Jean-Luc ist der linke Kandidat mit den besten Aussichten. Umfragen sehen aber auch ihn nur bei neun Prozent.

Foto: EPA/IAN LANGSDON

Die Sozialistin Anne Hidalgo sehen Umfragen nur bei drei Prozent. Neben den vielen Linkskandidaten könnte ihr womöglich bald auch noch jemand aus der eigenen Partei Konkurrenz machen.

Foto: APA/ AFP/ JEAN-FRANCOIS MONIER

Die Umfragen für die Präsidentschaftswahlen von April lassen der Linken nur Brotkrumen. Der Grüne Yannick Jadot kommt auf sechs Prozent, die Linksradikale Christiane Taubira auf vier Prozent, die Sozialistin Anne Hidalgo auf drei Prozent, der Kommunist Fabien Roussel auf 2,5. Nicht zu vergessen zwei Trotzkisten, die hinter dem Komma Stimmen holen. Nur Jean-Luc Mélenchon von den "Unbeugsamen" kommt wenigstens auf neun Prozent, aber auch er bleibt auf sichere Distanz zu den Rechts- und Mittekandidaten.

Zusammen kommen die Linkskandidatinnen und Linkskandidaten auf ungefähr gleich viele Stimmen – 25 Prozent – wie der Favorit, Präsident Emmanuel Macron. Bloß treten sie nicht zusammen an. Wohl noch nie zuvor war die französische Linke so gesplittert und geschwächt wie heute. An die Zeiten, als ein François Mitterrand dank dem "programme commun", dem gemeinsamen Programm der Sozialisten und Kommunisten, triumphal in den Elysée-Palast einzog, erinnern sich nur ein paar Nostalgikerinnen und Nostalgiker.

Und jetzt ein paar Junge. Ein Pariser Paar, das der Selbstzerfleischung ihres Lagers nicht länger zuschauen will, hat Ende 2021 online eine "primaire populaire" ausgerufen. Und siehe da, bei dieser "Volksprimärwahl" schrieben sich aus dem Nichts über 460.000 Wählerinnen und Wähler ein – eine Flutwelle aus der Basis.

Niemand will sich ans Ergebnis halten

Seit Donnerstag wird abgestimmt; das Resultat soll am Sonntag bekanntwerden. Das Dumme ist: Niemand wird sich daran halten. Mélenchon, Jadot und Hidalgo haben bereits klargemacht, dass sie am 10. April auf jeden Fall antreten werden. Sie haben sogar – erfolglos – darum gebeten, aus der laufenden Online-Wahl entfernt zu werden. Mélenchon sagte, er habe "Besseres zu tun, als bei obskuren Machenschaften mitzumachen, um einen Hasen aus dem Hut zu zaubern". Hidalgo hatte sich im vergangenen Jahr für die Volksurwahl ausgesprochen, krebste aber unlängst wieder zurück. Aus taktischen Gründen wünscht sie die Abhaltung der Bürgerwahl, um ihren direktesten Gegner Jadot in Bedrängnis zu bringen; sich aber selber dem digitalen Urnengang zu unterziehen hat sie zweifellos nie in Betracht gezogen.

Taubira, die Vierte im Bunde, der kein Bund ist, gelobt, sich dem Resultat zu beugen – aber wohl nur, wenn sie wie gut möglich die "primaire" gewinnt. Die angriffige Ex-Justizministerin ist auf der Linken populär, auch wenn sich ihre eigene Solidarität in Grenzen hält: Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 führte ihre Kandidatur dazu, dass der Sozialist Lionel Jospin im ersten Wahlgang vom Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen ausgebootet wurde.

Kompliziertes Prozedere

Das Spitzenquartett, neben dem drei weitgehend unbekannte Namen antreten, muss deshalb in den sozialen Medien viel Kritik für die Solotouren einstecken. Unverständnis weckt aber auch das Urwahlprozedere. Es ist so innovativ und komplex, dass es nur gewiefte Politologen durchschauen. Die Wahlfrage besteht nicht etwa aus Namen, sondern lautet: "Um der Ökologie und der sozialen Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, benote ich die Kandidaturen wie folgt" – von "ausgezeichnet" über "gut" und "passabel" bis "zurückgewiesen". Daraus wird dann nach einem komplizierten Schlüssel ein "medianes" Endergebnis eruiert.

Mélenchon und Jadot haben nicht unrecht, wenn sie behaupten, ihre Kandidaturen seien durch ein parteiinternes Auswahlverfahren besser legitimiert. "Dafür verlieren sie im April an den Wahlurnen", kontern die Anhänger der Volksprimärwahl mit ebenso gutem Recht.

Eine Ursache für das angekündigte Wahldebakel ist der Aufschwung der Rechtsaußen, die mit Eric Zemmour und Marine Le Pen diesmal gleich mit zwei Personen gute Chancen haben. Die Linke ist ohne jede Aussicht auf einen Olaf-Scholz-Effekt wie die deutsche SPD. Sie ist personell wie auch in der Sache zerstritten. Die Sozialdemokratin Hidalgo und der Sozialist Mélenchon sprechen sich seit Jahren nicht mehr. Neuere Themen wie Klimanotstand, #MeToo oder die Debatte über den Islam haben die Gräben noch vertieft.

Weitere Kandidatur?

Als wäre das Kandidatengerangel noch nicht groß genug, hat sich diese Woche ein alter Name neu in Erinnerung gerufen: François Hollande, Ex-Präsident von 2012 bis 2017, erklärte in einer Schulklasse, wo er sich gefilmt wusste: "Ein ehemaliger Staatschef kann sehr wohl Politik machen und noch mal kandidieren." Er versprach, er werde "bald das Wort ergreifen". Selbst Parteifreunden stockte der Atem: Ist eine weitere Linkskandidatur im Anzug? Die wievielte, ist unbekannt. Frankreich hat zu zählen aufgehört. (Stefan Brändle aus Paris, 28.1.2022)