Alphatheorie widerlegt: Hunde brauchen keinen menschlichen Rudelführer

Bei der Hundeerziehung gibt es zahlreiche Ansätze – eine davon ist die Alphatheorie. Was besagt sie und ob es überhaupt Dominanzverhalten zwischen Menschen und Hunden gibt, erklärt eine Expertin.

Von Sarah Langer
Veröffentlicht am 4. Apr. 2024, 18:49 MESZ
Alphatheorie widerlegt: Warum Hunde keinen menschlichen Rudelführer brauchen

Der Hund gilt als bester Freund des Menschen. In der Kommunikation kann jedoch vieles schief gehen. 

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Der Hund, Canis lupus familiaris, lebt so lange mit dem Menschen zusammen, wie kein anderes Tier. Vor mindestens 14.000 Jahren begann die Domestizierung des Hundes, als Wölfe begannen, sich den menschlichen Siedlungen anzuschließen und sich von menschlichen Essensresten zu ernähren. Im Laufe der Zeit begannen die Menschen, diese Wölfe zu zähmen und für die Jagd, Bewachung und Gesellschaft zu nutzen. So entstand die enge Verbindung zwischen Vier- und Zweibeinern. 

Heute sind Hunde aus dem Leben der Menschen nicht wegzudenken: Allein in Deutschland gibt es laut Statistiken rund 5 Millionen Hunde. Geht es nach ihren Haltern, sollen die domestizierten Nachfahren möglichst wenig mit ihren wilden Vorfahren gemein haben. Der Mensch habe den Hunden gegenüber eine sehr große Erwartungshaltung, sagt Isabel Boergen, Hundetrainerin und Verhaltensberaterin in München. „Kein anderes Tier ist einem solchen Erwartungsdruck ausgesetzt. Über kein anderes Tier gibt es so viele falsche Annahmen.“ Hunde sollen nicht bellen, sich nicht in Dreck wälzen, sich nicht übermäßig über andere Hunde oder Menschen freuen, trotzdem immer freundlich sein und über Stunden allein bleiben können. Doch viele dieser Dinge seien einfach ein Teil ihres Charakters, so die Trainerin. Denn Hunde seien vor allem eins: soziale Wesen. 

Die Alphatheorie: Ein falscher Schluss hält sich hartnäckig

In den 1970er Jahren wurde die Alphatheorie von dem Verhaltensforscher David Mech ins Leben gerufen, als dieser Wölfe in einem Gehege beobachtete. Die beobachteten, nicht verwandten Wölfe waren von Menschen zusammengewürfelt worden und entsprachen dadurch nicht der Realität eines frei lebenden Rudels. In dieser Konstellation kam es vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den sich fremden Tieren. Daraus schloss der US-amerikanische Forscher, dass Wölfe um eine Alphaposition kämpfen.

In der Natur leben Wölfe jedoch anders zusammen: Ein Wolfsrudel besteht aus einem Elternpaar und deren Jungen, die noch keine eigene Familie gegründet haben. Angeführt wird dieses Rudel von den Elterntieren, die „Alphatiere“ sind also Vater und Mutter, wie in einer menschlichen Familie. Kämpfe um diese Hierarchie gibt es bei frei lebenden Wölfen nicht, vielmehr versuchen die Tiere (genau wie Hunde) soziale Kämpfe und Konflikte zu vermeiden. 

Aus dem ersten falschen Schluss entwickelte Mech die Alphatheorie, die auch auf Hunde übertragen wurde. Laut der Theorie versuchen Hunde andauernd, ihren Menschen zu dominieren. In der Praxis solle der Mensch deshalb immer hart durchgreifen und dem Hund „zeigen, wer der Anführer ist“. 

Der Fehlschluss: Da ein Mensch nicht der biologische Erzeuger eines Hundes ist, wird die Rangordnung im Zusammenleben überflüssig. Sowohl auf Hunde als auch auf Wölfe trifft die Alphatheorie nicht zu. Auch der Wissenschaftler Mech erkannte seinen falschen Schluss – sein Buch „Der Wolf – Ökologie und Verhalten einer bedrohten Art“ hält er selbst seit den 1990er Jahren für überholt. 

Ein Wolfsrudel besteht aus einer großen Familie mit bis zu 10 Tieren. Geleitet wird die Gruppe von den Elterntieren, wie bei einer menschlichen Familie. 

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Fehlschluss Alphatier? Sichere Gemeinschaft, statt ständig Status verteidigen

„Wölfe und Hunde verteidigen nicht ständig ihren Status untereinander“, bestätigt auch die Hundetrainerin Boergen. Bei Straßenhunden lässt sich sogar erkennen, dass auch nicht verwandte Tiere eine Gemeinschaft bilden, in der sie sicher sind. Von Dominanz und Rangkämpfen ist dort nichts zu sehen. „Zunächst einmal ist wichtig, zu verstehen, dass Dominanz keine Charaktereigenschaft ist. Die Aussage Mein Hund ist dominant, trifft also nicht zu.“ 

Reagieren Hunde untereinander dominant, ist das immer situationsabhängig. Derselbe Hund zeigt in einer Situation dominantes Verhalten, ist in der nächsten jedoch unterwürfig. „Die gesamte Ideologie und Trainingsmethode auf einer nicht existierenden, widerlegten Dominanz als Persönlichkeitsmerkmal aufzubauen, ist deshalb ein dramatischer Fehlschluss“, so die Trainerin. 

Warum Hunde keinen dominanten Charakter haben und Menschen Hierarchien lieben

Doch was bedeutet nun dominantes Training im Sinne der Alphatheorie und welche Auswirkungen kann es auf ein Mensch-Hund-Gespann haben? Bis vor ein paar Jahren wurde der Hund mit einer Hand zu Boden gedrückt, um „Sitz“ zu lernen. Auch, wenn diese Art nicht mehr weit verbreitet ist, hält sich Zwang und Druck konstant in Trainingsansätzen. Boergen sieht immer wieder Kund*innen, die solch ein Verhalten in anderen Hundeschulen gelehrt bekamen. „Die Alphatheorie wird leider immer noch propagiert, in sich wandelnder Gestalt. Dann werden die Konzepte „Raumverwaltung“, „körpersprachliches Führen“, „artgerechte Hundeerziehung“ genannt, und alte Methoden mit neuem Anstrich verkauft.“ 

Unter Raumverwaltung verstehen die Trainer das Blockieren des Hundes durch eine drohende Körperhaltung oder den Körper, um seinen Bewegungsradius einzuschränken. Begründet wird so ein dominantes menschliches Verhalten mit der Körpersprache zweier Hunde: „Doch Hunde wissen sehr wohl, dass wir keine Hunde sind. Die filigrane und feine Sprache, die zwei Hunde miteinander teilen, können wir niemals nachahmen“, erklärt die Verhaltensberaterin. Jene Körpersprache, die ein Mensch seinem Hund gegenüber zeige, sei also immer viel zu grob und könne durch ihre Härte gar nicht als freundliche Kommunikation verstanden werden. 

Wissenschaftler*innen und Verhaltensforscher*innen betonen, dass die Interaktionen zwischen Mensch und Hund eher auf gegenseitigem Respekt, Vertrauen und positiver Verstärkung basieren sollten, anstatt auf autoritärer Dominanz. Um eine gesunde Beziehung zwischen Mensch und Hund aufzubauen, sollten positive Verstärkung und Verhaltensmodifikation bevorzugt werden.

Dasselbe gelte für Annahmen wie, „Der Hund darf erst nach dem Menschen essen“ oder „Er darf erst nach dem Menschen die Wohnung betreten“, die sich hartnäckig halten. Ein ebenso großer Irrtum sei, dass der Hund nicht auf die Couch dürfe, da sich sonst das Machtverhältnis zwischen ihm und dem Menschen ändere. Stattdessen handele es sich um eine reine Geschmackssache. „Ich denke, dass Menschen Hierarchien tatsächlich gut finden. Sie sind einfach: Einer führt, einer folgt! Das stülpen sie anderen Lebewesen über.“

BELIEBT

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    Hundetrainerin Isabel Boergen verzichtet auf aversive Trainingsansätze und arbeitet auf Basis des „positiven Trainings“. Es werden dort keine negativen Strafreize eingesetzt. Sie verzichtet auf Methoden wie den Nackengriff, Schläge, Leinenziehen, den Hund auf den Rücken drehen oder ihn mit dem Körper zu blocken. 

    Foto von Isabel Boergen

    Werde ein Hund permanent gemaßregelt, dürfe nicht schnüffeln oder nur hinterherlaufen, wird weggeschoben und gegängelt, entstehe eine Menge Frust. „Die meisten Hunde lassen sehr viel über sich ergehen und werden mit der Zeit einfach gebrochen. Sie funktionieren, weil sie extrem gehemmt sind, sich nur noch wenig trauen und keine eigenständigen Entscheidungen mehr treffen. Sie versuchen nur noch, keinen Fehler zu machen.“ Natürlich gebe es auch viele Hunde, die durch den angestauten Frust „regelrecht explodieren“ – dies täten sie nicht unbedingt gegenüber dem Halter oder der Halterin, sondern  „völlig überraschend“ indem sie andere Hunde attackierten. 

    „In jedem Fall schädige ich durch dominantes Verhalten nachhaltig die Beziehung zu meinem Hund. Eine vertrauensvolle Basis ist nicht möglich, wenn man über Bedrohung, willkürliche Reglementierung und Bestrafung arbeitet. Verlässlichkeit und Erwartbarkeit sind ganz wesentliche Pfeiler für ein gutes Zusammenleben.“ Die Hundetrainerin führt es auf die enorme Gutmütigkeit der Hunde zurück, dass nicht öfter stress- oder angstbedingt Situationen zwischen Hund und Mensch eskalieren würden. 

    Zwang und Kontrolle schaden der Bindung zwischen Mensch und Hund

    Doch wie sieht ein richtiger Umgang zwischen Mensch und Hund aus? Man könne das gewünschte Verhalten erreichen, ohne den Hund zu bedrohen oder einzuschüchtern, erklärt die Trainerin. „Den Hund nicht in einen ‚Fehler‘ laufen lassen und das zu korrigieren: Soll der Hund beispielsweise nicht auf die Straße laufen, sage ich ihm das, bevor er es tut. Ich lasse ihn nicht erst auf die Straße gehen und blocke ihn dann mit meinem Körper wieder zurück. Hunde verstehen diese Korrekturen nicht, sondern werden einfach nur eingeschüchtert und bleiben stehen, um der Strafe zu entgehen. Besser wäre doch, dass der Hund versteht: Straße bedeutet Warten“. Vieles von dem, was Hunde tun, sei hündisches Normalverhalten. „Ich weigere mich, aus Hunden Stofftiere zu machen, die nicht bellen, nicht auffallen, nicht Hund sein dürfen“, stellt die Münchner Trainerin klar.

    Ein Hund im Bett schadet der Bindung nicht – ganz im Gegenteil. „Kontaktliegen“ kann sehr bindungsstärkend sein.

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    Hunde trachten nach positiven Gefühlen – wie Menschen auch

    Auch Menschen sind Hunden in vielen Situationen ähnlich: Sie sind auf der Suche nach schönen und positiven Gefühlen, während sie schlechte vermeiden wollen. Hierbei handelt sich um eines der psychischen Grundbedürfnisse. Beim Hund träfe dieses Prinzip ebenfalls zu: „Futter, Spielzeug, Aufmerksamkeit der Bezugsperson, bequeme Liegeplätze sind einfach eine gute Sache! Da braucht es keinen ideellen Überbau mit falschen Dominanztheorien, es ist ganz normales Verhalten, dass ein Hund danach strebt.“ Der Hund möchte also zu seinem Menschen auf die Couch, weil er seine Nähe genießt, nicht, weil er ihn dominieren will. Es sei sogar wichtig, dem Hund die Bedürfnisse nach Nähe und Aufmerksamkeit zu befriedigen und ihn nicht abzuweisen, da sonst die Bindung leiden könne. 

    „Wir sind in der Pflicht, den Hund so anzuleiten, dass er versteht, was wir von ihm möchten.“

    Der Mensch sei in der Kommunikation mit seinem Hund „in der Pflicht, ihn so anzuleiten, dass er versteht, was man von ihm möchte.“ Ein Hund brauche einen sicheren Rahmen, in dem er sich so frei wie möglich bewegen könne. Oberste Prämisse sei, dass der Hund weder sich selbst noch andere Lebewesen schädigt. Das könne man mit liebevoller Konsequenz, vorausschauendem, verantwortungsbewussten Handeln und klugem Training erreichen – ganz ohne Nebenwirkungen auf die Mensch-Hund-Beziehung. „Hunde sind ziemlich schlau und verstehen schnell. Voraussetzung für ein Alphatheorie-freies Training ist jedoch, dass man um die Bedürfnisse, sowie die körperliche und geistige Entwicklung eines Hundes weiß und seine Körpersprache lesen kann“, schließt die Trainerin ab. Für eine funktionierende Beziehung sind also Hund wie Halter gefragt und keine autoritäre Dominanz.

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