Friedensvertrag für die Ukraine: Warum auch die ARD-Faktenchecker Unrecht haben

Hat der Westen einen Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine torpediert? Eine profunde Analyse zeigt: Es ist kompliziert.

Russische Panzer während eine Übung an der Grenze zu der Ukraine.
Russische Panzer während eine Übung an der Grenze zu der Ukraine.Russisches Verteidigungsministerium/AP

Diese Geschichte beginnt vor fast genau zwei Jahren, am 9. April 2022. Sechs Wochen zuvor hat Russland aus drei Himmelsrichtungen seine Truppen in die Ukraine einmarschieren lassen, sie stehen jetzt nördlich von Kiew und sind dabei, weite Teile der Küste am Asowschen Meer und im Donbass zu erobern. Luftlandetruppen haben versucht, sich in Kiew festzusetzen, sind aber gescheitert. In Washington rechnet man damit, dass die russischen Truppen innerhalb von Tagen Kiew einnehmen werden. Die Lage scheint hoffnungslos zu sein, innerhalb weniger Wochen fliehen Millionen Ukrainer nach Westen, nach Polen, Rumänien, die Slowakei, Ungarn.

Doch jetzt, am 9. April, hat sich das Blatt gewendet: Die Angriffe aus Belarus sind zurückgeschlagen, Außenminister Sergej Lawrow verkündet so etwas wie einen Teilrückzug: Die russische Armee werde sich fortan auf den Süden und den Donbass konzentrieren. Kiew ist nicht mehr bedroht und die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine haben begonnen. Zwischen Mitte März und Anfang April gibt es sogar so etwas wie Waffenstillstandsverhandlungen, erst am 10. März im türkischen Antalya, dann am 29. März in Istanbul.

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Hat Putin mit einem Friedensvertrag gewedelt?

Dann taucht am 9. April plötzlich Boris Johnson, damals noch Premierminister, in Kiew auf, warnt Wolodymyr Selenskyj vor Zugeständnissen an Wladimir Putin, den er als Kriegsverbrecher bezeichnet und macht den Ukrainern Mut, warnt Selenskyj aber auch: Selbst wenn er bereit sei, aufgrund von Sicherheitsgarantien ein Abkommen mit Russland abzuschließen, „wir sind es nicht“. So beschrieben den entscheidenden Satz damals ukrainische Journalisten der Ukrainska Pravda, wobei offen ist, wen Johnson, wenn er das wirklich so gesagt hat, mit „wir“ damals meinte: die britische Regierung, die britische und die US-Regierung, die Nato oder gar den „kollektiven Westen“ – in all diesen Interpretationen kursiert die Äußerungen seitdem in Internet und in Printmedien, fast immer mit der Behauptung, damals habe Johnson so einen Waffenstillstand oder gar einen Friedensvertrag mit Russland verhindert.

Auch wie dieser Vertrag ausgesehen hätte, wissen wir inzwischen – oder glauben es zu wissen: Putin selbst hat damit bei seinem Treffen mit einer afrikanischen Delegation unter Führung des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa gewedelt. Die afrikanischen Delegationsmitglieder waren sichtlich beeindruckt. Das Internet noch mehr. Das Narrativ vom Frieden, der damals zum Greifen nah war und von Johnson bzw. „dem Westen“ zunichtegemacht wurde, weil der mit einem Stellvertreterkrieg Russland schwächen wollte, verbreitet sich in Windeseile. Die Geschichte vom zum Greifen nahen, aber vom Westen verhinderten Frieden taucht auf in der Zeitschrift Emma und in der Begründung für einen von Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Friedensappell unter Berufung auf den ehemaligen deutschen Diplomaten Michael von der Schulenburg. Teile dieses Narratives haben sogar Eingang gefunden in einen Bericht der Stiftung Wissenschaft und Politik, die die Bundesregierung berät. Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen.

Der britische Premier Boris Johnson (l.) und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew.
Der britische Premier Boris Johnson (l.) und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew.Präsidialamt Ukraine/AP

Wie Boris Johnson einen Friedensplan für die Ukraine torpedierte …

Um es vorwegzunehmen: Die ganze Angelegenheit ist alles andere als eindeutig. Es gibt weder Beweise dafür, dass „der Westen“ oder auch nur Boris Johnson damals selbst eine „Friedenslösung“ verhindert haben, noch gibt es Beweise dafür, dass sie das nicht getan haben, wie beispielsweise die Faktenchecker bei der „Tagesschau“ behaupten. Beide Seiten in diesem Streit machen nämlich lustigerweise die gleichen Fehler: Sie nehmen an, dass nur entweder eine Behauptung oder ihre Verneinung richtig sein können. Dabei gibt es ja auch noch eine geradezu unendliche Anzahl anderer Interpretationen, die man aufgrund der gleichen Fakten und Daten aufstellen kann. Sehr viel hängt davon ab, welche Absichten man den Beteiligten dabei unterstellt. Die kann man nur unterstellen, denn wir können weder in Putins noch in Selenskyjs Gedanken blicken, und in die von Boris Johnson oder der führenden Politiker des kollektiven Westens noch viel weniger.

Alle Seiten dieses Streits wählen die Daten und Fakten so aus, dass sie in ihre Argumentation passen – auch wenn manche davon, vorsichtig ausgedrückt, etwas abenteuerlich sind. Was der vorgefassten Interpretation widerspricht oder keinen Sinn ergibt, fällt unter den Tisch. Es ist wie beim Puzzeln: Jeder verwendet nur die Teile, die in sein Bild passen. Aber was, wenn die vergessenen Teile ein viel schöneres Puzzle ergeben? Unsere Puzzlefreunde würden es gar nicht bemerken.

Sicherheitsgarantien für die Ukraine

Fast alle Antagonisten in diesem Streit vernachlässigen den historischen Kontext. Für sie beginnt das Problem, für das sie eine Lösung suchen, im Februar 2022 mit der Invasion Russlands in der Ukraine. Angefangen hat dieser Krieg aber 2014 mit der Annexion der Krim und den bewaffneten Aufständen im Donbass. Das ist insofern wichtig, als es damals überhaupt nicht um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ging, noch nicht mal um eine EU-Mitgliedschaft, sondern nur um ein Kooperationsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, die damals noch von dem äußerst russlandfreundlichen, russischsprachigen Präsidenten Viktor Janukowitsch regiert wurde. Von Mitgliedschaft war in dem Abkommen gar nicht die Rede – aus gutem Grund: In den damaligen ukrainischen Meinungsumfragen gab es weder eine klare Mehrheit für einen EU- noch für einen Nato-Beitritt.

2014 ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig: Bis dahin hatte die Ukraine alle Sicherheitsgarantien, die es sich wünschen konnte. Sie waren enthalten im bilateralen Freundschaftsvertrag mit Russland von 1997, im Vertrag über die gegenseitige Anerkennung der Grenzen von 2003, im Budapester Memorandum von 1994 und im Abkommen über die Aufteilung der Schwarzmeerflotte sowie in mehreren multilateralen Abkommen, angefangen von der Helsinki-Schlussakte über die Europäische Menschenrechtskonvention bis zur UN-Charta. Warum sollte die Ukraine also im März 2022 über Sicherheitsgarantien verhandeln, wenn sie die seit dem Budapester Memorandum schon längst hatte – von den USA, Frankreich, Großbritannien und Russland? Und warum sollte sie so etwas wollen, wenn es ihr zweimal – 2014 und im Februar 2022 – nicht das Geringste geholfen hat?

… den es gar nicht gab

Nichtsdestotrotz: Die Verhandlungen, die in dem Johnson-Narrativ eine so zentrale Rolle spielen, hat es gegeben. So einzigartig, wie das Johnson-Narrativ behauptet, waren sie aber gar nicht. Die ersten Verhandlungen gab es unmittelbar nach der Invasion auf Initiative Selenskyjs. Aber da Putin damals noch davon ausging, er könne seine Kriegsziele schnell erreichen, lehnte er ab und bestritt das dann später. Nach den Massakern von Butscha, den ersten Lieferungen schwerer westlicher Waffen und militärischen Erfolgen tat Selenskyj es ihm dann nach. Nichts Ungewöhnliches, man kann das auch jetzt im Krieg um den Gazastreifen beobachten: Die Seite, die auf dem Schlachtfeld verliert, ruft nach einem Waffenstillstand – und wer die Oberhand hat, lehnt ab.

Vielleicht spielten im März 2022 erneute Sicherheitsgarantien für die Ukraine sogar eine Rolle, aber das wissen wir nicht, weil die ukrainische Seite dazu bisher geschwiegen hat. Ukrainische Teilnehmer bestätigen die Gesprächsthemen, dementieren aber, es sei irgendetwas davon akzeptiert worden – und eine eigene Version mit Unterschriften haben sie bisher gar nicht veröffentlicht.

Wladimir Putin beobachtet eine Militärübung.
Wladimir Putin beobachtet eine Militärübung.Mikhail Klimentyev/dpa

Mögliche Versionen eines Friedensvertrages

Die bisherigen Leaks stammen aus russischen oder nicht nachvollziehbaren Quellen. Eine davon ist der private Nachrichtendienst von Farida Rustamowa, einer freien, aus Aserbaidschan stammenden russischen Journalistin, die am 29. März einen russischen Text veröffentlichte, den sie angeblich aus Verhandlungskreisen bekommen hatte und der seither in englischer Übersetzung um die Welt geht – als der Inhalt jenes Friedensplans, der da angeblich ausgehandelt und dann von Johnson so erfolgreich torpediert wurde.

Er umfasst zehn Punkte und man findet ihn auf Deutsch bei von der Schulenburg, Emma und sogar in einem SWP-Bericht. Es gibt damit aber einige Probleme: Auch die Financial Times behauptet, Einblick in diesen Plan gehabt zu haben, allerdings hatte ihre Version 15 Punkte. Und als Putin letztes Jahr vor Ramaphosas afrikanischer Delegation damit herumwedelte, sprach er sogar von 18 Punkten, die noch dazu von den Mitgliedern der ukrainischen Delegation damals „paraphiert“ (so sagt er auf Russisch) worden sein sollen.

Das ist wichtig, denn Verträge werden unterschrieben (mit voller Unterschrift). Paraphiert werden in der Regel einzelne Seiten, um zu verhindern, dass jemand nachträglich Seiten einfügt, die nicht ausverhandelt wurden – was Putin im gleichen Atemzug der ukrainischen Seite vorwarf. Weder Rustamowa, noch von der Schulenburg, der sie zitiert, behaupten, das Papier sei unterzeichnet worden. Selbst die russische Nachrichtenagentur Tass behauptet nur, die Ukrainer seien „bereit gewesen, es zu unterzeichnen“. Trotzdem kursiert die Mär vom unterzeichneten Friedensvertrag seither im Internet.

Das alles muss überhaupt nicht heißen, dass es einen solchen Text gar nicht gegeben hat oder einige oder alle verbreiteten Versionen gefälscht sind. Es gibt eine Menge anderer möglicher Interpretationen: dass unterschiedliche Versionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten geleakt wurden und der Entwurf zunächst weniger Punkte hatte als zu dem Moment, als er paraphiert wurde (wenn er es wurde), dass einige Versionen aufgesetzt, aber dann von beiden Seiten verworfen (aber von einer Seite dann geleakt) wurden. Wesentliche Teile des Inhalts wurden anschließend von Teilnehmern beider Delegationen in Interviews bestätigt. Betrachtet man die, wird es erst so richtig interessant.

Widersprüche über Widersprüche

Der am heftigsten debattierte Aspekt, der in allen Versionen des Entwurfs vorkommt, ist gleichzeitig der am wenigsten relevante. Er betrifft eine Art Tauschgeschäft: Die Ukraine verzichtet auf eine Nato-Mitgliedschaft, wird neutral und erhält dafür Garantien von mehreren westlichen Atom- und Nichtatomwaffenstaaten, einschließlich Russlands. Mit anderen Worten: Im Austausch für etwas, was sie bis dahin gar nicht wollte (Nato-Mitgliedschaft), hätte die Ukraine etwas bekommen, was sie schon lange hatte (Sicherheitsgarantien), was ihr aber seit 2014 keinerlei Nutzen gebracht hat. Die Sicherheitsgarantien sollten die von Russland beanspruchten Gebiete nicht umfassen. Deren Grenzen sollten später festgelegt werden – eine Einladung dazu, militärisch Fakten zu schaffen.

Schleierhaft ist auch, warum sich beide Seiten darauf einigen sollten, bei einer Aggression gegen die Ukraine den UN-Sicherheitsrat zu benachrichtigen – die Verpflichtung steht nämlich schon in der UN-Charta. Sämtliche Modalitäten einer Waffenruhe sind in dem Papier auf später vertagt; es gibt also keinen Zeitplan für einen Rückzug der Truppen, die Demilitarisierung bestimmter Gebiete, Gefangenenaustausch oder internationale Überwachung einer Waffenruhe. Dafür gibt es eine Schlussbestimmung, die es in sich hat: „Der Vertrag tritt in Kraft, nachdem (1) der dauerhaft neutrale Status der Ukraine in einem landesweiten Referendum gebilligt wurde, (2) die entsprechenden Änderungen in die ukrainische Verfassung aufgenommen wurden und (3) die Ratifizierung in den Parlamenten der Ukraine und der Garantiestaaten erfolgt ist.“

Mit anderen Worten: Er tritt bestenfalls in mehreren Monaten, schlimmstenfalls nie in Kraft. Ein Referendum kann in der Ukraine noch relativ leicht ausgerufen werden, entweder vom Präsidenten oder vom Parlament. Eine Verfassungsänderung dagegen erfordert eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Das Problem dabei: Man kann bei jedem Entscheidungsprozess nur den Prozess oder das Ergebnis bestimmen, aber nicht beides. Entweder man will, dass die Ukrainer über etwas abstimmen – dann können sie es auch ablehnen. Oder man will, dass sie etwas Bestimmtes tun, dann kann man ihnen aber nicht vorschreiben, wie sie das beschließen sollen. Auf die Idee, beides zu kontrollieren, kann nur ein Politiker kommen, in dessen Land die Regierung seit jeher Entscheidungsprozesse so manipulieren kann, dass das Ergebnis schon vorher feststeht – wie bei russischen Referenden, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Da Sergej Lawrow genau den gleichen Vorschlag nach der Krim-Annexion schon einmal in einem Vertragsentwurf gemacht hat, gehe ich davon aus, dass die Formulierung aus seiner Giftküche stammt.

Der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett in der Knesset.
Der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett in der Knesset.Maya Alleruzzo/AP

Die Friedensversionen von Naftali Bennett

Bisher ist niemandem aufgefallen, dass der bilaterale Entwurf Verpflichtungen für Staaten enthält, die an den Verhandlungen gar nicht beteiligt waren und diese deshalb auch nicht binden konnten. Die Garantiestaaten, von den USA bis Polen, sollten die Abmachung nämlich in ihren Parlamenten ratifizieren – offenbar unabhängig davon, ob das deren Verfassungen auch so vorsehen. Bis es so weit gewesen wäre, wären mit Sicherheit viele Monate, wenn nicht Jahre vergangen. Man muss sich nur ansehen, wie lange in der Nato über den Beitritt Schwedens verhandelt wird – seit fast genau zwei Jahren. Präzisiert wird auch nicht, wie viele Staaten den Vertrag ratifizieren müssen, damit er in Kraft treten kann: „Alle oder die meisten“ heißt es da, ein deutlicher Hinweis darauf, dass unter den Autoren keine Völkerrechtler waren.

Kurz und schlecht: Wenn also Boris Johnson tatsächlich nach Kiew kam, um klarzumachen, dass diese geplante Abmachung den Krieg nicht beenden würde, dann hatte er schlicht recht. Vielleicht hat er dabei Selenskyj angefeuert, weiterzukämpfen und ihm mehr Waffen und mehr Unterstützung versprochen, vielleicht hat ihn Selenskyj auch nur so verstanden oder verstehen wollen, vielleicht hat er aber auch einfach nur gesagt: „So könnt ihr das nicht machen.“ Und vielleicht ist das in irgendeiner Form zum israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett durchgedrungen, der damals auch vermitteln wollte und hinterher darüber fünf Stunden lang auf YouTube erzählte, „der Westen“ habe ein Friedensabkommen verhindert (was er später dann wieder relativierte).

Eine der Kriegsparteien muss zusammenbrechen

Das alles ist aufgrund der diffusen Quellenlage vollkommen unklar – kann sein, kann nicht sein und kann sein, dass alles noch ganz anders abgelaufen ist. Eines aber ist sicher: Der gemeinsame Kern der verschiedenen Versionen des Istanbuler Entwurfs, die in der Öffentlichkeit kursieren, ist zu dünn für ein Waffenstillstandsabkommen, von einem Friedensvertrag gar nicht zu reden.

Auf dieser Grundlage konnte kein Frieden einkehren, denn alle wichtigen Fragen über militärische Sicherheit und die Zugehörigkeit der umkämpften Gebiete wurden offengelassen. Ein konkretes Datum für einen Waffenstillstand findet man in dem Papier gar nicht erst. Trotzdem heißt es bei von der Schulenburg (und vielen, die ihn zitieren), es sei ein Plan für „einen Waffenstillstand und eine Friedenslösung“ gewesen.

Zum Vergleich: Das erste Minsker Protokoll von 2014 war ungefähr so lang wie der 10- bzw. 18-Punkte-Plan von Istanbul und taugte nicht einmal für einen längeren Waffenstillstand – die Kämpfe um den Donezker Flughafen, der Angriff auf Mariupol und die Schlacht um Debalzewe fanden kurz danach statt. Minsk II war viermal so lang – und beendete die Kämpfe auch nicht. Der gesamte Minsk-Prozess hatte nur wenige Teilnehmer: Russland, die Ukraine, die Separatisten und die OSZE. Deutschland und Frankreich agierten nur als Vermittler. Ein Abkommen, das auch anderen Staaten und der Nato und EU Verpflichtungen auferlegen will, muss nicht nur unter deren Beteiligung verhandelt, sondern auch von ihnen unterschrieben und ratifiziert werden. In der Bundesrepublik müsste der Bundestag Sicherheitsgarantien für die Ukraine zustimmen und die Opposition könnte dagegen in Karlsruhe klagen. Das ist die traurige Erkenntnis dieser kleinen Nachforschung: Jenen Zauberstab namens „Friedensverhandlungen“ oder „diplomatische Lösung“, der den Krieg auf einen Schlag beendet und nach dem sich viele Anhänger des Johnson-Narratives (und ich auch) so sehr sehnen, den gibt es solange nicht, wie nicht eine der Kriegsparteien zusammenbricht, etwa so wie das Deutsche Reich 1918.

Keine Seite wollte unterschreiben

Ohne einen klaren militärischen Sieg führt das derzeitige Gemetzel irgendwann auch zu Verhandlungen, die aber extrem kompliziert und schwierig und sehr langwierig zu ratifizieren sein werden. Wie der Minsker Prozess gezeigt hat, müssen sie auch gar nicht zu einem Ende der Kämpfe führen. Selbst wenn sich die Regierungen der wichtigsten Länder irgendwann einig werden, kann es in dem einen oder anderen Land einen Wechsel zu einer Regierung geben, die alles wieder infrage stellt oder es kann in Kiew oder Moskau eine Fraktion an die Macht kommen, die die Sache doch wieder auf dem Schlachtfeld ausfechten will.

Zusammengefasst: Dafür, dass Boris Johnson Anfang April 2022 in Kiew etwas verhindert hat, gibt es bisher keine klaren Beweise – für das Gegenteil allerdings auch nicht. Eine wie immer geartete Friedenslösung kann es aber nicht gewesen sein. Das, was in der Öffentlichkeit dazu kursiert, war nicht mehr als ein Entwurf für einen Waffenstillstand, den damals aber keine Seite unterschreiben wollte.

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