Vollbremsung, voller Aufschlag, mit dem Kopf voran in den Postwagen. Bill Kochevar ist Mitte vierzig, als er an einer Wohltätigkeits-Fahrradtour für die Multiple Sklerose Society in Cleveland teilnimmt und verunglückt. Seitdem ist sein Gehirn vom Rest seines Körpers abgeschnitten, zumindest von dem größten Teil. Er ist unterhalb der Schultern gelähmt.
Kochevar ist heute 53 Jahre alt und Teil eines gar nicht so kleinen Wunders. „Ich dachte daran, meinen Arm zu bewegen, und ich konnte ihn bewegen“, so berichtet er in einem Video der Case Western Reserve University.
„Ich aß eine Bretzel, ich trank Wasser.“
Diese wiedergewonnene Bewegungsfreiheit hat er ein paar Sensoren im Gehirn, 36 Elektroden im Arm und einer smarten Gehirn-Computer-Schnittstelle zu verdanken.
Dr. A. Bolu Ajiboye vom Department of Biomedical Engineering der Universität in Cleveland leitet das Team, das die Neuro-Prothese ausgetüftelt hat. Er erklärt: „Wir waren in der Lage, die elektrischen Signale, die seine Gedanken repräsentieren, zu nutzen, um die Stimulation seines Armes und seiner Hand zu kontrollieren.“
Anders gesagt: Die Forscher haben die Verbindung zwischen Bills Gehirn und seinem Körper wiederhergestellt - in gewissem Rahmen.
Es ist das erste Mal, dass ein fast komplett gelähmter Mensch die Fähigkeit zurückgewonnen hat, ein Gliedmaß über das Gehirn zu steuern. Beim Betrachten des Videos wird schnell deutlich, warum die Wissenschaftler in der Studie, die im Fachmagazin „The Lancet“ veröffentlicht wurde, von einer „Proof-of-concept-Demonstration" sprechen. Die Neuro-Prothese funktioniert, aber sie ist bisher alles andere als alltagstauglich. Schauen wir sie uns genauer an.
Kochevar wurden Sensoren ins Gehirn gepflanzt, die Signale aus dem Motorcortex aufzeichnen. Diese Hirnregion ist für willentliche Bewegungen des Körpers zuständig. Die Implantate sind - noch wenig elegant - per Kabel mit einem Computer verbunden.
Der entschlüsselt die Signale und wandelt sie in Befehle um, die an die Elektroden in Kochevars rechtem Ober- und Unterarm gesendet werden. Per Funktioneller Elektrostimulation (FES) werden die Muskeln gezielt zur Kontraktion gebracht. Der Arm bewegt sich. Dabei liegt er in einer mobilen Stütze, die den Muskeln die Bewegung erleichtert.
Doch woher weiß der Computer, welche Signale aus dem Gehirn welche Bewegungen anweisen sollen?
Bevor Kochevar die Neuro-Prothese einsetzen konnte, musste er vier Monate in einer Virtuellen Realität trainieren. Dabei sollte er sich vorstellen, zum Beispiel sein Handgelenk zu drehen oder mit den Fingern nach etwas zu greifen.
Auf einem Bildschirm sah er währenddessen einen virtuellen Arm, der die Bewegungen zunehmend besser ausführte. Der zwischengeschaltete Computer lernte in der Phase, die Hirnsignale richtig zu interpretieren.
Auch wenn die Apparatur noch grobschlächtig wirkt: Für Kochevar bedeutet sie einen Zugewinn an Unabhängigkeit:
Ich bin immer noch jedes einzelne Mal beeindruckt, wenn ich etwas mache, es ist unglaublich.
Die Forscher um Dr. Ajiboye glauben, dass sie mit der Demonstration erst an der Oberfläche der Möglichkeiten gekratzt haben. In Zukunft sollen alle Verbindungen kabellos sein und die Elektroden unsichtbar unter der Haut liegen. „Es gibt Raum für bedeutende Weiterentwicklungen“, so formuliert Ajiboye es in dem Video.
Sollte die Forschung in den nächsten Jahren entsprechende Erfolge feiern, würde dies die Lebensqualität von Menschen mit Lähmungen erheblich steigern.
Dass Bill Kochevar jemals wieder Fahrradfahren können wird, ist unwahrscheinlich. Doch er ist dankbar für das, was ihm die Wissenschaftler ermöglichen und wird weiter mit ihnen zusammenarbeiten. „Ja, ich bin verletzt, aber es ist nicht so, dass mein Leben geendet hätte, als ich verletzt wurde.“