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Uwe Schieferdecker/ck

Es rumorte in Dresden

Dresden. Kleine Zeitreise: Ein Schrei des Entsetzens ging 1903 durch das Deutsche Reich: Bei den Wahlen zum Reichstag erhielt die SPD 100.000 Stimmen mehr, als alle bürgerlichen Parteien zusammen.

Die Residenzstadt Dresden war komplett »rot«, in ganz Sachsen vermochten sich die bürgerlichen Ordnungsparteien einzig im Wahlkreis Bautzen-Kamenz durchzusetzen. Die Bezeichnung »Rotes Königreich« machte die Runde.

Der Denkzettel der Sachsen war deutlich. Zwar war das Land wirtschaftlich führend im Reich, doch viele Einwohner spürten davon wenig. Dabei analysierte das »Berliner Tageblatt«, die Sachsen hätten sächsische Dinge mit Angelegenheiten des Reiches vermengt. Durch Einführung des reaktionären Dreiklassenwahlrechts hätte man »glücklich erreicht, dass kein Sozialdemokrat die heiligen Hallen des sächsischen Ständehauses entweiht. Ist damit die Sozialdemokratie aus Sachsen verschwunden?«, fragte das Berliner Blatt. Gerade die Dresdner straften mit dem klaren Votum die unglückliche Rolle des Hofes unter dem bigotten König Georg in der Affäre um die Flucht der Kronprinzessin Luise ab. Jeder neue Aufenthaltsort, die Treffen mit ihrem Liebhaber Giron oder die Geburt der nun nicht mehr königlichen Tochter im Mai 1903 beschäftigten die Dresdner Gazetten.

 

Dresdner Parteitag

 

Im September 1903 versammelten sich mit großem Rückenwind 263 Delegierte zum »Dresdner Parteitag« der Sozialdemokraten. Das Forum im Trianon am Schützenplatz vereinte große Namen: Clara Zetkin, Karl Liebknecht, Karl Kautsky und Rosa Luxemburg – doch die beherrschende Figur war einmal mehr August Bebel (1840-1913). Die Dresdner Neuesten Nachrichten schrieben: »Er wird jedes Jahr jünger. Haar und Spitzbart sind weiß, aber das charakteristische Gesicht mit dem eckigen Profil und den weichen, freundlichen Linien um die Augen ist frisch und lebendig wie immer.«

Letztmalig sollten sich auf dem Dresdner Parteitag die Marxisten durchsetzen. Die Beschlüsse wurden von den sogenannten Revisionisten, zu denen auch die Dresdner Sozialdemokraten gehörten, später ignoriert. Dabei blieb die soziale Lage breiter Teile der Bevölkerung prekär. Die Hälfte der Arbeiterhaushalte verfügte 1905 über keinerlei Ersparnisse, bei jedem vierten Haushalt reichten die Betten »nicht für die nötigsten Bedürfnisse«. Bis 1905 stiegen die Fleischpreise um ein Drittel.

 

Auseinandersetzung um das Wahlrecht

 

Die Dresdner Stadtverordneten beschlossen im Juli 1905 eine undemokratische Gewichtung der Stimmen nach sozialer Zugehörigkeit und Dauer des Bürgerrechts. Von den Zuschauertribünen flogen daraufhin Stinkbomben in den ehrwürdigen Saal. Prompt spitzten sich daraufhin die Auseinandersetzungen um das Wahlrecht zu. Im Dresdner Trianon geißelte der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Wilhelm Bock die Zustände: »Die Menschen werden unfrei und mit ungleichen Rechten geboren und bleiben unfrei!«

Bei den Wahlen im September 1905 schafften es nur sechs Sozialdemokraten in die Stadtverordnetenversammlung der viertgrößten deutschen Stadt. In der Folge versammelten sich am 3. Dezember in Dresden 80.000 Menschen zu Wahlrechtsversammlungen. Erstmals seit dem Märzaufstand von 1849 marschierten wütende Bürger in die innere Altstadt, wo seit Jahrzehnten ein Versammlungsverbot herrschte. Die konservative Dresdner Sozialdemokratie verlegte sich auf parlamentarische Verhandlungen, die ergebnislos blieben. Es sollte bis zur Novemberrevolution 1918/19 dauern, dass in Dresden und Sachsen ein demokratisches Wahlrecht, auch für Frauen, Einzug hielt.


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