Muslimische Alpinistin
Diese saudische Bergsteigerin sagt: «Der erste Everest, den ich bezwang, war mein Vater»

Raha Moharrak, 35, stand als erste saudische Frau auf dem Mount Everest. Die Berggipfel sind für sie mehr als ein Ziel – sie sind die Arena ihres Kampfs als eigensinnige Frau in einer konservativen Gesellschaft.

Sabine Kuster
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Die saudische Bergsteigerin Raha Moharrak bestieg im Rahmen des Woman Peak Challenge von Schweiz Tourismus das Breithorn.
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Raha Moharrak (am Schluss der Seilschaft) auf dem Weg zum Gipfel mit einer Landsfrau, einer TV-Moderatorin aus Palästina, und der Walliser Bergführerin.
Raha Moharrak mit Bergführerin Caroline George auf dem Breithorn.

Die saudische Bergsteigerin Raha Moharrak bestieg im Rahmen des Woman Peak Challenge von Schweiz Tourismus das Breithorn.

Bild: Schweiz Tourismus/Nicole Schafer (11. Juli 2021)

Wie sie dasitzt und erzählt auf dem Balkon eines Hotels in Zermatt, die Sonnenbrille im schwarzen Haar, Sonne im Gesicht, jede zweite Antwort ein druckreifes Zitat für die Emanzipation, werden die Berge zur blossen Metapher. Sie sind nur die Arena für eine Frau, deren höchste Gipfel, die sie bezwang, die Meinungen anderer waren. Wir könnten über die sieben 8000er der Welt sprechen, auf denen allen sie stand, die Anstrengung, die Eiseskälte. Aber wir reden über ihre Sturheit.

Ihre Geschichte ist nicht einfach die Geschichte einer Bergsteigerin. Es ist die Geschichte einer eigensinnigen Frau in einer Gesellschaft, in der solche Rollen nicht vorgesehen sind.

Dschidda, wo sie aufgewachsen ist, ist eine topfebene Wüstenstadt mit einem weltberühmten historischen Kern am Rand des Roten Meeres in Saudi-Arabien. Die Temperaturen fallen auch im Winter nie unter 17 Grad und liegen im Sommer meist über 30. Kein Ort für Bergkinder. Aber für Töchter der Wüste.

Sie dachte, Kilimandscharo sei eine Frucht

Sie begann mit 25 Jahren mit Bergsteigen aus dem einfachen Grund, weil eine Frau ihr berichtet hatte, sie hätte den höchsten Berg Afrikas bestiegen. «Kilimandscharo?», fragte Raha Moharrak, «ist das nicht eine Frucht?» Dann dachte sie: coole Idee!

Raha Moharrak, 35, besuchte am 11. Juli das Breithorn.

zvg

Ja doch, das Bergsteigen, das die Natur, das Reisen und das Abenteuer vereint, ist für sie «der perfekte Sturm», die schönste sportliche Herausforderung. Aber es hätte auch eine andere sein können. Es war Trotz, der sie den Rucksack packen liess. Die Leute fanden es daneben, dass eine saudische Frau Berge besteigt, also wollte sie es ihnen erst recht zeigen. «Der erste Everest, den ich bezwang, war mein Vater», sagt sie. Beinahe wäre die Beziehung daran zerbrochen. Er und die Mutter hatten schon Erfahrung mit ihrem rebellischen Kind, das die Schuluniform nicht mit Jupe, sondern mit Hose hatte tragen wollen. Sie sagt:

«Meine ganze Kindheit war eine Serie von Kämpfen»

Damit relativiert die Grafikdesignerin, die heute in Dubai lebt, den latenten Vorwurf, dass sie nur als Kind einer vermögenden Familie dieses Abenteuer wagen konnte. «Es müssen nicht Berge sein. Jeder hat einen Everest zu erklimmen», sagt sie. «Es ist egal, weswegen weltweit Frauen kämpfen, wir sind alle Schwestern im Kampf. Jede weiss, wie es sich anfühlt, ihren Weg zu verfolgen. Jede dieser Frauen, egal welcher Kultur, kennt den Hunger, anderen zu zeigen, dass sie falsch liegen.» Und jeder gewonnene Kampf verursache ein Echo.

Ihren Hühnerhaut-Moment erlebte sie nicht auf einem Gipfel

Dschidda liegt in der Provinz Mekka, also nahe dem Ort, wo jährlich Tausende gläubige muslimische Pilger hinreisen. «Es war nicht der einfachste Ort für meine Eltern, eine rebellische Tochter zu haben», sagt Raha Moharrak. Heute aber sei ihr Vater ihr grösster Unterstützer.

Auf die Frage, welches ihr eindrücklichster Moment beim Bergsteigen gewesen sei, nennt sie denn auch keine knapp verfehlte Gletscherspalte oder minus 30 °C beim Zelteingang – sondern eine Szene unten in der Zivilisation: Sie kam 2013 nach zwei Monaten zurück von der Besteigung des Mount Everest und war in Dschidda gelandet. Das erste Gesicht, das sie sah, als sich die Tür beim Exit des Flughafens öffnete, war das ihres Vaters.

«Da bekam ich Hühnerhaut. Ich wusste, wie viele wüste Kommentare es in der Zwischenzeit über mich gegeben hatte. Ich wusste, dass ich da oben nicht einfach als Individuum war, sondern den Namen meiner Familie aufs Spiel gesetzt hatte.»

Dann sah sie in den Augen ihres Vaters Stolz und Freude. Das war atemberaubender als jeder Sonnenaufgang oder Sternenhimmel.

Seither ist sie für die Öffentlichkeit nur noch die saudische Bergsteigerin. Die frauenfeindlichen Kommentare haben aufgehört. «Weil ihnen nichts mehr einfällt, lästern sie nun über meinen Look», sagt Moharrak.

Vielleicht ist das ihre Rüstung. Wenigstens ein Mascara-Fläschchen nimmt sie überall mit hoch. Sie sagt, sie könne dort oben stinken wie ein Schuh, das sei okay, «aber Mascara gibt mir einfach ein gutes Gefühl».

Zum ersten Mal nur mit Frauen unterwegs

Und so quälte sie sich auch vergangene Woche wieder frühmorgens aus dem Bett, um auf einen Gipfel zu steigen. Mit einer Bergführerin und zwei anderen, weniger erfahrenen Bergsteigerinnen aus dem Nahen Osten erreichte sie am Sonntag das Breithorn. Die Stimmung sei fantastisch gewesen, sagt sie. Es war einer der 48 Viertausender der Alpen, die gerade in reinen Frauen-Seilschaften bestiegen werden. Die Tour war Teil der Women Peak Challenge.

«Es braucht jedes Mal viel Selbstdisziplin, um morgens den Reissverschluss des Schlafsacks zu öffnen», sagt Raha Moharrak. «Aber ich liebe diesen Wettbewerb. Ich kämpfe nicht mit dem Berg, das wäre vermessen. Ich arbeite mich ab an mir und meinem Charakter.»

Sie sagt, wenn sie auf die letzten zehn Jahr zurückblicke, komme ihr das vor wie das Märchen von Aschenputtel. Die teuren Schweizer Produkte eines Outdoorausrüsters und einer Uhrenmarke, die sie sich früher nicht leisten konnte, trägt sie nun als Sponsoring-Partnerin. «Es ist ein Märchen – einfach ohne Prinz», sagt sie und lacht.