Filmisches Kunstwerk und Zeitkapsel der Clubkultur

1994 drehte der Exil-Chilene Marcelo Lagos das poetische Roadmovie „Stuttgart Mi Amor“. Eine der eigens für den Film gebauten Kulissen war eine Latino-Bar. Sie wurde die Keimzelle für das „Zapata“, den legendärsten Live-Club, den Stuttgart je besessen hat.
Filmstill "Stuttgart Mi Amor"

Zapata – Ein Szene-Treff entsteht über Nacht

Der Club – beziehungsweise Kunst- und Kulturverein Zapata – entstand im ehemaligen Stuttgarter Südmilch-Areal, einem zum Abriss freigegebenen Fabrikgebäude. Als Marcelo Lagos die Szenen, die in seiner Bar-Kulisse spielten, abgedreht hatte, hatte sich die Location in Stuttgart schon herumgesprochen. Nachtschwärmer: innen versammelten sich zu Hunderten und wollten, wie in einer richtigen Bar, bedient werden. Also organisierte die Film-Crew erstmal ein paar Kästen Bier von der Tankstelle. Das war der Anfang.

In kürzester Zeit nahm der Szenetreff an Fahrt auf, wurde nach dem mexikanischen Revolutionär Emiliano Zapata benannt und die Getränke kamen bald als LKW-Ladungen an – nicht nur das Bier. Im Zapata wurden karibische Cocktails gemixt, die man in den 1990-ern in Stuttgart noch nicht kannte. Live-Bands, oft aus Lateinamerika, gaben Konzerte, prominente Gäste reisten von überall an, Bühnenstars wie Ben Becker, die Fantastischen Vier, Alfred Biolek oder Grünen-Politiker wie Joschka Fischer und Rezzo Schlauch wurden „Aficionados“.

Eine Gewerbekonzession hatten die Zapata-Leute zunächst nicht. Aber Erfindungsgeist. Den Problemen mit den Behörden gingen sie aus dem Weg, indem sie Postkarten und Briefmarken druckten, die im Zapata als Währung dienten. Mit den Einnahmen aus dem Verkauf unterstützten sie Kunstprojekte. Und Marcelo Lagos selbst konnte dank des guten Umsatzes aus dem Zapata an seinem Film weiterarbeiten.

Initiator und Vorgeschichte

Nach Stuttgart war Marcelo Lagos 1977 als Asylant gekommen. Zuvor saß der vor der Pinochet-Diktatur nach Argentinien geflohene Chilene in Buenos Aires zwei Jahre als politischer Häftling hinter Gittern. Dank einer Vermittlung durch die UNO kam er frei und durfte sich unter fünf europäischen Ländern eines als Aufnahmeland auswählen. Er entschied sich für Deutschland.

Stuttgart war am Anfang sehr, sehr fremd für mich. Ich kam aus Buenos Aires, einer wahnsinnig pulsierenden Stadt, wo die Leute immer auf der Straße sind, immer etwas los ist und die Nacht zum Tag gemacht wird. Und dann war ich plötzlich in Stuttgart, wo die Geschäfte damals noch um 18 Uhr schlossen. Ich war ziemlich frustriert: kein Mensch abends auf der Straße, einfach tote Hose. Für mich war es ein Kulturschock.

Und doch blieb Marcelo, beziehungsweise kam, nachdem er zwei Jahre lang noch andere Länder ausprobiert hatte, wieder nach Stuttgart zurück. Er jobbte hier und da, wurde Fotograf, arbeitete lange in einer Druckerei, bewegte sich in Kreisen der Alternativkultur und litt unter notorischer Geldnot. 1992 gestaltete er im Eigenverlag ein Fotobuch – und blieb auf der Auflage von 4.000 Stück erst einmal sitzen. Die Buchhandlungen waren nicht interessiert, vielleicht wegen des wenig aufregenden Titels: „Stuttgarter Impressionen“. Dann bot sich die Möglichkeit, an den Buchwochen teilzunehmen und dort war der Bildband aus der Sicht eines chilenischen Flüchtlings plötzlich eine Sensation. Die Auflage verkaufte sich wie warme Semmel. Und Marcelo hatte das Grundkapital für seinen Film.

„Stuttgart Mi Amor“ – 35mm und Schwarz-weiß

Wie in seinem Fotobuch sollte es um „magische Orte“ in Stuttgart gehen. Künstlerisch war das Projekt von Anfang an hochambitioniert. Marcelo wollte auf 35 Millimeter drehen, und zwar in Schwarz-weiß. Ein Stummfilm mit vielen Inszenierungen sollte es werden, dazu eigens komponierte Musik. 35mm-Film ist teuer. Also kam er auf die Idee, in Kopierwerken Reste aufzukaufen. Bei Arri Contrast in Berlin wurden gerade die Kodak Double X-Rollen von „Schindlers Liste“ entwickelt. Und Marcelo gelang ein Deal: Mit den unbelichteten Resten von Steven Spielbergs späterem Millionenerfolg konnte er sein Arthaus-Projekt „Stuttgart Mi Amor“ beginnen.

Es waren eher so Kamikaze-Leute, mit denen ich dann anfing, den Film zu machen. Ich schrieb das Drehbuch und hatte eine Hommage an Stuttgart im Sinn, weil die Stadt mir Asyl gewährt hatte. Es war eine Art Dankeschön. Deshalb der Titel „Stuttgart Mi Amor“. Und da in der Liebe nicht immer alles gut geht, sie auch ambivalent sein kann, nicht vollkommen und schwierig, wollte ich das auch im Film so darstellen. Die Geschichte, die ich erzählen wollte, ist daher auch die von „Stuttgart 21“, es geht um Gentrifizierung. Der Film ist eine künstlerische Antizipation von dem, was danach kam.

Gentrifizierung – Zerstörung von Identität und Magie

Seine Kulissen fand Marcelo Lagos dort, wo Bauspekulanten die Herrschaft über die Stadtplanung an sich gerissen hatten. „Orte der Vertreibung“ nennt er sie und spricht von der Magie, die ihnen innewohnt. Vor allem in den Momenten, bevor die Abrissbirne sie zerstört, weil Parkplätze oder moderne Gebäude aus Glas und Beton an ihre Stelle kommen.

Das verlassene Gebäude aus der Gründerzeit im Stuttgarter Südmilch-Areal war so ein Ort. „Als wir kamen, waren alle Türen offen und verbargen eine faszinierende Architektur“, schreibt Marcelo später. „Über mehrere Stockwerke hinweg breiteten sich unzählige Räume mit Säulen und Arkaden aus, wie Fundamente eines vergangenen Industriezeitalters. Mit großen Kaminen, Öfen, großzügigen Stallungen, alten Brennereien und Lagerräumen, Wendeltreppen, die alles verbinden, Katakomben, wo die Feuchtigkeit Wandgemälde auf den Sandstein zeichnete; so entdeckten wir: Flügel, Gesichter, Augen und Walfische, Fantasiebilder aus der verborgenen Geschichte Stuttgarts. […] Die Magie des Ortes und die Kunst des Improvisierens war der Geist, der uns begleitet hatte, durch diese archaische und verlassene Geometrie.“[1]

Leben und Kunst – Das Zapata und der Film

Dass die Hauptlocation durch die Dreharbeiten zur in ganz Deutschland bekannten „Latino-Zentrale“ werden konnte, mit Musik, Tanz, rauschenden Festen, Kunst und vor allem Freiheit, klingt aus heutiger Sicht fast wie ein Märchen. Und je weiter die Zeit voranschreitet, desto ehrfürchtiger muss man staunen. Mit „Stuttgart mi Amor“ ist Marcelo zweifelsfrei ein Kunstwerk gelungen – poetisch, tiefsinnig und wahrhaftig – und zugleich ein historisches Zeugnis der aggressiven Gentrifizierung der Neunziger.

Kein Wunder, dass die „kleine“ Low-Budget-Produktion des Stuttgarter Chilenen 1996 zum Filmfestival Havanna eingeladen wurde. Gabriel García Márquez persönlich, Gründungsvater des kubanischen Filmevents, wollte den Film haben. Seine Entscheidung scheint aus heutiger Sicht mehr als folgerichtig. Denn in „Stuttgart Mi Amor“ kommen zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Kunstformen in Idealform zusammen: deutscher Expressionismus mit all seiner Gesellschaftskritik und magischer Realismus, wie ihn der lateinamerikanische Nobelpreisträger Márquez in seinen Romanen geprägt hat.

Eigentlich ist der Film ein Road Movie. Lange Fahrten durch Stuttgart werden wie die Geschichte des Films selbst zum Symbol für den Fluss des Lebens: Jeder Stopp, jedes Zuhause ist nur provisorisch. Flüchtig wie die Züge, die da vorbeirattern, die Vögel, die in den Himmel steigen. Deshalb endet der Film auch wie die echte Zapata-Geschichte: mit dem Einzug der Abbruchbagger.

Gut zwei Jahrzehnte nach seinen Dreharbeiten klingelte Marcelo Lagos an der Tür vom Haus des Dokumentarfilms. Auf den Armen hielt er drei schwere Filmrollen, obenauf eine kleinere Filmdose. Es war eine 35mm-Kopie von „Stuttgart Mi Amor“ und in der kleinen Dose ein Kurzfilm, mit dem er den Abriss des Zapata dokumentiert hatte. Die Stimme des Schauspielers Ben Becker spricht darin einen poetischen Abschiedstext.

Marcelo übergab unserer Kollegin und Filmkonservatorin Anna Leippe seine Kopie zur Archivierung und Digitalisierung, dazu etliche Printprodukte aus der Zeit des Zapata. So wurden „Stuttgart Mi Amor“ und einige „Zapata-Devotionalien“ Teil der Landesfilmsammlung Baden-Württemberg. Anna Leippe ließ von der 35mm-Kopie umgehend eine DCP herstellen. So können wir „Stuttgart Mi Amor“ heute in jedem Kino in bester Leinwandqualität präsentieren.

Angaben zum Film: Eine Produktion von Zapata Kunst & Kultur: Javier Arévalo, Johannes Göltz, Marcelo Lagos, 1995. Länge: 45 Minuten. Autor & Regie: Marcelo Lagos. Musik: Klaus Röhm & Gregory Ives. Kamera & Licht: Lutz Reitemeier. Schnitt: Birgit Frank.

[1] Marcelo Lagos, Zapata adiós, Fotografien (Stuttgart, 1996), S. 10.