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Operiert wird, weil es Geld bringt

Kritiker sagen, Kliniken würden häufig operieren, weil es sich ökonomisch für sie lohnt. Für die Patienten ist das nicht gut, ebenso wenig für die Krankenversicherten, die steigende Prämien aufgebürdet bekommen Kritiker sagen, Kliniken würden häufig operieren, weil es sich ökonomisch für sie lohnt. Für die Patienten ist das nicht gut, ebenso wenig für die Krankenversicherten, die steigende Prämien aufgebürdet bekommen
Kritiker sagen, Kliniken würden häufig operieren, weil es sich ökonomisch für sie lohnt. Für die Patienten ist das nicht gut, ebenso wenig für die Krankenversicherten, die steigend...e Prämien aufgebürdet bekommen
Quelle: dpa
Viele Therapien in Krankenhäusern werden nicht deshalb angewandt, weil sie medizinisch notwendig sind – sondern weil sie der Klinik bares Geld bringen. Jetzt streiten Kliniken und die Krankenkassen.

Erinnert sich noch jemand an den „Hüftgelenkskandal“ um Philipp Mißfelder vor zehn Jahren? Der damals 24-jährige Bundesvorsitzende der Jungen Union schlug vor, die Ausgaben für das Gesundheitssystem einer Revision zu unterziehen. Wörtlich sagte er: „Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen.“ Wie zu erwarten bezog der Jungpolitiker dafür heftige verbale Prügel. Ob über 85-Jährige Menschen zweiter Klasse seien, fragten die Kritiker.

Mißfelders provokativer Vorstoß rückte ein reales Problem in den Fokus: Die Menschen werden älter. Mit dem Alter kommen vermehrt Krankheiten, die heute seltener zum Tod führen, weil sie behandelbar sind. Schonendere Behandlungsmethoden machen das möglich, und auch die zunehmende Fitness der jungen Alten sorgt dafür, dass man einem heute 85-Jährigen mit guten Erfolgsaussichten eine Hüftprothese einsetzen kann, während das in den 70er-Jahren als unverantwortlich gegolten hätte.

Zu viele Operationen

Trotzdem kann der demografische Wandel nicht komplett die Zunahme der Therapien in Kliniken erklären. Es wird zu viel operiert, lautet der Vorwurf. Statt medizinisch motivierter Entscheidungen würden die Kliniken häufig operieren, weil es sich ökonomisch für sie lohnt. Für die Patienten ist das nicht gut, ebenso wenig für die Krankenversicherten, die steigende Prämien aufgebürdet bekommen. Am Donnerstag befassen sich in Berlin Mediziner, Krankenkassenvertreter und Experten für medizinische Qualitätssicherung auf dem Frühjahrsforum der Deutschen Hochschulmedizin mit diesem Thema. Titel: „Indikationsstellung: Wie viel Medizin braucht der Patient?

Der Vorwurf, die „passende“ Therapie danach auszusuchen, was dem Krankenhaus gut Geld bringt, wiegt schwer. „Dieser Vorwurf zielt auf das Herzstück der ärztlichen Kunst: die Indikationsstellung“, so die Veranstalter der Berliner Veranstaltung des Medizinischen Fakultätentags und des Verbands der Universitätsklinika Deutschlands.

Warum in Deutschland so häufig unnötig operiert wird

Bei künstlichen Gelenken liegt Deutschland ganz weit vorne. Aber auch Gebärmuttern werden hier besonders gerne mal entfernt – und nirgendwo werden so viele Kernspinuntersuchungen durchgeführt.

Quelle: WELT

Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen hatte das Phänomen im vergangenen Jahr im Auftrag des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) untersucht. Dabei kam das RWI zu dem Schluss, dass allein zwischen 2006 und 2010 die Zahl der Krankenhausleistungen um 13 Prozent zugenommen hat, in absoluten Zahlen: 1,3 Millionen Behandlungen mehr pro Jahr als gerade mal vier Jahre zuvor. Weniger als 40 Prozent dieser Zunahme könne man mit dem zunehmenden Alter der Bevölkerung erklären.

Suche nach der Lebensqualität

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft als Vertretung der Kliniken reagiert empört. Hauptgeschäftsführer Georg Baum spricht von Diffamierung und pauschalen Verdächtigungen. Er kritisierte die Position der gesetzlichen Krankenversicherungen als unredlich. Schließlich würden die Kassen die Honorare für stationäre Therapien jedes Jahr aufs Neue mit der Krankenhäusern aushandeln. Sie seien für den Trend also mitverantwortlich.

„Die Zunahme der stationären Behandlungen und Operationen ist unstrittig, und das ist zunächst erst einmal nicht grundsätzlich verwerflich“, sagt die Dekanin der Charité, Professor Annette Grüters-Kieslich. „Wir müssen aber klären, ob diese Behandlungen die Lebensqualität der Patienten tatsächlich verbessert haben“, so die Kinder- und Jugendmedizinerin. „In welchem Ausmaß diese Zunahme auch durch neue Möglichkeiten der Behandlung und durch den demografischen Wandel erklärbar ist, ist dabei eine Frage, die nicht sicher beantwortet werden kann“

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Als prototypisch für überflüssige Maßnahmen gelten weithin das Implantieren von Knie- und Hüftgelenksprothesen sowie Bandscheibenoperationen. Allein auf diese Therapien entfielen im Jahr 2010 rund 360.000 zusätzliche Behandlungen verglichen mit 2006. Die Ursache der Fehlentwicklung gilt als ausgemacht: Es gibt Therapien, die werden schlecht honoriert; diese versuchen Krankenhausträger zu umgehen. Andererseits gibt es Behandlungen, die gut honoriert werden – von denen sollten möglichst viele durchgeführt werden.

Behandlung von Rückenschmerzen als Beispiel

Dass es Verfahren gebe, die deutlich besser vergütet werden als andere, bestreite niemand, sagt Grüters-Kieslich. „Es ist auch unstrittig, dass daher Indikationen weiter gefasst werden, weil es einen erheblichen ökonomischen Druck in den Kliniken gibt. Jeder, der im Krankenhaus arbeitet und ehrlich ist, wird da zustimmen. Aber dass dabei billigend in Kauf genommen wird, dem Patienten zu schaden, das glaube ich nicht. Und wenn es so ist, dann handelt es sich zumindest um sehr vereinzelte Fälle.“

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Unterstützung bekommen die Kritiker des Vergütungssystems unter anderem von Professor Fritz Uwe Niethard, dem Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, der die Entwicklung der chirurgischen und nichtchirurgischen (“konservativen“) Rückenbehandlungen über Jahrzehnte hinweg beobachtet hat. Niethard sagt: „Früher war die konservative Behandlung eine breite Autobahn, heute ist es eine Schmalspur.“

Dass es auch in anderen Disziplinen oft nicht nach medizinischen Erfordernissen geht, hat die Bertelsmann-Stiftung in ihrer „Initiative für gute Gesundheitsversorgung“ belegt. Sie hatte beim Berliner IGES-Institut einen Report erarbeiten lassen, der die regionale Verteilung von medizinischen Leistungen untersucht.

Große regionale Unterschiede

Das Institut hatte 16 häufige Behandlungsgebiete untersucht: von Kaiserschnitt und Mandelentfernung bis Depressionstherapie. IGES fand starke regionale Unterschiede, die nicht mit der Alters- oder Sozialstruktur zu erklären sind. Bei der Entfernung der Gaumenmandeln argumentieren die Experten ökonomisch: Kleine HNO-Abteilungen in den Kliniken würden vermutlich häufiger Mandeln entfernen, weil ein Rückgang der Operationen-Zahl die Wirtschaftlichkeit der ganzen Abteilung infrage stelle.

Der Gesundheitsökonom Stefan Felder und der Medizinmanagement-Experte Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen plädieren für den Handel mit sogenannten Casemix-Punkten. Dahinter verbergen sich Behandlungszertifikate. Das Prinzip: Alle stationär behandelten Krankheitsfälle werden gewichtet, schwere Fälle bekommen einen Faktor größer 1, leichte Fälle einen Faktor kleiner als 1. Daraus errechnet sich eine Gesamtzahl an Behandlungspunkten für die Krankenhäuser. Diese Punkte können gekauft und verkauft werden.

Kliniken, die ohne ein Zertifikat therapieren, müssten empfindliche Honorarabschläge in Kauf nehmen. Klingt nach viel Bürokratie ähnlich wie beim Handel mit Treibhausgas-Emissionen. Doch die Befürworter erhoffen sich davon, dass die Zahl der Therapien auf sinnvolle Weise gedeckelt wird.

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