Fall Vincenz: Eine neue Peinlichkeit bringt die Ankläger in Bedrängnis

Die Zürcher Staatsanwälte haben die Anklage durch einen externen Experten prüfen lassen – ohne dies offenzulegen. Führende Rechtsgelehrte bezeichnen dies als «No-Go». Das Vorgehen schüre Zweifel an der Integrität der Ankläger.

Albert Steck 4 min
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Sechs Jahre nach der Verhaftung des früheren Raiffeisen-Chefs Pierin Vincenz steckt das Verfahren in einer Sackgasse. Dass das Obergericht die Anklage zurückgewiesen hat, ist eine peinliche Niederlage für die Staatsanwaltschaft. (Zürich, 25. Januar 2022)

Sechs Jahre nach der Verhaftung des früheren Raiffeisen-Chefs Pierin Vincenz steckt das Verfahren in einer Sackgasse. Dass das Obergericht die Anklage zurückgewiesen hat, ist eine peinliche Niederlage für die Staatsanwaltschaft. (Zürich, 25. Januar 2022)

Michael Buholzer / Keystone

Schon wieder droht der Zürcher Staatsanwaltschaft Ärger. Nicht genug, dass der Chefankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel im Fall Vincenz Schiffbruch erlitten hat. Seine Anklage wurde vom Obergericht in Bausch und Bogen zurückgewiesen – aufgrund «schwerwiegender Verfahrensfehler», denn die Anklageschrift sei zu ausschweifend und unpräzise.

Nun steht plötzlich auch der Vorwurf im Raum, die Staatsanwälte unter Jean-Richard hätten in diesem Vorzeigefall unprofessionell gearbeitet. Wie ist es dazu gekommen? Nach dem Verdikt des Obergerichts hatte ein Sprecher der Behörde erklärt, man werde die Rückweisung beim Bundesgericht anfechten. Als Argument führte er gegenüber der «Handelszeitung» ins Feld, die Staatsanwaltschaft habe die Anklage «von externen Expertinnen und Experten prüfen lassen, um auf Nummer sicher zu gehen».

Bei Rechtsgelehrten gingen darauf die Alarmglocken los: Wurde die Anklageschrift tatsächlich von Aussenstehenden kontrolliert? Auf Anfrage der NZZ bestätigt die Behörde, man habe eine Fachperson «zur Qualitätssicherung» engagiert. Um wen es sich dabei handelte und wie hoch das Honorar ausfiel, will die Staatsanwaltschaft nicht offenlegen.

Frage der Befangenheit

Der Berner Rechtsprofessor Peter V. Kunz bezeichnet die externe Überprüfung als «höchst ungewöhnlich» und «nicht nachvollziehbar»: «Das Verfassen der Anklageschrift fällt in die ureigene Kompetenz der Staatsanwaltschaft. Es darf nicht sein, dass der Staat solche hoheitlichen Aufgaben auslagert.»

Wenn Aussenstehende Einfluss auf die Anklageschrift nähmen, stelle sich unweigerlich die Frage nach einer möglichen Befangenheit, sagt Kunz. «Ein Gutachter könnte in einem Interessenkonflikt stehen. Deshalb müssen sowohl die Angeklagten als auch das Gericht davon Kenntnis haben, wenn eine externe Person beigezogen wird.»

Auch der Strafrechtsprofessor Marcel Niggli von der Universität Freiburg spricht von einem «No-Go». Irritierend sei nicht nur, dass die Ankläger offenbar an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelten. «Es geht hier um den Grundsatz der Gewaltenteilung. Deshalb muss die Justiz ohne äussere Beeinflussung funktionieren können. Zudem gilt für jedes Strafverfahren das Fairnessgebot, wonach alle Parteien über gleich lange Spiesse verfügen sollen. Wenn die Staatsanwaltschaft aber zusätzliche Ressourcen von ausserhalb in Anspruch nimmt, so verschiebt sich die Macht zu ihren Gunsten.»

Diese Chancengleichheit sei wichtig, weil der Angeklagte sonst rasch in eine schwächere Position gerate, erklärt Niggli. «Sobald jemand durch den Staat in Untersuchungshaft genommen wird, steht für ihn die Existenz auf dem Spiel – selbst wenn er am Ende einen Freispruch erhält.» Für die Anklagebehörde dagegen seien die Risiken viel geringer.

Akten dürfen nicht geheim bleiben

Martin Burger, der bis 2020 das Zürcher Obergericht präsidierte und als Lehrbeauftragter an der Schweizerischen Richterakademie arbeitete, teilt die Sichtweise der beiden Professoren. «Auch von einem Gericht wird zu Recht erwartet, dass es sein Urteil eigenständig fällt und nicht mit Aussenstehenden abgleicht. Dasselbe Prinzip gilt für die Staatsanwaltschaft.»

Dass die Staatsanwaltschaft diese externe Begutachtung in den Verfahrensakten nicht dokumentiert hat, stellt laut Burger ein gravierendes Versäumnis dar: «Das Fairnessprinzip verlangt, dass keine Akten geheim bleiben dürfen. Deshalb muss die Staatsanwaltschaft protokollieren, wenn Externe an der Erstellung der Anklageschrift beteiligt sind – schon nur um sicherzustellen, dass keine schützenswerten Informationen nach aussen fliessen.»

Was bedeutet es nun für den weiteren Prozessverlauf, dass die Staatsanwälte ihre Anklage nach aussen gegeben und dies in den Akten verschwiegen haben? Peter V. Kunz hatte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft schon früh als «Hochrisikospiel» bezeichnet – was durch die Rückweisung des Obergerichts mittlerweile bestätigt wurde. «Bisher konnte man den Anklägern zwar vorwerfen, sie seien übermotiviert zur Sache gegangen. Neu ist jedoch, dass sich nun auch die Frage der Integrität stellt.»

Braucht es einen neuen Chefankläger?

Wenn die Behörde relevante Informationen in den Akten nicht offengelegt habe, entstehe eine neue Situation, sagt Kunz. «Diese Transparenz ist unabdingbar. Um den Ruf des Verfahrens zu schützen, darf nicht einmal der Anschein eines Makels entstehen.» Daher müsse der leitende Oberstaatsanwalt in Betracht ziehen, den Fall an neue Staatsanwälte zu übergeben, die ihre Arbeit unbelastet angehen könnten.

Ähnlich klingt die Einschätzung des früheren Gerichtspräsidenten Martin Burger: «Solange der Staatsanwalt Jean-Richard keine genauen Angaben zur externen Begutachtung macht, stellt sich die Frage, ob er den Fall nicht besser an eine Kollegin oder einen Kollegen abgeben sollte.»

Dagegen wendet Marcel Niggli von der Uni Freiburg ein, dass mit einem solchen Personalwechsel noch mehr kostbare Zeit verlorengehe. «Je länger ein Verfahren dauert, desto mehr geht dies zulasten der Beschuldigten.» Selbst nachdem das Obergericht die Anklage zurückgewiesen habe, müsse die Staatsanwaltschaft in der Lage sein, innert weniger Monate einen Ersatz zu präsentieren, so Niggli.

Wahrscheinlicher ist allerdings, dass bis zu einem nächsten Prozess weitere Jahre verstreichen werden. Obwohl die Verhaftung des gefallenen Bankers Pierin Vincenz schon sechs Jahre zurückliegt. Als Erstes müssen die Ankläger nun sämtliche Zweifel aus dem Weg räumen, die sie mit ihrer Begutachtungspraxis geschaffen haben. Bereits dies ist vertrackt genug.