Wechsel an der Spitze der grössten türkischen Oppositionspartei: Erdogans Gegner ringen sich zu einem Neuanfang durch

Seit ihrer Niederlage bei den Wahlen im Mai sind die Regierungsgegner in der Türkei hauptsächlich mit sich selber beschäftigt. Die Republikanische Volkspartei (CHP) stellt sich nun aber für die anstehenden Regionalwahlen neu auf.

Volker Pabst, Istanbul 4 min
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Özgür Özel (links) war lange ein Ziehsohn von Kemal Kilicdaroglu (rechts), nun hat er ihn von der Spitze der CHP verdrängt.

Özgür Özel (links) war lange ein Ziehsohn von Kemal Kilicdaroglu (rechts), nun hat er ihn von der Spitze der CHP verdrängt.

Mustafa Ciftci / Anadolu / Getty

Nach einer mehr als fünfmonatigen Nabelschau im Nachgang der traumatischen Niederlage bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai hat die wichtigste türkische Oppositionspartei die Weichen für einen Neuanfang gestellt. An ihrem Kongress in Ankara wählte die Republikanische Volkspartei (CHP) am Samstag Özgür Özel, einen Abgeordneten aus der westtürkischen Stadt Manisa, zu ihrem neuen Vorsitzenden.

Damit geht die Ära von Kemal Kilicdaroglu, der die Partei seit 2010 geführt hatte und im Mai Präsident Recep Tayyip Erdogan unterlegen war, zu Ende. Die von Mustafa Kemal Atatürk gegründete, sozialdemokratisch inspirierte CHP ist die älteste politische Kraft des Landes. Wie die türkische Republik feiert auch sie dieses Jahr ihr hundertjähriges Bestehen.

Nie Verantwortung für Niederlage übernommen

Der Ruf nach einem Wechsel an der Parteispitze war schon kurz nach der Wahlniederlage im Mai laut geworden. Trotz grosser Unzufriedenheit im Land und einer katastrophalen Wirtschaftslage war Kilicdaroglu bereits in der ersten Wahlrunde deutlich hinter Erdogan geblieben. In der Stichwahl siegte dann Erdogan mit 52,2 Prozent. Im Oppositionslager hatte kaum jemand damit gerechnet.

Viele machten Kilicdaroglu persönlich für das Debakel verantwortlich. Der CHP-Chef hatte auf seiner Kandidatur bestanden, obwohl Umfragen anderen Oppositionspolitikern bessere Siegeschancen gegen Erdogan ausgewiesen hatten.

Dass der 73-jährige Parteichef für den Ausgang der Wahl, in die Millionen von Menschen grosse Hoffnungen gesetzt hatten, nie öffentlich Verantwortung übernahm und sich beharrlich weigerte, einer neuen Generation Platz zu machen, löste an der Basis grossen Unmut aus. Manche Beobachter fragten sich, ob der sanftmütig auftretende Kilicdaroglu und sein Umfeld nicht über ähnliche autoritäre Reflexe verfügten, wie sie Erdogan und dessen Partei vorgeworfen werden.

Noch bei seiner Rede am Samstag sprach Kilicdaroglu von einem Dolch, der während des Wahlkampfs in seinen Rücken gestossen worden sei – eine Anspielung auf die angeblich mangelnde Unterstützung aus den eigenen Reihen, die ihn den Sieg gegen Erdogan gekostet haben soll. Von Selbstkritik war keine Spur.

Schatten über Kilicdaroglus Erbe

Wie der Führungswechsel zeigt, sind die demokratischen Strukturen der Partei allerdings intakt – trotz den Streitigkeiten, die am Samstag sogar zu vereinzelten Handgreiflichkeiten führten. In der Türkei sind viele Parteien auf eine Person zugeschnitten. Dass ein Vorsitzender abgewählt wird, ist eher die Ausnahme. Kilicdaroglu übernahm 2010 das Amt, weil sein Vorgänger wegen eines Sexskandals zurücktreten musste. Özel ist erst der achte Vorsitzende in der hundertjährigen Geschichte der Partei.

Dennoch drohen die vergangenen Monate Kilicdaroglus politisches Erbe zu überschatten. Zwar haftete dem aus einer alevitischen Familie stammenden Politiker stets der Ruf des Verlierers an. Akzente gesetzt hat er in den dreizehn Jahren als Parteivorsitzender aber durchaus.

Sein grösster Erfolg war der Sieg der Opposition in den wichtigsten Städten des Landes bei den Regionalwahlen 2019, der nur dank der von ihm eingefädelten Allianz möglich geworden war. Zum ersten Mal überhaupt zogen dabei kemalistische und prokurdische Kräfte am selben Strick. Das noch breitere Bündnis für die nationalen Wahlen im Mai baute auf dieser Erfahrung auf.

Istanbuls Bürgermeister ist der grosse Gewinner

Der 49-jährige neue Parteivorsitzende Özgür Özel ist ein politischer Ziehsohn Kilicdaroglus, der sich nach der Wahlniederlage von ihm abgewandt hat. Profiliert hatte sich der ausgebildete Apotheker und Abgeordnete für die westtürkische Stadt Manisa unter anderem bei der Aufarbeitung des Grubenunglücks von Soma, bei dem in seiner Heimatregion 2014 mehr als dreihundert Bergarbeiter getötet wurden.

Der neue CHP-Vorsitzende Özgür Özel versprach nach seiner Wahl, die Partei in neuer Einigkeit in den Wahlkampf zu führen.

Der neue CHP-Vorsitzende Özgür Özel versprach nach seiner Wahl, die Partei in neuer Einigkeit in den Wahlkampf zu führen.

Dogukan Keskinkilic / Anadolu / Getty

Nur wenige Wochen vor dem schwersten Bergwerksunglück in der türkischen Geschichte hatte Özel bessere Sicherheitsbedingungen für die Kumpel gefordert. Bei der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan war er damit aber auf taube Ohren gestossen.

Vermutlich wichtiger als der eigene Leistungsausweis war für Özels Wahl jedoch die Unterstützung durch Ekrem Imamoglu. Der Istanbuler Oberbürgermeister ist einer der populärsten und charismatischsten Politiker der CHP. Imamoglu stellte sich nicht selber zur Wahl, war aber einer der prominentesten und hartnäckigsten Rufer für einen Wandel in der Partei.

Auch am Kongress, den er eigentlich als neutraler Moderator hätte führen sollen, sprach er sich unmissverständlich für einen Wechsel aus. Imamoglu ist der grosse Gewinner dieses Wochenendes. Özel als den Mann zu handeln, der dereinst Erdogan herausfordern wird, ist deshalb zumindest verfrüht.

Bessere Aussichten für neuerliche Wahlallianz

Der neue Vorsitzende versprach bei seiner Antrittsrede, die Partei nach den Grabenkämpfen der letzten Monate zusammenzuführen, um mit geeinter Kraft in den anstehenden Wahlkampf zu ziehen. Denn bereits im Frühjahr finden in der Türkei Regionalwahlen statt. Erdogan möchte dabei seine Heimatstadt Istanbul zurückerobern.

Die Abwahl Kilicdaroglus verbessert die Aussicht auf eine neuerliche Allianz der wichtigsten Oppositionsparteien, ohne die ein Sieg über das Regierungslager an den meisten Orten illusorisch ist. Die Chefin der rechts-kemalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, hatte nach dem Debakel im Mai ein Bündnis mit der CHP bei den Regionalwahlen offen infrage gestellt. Es gab Spekulationen über Sondierungen mit Erdogans AKP.

Aksener hatte sich vor den Präsidentschaftswahlen für eine Kandidatur Imamoglus oder von Ankaras Bürgermeister Mansur Yavas starkgemacht. Im Streit darüber hatte sie sogar das Oppositionsbündnis kurzzeitig verlassen. Auch im kurdischen Lager gab es seit der Wahl Vorbehalte gegenüber Kilicdaroglu, der nach der ersten Wahlrunde im Mai radikale Töne angeschlagen hatte, um nationalistische Wähler auf seine Seite zu ziehen.