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Vilters-Wangs
29.01.2022

Als in Vilters und Wangs noch die Stickmaschinen ratterten

Im Weiler Loch in Vilters baute Franz Kunz links an sein Elternhaus ein Stickereilokal an.
Im Weiler Loch in Vilters baute Franz Kunz links an sein Elternhaus ein Stickereilokal an. Bild: Pressedienst/Archiv Terra plana
Die Stickerei erlebte ihre Blütezeit im Jahre 1890. Im ganzen Sarganserland ratterten damals 338 Stick-maschinen. Allein in Vilters und Wangs zählte man 93 Maschinen. Viele Jahre profitierte das Sarganserland vom neuen Wirtschaftszweig. In den 1920er-Jahren aber begann der Niedergang dieser Industrie und somit auch die Verschrottung der Stickereimaschinen. (Felix Hartmann/Sardona24, Terra plana, Juniausgabe 2017)
«Terra plana» – die Zeitschrift für Kultur, Geschichte, Tourismus und Wirtschaft Bild: Terra plana

Im Jahre 1816 herrschte im Sarganserland eine grosse Hungersnot. Auch die Bewohner von Vilters und Wangs litten unter dieser Katastrophe. Wer damals eine Weinbergschnecke fand, betete für diesen kleinen Hungerstiller dankbar ein Vaterunser zum Himmel. Zur Linderung dieser Not spendete Zar Alexander I. von Russland dem Kanton St. Gallen 15 000 Rubel. Von diesem grosszügigen Geschenk erhielten die Gemeinden Vilters und Wangs umgerechnet 320 Gulden. Sargans musste sich mit 100 Gulden begnügen. Die Einwohner von Mols bekamen gar nur 21 Gulden. Daraus kann man schliessen, dass Vilters und Wangs zu den ärmeren Gemeinden im Bezirk Sargans gehörten.

Die Suche nach Wohlstand

Der Kanton St. Gallen führte im Jahr 1859 eine Volkszählung durch. Damals wohnten in den politisch vereinten Gemeinden Vilters und Wangs 1669 Personen, die sich mehrheitlich durch Landwirtschaft ernährten. Immer mehr Einwohner versuchten ihr Glück jedoch im Ausland. Allein in den Jahren 1856 und 1857 wanderten 34 Vilterser und Wangser nach Nordamerika aus.
Erfreuliche Nachrichten erreichten die Landgemeinden jedoch aus der Kantonshauptstadt: Die Stadt St. Gallen sei dank der Textilindustrie reich geworden. In den Zeitungen konnte man lesen, dass im Jahre 1876 in St. Gallen und Umgebung bereits 10 000 Stickmaschinen in Betrieb waren. St. Galler Textilprodukte eroberten die grossen Modemetropolen und der Ruhm von diesen hochwertigen Stoffen ging bald um die ganze Welt.
Viele Ostschweizer, wie auch die Vilterser und Wangser Bürger, sahen in dieser neuen Industrie eine goldene Zukunft.

In Vilters entsteht eine aussergewöhnliche Fabrik

Der aus Quarten stammende Johann Peter Freitag erhielt im Jahre 1876 vom Ortsverwaltungsrat Vilters die Bewilligung, eine Stickereifabrik zu bauen. Ganz ohne Nebengeräusche ging dieser Neubau jedoch nicht vonstatten.
In der Zeitung «Ostschweiz» vom 18. Februar 1876 finden wir folgenden Artikel: «Der Regierungsrath hat folgendes beschlossen: Die Ortsgemeinde Vilters hat sich vertraglich verpflichtet, für den Bau einer Stickerei ein Quantum Bauholz zu liefern und holt nun die Bewilligung für den hierfür benöthigten Holzschlag ein. Die Einführung einer Industrie wäre für Vilters allerdings wünschenswerth, aber die Wirthschaft in Vilters war bisherig derartig, dass der Waldbestand einen weiteren ausserordentlichen Schlag nicht gestattet, überdies haben die Vilterser die Bedingungen, die an frühere Holzschläge geknüpft waren, zur Stunde noch nicht erfüllt. Das Gesuch wird daher abgewiesen.»
Trotz aller Widerstände lieferte die Ortsgemeinde das gewünschte Bauholz. Im Oktober 1879 eröffnete Vater Freitag mit seinen beiden Söhnen die Fabrik. Alle glaubten an einen Erfolg dieser neuen Industrie. An den 16 Stickmaschinen arbeiteten 40 Frauen. Die neue Fabrik strahlte mit den runden Fensterbögen einen südländischen Charme aus. Im nahen Bad Ragaz betrieb die Familie Freitag einen Laden, wo sie ihre Produkte direkt verkaufen konnte. Sie gingen davon aus, dass die vielen Gäste im weltbekannten Kurort sicher Interesse an den schönen Stickereien hätten. Nichts schien dem Erfolg im Wege zu stehen.
Doch etwas hatten die Freitags zu wenig bedacht: Stickereien waren Luxusartikel, die vor allem im Ausland und bei zahlungskräftigen Schweizern Absatz fanden und wirtschaftlichen Schwankungen ausgesetzt waren. Jedenfalls blieben die erhofften Aufträge aus. Die teuren Stickmaschinen konnten nicht abbezahlt werden. So musste Vater Freitag bereits nach sechs Jahren den Konkurs anmelden. Seine beiden Söhne wanderten nach diesem Misserfolg nach Amerika aus. In den Jahren 1891 und 1892 kam die Fabrik mit den Maschinen auf die Gant. Glasermeister Hermann Stucki aus Sargans erhielt den Zuschlag und führte den Betrieb mit ein paar Einzelstickern weiter.
Zehn Jahre später übernahm das aus Amerika zurückgekehrte Ehepaar Katharina und Johann Kalberer die ehemalige Fabrik. Sie benutzten die Liegenschaft als Landwirtschaftsbetrieb.
Im Jahre 2001 wurde diese erste Vilterser Fabrik mit den Nebengebäuden abgebrochen. Ein schönes Stück Geschichte ist damit verloren gegangen.
Heute steht auf diesem Areal eine neue Wohnsiedlung, die wegen den verschiedenfarbigen Häusern bei den Einheimischen unter dem Namen Smarties-Quartier bekannt ist.

Vilterser und Wangser ein Volk von Einzelstickern?

In der Blütezeit der Stickereiindustrie im Jahre 1890 ratterten im Sarganserland 338 Stickmaschinen. Davon standen 179 Exemplare in grösseren und kleineren Fabriken. Die restlichen 159 standen bei den Einzelstickern. In Vilters und Wangs zählte man mit 68 am meisten Betriebe mit einer Maschine. Diese Stickmaschinen waren etwa sechs Meter lang und zwei Meter hoch. Hergestellt wurden diese in der Ostschweiz bei Franz Saurer und Söhne in Arbon, F. Martini & Co. in Frauenfeld, J. Rieter & Co. in Winterthur und weiteren Fabriken. Eine Handstickmaschine leistete so viel wie 40 Stickerinnen. Es waren technische Wunderwerke, die ohne elektrischen Strom und Wasserkraft auskamen. Um diese Kolosse unterzubringen, erhielt das Wohnhaus der Einzelsticker einen Anbau. Bei einigen Gebäuden sind diese Veränderungen heute noch sichtbar.
Bedient wurden die Maschinen von einem Sticker und einer Fädlerin. Vor einem Musterbrett sass der Sticker und schob den Pantografenstift gemäss der Vorlage hin und her. Mit seinen Füssen trieb er die Maschine mechanisch an und stellte die gewünschten Stickereien her. Als Fädlerin wurde oft die Ehefrau des Stickers eingesetzt. Diese fädelte den Faden ein und überwachte die Stickmaschine. Das Ehepaar war so bei der Arbeit ein Team. Die Männer, die diese Maschinen in ihrem Haus bedienten, fühlten sich als Fabrikanten. Sie waren stolz auf ihre Selbstständigkeit.

Kinder- und Frauenarbeit auch in Vilters und Wangs?

Im Jahre 1890 arbeiteten in Vilters und Wangs 187 Personen für die Stickerei-industrie. Das entspricht einem Anteil von über elf Prozent der Dorfbevölkerung. In dieser Statistik enthalten sind auch 20 Mädchen und vier Knaben im Alter zwischen 14 und 16 Jahren. Es gab keine andere Sarganserländer Gemeinde, in der offiziell so viele junge Arbeitskräfte an den Stickmaschinen beschäftigt waren wie in Vilters. Ein anstrengender Arbeitstag nebst vielen Schulstunden war für viele Mädchen und Knaben das tägliche Brot. Im 19. Jahrhundert gehörte es zum Alltag, dass Kinder schon früh in der Landwirtschaft mithalfen. Die neue Industrie verschlimmerte die Situation von vielen Mädchen und Knaben. Die hohe Zahl der Kinder, die an den Stickmaschinen in Vilters-Wangs beschäftigt waren, lässt sich wohl vor allem durch die Armut dieser Dörfer erklären.

Josef Zippert (Vierter von links) mit Stock (1878–1967). Bild: Pressedienst/Archiv Terra plana
Eine der Glückwunschkarten, wie sie Josef Zippert stickte. Bild: Pressedienst/Archiv Terra plana

Maschinensticker: Ein ungesunder Beruf?

Die Gemeinde Vilters wurde im Jahre 1907, als zweitletzte Gemeinde des Sarganserlandes, an das Stromnetz angeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt verwendete man zur Beleuchtung der Sticklokale Petrollaternen. Die eisernen Stickmaschinen mussten ständig mit Öl geschmiert werden. Zudem rauchten die meisten Sticker während der Arbeit. Diese und die weiteren Feststellungen finden wir in einer Broschüre aus dem Jahre 1882. Sie stammen aus der Feder des ersten eidgenössischen Fabrikinspektors, des Glarner Arztes Fridolin Schuler. Die Sticker, die früher in der Landwirtschaft gearbeitet hatten, stellten infolge der langen Arbeitszeit ihre Essgewohnheiten um. Auch tranken viele von ihnen zu viel Kaffee und Alkohol. Diese Genussmittel, die ungesunde Ernährung, der Rauch von Öl, Petrol und Tabak führten dazu, dass man bei vielen Stickern gesundheitliche Probleme feststellte.
Folgende Krankheiten diagnostizierten Militärärzte bei der Eintrittsmusterung junger Sticker: Blutarmut, Lungentuberkulose, zurückgebliebene Körperentwicklung und Missbildung des Brustkorbes. Mit 25 Prozent Dienstuntauglichen übertrafen die Sticker alle anderen Berufsgruppen. Diesem ungesunden Betriebsklima waren auch die mitarbeitenden Frauen und Kinder ausgesetzt.

Vilterser Protest gegen mächtigen Stickereiverband

Anfang Januar 1890 zählte der mächtige Ostschweizer Stickereiverband 13 369 Mitglieder und 21 702 betriebene Maschinen. Doch in diesem Jahr brachen die Bestellungen für Stickereiprodukte drastisch ein. Der Grund dafür waren eine Überproduktion und verschiedene Wirtschaftskrisen im Ausland. Zudem verkauften einige Schweizer Hersteller ihre Stickmaschinen direkt ins Ausland. Ein paar Vilterser Einzelsticker glaubten jedoch, dass die Leitung des Verbandes an diesem Rückgang schuld sei.
Der Vilterser Franz Kunz gehörte zu diesem Kreis. In einem Leserbrief schrieb er unter anderem in einer Ostschweizer Zeitung Folgendes: «Wollen denn Tausende von armen Stickern nur Leibeigene einiger Herren sein? Darum sage ich als freier Schweizer Bürger, vergesst die Worte nicht: Helft euch selbst, dann hilft euch Gott. Deshalb fordere ich mit Recht die Auflösung dieses Verbandes. Die
verschiedenen Interessengemeinschaften sollen sich selbst beherrschen und selber organisieren. Denn jeder fühlt am besten, wo der Schuh drückt. Sollen wir noch lange so tanzen, wie es uns einige Verbandsherren und Kaufleute vorpfeifen? Schlechter, als es jetzt um uns steht, kann es auch bei der Auflösung des Stickereiverbandes nicht mehr kommen. Mit den jetzigen Hungerlöhnen können wir nicht mehr weiterarbeiten. Zum Verhungern brauchen wir keinen Verband!»
Zu diesem Thema schrieb Arthur Steinmann aus Herisau, ein hervorragender Kenner der schweizerischen Textilindus-trie, in seiner Dissertation im Jahre 1905 Folgendes: «Das Vilterser Initiativ-Komitee versucht insgeheim und offen mit ihrer gehässigen Art den Stickereiverband aufzulösen. Sie haben sich damit einen traurigen Ruhm erworben.»
Bei der Abstimmung am 1. Mai 1892 sprachen sich 6584 Mitglieder gegen die Abschaffung dieses Verbandes aus. Die stattliche Anzahl von 2906 Stickern befürwortete die Auflösung. In Vilters und Wangs stimmten 21 mit Ja und 22 mit Nein. Dem Vilterser Protest war kein Erfolg beschieden.

Ein eindringlicher Hilferuf aus Vilters

Am 20. Januar 1893 finden wir in der Zeitung «Ostschweiz» folgenden Hilferuf (gekürzt):
«Zwei Familienväter mit ihren Frauen und acht Kindern bitten Sie, nachfolgenden Hilferuf in Ihr geschätztes Blatt aufzunehmen, das ja auch für Arme und Bedrängte eintritt. Bis 1890 arbeiteten wir in der Vilterser Stickfabrik; nachdem aber der Konkurs über sie ausgebrochen war und wir armen Leute mehrere Hundert Franken Lohn verlieren mussten, blieb uns nichts anderes übrig als das Verhältnis zu lösen und unsere Existenz auf eine andere Grundlage zu stellen. Im Verein eines Dritten kauften wir nun selber gegen Abzahlung unter solidarischer Haftbarkeit drei Stickmaschinen. Am Anfang konnten die Zahlungen prompt eingehalten werden. Da kam im Herbst die fürchterliche Krise und wir hatten kein Geld mehr für die Abzahlung. Nun sind wir 625 Franken im Rückstand. Wir glauben, dass wir in der nächsten Zeit mit Weib und Kindern, mitten im Winter, auf die Gasse gestellt werden. Wenn jeder Leser Ihres Blattes nur mit 20 Rappen beitragen würde, würden wir, unsere Frauen und unsere armen acht Kinder, gerettet sein. Wir haben noch nie gebettelt; aber man möge uns verzeihen, dass wir es jetzt tun, denn in der Verzweiflung entschliesst man sich zum Äussersten und der Ertrinkende greift nach allem, was ihn rette könnte. Jenen, die ihre milde Hand öffnen, möge unserere unauslöschliche Dankbarkeit sicher sein.»
Der Gemeindepräsident von Vilters und Wangs, August Vesti, bezeugt am Schluss die Richtigkeit dieses Hilferufs. Die Leser der «Ostschweiz» spendeten immerhin 219 Franken und 42 Rappen.
Wie die meisten Einzelsticker unterzeichneten auch diese zwei Väter mit dem Lieferanten der Stickmaschinen einen Abzahlungsvertrag. Solche Abzahlungsverträge trieben viele Familien in den Ruin. Viele Einzelsticker bezeichneten ihr Metier deshalb als Hungerindustrie.

Luftaufnahme der Vilterser Stickereifabrik an der Sarganserstrasse im Jahr 1933. Sie wurde bereits als Landwirtschaftsbetrieb genutzt. Bild: Pressedienst/Archiv Terra plana

Franz Kunz, der Tausendsassa aus Vilters

Das wohl längste und vielseitigste Leben aller Vilterser Sticker führte Franz Kunz. Am 11. August 1856 kam er als jüngstes Kind von Jakob und Anna Kunz auf die Welt. Sein Bruder Martin wanderte 1875 nach Amerika aus und brachte es dort zu Ansehen und Wohlstand. Die Familie Kunz lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen am östlichen Dorfrand von Vilters. Dieser am Berg gelegene Weiler nennt sich Loch. Im Alter von 25 Jahren flüchtete Franz wegen einer Hausrechtsverletzung nach Amerika. Er wohnte dort in der Nähe seines Bruders Martin. Nach zwei oder drei Jahren kehrte er nach Vilters zurück. Ungefähr im Jahr 1884 installierte Franz in seinem Heimwesen im Loch eine Stickmaschine. Wohl wegen fehlender Aufträge und den erwähnten Streitereien mit dem Stickereiverband schrieb er diese bereits neun Jahre später zum Verkauf aus.
In den Jahren 1906 und 1907 wurden vom Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum Franz Kunz drei Patente bewilligt. Diese enthielten Verbesserungen für Stickmaschinen. Sogar das Kaiserliche Patentamt in Berlin schützte eine Erfindung von Franz Kunz. Er wird wohl der einzige Bürger von Vilters sein und bleiben, der eine Patentschrift aus dem Deutschen Kaiserreich erhielt. Es ist höchst erstaunlich, dass Franz Kunz ohne Studium einen solchen Erfindungsgeist hatte. Reich ist er mit seinen Patenten allerdings nicht geworden.
Nach Aufgabe der Stickerei widmete sich Franz vor allem seinem Landwirtschaftsbetrieb und der Wilderei. Franz Kunz wurde im Jahre 1932 wegen wiederholtem Wildfrevel verurteilt. Obwohl in seinem Sticklokal oft dicke Luft herrschte und sein schattiges Heimwesen Loch nicht ans Stromnetz angeschlossen wurde, erreichte Franz Kunz das stolze Alter von 95 Jahren.

Der letzte Einzelsticker von Vilters hiess Josef Zippert

Noch heute erinnern sich ältere Menschen lebhaft an die schönen, gestickten Glückwunschkarten von Josef Zippert. Mit ihm wurde am 12. Juni 1967 der letzte Sticker von Vilters zu Grabe getragen. Im «Sarganserländer» finden wir seinen Nachruf (auszugsweise): «Josefs Erdenlaufbahn begann am 15. Januar 1878 hier in Vilters. Sein Vater Josef Anton übte den ehrbaren Beruf eines Schumachers aus. Josef hatte noch vier Schwestern. Nachdem er als aufgeweckter und talentierter Schüler sich an der Primarschule seines Dorfes das geistige Rüstzeug zum nun beginnenden Berufsleben geholt hatte, zog er in die Fremde. Sein Reiseziel war Rorschach. Dort erlernte Josef das Sticken an der Stickmaschine. Diese Beschäftigung freute ihn so sehr, dass er noch das Zeichnen in der Kunststickerei dazulernte. Er entwarf selber neue Muster und stickte sie sauber und exakt aufs Tüchli. Ausgerüs-tet mit diesen guten Berufskenntnissen, wanderte Josef nun das Rheintal hinauf seinem Heimatdorfe zu. Auch in Vilters standen damals, so um die Jahrhundertwende, etliche Stickmaschinen, die vielen Leuten etwas Verdienst brachten. So auch unserem Jungmann Josef Zippert. Er ging so in seinem Berufe auf, dass er sogar das Liebeswerben der jungen Fädlerinnen und Nachstickerinnen nicht beachtete. Das mag ein Grund sein, weshalb heute auf seinem schlichten Grabkreuz ‘Jüngling’ steht. Viele Jahre stand seine emsig laufende Stickmaschine im Dorfzentrum, dort, wo jetzt Josef Guntli sein Foto- und Papeteriegeschäft hat. Später war sein Sticklokal im Feld in Thönys Haus. Wer erinnert sich nicht heute noch gerne an Zipperts sinnvolle, schön gestickte Neujahrskarten, die er selber schuf, oder gar an die farbig gestickten Kränzchen, welche die Fotos eines strammen Rekruten oder eines glücklichen Hochzeitspaares umrahmten und heute noch manche Stube zieren? Vielfältig und sauber waren alle diese Werke seiner Hände Arbeit, denn er führte mit sicherer Hand den Pantografen seiner Stickmaschine. Als Josef wegen Altersbeschwerden keine Rosen und anderen Blumen mehr sticken konnte, entschloss er sich, als Pensionär ins Bürgerheim nach Wangs zu ziehen.»
Mehr als 60 Jahre sass Josef auf einem Schemel vor dem Musterbrett im Sticklokal. Er schuf Tausende von kleinen und grösseren Kunstwerken. Für einen Einzelsticker erreichte er mit 89 Jahren ein eher ungewöhnlich hohes Alter.

Erinnerungsfoto an die Demolierungsaktion der Handstickmaschinen im Jahr 1923. Bild: Pressedienst/Archiv Terra plana

Eine Industrie verschwindet und wird vergessen

Die Stickerei war um 1910 mit 18 Prozent der grösste Exportzweig der Schweizer Wirtschaft.
Ein Fünftel der Ostschweizer Bevölkerung arbeitete in der Textilindustrie. Doch nach dem Ersten Weltkrieg bekamen auch die Vilterser und Wangser Sticker die Launen des Welthandels am eigenen Leib zu spüren. Die Aufträge gingen stark zurück. Es herrschte wieder eine Überproduktion. Auch die Mode veränderte sich um diese Zeit und die Nachfrage nach teuren, bestickten Textilien sank. 10 000 Sticker und Stickerinnen verloren ihre Arbeit. Um der Arbeitslosigkeit in diesem Gewerbe entgegenzuwirken, beschloss die Stickerei-Treuhand-Genossenschaft, einen Teil dieser Stickmaschinen zu vernichten. Im Jahre 1923 fiel der Startschuss für diese Aktion. Zu Beginn erhielten die Sticker eine Abfindungssumme von 200 Franken pro Stickmaschine. Allein in jenem Jahr wurden in der Ostschweiz 1900 dieser Kolosse verschrottet. Eigentlich schade um diese Schweizer Qualitätsprodukte, denn bei richtiger Pflege würden diese Maschinen heute noch laufen.
Während 80 Jahren ratterten in Vilters und Wangs die Stickmaschinen. Nebst viel Leid hat diese Industrie einigen Menschen auch Wohlstand gebracht.
Von den 93 Maschinen, die im Jahre 1890 in Vilters und Wangs standen, wird keine mehr zu finden sein. Einzig ein paar Karten und Stickereien von Josef Zippert und einige Gebäude erinnern uns noch an diese interessante Zeit. Die St. Galler Stickerei hatte die Welt erobert. Das Sarganserland hatte von diesem neuen Wirtschaftszweig lange Zeit profitiert.
Auch wenn die Hochblüte dieser Industrie vorbei ist, tragen stilsichere Persönlichkeiten wie Michelle Obama oder Königin Elisabeth II. immer noch St. Galler Stickereien.

Quellen
Verschiedene zeitgenössische Zeitungen aus der Ostschweiz.
Diverse Amtsblätter des Kantons St. Gallen.
Dissertation Arthur Steinmann, 1905.
Stickergofen sind keine Herrengofen, Altdorf/Grabs 2012.
Das Schiffchen fliegt, die Maschine rauscht, 1985.
Armut in Mels, 2006.
Leitfaden der Maschinenstickerei, 1891.

«Dieser Beitrag stammt aus der Juniausgabe 2017 der ‘Terra plana’.»
Felix Hartmann/Sardona24, Terra plana, Juniausgabe 2017