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Erfinder mit 94 gestorben Nicht nur ein Stück Plastik, vor allem ein Stück Kindheit – eine Ode an die Audio-Kassette

Drohten in den 90ern bereits auszusterben, aber feiern derzeit sanftes Comeback: Audio-Kassetten
Drohten in den 90ern bereits auszusterben, aber feiern derzeit ein sanftes Comeback: Audio-Kassetten
© Gela Frantisek / Picture Alliance
Lou Ottens ist im Alter von 94 Jahren gestorben. Der Niederländer hat die Audio-Kassette erfunden – und damit unser aller Kindheit ein bisschen besser gemacht.

Ich kann das Geräusch noch hören. Wenn ich meine Augen schließe und zurückdenke an den silber-schwarzen Ghettoblaster, der im Kinderzimmer meines großen Bruders auf einer Kommode stand. Zwei Kassettenfächer hatte das Teil – der heiße Scheiß damals, weil man damit überspielen konnte. Und wenn man eine TKKG-Folge einlegte, dann war da am Anfang dieses Geräusch. Ein sanftes, monotones Walzen, kaum hörbar.

Wir waren immer so gespannt und leise, dass wir es hören konnten, meine beiden Brüder und ich. Es war ein kurzer Moment voller Vorfreude, als sich die Bänder schon drehten, aber die Titelmelodie "Die Profis in Spe" noch nicht eingesetzt hatte. Ich kann es heute noch hören.

Am Dienstag gab die Familie von Lou Ottens bekannt, dass der Niederländer im Alter von 94 Jahren gestorben ist. Er hat in den 1960er-Jahren die Audio-Kassette erfunden, auch Compact Cassette (CC) oder Musicassette (MC) genannt. Ottens war damals der Leiter des Produktentwicklungsteams beim Elektronikhersteller Philips. 1963 präsentierte er die Erfindung auf einer Messe in Berlin. Von dort eroberten die Kassetten die Welt im Sturm. Geschätzte 100 Milliarden Exemplare wurden seitdem verkauft.

Unsere Audio-Kassetten waren unsere Schätze

Die kleinen rechteckigen Plastikkästen sind so viel mehr gewesen als nur ein Medium. Sie waren Kult. Wir haben sie gesammelt und gehütet wie Schätze. Ich hatte unter meinem Kinderbett einen Ausziehkasten mit 100 TKKG-Folgen, sauber sortiert nach Nummern, jede Kassette in der richtigen Hülle und im richtigen Fach.

An Ostern und zu Nikolaus leuchteten unsere Augen, wenn es eine neue Episode von den "Simpsons" oder von "Alf" zum Hören beim Einschlafen gab. Zu dritt kuschelten wir uns abends in ein kleines Kinderbett – als Jüngster hatte ich stets den billigen Platz am Fußende – und lauschten im Dunkeln den Abenteuern unserer Helden. Manchmal waren wir alle schon eingeschlafen, als die A-Seite durchgelaufen war und man die Kassette hätte umdrehen müssen. Der zweite Teil der Geschichte war nämlich auf der Rückseite des Bandes und wurde beim Zurücklaufen abgespielt.

Überhaupt: die Technik dieser Dinger. Solide Mechanik, die selbst kleinste Kinder verstehen konnten. Und wenn ein Rekorder mal wieder die Kassette "gefressen" hatte, reichten ein Bleistift und eine ruhige Hand, um das Chaos zu beheben. Robust waren sie, konnten auch mal runterfallen, ohne gleich kaputt zu gehen. Genauso die Abspielgeräte. Die hatten noch was Mechanisches. Man konnte beim Abspielen zugucken, sah, wo sich was drehte und wo die Bänder liefen.

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Die Kassetten wuchsen mit unseren Bedürfnissen mit

Mit zunehmendem Alter wuchsen wir dann zwar alle aus den abendlichen Kuschelsessions heraus, aber die Kassetten wuchsen mit uns mit. Nun konnte man sie blanko im Paket bei Schauland kaufen und dann zuhause selbst mit Musik bespielen.

Mixtapes, allein das Wort schon ein Kulturgut. Wir saßen vorm Radio und lauerten auf unseren Song, drückten im richtigen Moment schnell und mit zwei Fingern "Rec" und "Play" gleichzeitig. Spürbar und nachhaltig rasteten die kantigen Knöpfe mit einem lauten Knarzen ein. Zwischen den Liedern nahmen wir kurze Sequenzen des walzenden Nichts auf, nicht zu lang, nicht zu kurz – eine Kunst für sich. Die Playlist, die damals noch nicht so hieß, schrieb man mit Kugelschreiber auf die kleine Linien der Beipackkarte in der Plastikhülle. 

Vor ein paar Jahren hatte ich mein Telefon in einer Gummi-Hülle, die aussah, wie eine Audio-Kassette von damals. Mir haben noch nie so viele Menschen Komplimente für eine Handy-Hülle gemacht. Die kultigen kleinen Kassetten lösen bei vielen aus meiner Generation etwas aus. Wir alle verbinden mit ihnen etwas, haben Erinnerungen und Gefühle, die allein ihr Anblick erzeugt. Und ich wette, nicht wenige von uns können auch das walzende Geräusch noch hören.

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