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Bahnstreik Fast jeder zweite Deutsche ist für den Weselsky-Streik – und das ist auch erklärbar

GdL-Chef Weselsky setzt auf Härte im Bahnstreik
GdL-Chef Weselsky: Er hat sogar Fans
© Carsten Koall / DPA
Der Monster-Streik der Lokführergewerkschaft GDL schränkt das Leben Millionen Deutscher ein. Wirklich verhasst ist der Arbeitskampf trotzdem nicht. Warum ist das so? Fünf Erklärungsversuche.

Wer die Folgen des Bahnstreiks hautnah erleben möchte, muss dieser Tage nur in eine U-Bahn steigen. Waggons platzen aus allen Nähten, Menschen sind schwer genervt, die Gleise zugemüllt. Pendlerinnen und Pendler kommen zu spät zur Arbeit, müssen Umwege nehmen oder aufs Auto umsteigen, nur um dann in gigantischen Staus zu stehen. Und das sind nur die Einschränkungen im Berufsverkehr.

Wer das Leben von Millionen Deutschen über Monate immer wieder derart stört, erntet nur Wut und Frust. Könnte man denken. Sollte man meinen. Stimmt aber nur bedingt. Umfragen ergeben dieser Tage ein ambivalenteres Bild: Fast die Hälfte der Deutschen unterstütze die Streiks der Lokführer, ermittelte vor einigen Tagen das Politbarometer des ZDF. Selbst für die sechstägige Streikwelle, die jüngste Eskalation der Gewerkschaft GDL, haben noch 41 Prozent der Deutschen Verständnis, wie Zahlen von "Forsa" zeigen. Wo kommt dieser Rückhalt her? Fünf Erklärungsversuche.

1. Der Zeitgeist

Was man nicht vergessen sollte: Der Streik findet in einem gesellschaftlichen Umfeld statt, das es in sich hat. Das Vertrauen in die Politik ist schwer erschüttert. Menschen protestieren, teils mit radikalen Mitteln. Von der Stimmung im Land profitierten schon die Bauern. Obwohl sie nur einen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen, solidarisierten sich viele Menschen mit den Aktionen der Landwirte gegen die Kürzungspläne der Ampel. Schon klar: Die Bauernproteste schränken das öffentliche Leben weniger ein als die Streiks der Lokführer, außerdem ging es gegen die Bundesregierung, da hat man es dieser Tage leicht. Aber wie die Bauern dürften auch die Lokführer von einer Zeitgeistdividende profitieren: Alles, was nach hartem und kompromisslosem Kampf gegen "die da oben“ aussieht, kommt an.

2. Der Authentizitäts-Faktor

Klassenkampf: Kann er. Claus Weselsky macht ordentlich Krawall, auch rhetorisch geht der konfliktfreudige Gewerkschaftsboss auf Konfrontationskurs. Keilt gegen die Bahn-Manager als "Nieten im Nadelstreifen“ und "Vollpfosten“, schmäht sie als "beratungsresistent“. Zwar dient das nicht unbedingt der Kompromissfindung. Eines kann man dem GDL-Boss aber nicht vorwerfen: Dass er nicht versuchen würde, alles für seine Leute herauszuholen. So, wie man es sich von (s)einem obersten Gewerkschafter wünscht.

Was ihm hilft: Er war selbst mal Lokführer, weiß also, wovon er spricht, und steht nicht unter Verdacht, Streiktheorie in irgendeinem Proseminar gelernt und sich die Bahn als zufälliges Versuchsfeld ausgesucht zu haben. Das bringt ihm im Land sicher keine Popularitätswerte auf Flughöhe eines Boris Pistorius, aber sein Beharren nötigt einem wesentlichen Teil der Republik zumindest Respekt ab. Weselskys Eisenbahnern allemal: Im Dezember stimmten 97 Prozent der teilnehmenden GDL-Mitglieder für unbefristete Streiks. Es ist Weselskys letztes Gefecht, nach dieser Tarifrunde und fast 16 Jahren als GDL-Chef macht der Scharfmacher mit Schnurrbart Schluss.

3. Die Bewunderung

Die ziehen das eiskalt durch, bleiben einfach hart, trauen sich wirklich was! So oder ähnlich dürften einige auf den Streik der Lokführer schauen. Mit einer Spur von Neid, aber mit viel Bewunderung. Die Bahner knicken auch unter öffentlichem Druck nicht ein und zeigen ihrem Arbeitgeber wieder und wieder, dass ohne sie eben nichts läuft. Im Ergebnis sehen wir einen Staatskonzern mit mehr 56 Milliarden Euro Umsatz und knapp 325.000 Angestellten, der den Betrieb weitestgehend einstellen muss, weil die wichtigsten Mitarbeiter nicht zur Arbeit erscheinen.

Ganz ehrlich, wer würde das nicht gerne mal nachmachen? Dem Chef oder der Chefin beweisen: Sag ich doch, ohne mich geht hier gar nix! Die streikenden Lokführer finden so bei all denen Sympathie, die sich im Job oder von der Gesellschaft nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen. Und der ein oder die andere von ihnen empfindet vielleicht nicht nur Bewunderung, sondern schöpft wieder Hoffnung. Eines Tages…

4. Der Bahnvorstand

Wenn der Feind meines Feindes mein Freund ist, wie es heißt, dann müssen sich die Lokführer um die anhaltende Solidarität der Deutschen gar keine Sorgen machen. Denn es gibt jemanden, den die Menschen, die Reisenden und Pendelnden zumal, noch weniger mögen als streikende Lokführer: den Vorstand der Deutschen Bahn. 

Sind die Lokführer denn schuld daran, dass die Züge ständig zu spät ankommen? Oder daran, dass sie ganz ausfallen? Sind die Lokführer verantwortlich dafür, dass die Klos im Regio unbenutzbar sind und das Bordbistro wieder nur kalten Kaffee serviert? Dass das Streckennetz verfällt und die Sanierung stockt? Eben. Die Bahn wird seit Jahren einfach grottenschlecht gemanagt. 

Was freilich nichts daran ändert, dass sich der Bahnvorstand weiterhin fürstlich entlohnt. Und belohnt. Knapp 1,3 Millionen Euro verdient allein Konzernchef Richard Lutz pro Jahr, Personalchef Martin Seiler kommt auf ein Salär um 700.000 Euro. Und weil das offenbar noch nicht genug ist, haben die Vorstandsmitglieder rückwirkend für 2022 zusammen Boni in Höhe von fünf Millionen Euro erhalten – obwohl das marode Unternehmen seine Ziele für Pünktlichkeit und Kundenzufriedenheit verfehlt hat.

5. Die Opferrolle

Die Deutschen haben womöglich sogar auch einfach Mitleid mit den vermeintlich ausgebeuteten Lokführern. Für diese hohe Anteilnahme gebührt der Bahngewerkschaft der PR-Award 2024. Denn GDL-Chef Weselsky hat seiner Klientel eine Opferrolle angedichtet, die nicht zu den Fakten auf dem deutschen Arbeitsmarkt passen mag.

Im Bundesvergleich verdienen Lokführerinnen und Lokführer schon jetzt überdurchschnittlich, wie die Entgeltstatistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt. Mit durchschnittlich 3735 Euro Monatsbrutto zählen sie zu den bestbezahlten Fachkräften der Republik (Durchschnitt: 3386 Euro). Nur Krankenpflege-Fachkräfte (3944 Euro) und Bankkaufleute (5235 Euro) rangieren über ihnen. Andere Berufszweige mit hoher Verantwortung für Menschen müssen mit weniger Geld auskommen: Erzieher und Erzieherinnen mit 3638 Euro, Altenpflege-Fachkräfte mit 3611 Euro. Busfahrer, die ein erheblich höheres Unfallrisiko tragen, werden mit gerade einmal 3177 Euro abgespeist. Auch im grundmaroden DB-Konzern zählen Lokführerinnen und Lokführer zu den am besten verdienenden Tarifbeschäftigten.

Warum finden dann viele den Arbeitskampf der Lokführer trotzdem in Ordnung? Siehe oben.

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