Corona in Großbritannien :
Früherer Gesundheitsminister: Brexit lenkte von Pandemie-Vorbereitung ab

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Der frühere britische Gesundheitsminister Matt Hancock am Dienstag in London
Kein Plan, um die Ausbreitung von Viren zu verhindern: Laut dem früheren britischen Gesundheitsminister Hancock hat die Corona-Vorsorge versagt.

Der frühere britische Gesundheitsminister Matt Hancock hat vor einer Untersuchungskommission eingestanden, dass die Notfallplanung für die Corona-Pandemie in Großbritannien „falsch“ war. Es sei im Grundsatz eine „falsche Strategie“ verfolgt worden, sagte Hancock. Es habe die Einstellung geherrscht, es müssten die Folgen einer Massenerkrankung beherrscht werden, „also haben wir genug Leichensäcke, wo begraben wir die Toten“. Im Zentrum der Erwägungen habe hingegen nicht gestanden, „wie man das Desaster stoppt“, dies wäre die wichtigere Frage gewesen.

Hancock gab zudem zu, dass Vorausplanungen für eine Pandemie im Gesundheitsministerium im Jahr 2019 unterbrochen oder nicht ausgeführt wurden, weil ein Teil der Beamten stattdessen dafür abgestellt wurde, die Folgen eines ungeregelten Austritts aus der EU einzuschätzen.

Die britische Corona-Untersuchungskommission soll die Frage klären, wie das Vereinigte Königreich auf die Pandemie vorbereitet war, welche Entscheidungen und Versäumnisse den Verlauf der Pandemie auf den britischen Inseln bestimmten und welche Lehren daraus gezogen werden können.

Die Kommission wurde in der Regierungszeit von Premierminister Boris Johnson eingesetzt und wird von der früheren Berufungsrichterin Heather Hallatt geleitet, die das Recht hat, Regierungsdokumente einzusehen und Zeugen einzubestellen. Hallatt liegt mit der aktuellen Regierung von Premierminister Rishi Sunak schon in einem Rechtsstreit darüber, ob zu den Dokumenten, deren Herausgabe sie verlangt, auch die Kurznachrichten des früheren Premierministers Johnson auf dessen Whatsapp-Konto gehören oder nicht.

Corona-Impfungen zeigten Wirkung

Der Ausschuss hat vor zwei Wochen mit den Zeugenvernehmungen begonnen, die nach den bisherigen Vorstellungen der Vorsitzenden Hallatt bis ins Jahr 2026 fortgesetzt werden sollen. Der Abschlussbericht wird für das darauffolgende Jahr erwartet. Zu den ersten Zeugen zählte der frühere Premierminister David Cameron, der angab, die britische Gesundheitsbürokratie habe sich bei ihren Notfallplanungen für den Fall einer Pandemie viel zu stark auf eine mögliche Grippe-Massenerkrankung konzentriert und andere mögliche Pandemien außer Acht gelassen.

Der Sender BBC legte vor wenigen Tagen eine Datensammlung vor, nach der die Zahl der Todesfälle im Zuge der Corona-Pandemie in Großbritannien höher war als in Deutschland, Frankreich oder Spanien, allerdings weniger hoch als in den Vereinigten Staaten. Die Studie der BBC verzichtet dabei auf den Vergleich von Sterbefällen nach einzelnen Todesursachen, sondern vergleicht die allgemeinen Sterbezahlen, geordnet nach Altersgruppen.

Demnach wurde das Vereinigte Königreich in den ersten zwölf Monaten von der Corona-Pandemie (März 2020 bis März 2021) besonders hart getroffen, die Sterberate stieg um 15 Prozent im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie. Vergleichbar erhöhte Todesraten wiesen Spanien und Frankreich auf, in den Vereinigten Staaten lag die Sterberate sogar um 25 Prozent höher, für Deutschland wird lediglich eine um fünf Prozent erhöhte Rate angegeben.

In den folgenden Jahren 2021/22 und 2022/23 änderten sich jedoch die Verhältnisse. In Großbritannien fiel die Sterberate unter den langjährigen Durchschnitt, offenkundig zeigte dort das frühe und umfassende Impfprogramm Wirkung. In den Vereinigten Staaten und Polen blieben die Raten auch 21/22 um rund 20 Prozent erhöht. In Deutschland zeigt sich erst im folgenden Jahr 22/23 eine um fünf Prozent erhöhte Sterberate, die höchste, welche die Studie für dieses Jahr, gemeinsam mit den USA, verzeichnet.

Zu stark auf Grippeviren konzentriert

Hancock sagte am Dienstag vor dem Ausschuss, er übernehme die Verantwortung für alle Handlungen und Versäumnisse seines Ministeriums. Er bestritt jedoch, dass einzelne Fehlentscheidungen den Verlauf der Pandemie entscheidend beeinflussten. Zu dem Umstand, dass die Pandemie-Vorsorgeplanung in seinem Haus 2019 faktisch ausgesetzt wurde, um sich auf die Folgen eines ungeregelten Brexit für das Gesundheitswesen vorzubereiten, sagte er, es gelte in der Vorsorge-Arbeit eines Ministeriums immer, verschiedene Risiken abzuwägen oder einzuschätzen. Auch der unvermittelte Austritt aus der EU habe Risiken geborgen. Wenn man das Gesundheitsministerium leite, müsse man „sich auf viele schlimme Sachen vorbereiten“.

Der frühere Gesundheitsminister relativierte auch die Aussagen anderer Zeugen, die Notfallplanung des Ministeriums und des Gesundheitswesens habe sich zu sehr auf eine Grippe-Epidemie eingestellt und andere Pandemien nicht in Betracht gezogen. Er sagte, zwar stimme dieser Befund generell, ironischerweise aber habe sich die Corona-Pandemie dann in einem ähnlichen Muster wie Grippeviren verbreitet, weil das Coronavirus, anders als wissenschaftlich erwartet, wie die Influenza-Viren über Tröpfchen-Infektion weitergegeben werde.

Das „kolossale Scheitern“ der britischen Notfallplanung – die nach Hancocks Einschätzung in fast allen Ländern der westlichen Welt ähnlichen Fehleinschätzungen unterlag – bestehe aber in der Annahme, dass es nicht möglich sein werde, die Ausbreitung des Virus anzuhalten oder zu beeinflussen. Es habe ein vollständiger Mangel an Vorstellungsvermögen geherrscht, wie die Weitergabe des Virus verhindert werden könne; dies sei das „zentrale Versagen“ gewesen.

Zu den frühen Folgefehlern gehörte die Entscheidung, pflegebedürftige ältere Corona-Patienten aus den Krankenhäusern rasch in Pflegeheime zurückzuverlegen, um Krankenhausbetten für neue Patienten freizumachen. Daraufhin stiegen die Infektionszahlen in Seniorenheimen dramatisch. Hancock beteuerte am Dienstag, sein Ministerium habe keinen Überblick darüber gehabt, wie die Lage in den Altenheimen aussah; dies sei Sache der Kommunalbehörden gewesen. Der Anwalt Hugo Keith, der Hancocks Befragung ausführte, fragte, „es waren also Löwen, die von Affen geführt wurden?“ Der einstige Minister antwortete mit „absolut richtig“.