Der Libanon braucht jetzt Milliardenhilfen, keine Almosen

Libanon, Beirut: Die Wörter “My government did this” (“Meine Regierung hat das getan”) stehen an einer Mauer am Hafen, Tage nach der schweren Explosion. Chaos und Gewalt zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten haben die Spannungen in der libanesischen Hauptstadt nach der verheerenden Explosion im Hafen weiter erhöht.

Libanon, Beirut: Die Wörter “My government did this” (“Meine Regierung hat das getan”) stehen an einer Mauer am Hafen, Tage nach der schweren Explosion. Chaos und Gewalt zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten haben die Spannungen in der libanesischen Hauptstadt nach der verheerenden Explosion im Hafen weiter erhöht.

Berlin. Wer sich aus der Ferne nicht vorstellen kann, wie mächtig die Detonation in Beirut war, der kann möglicherweise durch die schiere Größe des verursachten Kraters eine Vorstellung vom Ausmaß der Katastrophe bekommen: Die Explosion hat nach neuesten Erkenntnissen ein 43 Meter tiefes Loch gerissen – der Berliner Hauptbahnhof würde in dem Krater verschwinden.

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Neue Zusammenstöße in Beirut
dpatopbilder - 09.08.2020, Libanon, Beirut: Ein Protestierender schleudert mit einer Schleuder gegen die libanesische Bereitschaftspolizei, w��hrend eines regierungskritischen Protests. F��nf Tage nach der verheerenden Explosion im Hafen der libanesischen Hauptstadt haben Tausende Libanesen um die Opfer getrauert und gegen die politische Elite des Landes protestiert. (Wiederholung mit ver��ndertem Bildausschnitt) Foto: Hussein Malla/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

In Beirut, der libanesischen Hauptstadt gab es am zweiten Abend in Folge Demonstrationen. Ein Mensch wurde getötet und mehr als 170 sind verletzt worden.

Wie groß das politische Beben wird, das die Detonation ausgelöst hat, ist heute noch nicht absehbar. Die Demonstrationen zeigen jedoch, dass insbesondere die junge Generation nicht bereit ist, das von Missmanagement, Korruption und Vetternwirtschaft geprägte Regierungssystem weiter zu akzeptieren. Der Libanon braucht dringend umfassende politische Reformen.

Staat wurde zur Beute

Bis weit in die Siebzigerjahre war der Libanon mit seinem Ansatz, möglichst alle Bevölkerungsgruppen mit ihrer Vielzahl von Konfessionen am politischen Leben teilhaben zu lassen, gut gefahren. Eine austarierte Machtverteilung maßgeblich zwischen Christen und Muslimen sorgte für halbwegs stabile Verhältnisse, hat aber im Laufe der Jahrzehnte nicht etwa zu einem inneren Frieden geführt, sondern im Gegenteil zu einer Aushöhlung der Demokratie: Ob sie es wollen oder nicht – wer im Libanon etwas werden will, wird geradezu gezwungen, sich in den Religionsgemeinschaften zu organisieren. Nur die Zugehörigkeit zu einer Konfession öffnet für die Bürger Karrierechancen.

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Der Staat wurde zur Beute der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Eine am Gemeinsinn ausgerichtete Politik zum Wohle der gesamten Bevölkerung ist somit kaum möglich. Vielmehr führte das System zu einer Verstärkung der Spannungen zwischen den Konfessionen und einer Lähmung des Landes – sowohl politisch als auch ökonomisch. Die schätzungsweise 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, die ohne Sicherheitsvorkehrungen jahrelang im Hafen von Beirut lagerten, sind ein Sinnbild der Lage, in der alle die Macht wollen, ohne aber die Verantwortung zu übernehmen.

1,5 Millionen Flüchtlinge

Es wäre allerdings völlig unangemessen, den Libanesen allein die Schuld an ihrer Situation zu geben. Das Land mit der Zeder in der Flagge ist einer der Hauptleidtragenden des Syrien-Kriegs. Im Libanon haben mittlerweile 1,5 Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge Zuflucht gesucht – und das bei einer Einwohnerzahl von rund sechs Millionen. Wenn Deutschland gemessen an seiner Bevölkerung so viele Flüchtlinge ins Land gelassen hätte, dann würden heute hierzulande 20 Millionen Syrer leben. Unvorstellbar? Im Libanon und übrigens auch in Jordanien ist das die Realität. Das jordanische Flüchtlingslager Zaatari ist mittlerweile die viertgrößte Stadt des Landes.

Macron fordert schnelle und effektive Hilfe für Libanon
dpatopbilder - 09.08.2020, Frankreich, Fort De Bregancon: Emmanuel Macron, Pr��sident von Frankreich, nimmt per Videoschalte an der internationalen Geberkonferenz f��r den Libanon teil. Zu der vom franz��sischen Staatschef Macron und den Vereinten Nationen organisierten Geberkonferenz werden nach franz��sischen Angaben Vertreter von rund 30 Staaten und Organisationen per Videoschalte erwartet. Foto: Christophe Simon/POOL AFP/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Macron fordert schnelle und effektive Hilfe für Libanon.

Lage destabilisiert

Die libanesische Gesellschaft leistet Enormes, gerade auch vor dem Hintergrund eines im Grunde nicht funktionierenden Staates und einer tiefen Wirtschaftskrise. Der Westen hat zwar ein wenig Entwicklungshilfe geleistet, im Großen und Ganzen überlässt er die Region aber sich selbst. Wichtig ist den Verantwortlichen in der EU nur, dass die Flüchtlinge dort bleiben und nicht nach Europa weiterziehen. Es hat schon kurz nach Beginn des Syrien-Kriegs nicht an Warnungen gemangelt, dass die vielen Flüchtlinge den Libanon weiter destabilisieren würden. Aber das hat niemanden in der EU wirklich interessiert.

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Man wird den Verdacht nicht los, dass die vom französischen Ministerpräsidenten Emmanuel Macron in Windeseile einberufene internationale Geberkonferenz auch nur den Zweck hat, von der Flüchtlingsthematik abzulenken. Jetzt schnell ein wenig humanitäre Hilfe zur Linderung der größten Not einsammeln und dann letztlich wieder zur Tagesordnung zurückkehren, so scheint das Motto.

Dabei braucht das Land mehr als nur Almosen. Es braucht viele Milliarden, es braucht umfassende Hilfe bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Dabei geht es um den Ausbau des Gesundheitswesens, um Schulen, Wohnungen und gegebenenfalls auch um eine weitere Aufnahme von Flüchtlingen in der EU, um das Land zu entlasten.

Politische Reformen zur Modernisierung ihres Staates müssen die Libanesen allein durchsetzen. Hier verbietet sich jede Einflussnahme. Doch bei der Bewältigung der Folgen des Syrien-Kriegs kann und darf sich der Westen nicht aus der Verantwortung stehlen.

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