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Kampf ums Überleben: Die Kannibalen von Flug 571

Foto: Group of Survivors/Corbis

Kampf ums Überleben Die Kannibalen von Flug 571

Ein Flugzeug stürzt in den Anden ab, die Suche wird bald eingestellt. Doch ein Teil der Passagiere überlebt monatelang im ewigen Eis des Hochgebirges - dank einer grausigen Entscheidung. Als "Wunder der Anden" ging das Drama im Jahr 1972 in die Annalen ein.
Von Hans Michael Kloth

Flug 571 kämpft am 13. Oktober 1972 zwischen bis zu 6000 Meter hohen Andengipfeln mit Orkanböen und eisigen Schneeschauern. Die Turboprop der uruguayischen Luftwaffe ist auf dem Weg von Montevideo in Uruguay nach Santiago de Chile. An Bord sind 45 Passagiere, Mitglieder, Betreuer und Angehörige der Rugbymannschaft des Old Christian's Club, die in der chilenischen Metropole ein Freundschaftsspiel absolvieren will und das Flugzeug gechartert hat. Die Crew will umdrehen, zurückfliegen. Das Rugbyteam will über die Anden, unbedingt.

Was dann folgt ist ein menschliches Drama, so grausig wie aus einer griechischen Tragödie.

In 4000 Meter Höhe zerschellt die Fairchild an einem Berghang. Von den Insassen stirbt ein Dutzend schon beim Aufprall. "Ich schaute auf den Boden und sah Leute, die schon tot waren", erinnert sich ein Überlebender. "Wir wussten nicht, was von nun an geschehen würde. Wir hatten in einem komfortablen Flugzeug gesessen, waren unbekümmert, und auf einen Schlag waren wir im Schnee, in den Bergen. Du weißt nicht, wo Du bist, auf welcher Höhe; Du zitterst vor Kälte, viele Freunde sind tot."

"Ich dachte, dass es den Toten besser ging als uns"

Die Absturzstelle liegt in einem Gebiet, in das nie zuvor ein Mensch seinen Fuß gesetzt hat - eine leere, leblose, weiße Hölle. Es herrschen extreme Minusgrade, bis 40 Grad unter Null. Wer verletzt ist, hat keine Chance, fünf weitere Passagiere überstehen die erste Nacht nicht. Die Überlebenden begraben ihre toten Kameraden im ewigen Schnee - und hoffen auf schnelle Rettung für sich selbst.

Doch die Suchflugzeuge der chilenischen Luftrettung können nicht hoch genug aufsteigen, um die abgestürzte Fairchild, die in einem Hochtal liegt, zu entdecken. Acht Tage nachdem die Maschine von den Radarschirmen der Flugüberwachung verschwunden ist, wird die Suche eingestellt. Die Verschollenen hören die Meldung über den Abbruch der Rettungsaktion über ein Transistorradio.

"Ich dachte, dass es den Toten besser ginge als uns", erinnert sich ein Opfer. "Es sah so aus, als müssten wir alle eine lange Agonie in Kauf nehmen um dann doch alle zu sterben." Die ersten Tage ernähren sich die Abgestürzten von etwas Schokolade und Wein, den sie im Gepäck hatten. Dann gehen sie über zu kleinen, genau rationierten Mengen von Zahnpasta. Schließlich trinken sie ihr Rasierwasser.

Das Fleisch der Freunde

Dann müssen sie eine Entscheidung treffen. Entweder sie gehen zugrunde, oder... Im Schnee liegen die gut konservierten Leichen von zehn Kameraden begraben.

"Zuerst muss man den Schnee und das Eis vom Körper abkratzen mit einer Glasscherbe. Es war, als ob man einen Stamm abkratzte", erinnerte sich viel später einer der Unglücklichen. "Ich dachte, es ist unglaublich, dass dies vor kurzem noch ein Freund gewesen war. Als ich ins Fleisch schnitt, tat es mir weh. Ich schnitt, und es tat mir weh. Ich musste diesen Gedanken fortjagen und mir vorstellen, dass ich ein Goldgräber bin, der Gold aus dem Berg gräbt. Ich stellte mir vor, dass ich Energie aus dem Körper gewinne."

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Foto: Group of Survivors/Corbis

Um zu überleben, brechen die abgestürzten Sportler eines der größten aller Tabus der Menschheit: Sie essen Menschenfleisch - das Fleisch ihrer toten Freunde.

Es ist kein spontaner Entschluss, sondern eine reifliche Überlegung. Die Todgeweihten fallen nicht wie Aasräuber über Leichen her, sondern wägen fast wie Philosophen ihre Alternativen: "Wir kamen schließlich zu der Entscheidung, dass, wenn jemand von uns sterben würde, die anderen nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Pflicht hätten, ihn zu essen."

Kalzium und Vitamine

Die kleine Gruppe weiß genau, was sie tut. Sie entnimmt den Toten gezielt die nährstoffreichsten Körperteile und Organe: aus Knochen lösen sie Kalzium, das sie mit der vitamin- und proteinreicher Leber mischen. Gezielt werden Vorräte angelegt, regelrechte Diätpläne entworfen - immer mit dem einen Ziel vor Augen: zu überleben.

Am 17. Tag geht eine Lawine auf das Flugzeugwrack nieder und tötet acht Mitglieder der Gruppe im Schlaf. Eine zweite Lawine begräbt das Wrack komplett unter sich; zwei Wochen lang kommt der eingeschlossene Rest nicht aus dem Rumpf heraus. In dieser Zeit müssen sie sich von den gerade Gestorbenen ernähren.

Nach über 60 Tagen im ewigen Eis der Bergwelt entschließt sich die Gruppe, das Unmögliche zu wagen: Eine Expedition soll sich auf eigene Faust durchschlagen und Hilfe holen - obwohl die Abgestürzten keine Ahnung haben, wo sie sind und wohin sie müssen. Soll der Vortrupp nach Westen oder nach Osten marschieren? Die drei Kräftigsten werden ausgewählt, Strümpfe dienen als Proviantbehälter. Dann geht es los.

"Der ergreifendste Augenblick meines Lebens"

Als der kleine Trupp in der immer dünner werdenden Luft nach drei Tagen den ersten Höhengrat erreicht, von dem das Trio glaubt, dass er den Blick auf das Tiefland im Westen versperrt, ist die Enttäuschung grenzenlos: soweit das Auge reicht nicht als Eis, Schnee, stürmische Gipfel. Einer von ihnen muss umkehren, damit die anderen mehr Proviant haben.

Sollen die beiden anderen es allein wagen? "Roberto sagte mir, es wird sehr schwer. Du weißt, wir werden sterben", erinnert sich Fernando Parrado später über den Moment auf dem Grat mit seinem Schicksalsgenossen Roberto Canessa. "Ich sagte ihm: Ja, aber wir werden im Gehen sterben. Kommst Du mit? Und er sagte: Wenn du gehst, dann gehe ich auch. Das war der ergreifendste Augenblick meines Lebens."

Nachdem das Duo sich eine Woche unter unvorstellbaren Strapazen durch die unwirtliche Bergwelt geschleppt hat, erreichen sie die schneefreie Zone. Jetzt haben sie zumindest eine Chance. Drei weitere Tage dauert es, bis die beiden einen Gebirgsfluss erreichen. Auf der anderen Seite steht der Hirte Sergio Catalan. Es ist zwei Tage vor Weihnachten.

Das Wunder der Anden

Das Drama im Schnee ist zu Ende, das "Wunder der Anden" geboren. Hubschrauber der chilenischen Luftwaffe finden kurz darauf das Wrack der Fairchild und retten die 14 übrigen Überlebenden. Soldaten begraben die Toten und deren Überreste unter Steinen, das Flugzeugwrack übergießen sie mit Kerosin und zünden es an. Dennoch mischten sich in den allgemeinen Jubel bald erste Gerüchte über den grausigen Preis für das Überleben der 16.

"Als wir die Hubschrauber hörten, die kamen, um uns zu retten, kam auf einmal auch die Gesellschaft zurück mit ihren Tabus und allem was damit zusammenhing", erinnert sich einer aus der Gruppe. "Ich denke manchmal, dass wir damals wie Tiere waren." Und fügt hinzu: "Aber es gab keinen Egoismus, es gab dort oben nicht so viele Dinge, wie man sie in unserer Gesellschaft findet."

"Wir sind am Leben geblieben, weil wir uns untereinander geholfen haben", meint ein anderer mit Blick auf Krieg und Gewalt in der Welt. "Das was da oben in den Anden geschah, war genau das Gegenteil von dem hier unten."

Zum 35. Jahrestag des Unglücks gab es am Sonntag in Montevideo ein Rugbyspiel - der Old Christian's Club trat gegen eine chilenische Mannschaft an. Aus den Anden war eigens ein alter Mann angereist, um den Anstoß auszuführen: Sergio Catalan - der Hirte, dem die Überlebenden Fernando Parrado und Roberto Canessa nach 71 Tagen in die Arme gelaufen waren.