«Heute finden wir den Osterhasen», sagt mein Vater, während er sich die Wanderschuhe schnürt. Wir drei Kinder sind mä­ssig begeistert von der Aussicht, ziellos die Hänge oberhalb von Sent abzuwandern, um sehr wahrscheinlich gar nichts zu finden. Der ältere Bruder im Teenageralter streikt und verschwindet in sein Zimmer. Mama winkt ab, sie hat noch zu viel zu tun. Ich blicke in das Gesicht meiner fünf Jahre jüngeren Schwester. Ob sie wohl noch an den Osterhasen glaubt? Sie hat die Jacke jedenfalls schon angezogen und schaut mich erwartungsvoll an. Na gut, ich gebe mir einen Ruck und so machen wir uns zu dritt zum Abenteuer «leivra da Pasqua» auf. Schliesslich ist heute Ostersonntag. 

Es ist ein eher trüber Morgen. Immerhin regnet es nicht. Aber die Wiesen sind braun, der Wald ist braun, der Himmel ist grau und es weht eine unangenehme Bise. «Wir sind Engadiner, uns macht das bisschen Wind nichts aus», meint Papi gut gelaunt, während wir frierend hinterhertrotten. Noch folgen wir dem Weg, aber wir kennen unseren Vater. Sehr bald wird er eine «Abkürzung» vorschlagen und dann landen wir irgendwo in der Pampa, klettern irgendwelche Hänge hoch, oder irren im Wald umher. Immerhin denkt er immer an «marenda». 

Nach einer gefühlten Ewigkeit legen wir eine Rast unter einem knorrigen Baum ein. Doch, es ist eine hübsche Lichtung hier, windgeschützt. Es riecht nach nasser Erde und obwohl ich auch nasse Fü­sse vom Überqueren eines Schneefeldes habe, schmecken das Roggenbrot, der Käse und die Schokolade ganz wunderbar. Papi zählt Flurnamen auf, die wir uns nie merken können. Hier oben, hoch über Sent, da fühlt er sich zu Hause, da ist er in seinem Element.

Dann brechen wir wieder auf. Und weiter geht's buchstäblich über Stock und Stein. Wir sehen immer wieder Kot von Wildtieren, wir entdecken Frühlingsblümchen, und nehmen eine interessant geformte Wurzel mit. Keine Tiere weit und breit. Und schon gar kein Osterhase. Egal, unsere Laune ist inzwischen blendend und sogar das Wetter bessert sich. Als es heimwärts geht, drückt die Sonne durch die Wolkendecke. Wir singen Chalandamarz-Lieder und rennen mit dem Wind um die Wette. Wer braucht denn schon einen Wanderweg, wenn es sich die Hänge runterrollen lässt. Der Vater folgt seinen übermütigen Mädchen gemächlich. 

Plötzlich schreit meine kleine Schwester auf. «Da!» Wie angewurzelt bleiben wir stehen. Ein Hase jagt, aufgescheucht durch unsere Fröhlichkeit, im Zickzack quer über den Hang. Wir sehen ihn nur noch von hinten, so schnell geht das.«Habe ich euch nicht gesagt, dass wir heute noch den Osterhasen finden?», fragt unser Papi mit selbstgefälligem Grinsen. 

f.hofmann@engadinerpost.ch