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Beklemmung nistet sich ein: Das Deutsche Theater Göttingen spielt „1984“ in der Tiefgarage

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In der Kantine: Nikolaus Kühn als ein Bewohner im Blaumann, im Hintergrund ist zu erkennen, wie die Besucher platziert sind. Foto: Jauk
In der Kantine: Nikolaus Kühn als ein Bewohner im Blaumann, im Hintergrund ist zu erkennen, wie die Besucher platziert sind. Foto: Jauk © -

Göttingen. Steckt in dem Stoff mehr als nur die Nostalgie alt gewordener Zukunftsvisionen? George Orwells Roman „1984“, 1948 geschrieben, wurde zum Synonym für Überwachungsstaat und Gehirnwäsche, die Kontrollinstanz Big Brother aus dem Buch hat es sogar zum Showtitel im Trashfernsehen gebracht – völlige Pervertierung der Gesellschaftskritik.

Das Deutsche Theater in Göttingen klopft nun George Orwell auf seine Relevanz ab und inszeniert die Bühnenfassung von Robert Icke / Duncan Macmillan in der Tiefgarage des Theaters als Theaterabend, der den Zuschauern seelisch und körperlich an den Kragen geht. Aus der Welt der Computerspiele kommt der Begriff immersiv für das totale Eintauchen in eine virtuelle Realität. Das ist es, was die Besucher in der Regie von Antje Thoms in 75 Minuten erwartet. Die Premiere am Samstag wurde heftig beklatscht.

Vor dem Schlund der Tiefgarage erwartet die Besucher Desorientierung. Jeder bekommt Kopfhörer, Augenbinde und einen Führer, der ins Ungewisse leitet. In den Ohren Stimmen, die berichten, dass es in dieser Überwachungsdiktatur eine Bruderschaft der Rebellen geben soll.

Ich gehe stockend, unsicher, weiß nicht, wohin mit meiner Handtasche, bin eingeschüchtert.

Wenn die Besucher auf Befehl die Augenbinden abnehmen, sieht jeder etwas anderes. Florian Barth hat eine beeindruckende Bühneninstallation gebaut, die aus zahlreichen Räumen besteht, es sind Büro, Kantine, Gefängnis, Schlafzimmer, Arbeitsplatz, Kino, Feldbettenlager, Hof mit Wäscheleine. Jeder Besucher sitzt anders, sieht etwas anderes. Mitten in der Welt der Überwachten. In Blaumännern laufen sie mechanisch herum, bleich geschminkt.

Einige dirigieren die Zuschauer, holen jeden nach ein paar Minuten von seinem Platz, führen ihn durch die Installation, platzieren neu. So durchwandert jeder Besucher einen anderen Parcours durch Orwells Welt. Parallel agieren die Darsteller, teils sieht man sie, weil man im selben Raum ist, teils sieht man sie auf Bildschirmen, teils hört man sie nur über Kopfhörer, sieht gerade etwas anderes.

Mehr und mehr merke ich, dass mein Eingeschüchtertsein nicht weggeht. Ich senke scheu den Blick, sobald meine Führerin kommt und mich am Ellbogen fasst. Anfangs nehme ich noch Blickkontakt mit anderen Zuschauern auf, grinse mal verschwörerisch rüber. Das lasse ich aber schnell. Geht nicht.

Es entwickelt sich: Die Geschichte von Winston Smith (Roman Majewski), der dafür zuständig ist, Geschichte im Auftrag der Partei umzuschreiben und missliebige Menschen aus dem kollektiven Archiv zu löschen. Er schreibt heimlich Tagebuch, erfüllt von dem Wunsch, etwas festzuhalten, wo alles mit den Gehirnwäschestrategien „Neusprech“ und „Doppeldenk“ ausgelöscht wird.

Es ist nicht leicht, sich inmitten dieser optischen Eindrücke auf das Gehörte zu konzentrieren, besonders, als ich in einem Verhörraum sitze, der an die Stasi erinnert, oder vor einem blutenden Gefangenen, dem wohl kräftig ins Gesicht geschlagen worden ist. Mit keinem meiner Sinne kann ich mich dem Theatererlebnis entziehen.

Auf den Bildschirmen laufen Propagandafilme, die leider zu konkret an Nordkorea erinnern, diese Verortung muss nicht sein. Ohrenbetäubende Signallaute (Fred Kerkmann) fordern zum Essen oder zum „Zwei-Minuten-Hass“ auf.

Darf ich eigentlich meinen Block zücken? Ich bin verblüfft, dass ich zögere, ob es ok ist, mir Notizen zu machen. Oder ob ich die Kopfhörer so platzieren darf, dass ich die Schmerzensschreie einer Folterung nicht so nah im Ohr habe.

Orwell zeigt, dass die Menschen haltlos werden, wenn sie keine Werte mehr haben, keine Vergangenheit. Heute lassen wir uns freiwillig von anonymen Internetkonzernen überwachen, zensieren unser Leben im aufgehübschten Instagram-Look selbst. Solche Brücken zum Jetzt hätten noch mehr geschlagen werden können.

Am Ende bleibt ein Kinderreim im Ohr, das einzige, was die Bewohner dieser künstlichen Hölle noch mit ihrer Vergangenheit verbindet.

Bis 10.9., Tel.: 0551-496911.

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