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Quälend langsam

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Nach einem Schiffsunglück vor Sri Lanka suchen Sicherheitskräfte 2021 nach Trümmern und Verunreinigungen, die durch das sinkende Schiff verursacht wurden.
Nach einem Schiffsunglück vor Sri Lanka suchen Sicherheitskräfte 2021 nach Trümmern und Verunreinigungen, die durch das sinkende Schiff verursacht wurden. © Ajith Perera/dpa

Beim Chemie-Gipfel in Bonn ist allen klar: Für den Umgang mit Chemikalien sind dringend globale Standards nötig. Dennoch gibt es kaum Fortschritte. Der Leitartikel.

Chemie ist überall. Ob Plastiktüten, Lebensmittelverpackungen, Kleidung, Smartphone, Möbel, ob Medizinprodukte im Krankenhaus oder Pestizide auf dem Acker – Chemikalien sind ein wichtiger Bestandteil vieler Produkte, die wir im alltäglichen Leben nutzen, oder sie werden in deren Herstellung eingesetzt. Kaum jemand will auf sie verzichten, weil sie das Leben einfacher machen. Doch trotz der unbestreitbaren Vorteile: Chemikalien haben gravierende Schattenseiten, auch heute noch, da große Katastrophen, die man früher mit der Branche verband, wie Seveso oder Bhopal, der Vergangenheit anzugehören scheinen.

Leider aber geht es bei dem Versuch, die ungewünschten Folgen abzustellen, nur quälend langsam voran, wie die Weltchemikalienkonferenz in dieser Woche in Bonn gezeigt hat.

Chemikalien und Chemieprodukte müssen sicherer werden, und ihr ökologischer Fußabdruck muss minimiert werden. Das ist unbestritten. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben pro Jahr rund 1,9 Millionen Menschen aufgrund der Belastung mit giftigen Stoffen aus dieser Branche, darunter Pestizide oder Industriechemikalien, wobei vor allem Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern betroffen sind. Hinzu kommt eine ungleich größere Zahl von Krankheitsfällen.

Doch es gibt auch enge Verbindungen zu den beiden ökologischen Megakrisen des Planeten, dem Klimawandel und der schwindenden Biodiversität. Die Chemieindustrie ist einer der Hauptverbraucher von fossilen Rohstoffen und damit ein kritischer CO2-Produzent, und sie ist ein zentraler Treiber beim Verlust der Artenvielfalt, vor allem durch Pflanzenschutzmittel.

Die Analyse ist klar. Laut dem UN-Umweltprogramm Unep handelt es sich bei der Verschmutzung mit Chemikalien tatsächlich neben Klima und Biodiversität um das dritte, meist übersehene Umwelt-Megaproblem unserer Zeit. Wissenschaftler:innen haben erst unlängst gewarnt, dass die „planetare Grenze“ für die Anreicherung neuer Substanzen, zu denen Mikroplastik und die sogenannten Ewigkeitschemikalien, die „Pfas“, gehören, überschritten sind.

Und so ist es gut, dass auf der großen Bonner Konferenz, bei der neben Regierungen, Vertreter:innen von Wissenschaft und NGOs auch die Hersteller und ihre Verbände vertreten waren, nicht versucht wurde, die Probleme klein zu reden. Selbst die kritischen Umweltverbände waren von der Analyse, die die Konferenz lieferte, angetan.

Nur, dass das reicht, ist mehr als fraglich. Die Bonner Konferenz war nicht die erste, die einen nachhaltigen Umgang mit Chemikalien erreichen wollte, sondern bereits das fünfte dieser Treffen. Zuletzt hatte man als Zieljahr für eine „verträgliche“ Chemie 2020 beschlossen. Doch: Fehlanzeige. Hauptgrund war neben dem fehlenden politischen Willen vieler Regierungen und der Nicht-Verbindlichkeit des verabschiedeten „Strategischen Ansatzes zum Internationalen Chemikalienmanagement“: Es stand viel zu wenig Geld zur Verfügung, um in den ärmeren Ländern ein Chemikalienmanagement aufzubauen, das zum Beispiel eine korrekte Anwendung von Pestiziden durchsetzt.

Und hier zeichnet sich keine Lösung ab. Die zwei Hauptforderungen von Umweltfachleuten und NGOs hatten keine Chance: das geplante Chemieabkommen verbindlicher zu machen, ähnlich internationalen Klima- und Biodiversitätsverträgen, und zur Finanzierung eine weltweite Abgabe für Unternehmen in Höhe von 0,5 Prozent auf den Produktionswert von Grundchemikalien einzuführen. Selbst die Forderung von afrikanischen Ländern, 0,05 Prozent abzuzweigen, hatten keine Chance. Deutschland hat hier immerhin einen zweistelligen Millionenbetrag angekündigt. Länder mit hoher Chemieproduktion wie die USA, Kanada, China, Indien, Japan und Indonesien bremsten.

Die Chancen, das 2020 verpasste Ziel einer für Gesundheit, Umwelt und Klima verträglichen Chemie nun bis 2030 zu erreichen, sind minimal. Das zeigt sich leider auch in Europa, wo im Vergleich mit anderen Erdteilen die Umweltstandards der Branche hoch sind und die Chemikalien-Regulierung fortgeschritten ist. Auch hier besteht die Herausforderung der Branche darin, eine wirklich nachhaltige Produktion mit möglichst komplett geschlossenen Kreisläufen zu etablieren – ohne Abfall und Anreicherung von Mikroplastik und Schadstoffen in der Umwelt.

Keine Frage, die Chemie wird dringend benötigt, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen – ob in der Landwirtschaft, in der Energieproduktion oder im Verkehr. Niemand will in die Stein- oder die Eisenzeit zurück. Doch man wäre froh, wenn die Branche genauso viel Energie in einen zukunftsorientierten Umbau stecken würde wie in die Lobbyarbeit für den Status quo.

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