YB darf «keine Wohlfühloase» sein: Die Geschichte hinter der offenen Frage zum Trainer Raphael Wicky

YB führt die Schweizer Fussballmeisterschaft deutlich an, aber der Vertrag mit dem erfolgreichen Coach ist noch immer nicht verlängert. Es ist eine unübliche Zurückhaltung – worin gründet sie?

Benjamin Steffen 5 min
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Der Meistertrainer und «sein» Pokal: Raphael Wicky am Ende der Super-League-Saison 2022/23.

Der Meistertrainer und «sein» Pokal: Raphael Wicky am Ende der Super-League-Saison 2022/23.

Manuel Geisser / Imago

Am 25. Oktober 2017 gewann YB das Cup-Spiel gegen den unterklassigen FC Münsingen 3:0. In der Meisterschaft lagen die Berner in Führung, mit den meisten Toren und den wenigsten Gegentoren. «Wie gross ist die Genugtuung?», wollte die «NZZ am Sonntag» vom Sportchef Christoph Spycher wissen. Er sagte: «Wir gewannen in Münsingen 3:0, könnten den Mund abwischen und sagen: Ziel erreicht. Andererseits frage ich mich, warum wir 70 Minuten lang Mühe bekundeten.»

Diese Worte aus der Vergangenheit helfen, um die Young Boys der Gegenwart zu verstehen; um zu erahnen, warum nicht geklärt ist, ob Raphael Wicky länger YB-Trainer bleibt. Wickys Vertrag läuft im Sommer aus, es ist unüblich, dass die Zukunft nicht geregelt ist. Beide Seiten signalisierten wiederholt, es gebe keinen Grund zur Eile, aber klar ist: Die Zurückhaltung betreffend Vertragsverlängerung suggeriert Unsicherheit.

Die Unsicherheit scheint auf den ersten Blick unverständlich. Verständlicher wird sie, wenn man genauer hinschaut – oder in den letzten Monaten und Jahren genauer hingehört hat.

Mund abwischen? Nicht bei YB.

Wicky arbeitet seit 2022 in Bern, er hat Meisterschaft und Cup gewonnen, die Champions-League-Gruppenphase erreicht und als Gruppendritter den Sprung in die Europa League geschafft. In der Meisterschaft liegt YB wieder in Führung, am meisten Tore, am wenigsten Gegentore, sechs Punkte Vorsprung vor Servette. Viel mehr geht nicht.

Ziel erreicht? Nicht bei YB.

In Bern sind einheimische Spieler zu kleinen Lokalhelden aufgestiegen

2016 übernahm Spycher das Amt des Sportchefs, 2022 stieg er zum Verwaltungsrat auf und blieb die zentrale Figur. Unter ihm entwickelte sich YB zum dominierenden Team, fünf Meistertitel in sechs Jahren.

Vor allem löste sich die Blockade des Versagens, als YB 2018 erstmals seit 32 Jahren obenaus schwang. YB war der sympathische Verlierer, der es endlich schaffte, nicht auf der Ziellinie einzubrechen. Als YB 2019 dem nächsten Meistertitel entgegenschritt, sagte Spycher: «Der Titelgewinn hatte etwas Entlastendes.»

«Etwas Entlastendes»: der YB-Meistertitel 2018, 32 Jahre nach dem letzten Meistertitel, mit dem heutigen Sportchef Steve von Bergen als Captain.

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Doch es ist nicht so, dass seither reine Leichtigkeit herrscht. Heute sagt Spycher: «Es drang vielleicht nie so richtig nach aussen: Aber wir sind extrem ehrgeizig und hatten auch in der Vergangenheit oft sehr schwierige Entscheide zu fällen.»

Dieser Ehrgeiz war immer wieder herauszulesen gewesen. 2017, nach dem 3:0 in Münsingen. Oder im April 2023 zum Beispiel, nach YB - GC, 2:0. Spycher war trotz Sieg unzufrieden. Cedric Itten hatte einen Penalty verschossen, Spycher sagte, es sei nicht Ittens Fehler gewesen, «wir hätten gar kein drittes Tor verdient gehabt».

Oder wie sagte der neue Sportchef Steve von Bergen im Juli 2023: «In jedem Verein geht es um Respekt und Disziplin. Aber: Wie lebst du das jeden Tag? Die Erwartungen der Führung sind sehr hoch. Doch wie wollen wir die Spieler pushen, wenn wir ständig nur am Kaffeetrinken sind? Du musst den Weg zeigen.»

Darum geht es: ums Pushen, um sehr hohe Erwartungen, um extremen Ehrgeiz.

In Bern sind einheimische Spieler zu kleinen Lokalhelden aufgestiegen, David von Ballmoos, der bei allen fünf Meistertiteln dabei war, oder Sandro Lauper, vierfacher Meister. Aber wenn dieses Heldentum kultiviert werde, «dann wird es schwierig. Der Hunger auf Erfolg darf nie nachlassen», sagt Spycher. YB dürfe «keine Wohlfühloase» werden, «dagegen kämpfen wir an».

Es ist oft zu hören im YB-Umfeld: «keine Wohlfühloase»; und es klingt so freud- und kompromisslos, nach Druck, viel Druck. Spycher sagt: «Das ist die Realität, wir sind im Profifussball. Es ist Teil unseres Geschäftsmodells, dass wir Fussballer entwickeln und mit Transfergewinn in eine grössere Liga verkaufen. Und es ist unsere Aufgabe, sie darauf vorzubereiten. Was denken Sie, was Fabian Rieder erwartet, wenn er nach Rennes wechselt, wenn Ulisses Garcia nach Marseille geht? Heisst es bei der Begrüssung, dass keine Titel erwartet werden?»

Wicky ist kein Coach, bei dem es immer schneller, immer höher gehen muss

An den Ur-Ansprüchen der Ära Spycher hat sich nichts geändert: «Dass wir ein Team haben, das begeistert, dass wir europäisch vertreten und eine gute Adresse für junge Spieler sind» – so formulierte er es 2019. Deshalb ist die offene Situation mit Wicky ein Indiz dafür, dass die YB-Führung mindestens einen ewigen Anspruch nicht erfüllt sieht. Oder dass die Meinungen zwischen Chefs und Trainer auseinandergehen: wie sehr die Ansprüche erfüllt sind; oder ganz generell.

Wie sagte Wicky 2019 in der «NZZ am Sonntag»: «Schauen Sie einmal in die Gesichter von Trainern, die Augenringe und wie bleich die Leute teilweise sind.» Und: «Das Business ist schön, aber auf einem gewissen Niveau ist der Druck brutal. Wenn du in einer Phase bist, in der du realisierst, dass du eigentlich von Spiel zu Spiel lebst und vielleicht entlassen wirst – wenn dich das nicht trifft, bist du sehr abgezockt.»

Die sehr hohen Erwartungen der YB-Führung oder von Bergens Frage: «Wie lebst du das jeden Tag?» – diese Anspruchshaltung spürt bestimmt auch Wicky. Und dass es überall gern etwas mehr sein darf. Ein Tor mehr, ein junger Spieler mehr, einen Funken Mut mehr.

Wicky weiss anscheinend damit umzugehen. Mit einer Ausnahme zu Beginn seiner Amtszeit (Out in den Conference-League-Play-offs) bestand sein Team in jeder wegweisenden Partie. Aber womöglich findet Wicky, die Realität käme auch mit etwas weniger Pushen und etwas mehr Wohlfühloase zurecht. 2019 sagte er: «Ich denke nicht, dass ich mehr hätte schreien sollen, von lauten Pausenansprachen halte ich erst recht wenig.»

Im Gegensatz zu Spielern und anderen Trainern ist Wicky kein Coach, der partout auf eine grössere Aufgabe vorbereitet sein muss. Bei ihm braucht es nicht immer schneller zu gehen, immer höher, immer in eine stärkere europäische Liga. Er spielte und trainierte schon im Ausland, und es ist anzunehmen, dass er dereinst auch gern wieder in den USA arbeiten würde; er ist mit einer Amerikanerin verheiratet und in Übersee gut vernetzt. John Thorrington, der Sportdirektor des neuen GC-Besitzers Los Angeles FC, hat Wicky in der NZZ als «guten Freund» bezeichnet.

Spycher sagt: «Die Beziehung des Trainers mit der heutigen Spielergeneration erfordert sehr viel Energie»

Auch der YB-Chef Spycher hat kein pures Karrierestreben. Er hatte schon die Gelegenheit, als Funktionär in die Bundesliga zu wechseln, blieb aber in Bern, in seiner Oase, die keine Wohlfühloase sein soll. Es gibt Punkte, in denen YB und Wicky gut zusammenpassen würden, doch Spycher sagt auch: «Ich glaube, die Zeit ist vorbei, in der ein Trainer 25 Jahre am selben Ort ist. Die Beziehung des Trainers mit der heutigen Spielergeneration ist extrem intensiv und erfordert sehr viel Energie. Deshalb finde ich es legitim, wenn man in einer offenen Kommunikation sagt: Beide Seiten überlegen es sich gut und lassen sich nicht stressen, ob man den Weg gemeinsam weitergeht oder nicht.»

Damit sagt er nichts über den Verhandlungsstatus mit Wicky, aber: Wenn YB überzeugt wäre von irgendetwas, vom Anfang oder vom Ende der Zusammenarbeit mit Wicky, wäre es längst kommuniziert. Spycher sagt: «Das ist so. Es ist noch keine Entscheidung gefallen.»

Sie überlegen es sich gut, beide Seiten.

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