Sie müssen ihre toten Freunde essen, um zu überleben: Dieser Film ist eine einfühlsame Wucht

Die Rugbymannschaft aus Uruguay, die 1972 nach einem Flugzeugabsturz in den Anden ums Überleben kämpfte, ist längst berühmt. «Die Schneegesellschaft» erzählt die Geschichte neu. Schauen!

Elena Oberholzer 4 min
Drucken
Die Überlebenden warten auf die Rettung.

Die Überlebenden warten auf die Rettung.

Quim Vives / Netflix

Was passiert, wenn die Welt einen allein lässt? Wenn man, umgeben von Schnee und Gebirge und abgeschnitten von der Zivilisation, nur noch eine Aufgabe hat: überleben? Wie verhält man sich in dieser Situation? Zu wem wird man?

Im Jahr 1972 muss eine Gruppe von Rugbyspielern wochenlang in den Bergen ausharren, nachdem ihr Flugzeug über den Anden abgestürzt ist. Sie hätten sterben müssen, sagt die Erzählstimme zu Beginn des Films, und die Kamera fliegt über das gewaltige Gebirge. Dort draussen, wo es nichts gibt ausser Schnee und Eis und die Temperaturen in der Nacht auf minus 40 Grad Celsius sinken, sind die Überlebenden eine Anomalie.

«Die Schneegesellschaft» des spanischen Regisseurs J. A. Bayona basiert auf dem gleichnamigen Buch von Pablo Vierci, der einige der Überlebenden seit der Kindheit kennt und mit ihnen studiert hat. Der Netflix-Film wurde im September bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig erstmals gezeigt und von Spanien als Oscar-Bewerbung eingereicht.

Vor J. A. Bayona haben sich schon zahlreiche andere mit der Geschichte dieses Absturzes beschäftigt. In den vergangenen fünfzig Jahren haben Überlebende und Interessierte Berichte geschrieben, Bücher verfasst, Filme gedreht. Doch die Faszination hält an.

29 überlebten den Absturz, 16 wurden gerettet

Das Drama beginnt am 13. Oktober 1972. Eine uruguayische Rugbymannschaft steigt in der argentinischen Stadt Mendoza in ein Flugzeug, das sie für ein verlängertes Wochenende nach Santiago de Chile bringen soll. Vor der Landung leiten die Piloten den Sinkflug zu früh ein, das Flugzeug schlägt auf einer Anhöhe auf und bricht in zwei Teile. Der Vorderteil des Flugzeugs kommt auf einem Schneefeld zum Stillstand.

29 der 45 Passagiere überleben den Absturz. Zuerst denken sie, sie würden von den Rettungskräften schon gefunden. Doch niemand kommt. Und es beginnt ein ungewolltes Sozialexperiment mit apokalyptischem Duktus.

Die meisten Schauspieler in «Die Schneegesellschaft» sind Laien.

Die meisten Schauspieler in «Die Schneegesellschaft» sind Laien.

Quim Vives / Netflix

In «Die Schneegesellschaft» wird diese Geschichte in gut zwei Stunden nacherzählt. Aussergewöhnlich ist, für welche Szenen der Katastrophe sich der Film Zeit lässt – und welche er schnell abhandelt. Auftakt, Einführung und Flugzeugabsturz sind schnell umrissen. Alle Erzählung ist dem schieren Überleben an der Unfallstelle gewidmet. Minutenlang werden die von der Sonne verbrannten und von Verzweiflung gezeichneten Gesichter der Überlebenden gezeigt. Und ihre zahlreichen Versuche, sich gegen die brutalen Bedingungen aufzulehnen. Der Regisseur lässt Wut, Angst und Trauer der Opfer sprechen. Mit wenig Action – und viel Ernsthaftigkeit.

Nach einigen Tagen ist der Vorrat an Nahrung aufgebraucht, und die jungen Männer sitzen im Flugzeug und realisieren, einer nach dem anderen: Wenn sie überleben wollen, müssen sie das Fleisch der Toten essen. «Das Essen liegt draussen», sagt einer. Und meint die Leichen.

Eine Diskussion bricht aus. Einige weigern sich, die Toten zu essen. Sie fragen: Wer gibt uns das Recht, das zu tun? Das Recht, zu leben, während unsere Freunde tot sind? Wird Gott uns vergeben?

Überleben zwischen den Toten

Es sind diese Gespräche, in denen die Stärke des Films liegt. Sie zeugen von dem, was bereits der Titel andeutet: Auch in der Wildnis werden die Rugbyspieler nicht zu verwahrlosten, verantwortungslosen Bestien. Die Überlebenden bilden dort im Schnee, hoch oben zwischen den Gebirgsketten der Anden, eine Gesellschaft, die über Ethik diskutiert. Und die gängigen Regeln bei vollem Bewusstsein bricht.

Sie pflegen die Verletzten, sammeln Andenken der Toten und beschriften sie. Der Captain des Rugbyteams übernimmt, ganz natürlich, das Kommando. Und zwei Cousins präparieren das Essen. Sie zerschneiden hinter dem Flugzeugwrack das Fleisch der Toten, damit die anderen nicht wissen, von welchem Körper sie zehren.

Und dann, nach neun Wochen, machen sich drei junge Männer auf. Sie wollen über das gefährliche Gebirge nach Chile kraxeln und Hilfe holen.

Zehn Wochen müssen die Opfer des Flugzeugabsturzes ausharren, ehe sie gerettet werden.

Zehn Wochen müssen die Opfer des Flugzeugabsturzes ausharren, ehe sie gerettet werden.

Quim Vives / Netflix

16 Personen haben die Zeit in den Bergen überlebt. Sie sind es, die bei «Die Schneegesellschaft» entschieden haben, wie sie die Geschichte ihres Unglücks über fünfzig Jahre danach erzählen. Die Überlebenden waren während der Dreharbeiten in engem Kontakt mit den Schauspielern. Wohl deshalb wirkt der Film tiefgründig und reflektiert.

«Die Schneegesellschaft» ist aufwendig produziert, die Bilder der Natur schrecklich schön. Der Film kommt mit wenig grausamen Szenen aus. Und schafft es dennoch, so einfühlsam und intensiv zu erzählen, dass es einen immer wieder gruselt. Etwa dann, wenn die Überlebenden über ein geflicktes Radio hören, dass man die Suche nach ihnen aufgegeben hat.

Oder als sie kleine Stücke Menschenfleisch in Schnee einpacken, um sie hinunterzuwürgen.

Nach 72 Tagen hören die Überlebenden im Radio die Sensationsmeldung: Rettung naht. Was tun? Sie schauen ratlos zu den abgenagten Skeletten ihrer Freunde, die neben dem Flugzeugwrack liegen, und bereiten sich vor auf die so lang ersehnte Rückkehr in die Zivilisation: Sie kämmen sich. Und putzen sich die Zähne.