Die Bibel zwischen Symbolkraft und Geografie: Der Niederländer Marten I. van Valckenborch malte um 1580/90 die Heilige Familie auf der
Die Bibel zwischen Symbolkraft und Geografie: Der Niederländer Marten I. van Valckenborch malte um 1580/90 die Heilige Familie auf der "Flucht nach Ägypten" – die Landschaft ist nichtsdestotrotz deutlich europäisch.
KHM-Museumsverband

Am Sonntagabend wird sie wieder vielfach vorgelesen werden: die Geschichte vom Jesuskind, das in einer Krippe die ersten Atemzüge seines jungen Lebens tat. Und zwar in Bethlehem, einer Stadt im heutigen Westjordanland, die mit dem biblischen König David assoziiert wird.

Dass Jesus "aus dem Hause David" stammte, ist ein theologisches und auch ein politisches Statement. Und von solchen Signalen sind die ganzen sogenannten Kindheitsgeschichten in der christlichen Bibel durchsetzt. Die Weihnachtsevangelien sind voll mit antiker Geopolitik. Sprechen sie am Ende deutlicher zu unserer Gegenwart, als wir es angesichts der Märchenaspekte von Ochs und Esel und den drei Königen aus dem Orient üblicherweise bemerken würden?

Züge der Legende

Vor allem bei Lukas, in der jetzigen Reihenfolge im Kanon der dritte Autor eines Evangeliums, sind die Ereignisse rund um die Geburt Jesu umfangreich entwickelt. Darunter ist eine Menge, was moderne Christen nicht mehr glauben, weil es sehr deutlich Züge einer Legende aufweist – vor allem die Jungfrauengeburt. Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass Lukas sich die Kindheit von Jesus ausgedacht hat, weil er damit (jüdisch-christliche) Theologie betreiben konnte.

Das beginnt schon damit, dass er beträchtlichen erzählerischen Aufwand betreibt, um Jesu Ankunft vorzubereiten. Mehrfach erscheinen Engel, zuerst einmal wird die Geburt von Johannes dem Täufer mit Aspekten eines Wunders versehen – dessen Mutter Elisabeth ist schon sehr alt, als sie schwanger wird. Kundige Leser der Bibel (und das waren damals alle) verstanden sofort: Hier wiederholt sich etwas, was am Anfang der jüdischen Geschichte stand. Denn auch Abrahams Ehefrau Sara bekam Isaak in einem Alter, in dem üblicherweise nicht mehr mit Nachwuchs zu rechnen war. Johannes der Täufer und nach ihm Jesus stehen also in einem Zusammenhang, der durch Abraham vorgeprägt war.

Mit dem Erzvater entstand das Volk Israel, das Gottesvolk schloss seinen ersten Bund, und an Abraham erging auch eine Landverheißung. Denn er musste auf dem ihm bestimmten Territorium erst ankommen. Er stammte ja ursprünglich aus Mesopotamien (heute Irak), war dann Jahrzehnte unterwegs und erreichte schließlich Kanaan – das Gelobte Land.

Abraham-Abkommen

Der Friedensvertrag, den Israel 2020 mit den Vereinigten Arabischen Emiraten schloss, wird gemeinhin Abraham-Abkommen genannt. Das hat damit zu tun, dass Juden und Muslime sich auf Abraham beziehen können – in der mythischen Vorzeit gab es noch keine Religionen, nur direkten Kontakt mit Gott. Abraham war der Erste, der von dem "richtigen" Gott adressiert wurde. Daran können alle Monotheisten anschließen. Was die Abraham-Abkommen diplomatisch unterschlagen, sind konkrete Konflikte, die sich aus der Abraham-Tradition ergeben: Der Tempelberg in Jerusalem, Hebron, Bethlehem sind allesamt heute hochumstrittene Orte.

Die Christen könnten sich in dieser Situation bequem zurücklehnen und sich auf eine geläufige Lesart berufen: Mit Jesus wurde die Landverheißung an das Volk Israel erneuert, und zwar so, dass es dabei nicht mehr auf konkrete Geografie ankam, sondern auf Symbolkraft. Der Zion der Christen befindet sich im Himmel. Allerdings war auch den Christen das Heilige Land so heilig, dass sie Kreuzzüge nach Palästina schickten. Und das christliche Abendland beruht nicht zuletzt sehr stark auf einer Zivilisation, die zur Zeit Jesu rund um Jerusalem imperial auftrat: das alte Rom.

Beginn der Diaspora

Der Evangelist Lukas legt auch deswegen so großen Wert darauf, mehrfach alle Herrscher und Statthalter in der Region genauestens aufzuführen, weil die Lage schon damals höchst kompliziert war. Den Statthalter Quirinius aus Syrien haben viele Menschen im Ohr, ohne dass sie mit ihm Genaueres verbinden werden. Er steht eben zufällig im zweiten Kapitel des Lukas-Evangeliums an entscheidender Stelle. Oder nicht zufällig. Denn das Lukas-Evangelium reflektiert das Schicksal des jüdischen Volkes in einer Zeit, in der Rom den Tempel in Jerusalem zerstörte – und in der anno 71 die jüdische Diaspora begann.

In Palästina lebten zwar auch danach weiterhin Juden, aber erst im späten 19. Jahrhundert setzte eine größere Bewegung der Rückkehr ein. Damit begann die Geschichte von Abraham neu. Eine Geschichte von kollidierenden Landansprüchen und Landhoffnungen.

Jesus steht als Prophet oder (christlich) als Messias selbst in dieser Spannung. Dass Lukas ihn dem "Geschlecht Davids" zuordnet, bedeutete für seine jüdischen Zeitgenossen auch eine Erinnerung an eine Zeit, in der Israel erstmals als Staat in Erscheinung trat. Dieses Gemeinwesen vor grob 3000 Jahren hatte zwar mit einem modernen Staat nichts gemein, aber es gab einen König, ein Verwaltungszentrum und bald auch ein Kultzentrum.

Tempel in Jerusalem

Unter Salomon entstand der erste Tempel in Jerusalem. Bei Lukas wird Jesus einen Monat nach der Geburt im Tempel "dargebracht", also quasi Gott vorgelegt. Gemeint ist dabei der "zweite" Tempel, der nach dem Exil in Babylon unter der Herrschaft der Perser errichtet wurde, und rund um den Israel in den 200 Jahren vor Jesus einen weiteren Höhepunkt seiner frühen Staatlichkeit erreichte.

Zeit seines Lebens musste sich der Prophet aus Galiläa gegen das Missverständnis wehren, dass er Israel vom Joch Roms befreien wollte. Hoffnungen auf eine weitere "Landnahme" waren im damaligen Judentum verbreitet. Die (erfundene) Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten wird mit der Angst des von den Römern eingesetzten Herrschers Herodes vor einem Charismatiker des Widerstands begründet. Josef und Maria kehren mit Jesus aus Ägypten zurück, auf den Wegen, die einst das Volk Israel im Exodus zurücklegte. Damals war das Ziel eine (weitere) Landnahme: Israel eroberte Kanaan.

Ignoriertes Trauma

Das kann man als Urszene jenes Siedlungskolonialismus sehen, der dem heutigen Staat Israel immer wieder aus einer schematisch postkolonialen Geschichtsdeutung heraus vorgeworfen wird – häufig wird dabei das jüdische Trauma der Shoah bewusst ignoriert oder kleingeredet, wie auch der Schiedsspruch für Palästina, den die UN 1947 anboten. Jesus steht für eine gegenläufige Tendenz zu territorialen Hoffnungen, die auch im Judentum durchaus geläufig war.

Seine Botschaft war originell, kam aber nicht aus dem Nichts: Er vertrat ein Königreich Gottes, in dem Staatsgrenzen, Tempelkult, Währungen, Kroninsignien ihre Bedeutung verlieren sollten. Ein utopisches Gemeinwesen, das von den christlichen Kirchen nur zu oft für sehr irdische Macht und Gewalt verraten wurde. Das Weihnachtsevangelium erinnert so tatsächlich vor allem daran, dass Staaten selbst Erzählungen sind. Und dass ein gutes Ende nicht von Engeln zu erwarten ist. (Bert Rebhandl, 26.12.2023)