«O, ich hegelianischer Narr!»: Ein Leben lang hat sich Sören Kierkegaard an Hegel abgearbeitet. Ohne sich von ihm lösen zu können

Kierkegaard war fasziniert von Hegels Denken. Und er war zugleich abgestossen von einem Denker, der seines Erachtens nichts vom Leben verstanden hatte.

Angelika Brauer
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«Wie haben die Götter gelacht! Ein solcher widerlicher Professor»: Die Begegnung mit Hegels Denken war für Sören Kierkegaard entscheidend – und folgenreich.

«Wie haben die Götter gelacht! Ein solcher widerlicher Professor»: Die Begegnung mit Hegels Denken war für Sören Kierkegaard entscheidend – und folgenreich.

AKG

Sören Kierkegaard war Mitte zwanzig, als er anfing, sich ernsthaft mit Hegels Philosophie auseinanderzusetzen. Sie zog ihn an – und stiess ihn ab. Er wehrte sich und schrieb rückblickend ins Tagebuch: «Beeinflusst, wie ich es war, von Hegel und all dem Modernen, ohne genügende Reife . . . O, ich hegelianischer Narr!» Als ob er sich jemals befreit hätte!

Er blieb verstrickt in ambivalente Gefühle. Kaum hatte er verächtlich notiert, Hegel müsse «eine ziemlich unbedeutende Persönlichkeit gewesen sein, ohne Eindruck vom Leben», gab er mühsam zu: «Aber ein ganz aussergewöhnlicher Professor, ja, das leugne ich nicht.» Erst kurz vor seinem Tod – Kierkegaard starb 1855 im Alter von 42 Jahren – liess er der Aggression freien Lauf: «Wie haben die Götter gelacht! Ein solcher widerlicher Professor, der die Notwendigkeit von allem völlig durchschaut.»

Wie undankbar – könnte man beim Blick auf sein eigenes Werk sagen, das vom ersten bis zum letzten Buch ein Beweis der fruchtbaren Feindschaft ist. Was stand dahinter? Was brachte ihn derart gegen Hegel auf? Um die Antwort zu finden, bietet sich der Weg über «Die Krankheit zum Tode» an. Schon der bedrückende Titel verweist auf Distanz. Ist doch die Ursache des lebenslangen Leidens ausgerechnet der Geist, um den das hegelsche Denken kreist.

Das Ewige denken

«Der Mensch ist Geist», so auch Kierkegaard knapp im Sinn von Hegel. Das aber nur, um penetrant weiterzufragen: «Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst?» Es ist nichts. Was den Menschen erwartet, der nicht einfach dahinleben will, ist die Erkenntnis – dass er sein Selbst erst herstellen muss. Er ist ja nicht nur Geist, er ist auch Körper und wird von Trieben bedrängt. Er ist endlich, kann das Unendliche und Ewige denken, hat Möglichkeiten, lebt zwischen Freiheit und Notwendigkeit . . . Er muss sich zu sich selbst verhalten: Er muss zusammenhalten, was ihn zerreisst.

Kierkegaard argumentiert wieder mit Hegel: Es geht um eine «Synthese». Doch aus seiner Sicht ist damit eine Aufgabe gemeint, die ein Leben lang zu schaffen macht, das Selbst wird nicht fertig. Die Gegensätze gehören zum Dasein und müssen ausgehalten werden – es sei denn, man denkt wie Hegel an eine «Zauberkraft», mit der sie verschwinden. Wie konnte er behaupten, dass die «Wunde der Negativität» heilt! Und suggerieren, der Mensch werde aufgehoben und geborgen in einem alles umfassenden Ganzen. Kierkegaard war empört, hat er ihn eigentlich richtig verstanden?

Er warf Hegel jedenfalls vor, ein System konstruiert zu haben. Und zu einem System gehört Geschlossenheit. Dasein aber sei dazu genau das Gegenteil: Es bleibe offen und unsicher. Und überhaupt: «Wie verhält sich das empirische Ich zu dem reinen Ich-Ich? . . . Wer ein Philosoph zu sein wünscht, möchte doch darüber etwas Bescheid wissen und wünscht vor allem kein lächerliches Wesen zu werden, indem er eins-zwei-drei Hokuspokus in die Spekulation verwandelt wird.»

Dass Kierkegaard den real existierenden Menschen verteidigt, ist sein grosses Plus. Stichwort Selbstverwirklichung. Was der verbrauchte Begriff ursprünglich meint – das hat er gezeigt. Er forderte jeden auf, nicht im Schwarm der Masse mitzuschwimmen. Und sich stattdessen auf die «Existenzinnerlichkeit» zu konzentrieren. Sein Appell ging weit – bis zur Abwertung des Interesses an sozialer Allgemeinheit. Ethisch, glaubte er, lasse sich das rechtfertigen, weil auch «für Gott, den unendlichen Geist, all die Millionen, die gelebt haben und leben, keine Menge bilden, er sieht nur Einzelne».

Das ganz persönliche Leiden

Er sah auch sich selbst als einen Einzelnen; war jedoch sicher, dass sich sein Leiden auf jedes Dasein übertragen lässt. Das darf man bezweifeln, obwohl die Ausbeute seiner Schriften für Philosophie, Psychologie und Psychopathologie reichhaltig ist. Aber im Zentrum steht hier eben doch sein religiöses Anliegen: Ihm ging es um das Selbst, das sich zu sich selbst verhält – und zugleich zu Gott. Dieses Gottesverhältnis war sein ganz persönliches Leiden. Und auch der Grund für seine Kontroverse mit Hegel.

Von Gottes Existenz waren beide überzeugt. Für Kierkegaard war diese Gewissheit allerdings mit einer Frage verbunden, die ihn mehr quälte als die Offenheit und Unsicherheit, die zum Dasein gehört: In seiner Kindheit hatte er nur den strafenden Gott der Strenge erfahren. Ob Gott auch Liebe ist?

Er konnte es nicht wissen, nur verzweifelt hoffen. Aber wie Gott nicht ist – das erkannte er durch Hegels «verfluchte Lügenhaftigkeit», den absoluten Geist mit allem Sein zu vermitteln. So oft wie möglich wollte er widersprechen: «Gott kann nicht die höchste Steigerung des Menschlichen sein, er ist qualitativ verschieden.»

Kierkegaard selbst brauchte ihn so, als rettendes Gegenüber. Seine Metapher vom Sprung in den Glauben gilt als Kontrapunkt zu Hegels Vermittlung. Einfach springen, mit Mut zur Angst, zum Nichtwissen, zur Leere. «Glauben heisst eben den Verstand verlieren, um Gott zu gewinnen.» Nur – solange er lebte, konnte er auf sein Denkvermögen nicht verzichten. Er musste Hegel bekämpfen. Das war er sich schuldig, mehr konnte er für sich nicht tun.