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Armeechef in Sorge Ukrainischer Oberbefehlshaber warnt vor zermürbendem Stellungskrieg

Die Zeit der großen Geländegewinne im Ukrainekrieg scheint vorbei. Das könnte vor allem Russland helfen, fürchtet Armeechef Saluschnyj. Seine Mahnung kommt während einer der massivsten russischen Angriffe seit Januar.
Ukrainische Soldaten in der Nähe der Frontline bei Robotyne

Ukrainische Soldaten in der Nähe der Frontline bei Robotyne

Foto: Roman Pilipey / AFP

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte hat vor einem zermürbenden Stellungskrieg im Ukrainekrieg gewarnt.

Walerij Saluschnyj schreibt in einem Gastbeitrag für den »Economist «, dass der Krieg nun in diese Phase eintrete und ein solches statisches Kriegsgeschehen den russischen Invasoren zugutekommen würde. Russland könne dadurch seine militärische Macht wieder aufbauen, schreibt Saluschnyj. »Ein Stellungskrieg dauert lange und birgt enorme Risiken für die Streitkräfte der Ukraine und für den Staat.« Stillstand auf dem Schlachtfeld helfe nur Russland, die Verluste seiner Armee auszugleichen.

Der Gastbeitrag erschien während einer der stärksten russischen Angriffe seit Jahresbeginn: Die russische Armee hatte nach Angaben des ukrainischen Innenministers Ihor Klymenko in den vergangenen 24 Stunden so viele ukrainische Städte und Ortschaften beschossen, wie seit Januar nicht mehr. Die Russen hätten insgesamt 118 Ortschaften in zehn Regionen angegriffen, schrieb Klymenko am Mittwoch auf Telegram. Dabei wurden Behördenangaben zufolge mindestens vier Menschen getötet und 14 weitere verletzt.

Hoffen auf stärkere ukrainische Luftwaffe

Der Artikel von Saluschnyi wurde zudem fast fünf Monate nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive veröffentlicht. Ein ernsthafter Durchbruch gegen die geschwächten russischen Verteidigungslinien gelang dabei nicht; mit Herbsteinbruch und dem daraus folgenden schlechteren Wetter wird zudem mit einer weiteren Verlangsamung des Kriegsgeschehens  gerechnet.

Saluschnyj beschreibt auch einen Ausweg aus dieser Lage, nämlich durch eine Stärkung der ukrainischen Luftwaffe. »Die Kontrolle des Luftraums ist für groß angelegte Bodenoperationen essenziell.« Jedoch sei ein Drittel der 120 zu Beginn des Kriegs verfügbaren Kampfflugzeuge unbrauchbar gewesen. Mit den versprochenen Kampfjets vom Typ F-16 aus verschiedenen Ländern kann Kiew erst im kommenden Jahr rechnen. Trotz großer Verluste  sei die russische Luftwaffe nach wie vor deutlich im Vorteil, schreibt Saluschnyj. Dadurch habe es die ukrainische Armee schwerer, voranzukommen.

Verbesserte ukrainische Drohnen müssten das Fehlen von Kampfflugzeugen ausgleichen, folgert der General. Der Schlüssel zu einem Erfolg im Drohnenkrieg sei eine verbesserte elektronische Kampfführung, um russische Fluggeräte zu stören und abzufangen. Russland sei in diesem Punkt überlegen.

Die ukrainische Armee müsse besser darin werden, russische Artillerie zu zerstören, schreibt Saluschnyj. »Derzeit haben wir Parität mit Russland erreicht durch kleinere, aber genauere Feuerkraft. Doch das wird nicht andauern«, so Saluschnyj. Und auch eine bessere Minenräumtechnik müsse entwickelt werden, das bisherige Vorgehen mit westlicher Technik habe sich gegen die teils weitläufigen russischen Minenfelder als unzureichend erwiesen.

Eine Priorität im Krieg sei es zudem, Reservisten aufzubauen. Der Kreis der wehrpflichtigen Männer müsse ausgeweitet werden. Russland habe es versäumt, aus seinem großen Vorteil an personellen Ressourcen Kapital zu schlagen. Dennoch dürfe man Russland nicht unterschätzen.

Selenskyj beschwört europäische Einigkeit

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat derweil die europäische Einigkeit beschworen. »Ich bin zuversichtlich, dass die Ukraine unser Europa stärker denn je machen wird. Und wir arbeiten so hart wie möglich daran, dass unserem Beitritt zur Europäischen Union  nichts mehr im Wege steht«, sagte Selenskyj in seiner Videobotschaft am Abend.

Selenskyj erinnerte an das Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht vor 30 Jahren am 1. November 1993. Dieser habe »den Grundstein für die moderne europäische Einigung« gelegt. Der Vertrag bedeutete damals die Gründung der Euopäischen Union mit einer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft und einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Zwar gebe es in vielen EU-Mitgliedsländern europakritische Stimmen, sagte Selenskyj – oft gerade in Staaten, die für den Erhalt des Friedens und der Ordnung in Europa wichtig seien. Beispiele nannte er nicht. Aber die EU habe immer bewiesen, dass sie Krisen überwinden könne und stärker werde, »wenn die Feinde Europas nur Schwäche erwarten«.

hba/mrc/Reuters/dpa