Unfallschwerpunkte
Hier kracht es am häufigsten in Deutschland

Häufig sind individuelle Fehler Ursache für Unfälle im Straßenverkehr. Aber: Auch eine missverständliche Straßenführung oder marode Infrastruktur erhöhen das Unfallrisiko. Wo die Problemstellen in Deutschland liegen und wie Experten dagegen vorgehen.

Sicherheitskampagne 2022 Unfallschwerpunkte
Foto: Gebhardt, David (PP-MUE)

München, Schleißheimer Straße, 30.6.2020, 10:05 Uhr: Ein 87-jähriger Radfahrer übersieht beim Überqueren der Kreuzung eine vorfahrtsberechtigte 35-jährige Pkw-Fahrerin, die ihn frontal erfasst. Der Radfahrer stürzt und stirbt noch am selben Tag in einem Krankenhaus. Nur etwa drei Wochen später in der Dachauer Straße: Ein 64-jähriger Pkw-Fahrer übersieht beim Rechtsabbiegen eine vorfahrtsberechtigte 84-jährige Radfahrerin. Auch sie stürzt und prallt mit dem Kopf auf die Fahrbahn. Noch am selben Tag stirbt sie in einem Krankenhaus.

Rücksicht hat Vorfahrt

Tragische Unfälle wie diese sind in deutschen Städten leider keine Seltenheit: Laut Statistischem Bundesamt starben 2020 – die finale Auswertung für das Jahr 2021 steht noch aus – auf deutschen Straßen 2.719 Menschen bei Verkehrsunfällen. Das waren zwar 327 Todesopfer und somit rund 10 Prozent weniger als im Jahr 2019. Aber der positive Eindruck täuscht. Durch Lockdowns und Homeoffice-Pflicht fiel das Verkehrsaufkommen deutlich niedriger aus. Ein Blick auf die Unfallschwerpunkte zeigt außerdem: Es kracht immer wieder an den gleichen Stellen. Doch für die Problemstraßen gibt es Lösungswege.

Hotspot Stadt

217.292-mal krachte es im Jahr 2020 innerhalb von Ortschaften und damit deutlich häufiger als außerorts (105.221). Die Stadt München steht sinnbildlich für das Unfallgeschehen in Deutschland. Die Münchner Polizei registrierte im Jahr 2020 insgesamt 44.972 Verkehrsunfälle und damit 16,8 Prozent weniger als im Vorjahr. Die an sich gute Bilanz wird jedoch getrübt durch die Zahl der Verkehrstoten. Diese blieb mit 21 Verkehrsteilnehmern gleich hoch wie 2019.

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ams
Unfälle mit Personenschaden innerorts.

Neben Einmündungen und Ausfahrten kommt vor allem an Kreuzungen immer wieder zu schlimmen Unfällen. "Kreuzungen sind klassische Risikopunkte. Jeder zweite Unfall mit Personenschaden in Ortschaften findet an einer Kreuzung oder Einmündung statt", sagt Matthias Mück, Koordinator für Verkehrssicherheit in der Landeshauptstadt München. Dabei mache es im Übrigen keinen Unterschied, ob die Kreuzung mit oder ohne Ampel geschaltet wird: "Kreuzungen sind teils sehr komplex, stark befahren und stellen daher für viele Verkehrsteilnehmer eine hohe Anforderung dar", erklärt Mück.

Kracht es an einer Stelle besonders häufig, spricht man von einem Unfallschwerpunkt. In Deutschland existiert keine gesetzliche Definition für eine derartige Unfallhäufungsstelle. Sie wird daher von jedem Bundesland anders bewertet. Armin Brunner, Leiter der Unfallkommission – kurz UK – und Schulwegsicherheit in München, spricht ohnehin lieber von unfallträchtigen Punkten: "Bei vier gleich gelagerten Unfällen mit Personen- oder hohen Sachschäden innerhalb eines Jahres an einer Örtlichkeit und bei jedem tödlichen Unfall werden wir tätig." Dann nimmt die UK, die sich im städtischen Bereich aus Vertretern des Mobilitätsreferats, des Straßenbaulastträgers und der Polizei zusammensetzt, die Arbeit auf und beschließt nach Prüfung entsprechende Verbesserungsmaßnahmen wie etwa das Anbringen von neuen Verkehrsbeschilderungen, die Anpassung von Lichtsignalanlagen oder bauliche Umgestaltungsmaßnahmen.

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LHM, Marienhagen/John
Gewölbte Spiegel helfen, die Abbiegeproblematik zu entschärfen. 90 Prozent des Fuhrparks der Stadt München sind außerdem mit einem Abbiegeassistenten ausgestattet. Baufirmen beauftragt die Stadt nur, wenn deren Lkw über die gleiche Technik verfügen.

Ähnlich wie die bayerische Landeshauptstadt arbeiten viele Kommunen in Deutschland. Sie forschen nach neuralgischen Stellen und versuchen, sie zu entschärfen. Ein gutes Beispiel, ist die Wöhlerstraße in München: An der Kreuzung im Nordosten kam es immer wieder zu Unfällen mit Verkehrsteilnehmern, welche die Verdistraße in östlicher Richtung befuhren, nach links in die Wöhlerstraße abbiegen wollten und dabei entgegenkommende Verkehrsteilnehmer übersahen. In der Folge verbot die UK das Linksabbiegen und ließ dies durch eine Beschilderung am Autobahnende der A 8 ankündigen. "Seit Umsetzung dieser Maßnahmen ist ein deutlicher Rückgang der Unfallzahlen festzustellen", teilt das Polizeipräsidium München mit.

Software für Sicherheit

Im Idealfall wollen die Verantwortlichen in den Städten aber nicht nur auf Unfälle reagieren, sondern bereits im Vorfeld agieren – und das nicht nur mit Verboten. Auch deshalb verfolgen viele Städte das Vision-Zero-Konzept. Das strategische Ziel: keine Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr. "Die Vision Zero hat einen präventiven Fokus. Das ist ein Paradigmenwechsel", sagt Verkehrssicherheitsexperte Mück stolz.

Heißt in der Praxis: Unfallträchtige Kreuzungspunkte werden im Stadtgebiet angeschaut. In München unterstützt dabei eine neue Software: "Die uns monatlich zur Verfügung gestellten polizeilichen Unfalldaten inklusive Unfallhergang können wir in einer digitalen Unfallkarte darstellen", erklärt Mück. Sie ist die Grundlage für eine umfangreiche Analyse. Mögliche Gefahrenschwerpunkte lassen sich damit frühzeitig erkennen.

Doch die eine Musterlösung für einen Unfallschwerpunkt gibt es nicht – vor allem nicht an einer Kreuzung. "Jede Kreuzung ist unterschiedlich", weiß Brunner. Ein klassischer Konfliktpunkt sei aber fast immer der Abbiegevorgang. "Im Optimalfall gibt es für jeden Verkehrsteilnehmer eine separate Grünphase und Abbiegespur", sagt Mück. Doch gerade für Letztere fehle oftmals schlicht der Platz. Deshalb greift man auch in München auf "bedingte Signalisierungen" zurück, an denen sich der rechtsabbiegende Autofahrer gleichzeitig mit dem geradeaus fahrenden Fahrradfahrer eine Grünphase teilt. Um den toten Winkel in solchen Abbiegesituationen zu reduzieren, wurden mehrere Trixi-Spiegel platziert.

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Getötete im Straßenverkehr 2020.

Solche Maßnahmen lassen sich verhältnismäßig kostengünstig und schnell umsetzen: "Die Signalisierung oder die Anordnung eines Verkehrszeichens ist bei uns direkt im Haus möglich", erklärt Mück. Er muss aber zugeben: "Alles, was baulich im Straßenraum erst angepasst werden muss, wird durch das Baureferat umgesetzt. Das bedarf einer umfassenden Planung." Trotz Priorisierung können so bis zu vier Jahre ins Land gehen. Kein Einzelfall in Deutschland, überall dauert es, bis Maßnahmen greifen.

Deshalb wollen die Verkehrssicherheitsexperten in den Städten bereits bei der Planung neuer Projekte ein Wörtchen mitreden. Alles, was im Bereich Infrastruktur angedacht ist, soll einem Sicherheitsaudit unterzogen werden. Das Ziel: die Einrichtung einer fehlerverzeihenden Infrastruktur. "Der Mensch macht Fehler. Er muss auf eine Infrastruktur treffen, die Fehler verzeiht", glaubt Mück.

Dies gilt im Übrigen nicht nur für Auto-, sondern auch für Radfahrer. Die Unfallzahlen zeigen, dass neben einem Zusammenstoß mit anderen Pkw das größte Unfallpotenzial dann besteht, wenn sich Auto- und Radfahrer in der Stadt begegnen.

So alt wie der Konflikt zwischen Auto- und Fahrradfahrern ist, so alt sind auch die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die sollen hier nicht das Thema sein, denn auch wenn Autofahrer oft wegen der Betriebsgefahr des Pkw direkt eine Teilschuld aufgebrummt bekommen, sind sie deshalb nicht zwangsläufig die Verursacher eines Unfalls. Im Gegenteil: In München wurde bei mehr als jedem zweiten Verkehrsunfall (58,1 Prozent) mit Beteiligung eines Radfahrers dieser durch den Radfahrer verursacht.

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Alle elf Minuten passierte statistisch gesehen ein Verkehrsunfall in München und im Landkreis.

Fakt ist und bleibt jedoch, dass der Bund aufgrund der klimapolitischen Ziele massenweise Geld in die Förderung der Radinfrastruktur steckt – und damit innerstädtisch mehr und mehr Radfahrer zu erwarten sind. "In den Städten wird Platz für hochwertige Radverkehrsinfrastruktur geschaffen. Der öffentliche Raum wird so gestaltet, dass sich Menschen dort gern aufhalten. Dafür werden die Flächen auch zulasten des Kfz-Verkehrs neu verteilt", heißt es im Radverkehrsplan des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr, kurz BMDV. Fragt sich nur, wo da der Autofahrer bleiben soll und inwiefern sich das Risiko für alle Beteiligten weiter erhöht, wenn Kommunen zu schnell zu viele Maßnahmen ergreifen, wie Pop-up-Radwege über Nacht zu errichten oder Parkplätze ersatzlos zu streichen.

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Stadt Tübingen/Gudrun de Madddalena
Fahrradstraßen trennen die Wege von Rad­ und Autofahrern und machen sie so sicherer.

Überstürztes Handeln endet somit oftmals im Chaos. Das zeigt eindrucksvoll das Beispiel Tübingen: viele Baustellen, zahlreiche Umleitungen – und viel Verwirrung. Das gipfelte Ende September 2021 darin, dass sich der Fahrer eines Zwölftonners nicht mehr anders zu helfen wusste, als unbefugterweise über die frisch eingeweihte Fahrradbrücke zu fahren, da die Autobrücke nebenan zu dem Zeitpunkt abgerissen wurde. Fahrradfahrer waren zum Zeitpunkt zum Glück nicht vor Ort. Auch der Lkw-Fahrer kam mit dem Schrecken davon.

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Fotostand
Unfälle mit Fahrradfahrern enden oft mit schweren bis tödlichen Verletzungen.

Doch wie lässt sich nun die Infrastruktur an neue Mobilitätsbedürfnisse anpassen, um solche Situationen zu verhindern? Das Zauberwort heißt Planung: "Wenn wir den Radverkehr stärken wollen, müssen wir trotzdem immer das Auto mitberücksichtigen", erklärt Thimo Weitemeier, Stadtbaurat in Nordhorn, im Interview auf Seite 109. Nur so sei die Chance auf Akzeptanz in der Bürgerschaft und gleichzeitig auch die Verkehrssicherheit gegeben.

Am besten geschehe dies durch eine bauliche Trennung von Straßen und Radwegen – wenn möglich. So fühlen sich auch die Radfahrer am sichersten, wie eine ADAC-Umfrage bestätigt. Egal wie die Infrastruktur verändert wird, letztlich gehe es laut Weitemeier darum, vernünftig zu planen, um Unfällen vorzubeugen.

Gefährliche Landstraßen

Gefahrensituationen gibt es aber nicht nur in der Stadt. Gerade Fahrradunfälle ereignen sich häufig auch außerorts – vor allem solche mit schwerwiegenden Folgen. "Hier sterben zwar weiterhin mehr Motorrad- als Fahrradfahrer, aber der Unterschied ist gering", sagt Jörg Ortlepp, Bereichsleiter Straße bei der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Gut 40 Prozent aller getöteten Radfahrer kommen ihm zufolge im Landstraßenbereich ums Leben.

Laut Ortlepp problematisch: Auf Landstraßen fehlen häufig Nebenanlagen, also parallel zur Straße verlaufende Fahrrad- und Gehwege.Weitemeier sieht dahingehend in speziellen Schutzstreifen großes Sicherheitspotenzial: "In Holland zum Beispiel funktionieren diese an den Fahrbahnrändern abgegrenzten Bereiche für Radfahrer bereits bestens." Warum wir es dann nicht auch so machen? "Die Straßenverkehrsordnung lässt solche Schutzstreifen nur innerorts zu", bedauert Weitemeier. Daran änderte auch ein Modellprojekt des BMDV nichts, das solche Schutzstreifen auf Strecken mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 70 getestet hat. "Das Musterverfahren für diese gute Maßnahme lief einfach ohne Weiteres aus", ärgert er sich.

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Getötete im Straßenverkehr 2020.

Hauptverantwortlich für die hohe Zahl an Unfallopfern ist laut Ortlepp aber die Geschwindigkeit – nicht nur für Fahrradfahrer, sondern in Bezug auf das gesamte Unfallgeschehen im außerörtlichen Bereich. Laut Statistischem Bundesamt starben im Jahr 2020 knapp 59 Prozent aller Verkehrstoten auf Landstraßen. Insgesamt waren das 1.592 Menschen. Durchschnittlich ließ somit alle fünfeinhalb Stunden jemand dort sein Leben – was nicht zwangsläufig heißt, dass die Leute dort schneller unterwegs waren als erlaubt. Aber teils eben zu schnell, um ihr Fahrzeug in der jeweiligen Situation noch zu beherrschen.

Nicht umsonst hatte der Deutsche Verkehrsgerichtstag vor Jahren dazu geraten, das generelle Landstraßen-Tempolimit von 100 auf 80 km/h abzusenken. Eine Empfehlung, die laut Ortlepp einleuchtet: "Höhere Geschwindigkeit bedeutet nun mal auch mehr kinetische Energie, wodurch das Risiko, schwer verletzt oder getötet zu werden, steigt. Das ist banale Physik." Zudem spielten "menschliche Aspekte und anderes" eine Rolle. "Das ist alles vielschichtig und greift ineinander." Klassische Fahrunfälle, die böse enden, kämen außerorts häufig vor. Durch Nässe, Glätte, Smartphone-Ablenkung oder eine Kombination daraus verlieren Verkehrsteilnehmer immer wieder die Kontrolle – auch ohne Fremdeinwirkung.

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Gebhardt, David (PP-MUE)
Eine missverständliche Straßenführung oder marode Infrastruktur erhöhen das Unfallrisiko.

Letzteres gelte bei Motorrad-Unfallopfern verstärkt: "Rund 60 Prozent davon lassen bei solchen Alleinunfällen ihr Leben." Auch sogenannte Abkommensunfälle, bei denen ein Fahrzeug von der Straße abkommt und mit einem Hindernis kollidiert, treten vielfach auf: "Etwa jeder vierte Getötete im Außerortsbereich stirbt beim Aufprall auf einen Baum", so Ortlepp.

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Gebhardt, David (PP-MUE)
Kleine Maßnahme, große Wirkung: Eine Vorhinweisbeschilderung macht das Linksabbiegeverbot auf einer Straße in München frühzeitig sichtbar.

Thomas Lich, Unfallforscher bei Bosch, sieht einen weiteren Knackpunkt: "Wir haben insbesondere im Außerortsbereich sehr viele Begegnungsunfälle. Aufgrund von Fahrbahnschneiden, entsprechendem Überholen oder Überholenlassen kommt man leicht in den Gegenverkehr. Somit haben wir teilweise einen sehr hohen Anteil an tödlichen Unfällen im Pkw-Bereich in Deutschland", äußert sich der Unfallexperte im auto motor und sport-MO/OVE-Podcast. Nach Aussage von UDV-Experte Ort- lepp passieren die meisten Überholunfälle da, wo die Kurvensichtweiten in einem täuschenden Zwischenbereich liegen, "sodass man denkt, das reicht gerade noch".

Außerorts spielen also nicht nur menschliche Aspekte, sondern auch die Infrastruktur eine Rolle. Das gilt vor allem für hindernisfreie Seitenräume. Das betrifft nicht nur Bäume neben der Straße, sondern auch Bauwerke, Schilderbrücken oder Brückenpfeiler: "Die sollten nicht zu nah an der Fahrbahn stehen, ansonsten gehören Schutzplanken davor", stellt Ortlepp klar. Und der Straßenzustand? Auch marode Asphaltoberflächen tragen zu Unfällen bei. Häufig sind unbefestigte Fahrbahnränder problematisch. "Auf schmalen Straßen geraten Autofahrer gerne mit dem Reifen in ein abgesacktes Bankett und verreißen das Fahrzeug", so Ortlepp.

Großer Sanierungsbedarf

Ortlepps Äußerung ist nachvollziehbar in Anbetracht dass allein das Landesstraßennetz in Baden-Württemberg einen Sanierungsbedarf in Höhe von 1,8 Milliarden Euro hat. "Die Landesmittel für die Sanierung müssen in den nächsten Jahren verdoppelt werden, um das Straßennetz so zu erhalten, dass der Zustand zufriedenstellend bleibt", äußert sich Verkehrsminister Winfried Hermann besorgt. Erhaltung müsse weiter absoluten Vorrang vor dem Um-, Aus- und Neubau von Straßen haben. Als Erstes gelte es, sich aber um die Brücken zu kümmern. Sie hätten als "Achillesverse im Netz" Priorität.

Tempolimits für mehr Sicherheit?

Gerade wenn es um das Thema Autobahnunfall geht, werden oft die Rufe nach Tempolimits laut. Im ersten Moment eine plausible Forderung, schließlich nimmt die Unfallschwere mit steigendem Tempo zu. Der Blick auf die Statistik zeigt aber: Nicht hohes, sondern zu hohes Tempo sorgt für die Verkehrstoten. Was diese zwei kleinen Buchstaben bedeuten: Laut Statistischem Bundesamt war 2018 eine unangepasste Geschwindigkeit der Grund für 45 Prozent der tödlichen Unfälle auf Autobahnteilabschnitten ohne Tempolimit. Bei Streckenabschnitten mit Tempolimit waren es 50 Prozent. Das heißt jetzt nicht, dass Tempolimits gefährlich sind – sondern beweist, dass ein Tempolimit allein die Autobahnen nicht sicherer macht. In beiden Fällen sind es nämlich die Autofahrer, die für die Unfälle verantwortlich sind, da sie ihr Tempo nicht an die Situation angepasst haben, also nicht an Straßen-, Verkehrs-, Sicht- oder Wetterverhältnisse. Hinzu kommt, dass eine nicht angepasste Geschwindigkeit oft mit der Nichteinhaltung des Mindestabstands einhergeht, wodurch schwere Unfälle provoziert werden.

Interview mit Stadtbaurat Thimo Weitemeier

Sicherheitskampagne 2022 Unfallschwerpunkte Stadtbaurat Thimo Weitemeier der Stadt Nordhorn
awsobott gmbh;
Stadtbaurat Thimo Weitemeiervereinbart in der Stadt Nordhorn die Bedürfnisse von Radfahrern und Autofahrern.
Nehmen Radwege den Autofahrern den Platz in der Stadt weg?

Wir nehmen das nicht so wahr. Sicherlich kommt das ganz stark auf den Modalsplit, also den Anteil der verschiedenen Verkehrsteilnehmer in der jeweiligen Stadt, an. Wenn eine echte Verlagerung auf das Fahrrad um 40 Prozent wie bei uns in Nordhorn besteht, dann gewinnen Sie ja Platz im Straßenraum. Wenn Verkehrsteilnehmer auf dem Radwegenetz unterwegs sind, stehen sie natürlich auch nicht im Auto vor Ihnen an der Ampel oder schnappen Ihnen den Parkplatz weg. Wenn eine ganzjährige Verlagerung des Mobilitätsverhaltens gelingt, kann es beispielsweise sinnvoll sein, Pkw-Stellplätze wegzunehmen und daraus Fahrradstellplätze zu machen, weil das bei dem Modalsplit die bessere Alternative für alle ist.

Ist dies das ganze Jahr so – auch im Winter?

Ja, wenn die Stadt versucht, es den Radfahrern genauso komfortabel zu machen wie den Autofahrern, dann funktioniert das auch im Winter sehr gut. Bei uns fahren rund zwei Drittel der Radfahrer auch bei schlechtem Wetter. Im Winter gibt es bei uns deshalb beispielsweise extra Schneeräumungen auf den Radwegen, die Fahrradachsen Richtung Innenstadt sind beleuchtet und eine steigende Anzahl an Fahrradständern ist überdacht. Das sind alles Maßnahmen, die dabei helfen.

Nordhorn ist vergleichsweise klein. Wie regeln große Städte so etwas?

Da gibt es keine pauschale Antwort, denn jede Stadt braucht ihre individuelle Lösung. Für Stadtplaner ist es wichtig, darauf zu achten, wie die Stadt strukturiert ist und welche Elemente genutzt werden können. Bei uns in Nordhorn sind es die alten Kanäle aus Zeiten der Textilindustrie, entlang derer wir die Radwege Richtung Innenstadt aufgebaut haben. Was außerdem entscheidend ist: kurze Wege durch schnelle Verbindungen schaffen, die idealerweise baulich voneinander getrennt sind, um gleichzeitig mehr Sicherheit zu schaffen. Zum Thema Sicherheit gehört auch ein Audit, denn wir wollen ja Unfallschwerpunkte zurückbauen und nicht neue erzeugen.

Wie schafft man es, dass sich keiner der Verkehrsteilnehmer benachteiligt fühlt, wenn bauliche Veränderungen in der Verkehrsführung ausgearbeitet werden?

Ich sage meinen Kollegen immer: Wenn wir alte Straßenquerschnitte an die neuen Mobilitätsanforderungen anpassen und den Radverkehr damit stärken wollen, müssen wir trotzdem immer das Auto mitberücksichtigen. Wenn wir durch Veränderungen Rückstaus verursachen, dann verlieren wir sehr viel Akzeptanz. Abgesehen davon ist es aus meiner Sicht unerlässlich, gute Öffentlichkeitsarbeit zu machen und den Bürgerinnen und Bürgern die Veränderungen zu erklären. Das hat auch etwas mit der Sicherheit zu tun. Die Menschen müssen verstehen, was sich verändert hat und wie sie sich verhalten müssen.

Inwiefern können Städte dies aus Ihrer Sicht erreichen?

Das ist ein Prozess und die Bürgerinnen und Bürger brauchen Zeit, sich an eine Veränderung zu gewöhnen. Wir können als Stadtplaner nicht erwarten, dass jeder direkt weiß, wie man sich richtig verhält. In Nordhorn machen wir zum Beispiel Bannerkampagnen in der Stadt, die auf die neue Verkehrsführung hinweisen. Außerdem benachrichtigen wir die Schulen in der Nähe, und auch die Polizei ist an Bord. Die stellen sich in der ersten Woche an die Stelle, sprechen die Leute freundlich an und erklären bei Bedarf, wie das zu verstehen ist.

Das Interview führte auto motor und sport-Redakteurin Carina Belluomo.

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Erscheinungsdatum 25.04.2024

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