In Somalia sterben Tausende an Hunger. Trotzdem zögert die Uno, eine Hungersnot zu erklären. Wieso?

Viele Beobachter halten die Zurückhaltung angesichts der desaströsen Lage am Horn von Afrika für falsch. Die Uno stützt sich zwar auf Daten. Aber was, wenn diese nicht die Realität abbilden?

Fabian Urech 5 min
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Mehr als eineinhalb Millionen Menschen hat der Hunger in Somalia bereits vertrieben: Zeltsiedlung am Rand der Stadt Baidoa (Aufnahme vom September 2022).

Mehr als eineinhalb Millionen Menschen hat der Hunger in Somalia bereits vertrieben: Zeltsiedlung am Rand der Stadt Baidoa (Aufnahme vom September 2022).

Ed Ram / Getty

Eine Hungersnot ist, so würde man meinen, ein unstrittiges Faktum. Entweder es gibt sie – oder es gibt sie nicht. Somalia aber lehrt uns in diesen Wochen: Hungersnöte haben nicht nur politische Ursachen, auch deren Deklaration ist hochpolitisch.

Der Krisenstaat am Horn von Afrika durchlebt derzeit die schlimmste Dürre seit vierzig Jahren. Nachdem fünf Regenzeiten in Folge ausgefallen sind, haben Millionen von Menschen nicht mehr genug zu essen. Viele fliehen in die Städte, die mit dem Zustrom überfordert sind. Für umfassende Hilfsprogramme fehlt mancherorts das Geld, andernorts ist der Zugang von Helfern zu den Notleidenden wegen der Sicherheitslage ein Problem.

Wie viele Somalierinnen und Somalier bereits Hungers gestorben sind, ist unklar. Gemäss plausiblen Schätzungen sind es Tausende. Klarer scheint die Zahl der Hungernden: Laut dem jüngsten Uno-Lagebericht sind es im ganzen Land 6,3 Millionen Menschen.

Gleichwohl hat bis heute weder die Uno noch Somalias Regierung eine Hungersnot für das Land oder für einzelne Regionen ausgerufen. Aus technischer Sicht ist das aufgrund der heutigen Datengrundlage nachvollziehbar. Doch ist es auch richtig?

Klare Kriterien, unklare Daten

Auf die Frage, ab wann eine Krisensituation die Schwelle zur Hungersnot überschreitet, gibt es – auf dem Papier – eine klare Antwort. Das IPC, jene internationale Organisation, die für die Überwachung des weltweiten Hungers zuständig ist, kennt fünf Stufen der Ernährungssicherheit. Stufe 1 entspricht der Normallage, ab Stufe 3 spricht man von akutem Hunger (weltweit sind davon mehr als 150 Millionen Menschen betroffen). Die fünfte Stufe bedeutet eine Hungersnot: eine Katastrophenlage, in der der «Zugang zu Nahrungsmitteln und anderen Grundbedürfnissen völlig fehlt».

Eine Hungersnot wird erst ausgerufen, wenn bestimmte Kriterien zutreffen. Beispielsweise, wenn in einem Land oder einer Region 30 Prozent aller Kinder unterernährt sind. Oder wenn mindestens zwei von 10 000 Menschen im Zeitraum von 90 Tagen an Hunger sterben. Das geschieht – zum Glück – relativ selten. Die Uno erklärte im vergangenen Jahrzehnt nur zwei Mal eine Hungersnot: 2011 in Somalia und 2017 im Südsudan.

In Somalia fallen heute bereits über 200 000 Menschen in die Kategorie der Stufe 5; sie leben damit in einem «Hungersnot-ähnlichen Zustand» – wenngleich für die betroffenen Gebiete insgesamt noch keine Hungersnot erklärt wurde. In den kommenden Wochen soll die Zahl täglich um mehrere tausend ansteigen. Gleichwohl sind laut den IPC-Daten weiterhin nicht alle Kriterien für eine Hungersnot erfüllt, weshalb mit der entsprechenden Erklärung zugewartet wird.

In Fachkreisen hat diese Zurückhaltung in den vergangenen Wochen immer lautere Kritik hervorgerufen. Besonders humanitäre Organisationen monieren, das Zögern führe dazu, dass die katastrophale Lage in manchen Landesteilen unterschätzt werde und dringend nötige Hilfsgelder ausblieben. Die regierungsunabhängige Organisation Norwegian Refugee Council schrieb in einer Medienmitteilung Mitte Dezember: «Lassen Sie uns eins in aller Klarheit festhalten: Es gibt bereits eine Hungersnot in Somalia. Und sie tötet in Stille Zehntausende.»

Der Hunger in Somalia nimmt rasch zu

Zahl der Hungernden gemäss IPC-Hungerskala (in Millionen)
Phase 3 (Akuter Hunger)
Phase 4 (Humanitärer Notfall)
Phase 5 (Hungersnot)

«Das System hat ein Problem»

Tatsächlich gibt es gute Gründe zur Annahme, dass sich Teile Somalias bereits in einer Hungersnot befinden – oder zumindest in einer Lage, in der so viele Menschen sterben wie in einer Krise, die offiziell als Hungersnot erklärt wird.

Das wird klar, wenn man sich eingehender mit den Gründen des bisherigen Zuwartens befasst:

  • Die Daten: Weite Teile Somalias werden von Terrormilizen kontrolliert, insbesondere von der islamistischen Shabab. Das macht es für Hilfsorganisationen in gewissen Gebieten praktisch unmöglich, direkt Hilfe zu leisten. Es erschwert aber auch die Datenerhebung. Wie dramatisch die Situation in manchen Regionen des Landes tatsächlich ist, lässt sich statistisch nur annäherungsweise eruieren. In einigen Gebieten Somalias kann die Uno etwa die Zahl der Hungertoten nur auf der Grundlage von Interviews mit Personen, die von dort geflüchtet sind, erheben. Diese Zahlen sind notgedrungen ungenau. Auch gibt es immer wieder Widersprüche zwischen den Daten, die die Regierung erhebt, und jenen, die von der Uno oder von Hilfsorganisationen erhoben werden. Weil letztlich die Daten darüber entscheiden, ob eine Krise zur Hungersnot erklärt wird, haben solche Missstände weitreichende Folgen und können über das Schicksal von Zehntausenden entscheiden.
  • Die Kriterien: «Das System hat ein Problem», sagte Peter Hailey, ein ehemaliger Mitarbeiter des Uno-Kinderhilfswerks Unicef in Somalia, jüngst gegenüber der «New York Times». «Die Hölle ist schon da in Somalia, auch wenn wir die [vom IPC definierten] Grenzen nicht überschreiten.» Tatsächlich haben die IPC-Kriterien Schwächen: Die Organisation stuft die Ernährungslage üblicherweise auf der Grundlage der Entwicklungen der zurückliegenden 90 Tage ein. Bei akuten Krisen ergibt dieses enge Zeitfenster Sinn. In Somalia jedoch, einem mausarmen Land, in dem seit Jahrzehnten Krieg herrscht, schiene eine längere Perspektive sinnvoller. Wenn hier während mehr als zweier Jahre kein Regen fällt, treten das Leiden und der Tod nicht zwingend kumuliert auf, sondern Schritt für Schritt. Selbst wenn etwa die Zahl der Hungertoten innerhalb der letzten drei Monate tatsächlich unter dem IPC-Wert gelegen haben sollte, könnte die Opferzahl der jetzigen Krise jene in Hungersnöten deutlich überschreiten.
  • Die Regierung: «Das Risiko bei der Erklärung einer Hungersnot ist sehr hoch», sagte Hassan Sheikh Mohamud im Herbst. «So eine Erklärung kann die Entwicklung im Land lahmlegen. Und es verändert die Perspektive auf alles.» Der somalische Präsident, seit Mai 2022 im Amt, gilt bis jetzt als Bremser, wenn es um die Einstufung als Hungersnot geht. Ganz unbegründet ist seine Sorge nicht. Tatsächlich würde eine offiziell festgestellte Hungersnot den Fokus wohl ändern. Entwicklungsgelder könnten von Langzeitprojekten in die kurzfristige Nothilfe umgeleitet werden, ausländische Investitionen könnten zurückgehen, der jüngst erfolgreiche Kampf gegen al-Shabab würde in den Hintergrund rücken. Klar ist aber auch, dass die Bevölkerung für dieses Zuwarten einen hohen Preis bezahlt. Auch erschliesst sich nicht, auf welcher Grundlage Mohamud erst jüngst wieder behauptete, er sehe «kein unmittelbares Risiko für eine Hungersnot in den nächsten zwei Monaten».

Jüngst soll es auch in der Uno immer mehr Stimmen gegeben haben, die eine zeitnahe Erklärung der Hungersnot in Somalia forderten. Trotzdem bleibt die Organisation bis jetzt bei ihrer seit Monaten unveränderten Einschätzung, das Land befinde sich «am Rand einer Hungersnot». Das hat auch mit der Zurückhaltung der somalischen Regierung zu tun. Zieht diese bei einer entsprechenden Erklärung nicht mit, hat ein Vorpreschen der Uno wenig Sinn.

Die schwerwiegenden Folgen des Wartens

Ungeachtet dieser politischen Zwänge und Interessen sowie der ungelösten Datenprobleme ist bereits heute klar, dass die gegenwärtige Passivität zahlreiche Menschenleben fordert. Der Blick zurück zeigt nämlich, dass die Feststellung einer Hungersnot meist einen erheblichen Mobilisierungseffekt hat. Plötzlich schaut die Welt hin, plötzlich finden sich zusätzliche Gelder, plötzlich wird in den Hauptnachrichten über die Krise berichtet.

2011, als in Somalia letztmals eine Hungersnot ausgerufen wurde, verdoppelte sich das internationale Hilfsbudget für das Land innert Tagen. Dabei war die Notlage der Menschen auch damals schon monatelang bekannt gewesen. Von den rund 250 000 Hungeropfern der damaligen Krise starben rund die Hälfte vor der Erklärung. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich dieses traurige Szenario nun wiederholt.

Ein unterernährtes Kind im Schoss seiner Mutter in einem Spital in Baidoa (Aufnahme vom September 2022).

Ein unterernährtes Kind im Schoss seiner Mutter in einem Spital in Baidoa (Aufnahme vom September 2022).

Ed Ram / Getty

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