lehrbuchtexte □ sonstige Texte, welche? ............................................................................................................. □ Begründen Sie kurz Ihre Entscheidung: ......................................................................................................................................................... ........................................................................................................................................................ 484 Sylwia Adamczak-Krysztofowicz, Antje Stork 4. Welche Texte/Lehrmaterialien halten Sie für Ihre sprachliche Progression nützlich und würden Sie daher als Hochschullehrer im sprachpraktischen Unterricht an der Hochschule am häufigsten einsetzen? Kennzeichnen Sie bitte alle Kästchen in Abhängigkeit von der Häufigkeit der verwendeten Materialien mit den Zahlen 1, 2 oder 3, wobei „1“ für „sehr häufig“, „2“ für „ab und zu“ und „3” für „fast nie“ steht. □ Lehrbuchtexte □ Internetquellen □ Karikaturen/Bilder □ Bedienungsanleitungen □ Briefe □ Berichte □ Interviews □ Prospekte □ Zeitungsartikel □ Zeitschriftenbeiträge □ Literarische Texte □ Anzeigen □ Fernsehsendungen □ Radiosendungen □ Lieder □ Formulare □ Fotos □ sonstige: welche? ...................................................................................................................... □ Begründen Sie stichwortartig Ihre Wahl: ......................................................................................................................................................... 5. Welche der in Frage 4 aufgelisteten Texte wurden von den universitären Lehrkräften während Ihrer sprachpraktischen Lehrveranstaltungen am häufigsten als Lehrmaterialien eingesetzt (max. 4 Nennungen)? ......................................................................................................................................................... ........................................................................................................................................................... Welche Texte haben Ihnen im Unterricht gefehlt? .................................................................... ............................................................................................................................................................. 6. Welche Themen/Inhalte halten Sie für die Behandlung im Fremdsprachenunterricht für nützlich? Sie können max. vier Kästchen ankreuzen. □ Politik □ Geschichte □ Tourismus □ Kultur □ Sport □ Gesellschaft □ Medien □ Wirtschaft Texte lernerorientiert auswählen □ □ □ □ □ □ □ □ 485 Technik Wissenschaft Inlandsnachrichten Auslandsnachrichten Gesundheit Wetter/Klima andere Themenbereiche/Inhalte, welche? ............................................................................. Begründen Sie kurz Ihre Entscheidung: .......................................................................................................................................... ......................................................................................................................................... 7. Welche der in Frage 6 aufgelisteten Themenbereiche wurden im Fremdsprachenunterricht an der Hochschule oft behandelt? □ ....................................................................................................................................................... Welche Inhalte haben Ihnen im Unterricht gefehlt? ....................................................................................................................................................... 8. Wie sollte Ihrer Meinung nach die Auswahl von Texten erfolgen? (nur eine Antwort) □ durch den Lehrenden □ durch den Lehrenden nach Befragung der Lernenden □ durch die Lernenden □ durch die Lernenden mit Beratung des Lehrenden 9. Welche Kriterien sollen bei der Auswahl eines bestimmten Textes für den universitären Fremdsprachenunterricht besonders wichtig sein? Versehen Sie bitte alle Kästchen mit Zahlen auf einer Skala von „1“ für „sehr wichtig“, „2“ für „ziemlich wichtig“ und „3“ für „nicht wichtig“. □ Interessen und Bedürfnisse der Lernenden □ Sprachliche Progression (Wortschatzerweiterung) □ Landeskundliche Progression (Einblick in Zielsprachenkulturen) □ Entspannung und Unterhaltung □ Allgemeinwissens- und Horizonterweiterung □ Aktualität der Texte □ Authentizität der Texte □ Relevanz des Themas □ Variation von Texten □ Schwierigkeitsgrad der Texte □ Sonstige, welche? ....................................................................................................................... 10. Gibt es zum Thema „Texteinsatz an der Hochschule“ Aspekte, die Sie in diesem Fragebogen vermisst haben? ......................................................................................................................................................... ........................................................................................................................................................... Wir bedanken uns für Ihre Mitarbeit! Auf neuen Wegen – das Fach Deutsch als Fremdsprache steht vor neuen Herausforderungen: Die Aufgaben werden umfangreicher, die Aspekte vielfältiger und die Schwerpunkte verschieben sich. Deutsch als Zweitsprache gewinnt an Bedeutung. Diesen Veränderungen hat die 35. Jahrestagung des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache an der Freien Universität Berlin Rechnung getragen. Durch die Auswahl der Schwerpunkte und das Spektrum innerhalb der einzelnen Themenbereiche wurde die Bandbreite des Fachs dokumentiert. Dieser Tagungsband versammelt die einzelnen Beiträge nach Themenschwerpunkten geordnet: ∙ Empirische Forschung in DaF und DaZ; ∙ Grammatik – Theorie und Praxis für den DaF-Unterricht; ∙ Fachsprache und ihre Vermittlung; ∙ Gesprochene Sprache sowie die praxisorientierte Beiträge aus dem Praxisforum „Unterricht“. Der Band bildet damit eine Basis für eine konstruktive Diskussion zwischen Wissenschaftlern aus den verschiedenen für das Fach relevanten Forschungsrichtungen und Lehrenden an verschiedenen Institutionen, auf unterschiedlichen Niveaustufen und für verschiedene Adressatengruppen. Er will damit einen Beitrag zur Fortsetzung der Diskussion und einen konstruktiven Blick in die Zukunft ermöglichen. ISBN : 978-3-940344-38-0 ISSN: 1866-8283 Universitätsdrucke Göttingen