In den drei Jahren seit ihrer Panik-Rede in Davos hat sich die Klimaaktivistin gewandelt. Warum Thunberg und der Fridays-for-Future-Bewegung in Zukunft ein Bedeutungsverlust drohen könnte.
Vor der Klimakonferenz in Glasgow im vergangenen November überraschte Greta Thunberg mit einem ungewöhnlichen Auftritt: Bei einem Benefizkonzert stürmte sie die Bühne, sang ziemlich schief das Lied «Never Gonna Give You Up» und tanzte ausgelassen dazu.
Kurz zuvor hatte der «Guardian» in einem grossen Porträt die «Transformation von Greta Thunberg» beleuchtet. Thunberg hob gegenüber dem Blatt den Wert der Freundschaft hervor, den sie erst durch die Gemeinschaft der Klimaaktivisten entdeckt habe, und gab Einblick in deren Insider-Scherze: Manchmal schreibe jemand im Chat einfach «Babykarotte, Babykarotte, Babykarotte».
Eigentlich kannte man Greta eher wutschäumend als vergnügt: «Ich will, dass ihr in Panik geratet. Ich will, dass ihr die gleiche Angst habt, die ich tagtäglich verspüre, und dann will ich, dass ihr handelt.» Die Sätze, welche die damals 16-Jährige vor drei Jahren der versammelten Wirtschaftselite in Davos entgegenschleuderte, gingen um die Welt und befeuerten die gerade im Entstehen begriffene Bewegung Fridays for Future.
Dem Autor des «Guardian», Simon Hattenstone, geht Thunbergs Wandlung spürbar nahe: Mehr noch als der politische Siegeszug der potenziellen «Weltretterin», als die er sie bezeichnet, berühre ihn die persönliche Geschichte des «kleinen, verlorenen Mädchens, das lernte, dazuzugehören».
Obwohl sich Thunberg immer wieder gegen die Personalisierung des Klimathemas wehrt, strickt sie eifrig an ihrer Legende mit. Hattenstone übernimmt hier also ein Narrativ, das Thunberg von Beginn an selbst verbreitete. Bereits bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt anlässlich des Klimamarschs in Stockholm im September 2018 erklärte Thunberg: «Dies ist keine politische Rede. (. . .) Das ist ein Hilferuf.»
Es ist der Versuch, politische Interessen durchzusetzen, indem man sie rhetorisch der Sphäre des Politischen entzieht. Diese Strategie hat Aufwind erfahren, seitdem wissenschaftliche Streitpunkte immer öfter den Kern politischer Debatten bilden.
Das Beharren auf der vermeintlichen Unumstösslichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis ist eine zeitgenössische Variante des «gesunden Menschenverstands» – wobei Thunberg, die an einer Form von Autismus, dem Asperger-Syndrom, leidet, eine eigene Interpretation desselben propagiert: Autisten seien in vielerlei Hinsicht die Normalen, die übrigen Menschen die Seltsamen. Denn Autisten würden nur Schwarz oder Weiss wahrnehmen. Und wenn es, wie beim Klimawandel, ums Überleben gehe, gebe es eben keine Grauzonen.
Diese Idee eines «autistischen Menschenverstands» ist zentral, um Thunbergs politisches Wirken zu verstehen. Thunberg trennt klar zwischen dem – wissenschaftlich validierten – Wahren und dem Unwahren. Damit qualifiziert sie sich als Galionsfigur einer Jugendbewegung, in der sich viele nach der Reduktion von Komplexität sehnen. Immer wieder zieht Thunberg den Autismus als Begründung für ihren Aktivismus und ihren Blick auf die Klimakrise heran. Er ermögliche ihr, zu sehen, was die anderen nicht wahrhaben wollten. Sie sei darum auch nicht gut im Lügen.
Auf diese Weise verpasst sich Thunberg selbst eine Art physiologisches Siegel, das ihre Lauterkeit bestätigen und sie gegen Kritik immunisieren soll. Eine Vorgehensweise, die von ausgeprägtem Machtbewusstsein zeugt.
Greta Thunbergs machtpolitisches Talent zeigt sich auch in der Chuzpe, mit der sie Staatschefs und Berühmtheiten gegenübertritt. Als sie 2019 mit der Goldenen Kamera in der eigens für sie geschaffenen Kategorie «Klimaschutz» ausgezeichnet wurde, warf sie den Filmstars in ihrer Dankesrede vor, dass sie sich nicht für Klimaschutz einsetzten, weil das ihren luxuriösen Lebensstil beeinträchtigen würde.
Es ist diese scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Rang und Status, die Thunberg zu einer moralischen Instanz gemacht hat. Das beeindruckt nicht nur junge Menschen weltweit, es macht Thunberg auch zu einer attraktiven Gesprächspartnerin, mit der man sich gerne ablichten lässt. Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel lud sie ebenso zu einem Gespräch ein wie die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen. Thunberg sprach vor Ausschüssen der EU, vor dem britischen Parlament und der französischen Nationalversammlung. Der Papst dankte ihr persönlich für ihr Engagement.
Durch die Einladungen in Parlamente und zu Klimakonferenzen wird Thunberg Teil einer politischen Inszenierung der Mächtigen, die sich von ihrem Gast öffentlich geisseln lassen. Eine solche Instrumentalisierung nutzt der Politik in zweierlei Hinsicht: Sie erleichtert die Einführung von Klimaschutzmassnahmen, weil diese dank dem Druck «von der Strasse» als Volkswille dargestellt werden können. Gleichzeitig kann man auf diese Weise auch ein Scheitern der eigenen Klimapolitik legitimieren – wer sich von Greta hat in die Mangel nehmen lassen, so die Botschaft, der hat wirklich alles Menschenmögliche getan.
Mit dem gewachsenen Wirkungsradius wächst jedoch auch die Gefahr, Vertrauen zu verspielen – gerade wenn man sich zu Themen äussert, die nicht mit dem eigenen Fachgebiet in Verbindung stehen. So teilte Thunberg im vergangenen Jahr einen Tweet der Autorin Naomi Klein, der Israel «ein Kriegsverbrechen nach dem anderen» vorwarf. Klein unterstützt die israelfeindliche Boykott-Kampagne BDS. Nachdem Thunberg für das Teilen des Tweets kritisiert wurde, stellte sie auf Twitter klar, sie sei nicht «gegen» Israel oder Palästina: «Es ist unnötig, zu betonen, dass ich gegen jede Form von Gewalt oder Unterdrückung bin.»
Dafür oder dagegen, schwarz oder weiss – das sind die Kategorien in Thunbergs Universum. Politik aber ist stets der Ausgleich zwischen widerstrebenden Bedürfnissen. Ob Klima oder Nahostkonflikt: Wer Grauzonen nicht wahrnimmt, dem entgeht manches.
Kritiker werfen der Klimabewegung auch bei anderen Themen eine wachsende Nähe zu radikaler bis extremistischer Systemkritik vor. Diskutiert wird nicht nur darüber, welche Mittel des zivilen Ungehorsams legitim sind. Auch wird Fridays for Future zunehmend von einem aktivistischen Antirassismus geprägt, der die Wurzeln des Klimawandels im Kapitalismus und im Kolonialismus verortet.
Thunbergs Glaubwürdigkeit wird in den nächsten Jahren unter anderem davon abhängen, wie sie sich in Fragen positioniert, in denen die Fronten von Gut und Böse weniger offensichtlich abgesteckt sind. Dass sich ihr Aktivismus von Anfang an aus einer kapitalismuskritischen Haltung speiste, lässt sich bereits an ihren ersten Reden erkennen. Aus liberaler Perspektive muss das nicht schlecht sein: Denn die Kritik der Klimabewegung fordert die Marktwirtschaft mehr denn je heraus, den Beweis anzutreten, dass sie aus eigener Kraft Lösungen zur Bewältigung der Klimakrise entwickeln kann.
Gerade der bisherige Erfolg der Klimabewegung könnte in Zukunft zu einem Bedeutungsverlust führen: Greta und ihre Mitstreiter haben die meisten westlichen Gesellschaften klimapolitisch aufgerüttelt und damit ihr zentrales Ziel erreicht. Nun geht es darum, Lösungen zu entwickeln – eine zunehmend systemkritische Bewegung eignet sich dafür weder als Ideengeber noch als mediales Aushängeschild für Politiker. Und so trat Greta bei der Klimakonferenz im Herbst nicht mehr in den Hallen der COP, sondern nur noch vor den Streikenden auf.
Gekonnt hatte Thunberg in den letzten Jahren die Bühnen genutzt, die sich ihr boten. Dabei entfalten ihre Reden gerade durch den einfachen Wortschatz Kraft. Thunbergs emotionale Metaphern mobilisieren Urängste («Unser Haus steht in Flammen»); sich wiederholende Satzanfänge rhythmisieren die Reden wie Predigten. Einzelne Subjekte werden zu grossen Gruppen zusammengefasst («die Menschen», «die Medien», «die Erwachsenen»). Es ist eine Sprache, die wohl einhellig als populistisch bewertet würde – wenn sich Thunberg nicht für das scheinbar moralisch Gebotene einsetzte.
Auch inhaltlich zeigt Thunberg rhetorische Stärke. Sie spielt mit Erwartungen und kreiert auf diese Weise eine Fallhöhe: Bei ihrer Rede in Kattowitz 2018 drängte sie die Teilnehmer der Klimakonferenz nicht etwa zu grösseren Bemühungen, sondern erklärte ihnen, dass sie sie um nichts bitten werde. Damit illustrierte sie umso deutlicher die Zahnlosigkeit der Verhandlungen. Leere Worte warf sie den Staatschefs auch während der Klimakonferenz in Glasgow vor; wie ein Label klebte ihr wiederholter Vorwurf des «Bla, bla, bla» an der Konferenz. Selbst wenn Thunberg behauptet, dass Kommunikation ihre Schwäche sei: Es ist ihre stärkste Waffe.
Der Aufstieg von Greta Thunberg markiert den endgültigen kulturellen Siegeszug des Nerds. Wie bei Mark Zuckerberg oder Karl Lauterbach speist sich die ikonengleiche Wirkung aus dem Kontrast von Unscheinbarkeit und Machtanspruch. Sie habe kein grosses Interesse daran, erklärte Greta einmal, sich «an dem sozialen Spiel zu beteiligen, das der Rest von euch offenbar so mag». Im Privaten mag das zutreffen. Politisch aber beherrscht sie dieses Spiel wie nur wenige.