NATION UND SPRACHE
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NATION UND SPRACHE
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<strong>NATION</strong> <strong>UND</strong> <strong>SPRACHE</strong><br />
Elisabeth Simon<br />
"Nation und Sprache" 1 nennt de Gardt das von ihm herausgegebene Buch, das 1. die historische<br />
Dimension des Deutschen, 2. das Deutsche in der Gegenwart und 3. die Sprachen Europas<br />
und der Welt diskutiert. Sprache ist nicht nur ein Gegenstand der Germanistik und Literaturwissenschaft<br />
sondern auch der Geschichte, Linguistik, Theologie und zunehmend der Medizin<br />
und Biochemie. Seitdem man weiß, daß unser Sprachvermögen nicht in einem Zentrum im<br />
Gehirn angesiedelt ist - so die Meinung viele Jahre lang -, sondern sich auf das gesamte Gehirn<br />
verteilt, hat die Neurologie neue Räume der Forschung erschlossen. Man weiß heute auch, daß<br />
die Sprache wie die Musik von emotionalen Verbindungen lebt. Dies bescheinigt der modernen,<br />
intellektuell bestimmten, abstrakten Musik der 60er und 70er Jahre z.B. keine guten Aussichten<br />
auf die Liebe ihrer Zuhörer. Damit erhält auch der Aufsatz von Heinrich von Kleist: "Über die<br />
allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" eine ganz neue Aktualität. 2<br />
Diese Linie ließ sich fortsetzen von Luther bis zu Heidegger und dem Philosophen George<br />
Steiner, der sich mit den philosophischen und psychologischen Räumen der Sprache in unserem<br />
Dasein auseinandersetzt. 3 Dieses könnte uns hier Tage beschäftigen, soll aber nicht der Gegenstand<br />
dieser kurzen Ausführungen sein, die die Aufmerksamkeit auf das Jahr der Sprachen lenken<br />
soll, das die EU in diesem Jahr ausgerufen hat und das auch neue Formen der Sprachvermittlung<br />
für ein zukünftiges Europa in den Raum stellt.<br />
l. Sprache als Instrument nationaler Identifikation<br />
„Nation“ soll uns ebenfalls nur am Rande beschäftigen, obwohl dieses Thema - auch durch<br />
die Entwicklung in Mittel und Osteuropa, ganz besonders in Südosteuropa wie in Rumänien -<br />
heute von großer Wichtigkeit und Aktualität ist, da Traditionen und kulturelle Entwürfe von<br />
langer Dauer sichtbar werden und das zukünftige politische Bild Europas bestimmen könnten.<br />
Dieses könnte die Entwicklung eines Europas bedingen, das sich wesentlich von dem Bild unterscheidet,<br />
was heute für diesen Kontinent in Zukunft entworfen wird. 4<br />
Nationalismus ist vor allem ein historisches Prinzip, das besagt, das politische und nationale Einheiten<br />
deckungsgleich sein sollten. Nationalismus als Empfindung - oder Bewegung - läßt sich am<br />
besten mit Hilfe dieses Prinzips definieren. Das Nationalgefühl ist die Empfindung von Zorn über die<br />
1<br />
Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Von Andreas Gardt. Berlin,<br />
New York, 2000. 924 S.<br />
2<br />
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band. Kunst und Weltbetrachtung Hrsg. Von Helmut Sembdner,<br />
München 1952, S. 321-327.<br />
3<br />
George Steiner: Langage et science.<br />
4<br />
Heinz Schilling: Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Nationale und kulturelle Identität.<br />
Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Giesen, Frankfurt a.M.<br />
1991, 577 S. Er weist nach, daß die säkulare Definition moderner Gesellschaften, die darauf achtet, daß politische und<br />
soziale Strukturen möglichst autonom bleiben, durch die Ereignisse in Polen, einigen Sowjetrepubliken und ansatzweise<br />
in Rumänien in Frage gestellt wird. Kirchen und Glaube können politische Instanzen sein, die wesentlich dazu<br />
beitragen, ganze Völker zu gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Handeln zusammenzuführen.
Nation und Sprache<br />
Verletzung des Prinzips oder von Befriedigung angesichts seiner Erfüllung, eine nationalistische Bewegung<br />
wird durch eine derartige Empfindung angetrieben. 5<br />
Wenn also Karl dem IV., dem Luxenburger und späteren Kaiser des Heiligen Römischen Reiches<br />
deutscher Nation von den deutschen Kurfürsten die Stimme in ihrem Gremium wegen<br />
mangelnder Deutschkenntnisse versagt wurde, so mögen die wahren politischen Gründe für<br />
diese Ablehnung der anderen Fürsten vielleicht andere Beweggründe gehabt haben, die uns<br />
heute nicht bekannt sind. Es kann aber sein, daß diese nationale Begründung für die Charakterisierung<br />
dieses beliebten böhmischen Königs im nachhinein gefunden wurde. Es ist nämlich<br />
vielmehr wahrscheinlich, daß die Umgebung des Kaisers als „Umgangssprache“ auch zu dieser<br />
Zeit noch Latein sprach. Die Beherrschung der tschechischen Sprache durch diesen Herrscher<br />
mag aber ein weiterer Aspekt in der Skala der Beliebtheit dieses Kaisers und böhmischen Königs<br />
sein, dessen nationaler Mythos als Errichter der Hungermauer heute noch lebendig ist. 6 Aber<br />
auch die Gründung der Universität von Prag mag die Definition als Sprachnation gefördert haben,<br />
da hier - wie auch an der neu gegründeten Universität von Padua – die Universitätskörperschaften<br />
als Sprachnationen definiert wurden. 7<br />
Diese Beobachtung um den Kaiser Karl IV. soll aber andeuten, daß Sprache zunehmend zur<br />
nationalen Identifikation beitrug. So waren die Deutschen seit dem Ende des 11. Jahrhunderts<br />
eine prinzipiell durch ihre Sprache definierte Nation 8 mit beträchtlichen regionalen Unterschieden,<br />
wie man heute noch weiß. Diese deutsche Nation war als politische Größe nur<br />
indirekt begreifbar und berief sich auf ein Imperium, das eschatologische Züge aufwies und daß<br />
nicht nur die deutschen Lande sondern auch die spanischen Stände Karls V umfaßte. Von dort<br />
führt die Linie zu den Reden von Johann Gottlieb Fichte 9 und der Definition der „Kulturnation“.<br />
Das Aufkommen eines patriotisch motivierten Nationalsprachenbewußtseins findet seine ersten<br />
Gründe in den veränderten sprachkulturellen Rahmenbedingungen. Im Zuge der frühneuzeitlichen<br />
Territorialisierung entstehen neue politische Ordnung- und Gemeinschaftsvorstellungen. Der Sinn<br />
für den Staat als Gebietskörperschaft ist endgültig erwacht. Staatliche Einheiten sind jetzt im politischen<br />
Bewußtsein stärker als territoriale Manifestationen mit allen ihren Begleitkomponenten repräsentiert<br />
als feudalrechtliche personale Lehnsverbände. 10<br />
Wir können hier nur einige generelle Beobachtungen aufzeigen, ohne auf dieses komplexe<br />
Gebilde wie Territorialisierung und Herausbildung des frühneuzeitlichen Staates, der dann zu<br />
der Konstitution der Nationalstaaten führte, einzugehen. Wenn aber die Sprache als Identität<br />
stiftendes Element einer Kulturnation anzusehen ist, so führten die Bildung der Nationalstaaten<br />
und die kulturellen Wurzeln der jeweiligen „Regionalstaaten“ in fast allen Ländern Europas zu<br />
Konflikten, die heute noch sichtbar und nicht überwunden sind. Diese Konflikte beeinflussen<br />
das kulturelle und soziale Leben besonders, wenn sich eine Sprachgruppe auch sozial von der<br />
anderen absetzt, Belgien und auch Kanada sind gute Beispiele dafür.<br />
5<br />
Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Hamburg 1995, S. 8.<br />
6<br />
Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Hrsg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen<br />
Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmuth Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20.<br />
März 1998 bis 9. Juni 1998. Emmanuel Dité, Der Bau der Hungermauer zur Zeit Karls IV. vor 1891, S. 393.<br />
7<br />
Heinz Thomas: Sprache und Nation, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 91.<br />
8<br />
Heinz Tomas: Sprache und Nation, a.a.O., S. 95.<br />
9<br />
Johann Gottlieb Fichte: Reden an die Deutsche Nation. Mit einer Einleitung von Reinhard Lauth. 5. durchgesehene<br />
Auflage. Hamburg 1978, XLI, 268 S.<br />
10<br />
Joachim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation. In: Nation und Sprache, a.a.O., S. 113.<br />
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Elisabeth Simon<br />
2. Muttersprache – Fremdsprache – Sprachen in Europa<br />
Es gab keinen Nationalstaat in Europa, in dem sich Landesgrenzen mit denen der Sprache<br />
decken und diese Konflikte haben sich mit der zunehmenden Herausbildung eines gemeinsamen<br />
Europas nicht verringert, besonders dort nicht, wo die „fremdsprachige<br />
Bevölkerungsgrupe“ die Herrschaft ausübte, wie zum Beispiel in Großbritannien. Die Muttersprache<br />
muß also nicht die Landessprache sein, wie zum Beispiel in Frankreich und Spanien. Die<br />
Staatssprache kann aber auch eine Fremdsprache sein, wie jahrelang in Moldawien, in dem<br />
Russisch die Staatssprache war, bis es nach dem Fall der kommunistischen Mauer durch<br />
Rumänisch abgelöst wurde. Die Muttersprache mag wohl ein Instrument nationaler Identifikation<br />
sein, ist aber in diesen Fällen nicht deckungsgleich mit der Sprache des Vaterlandes. 11<br />
Dieses auf Sprache gegründete Nationalgefühl war den europäischen Völkern bis 1500<br />
weitgehend fremd. 12 Mit der Ausbildung des Territorialstaats wurde die Sprache aber zur kulturellen<br />
Identifikation des sich im 18. Jahrhundert ausbildenden Nationalstaates und damit zu<br />
einem politischen Konfliktpotential bis zur Moderne und in unsere Zeit. Man muß sich vor Augen<br />
halten, daß die Waliser trotz gegenteiliger Gesetzgebung und starker sozialer und politischer<br />
Benachteiligung ihre Sprache bewahrten, wobei zu untersuchen wäre, wieweit das durch<br />
die Bindung der Sprache mit dem religiösen Bereich bedingt war. Obwohl in den letzten Jahren<br />
ein Wechsel zum Englischen beobachtet werden kann, ist das Walisische als Merkmal einer<br />
nationalen Identität nicht ersetzbar. So kommt es zu der merkwürdigen Situation, daß das Nationalgefühl<br />
der Waliser sehr stark durch eine Sprache bestimmt wird, die aber nur 18% der<br />
Bevölkerung beherrschen 13 . Ähnlich verhält es sich mit dem Schottischen, das in den letzten<br />
Jahren, bedingt durch die stärkere Hinwendung zur schottischen Geschichte und Kultur, ein<br />
Revival erlebt. Schottland hat (wie wir es auch im Falle von Walisisch gesehen haben) eine dominierende<br />
Sprache: Englisch. Damit ist eine einheimische zweisprachige Basis mit Statusproblemen<br />
entstatanden. Es gibt auch etablierte Sprachen, die von den Einwanderern gesprochen<br />
werden. Bei allen diesen Sprachen treten angesichts der gegenwärtigen Phase der<br />
legalen und politischen Veränderungen Probleme auf, die die Stellung und Präsenz betreffen.<br />
Für Schottland begann am 6. Mai 1999 mit der Loslösung der parlamentarischen Aufgaben vom<br />
Westminster Parlament in London und der Einrichtung eines schottischen Parlaments in<br />
Edinburgh in Holyrood eine neue Ära. 14<br />
Nornisch, Kornisch, Manisch und Gälisch sind andere Sprachen Großbritanniens, die zum<br />
Teil heute wiederbelebt werden, aber keinen Platz mehr als gesprochene Muttersprachen haben.<br />
Der Erhalt dieser Sprachen und ihrer Texte, ihre Übersetzungen und Überlieferungen gehören<br />
zu den großen ungelösten Fragen der „europäischen Kultur“. Diese Probleme erfordern<br />
eine neue und intensive Zusammenarbeit zwischen Forschung und Lehre, Archiv, Verlag und<br />
Bibliothek. Mit einem Aufsehen erregenden Buch hat Karl Markus Gauß auf die „sterbenden<br />
Europäer“ aufmerksam gemacht. Seine Reisen zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen,<br />
Arbereshen und Sepharden von Sarajevo lehren uns das Staunen über den Reichtum<br />
11<br />
Vergleiche dazu: Gotthard Lerchner: Nation und Sprache im Spannungsfeld zwischen Sprachwissenschaft und Politik<br />
in der Bundesrepublik und der DDR bis 1989, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 297.<br />
12<br />
Manfred Görlach: Nation und Sprache: Das Englische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 614.<br />
13<br />
Manfred Görlach, a.a.O., S. 617.<br />
14<br />
Wendy Axford: Die englischen und die schottischen Sprachen im Kontext der Sprachen von Großbritannien. In: Literatur<br />
und Sprache. Ausländische Literatur und Spracherwerb durch Bibliotheken. Literature and Language. Foreign<br />
Literature and Language Skills by and with Libraries. Proceedings des internationalen Seminars 1999 /of the international<br />
seminar 1999., deutsch/englisch, S. 53-75.<br />
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Nation und Sprache<br />
Europas. Diesen Reichtum können wir uns erhalten - vergessene Stämme und Kulturen, die bei<br />
der Bildung der Nationalstaaten an den Rand gedrängt wurden. 15<br />
Ein anderes Beispiel: Sprachen in Spanien zeigen eine Entwicklung, die im Vergleich mit<br />
Großbritannien in eine andere Richtung läuft. Spanien ist ein mehrsprachiges Land, in dem sich<br />
im Laufe der Zeit das Kastilische als Staatssprache durchgesetzt hat. Das Katalanische war dem<br />
gegenüber genau so weit verbreitet, erstreckte sich aber über zwei Staaten: Spanien und Frankreich<br />
(Süden). Das Verhältnis von Sprache und Nation ist heute ein ungelöstes Problem in<br />
Spanien, was teilweise die Attentate der ETA deutlich machen. Das Spanische (Kastilische) ist<br />
nur als Amts- und Staatssprache statuiert, wobei eine gewisse Distanz allen denjenigen Spaniern<br />
erlaubt ist, die andere Muttersprachen sprechen. Tatsächlich erklärt das Autonomiestatut<br />
(Generalitat de Catalunya, 1979) das Katalanische zur „eigenen“ und zur „offiziellen“ Sprache,<br />
das wiederum „Kastilisch“ genannte Spanisch nur zur kooffiziellen Sprache der Autonomen<br />
Gemeinschaft. Es entstehen die geradezu paradoxe Situation, daß die staatlich unabhängige<br />
Nation über eine Sprache verfügt, welche ihre Angehörigen nur kennen aber nicht sprechen<br />
müssen, während die nur autonome Nationalität eine ihr eigene Sprache besitzt. Insofern stehen<br />
heute in Spanien Nationalität und Sprache in einem weit engeren Zusammenhang als Nation<br />
und Sprache. 16 Wir finden also in Spanien die Situation, daß in einem gesamtstaatlichen<br />
Zusammenhang die Vertreter der verschiedenen Regionen in ihrer Muttersprache sprachen:<br />
Katalanisch, Galizisch und Baskisch, wobei zu erwähnen ist, daß Baskisch nicht zu den indogermanischen<br />
Sprachen gehört.<br />
Wie schon kurz angedeutet, verbinden sich die Unterdrückung einer Sprache, mag das nun<br />
politisch gewollt sein oder sich aus den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ergeben,<br />
mit nationalen und oft sozialen Ressentiments. Dieses war in Walisien der Fall, als den Kindern<br />
untersagt wurde, walisisch zu sprechen und das Land nicht die gewünschte Zweisprachigkeit<br />
erhielt. Der soziale und politische Machtfaktor verbindet sich dann mit der Landessprache 17 , die<br />
nicht die Muttersprache ist und damit für zusätzlichen Konfliktstoff sorgt. Das vorliegende<br />
Buch „Nation und Sprache“ von de Gruyter führt hierzu als Beispiel aus Mitteleuropa das<br />
Tschechische und Slovakische an. Es ist bezeichnend, daß für alle Staaten, in denen der Nationalismus<br />
eine besondere Schubkraft in den letzten Jahren entwickelte, generell gilt, daß die<br />
Muttersprache durch die vorherrschende Landes- oder Staatssprache – sehr oft das Russische –<br />
überdeckt wurde: nämlich Moldawien, die Ukraine und Weißrußland. Die slovakische Republik<br />
hat sich in vielerlei Hinsicht durch den tschechischen Bruder unterdrückt gefühlt, was nach<br />
1989 zur Betonung der eigenen Sprache führte. Dieses ist ein besonders krasser Fall einer nationalen<br />
Überhöhung des Sprachgebrauchs, weil beide Sprachen sich wirklich sehr ähneln, so<br />
daß Vertreter beider Sprachen miteinander kommunizieren können.<br />
Wenn wir Europa verlassen, so sei hier Kasachstan genannt, dessen nationale Erweckung zu<br />
einer besonders rigiden Anwendung der „Muttersprache“ Kasachisch führte, die - darin dem<br />
Walisischen vergleichbar - nur von einem Bruchteil der Bevölkerung korrekt gesprochen wird,<br />
was große Probleme für die Erziehung und Ausbildung mit sich brachte. 18 Nun mag man mei-<br />
15<br />
Karl Markus Gauß: Die sterbenden Europäer. Unterwegs zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arbereshen<br />
und den Sepharden von Zarajevo. Wien 2001, 240 S.<br />
16<br />
Franz Lebsanft: Nation und Sprache: Das Spanische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 636.<br />
17<br />
Tilmann Berger: Nation und Sprache: das Tschechische und das Slovakische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 825-<br />
864.<br />
18<br />
Die Bibliothekarische Auslandsstelle am Deutschen Bibliotheksinstitut führte im Jahr 1997 ein Seminar zum Thema<br />
Bibliotheksmanagement durch. Der Entschluß, dieses Seminar in Russisch zu halten, basierte auf praktischen Überlegungen,<br />
das Seminar nicht durch zusätzliche Sprachprobleme zu belasten. Trotzdem welchselte die Direktorin der Na-<br />
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nen, daß die Länder außerhalb Europas bei dieser Diskussion nur mittelbar beteiligt sind. Dies<br />
ist ein Irrtum, denn sowohl innerhalb Europas durch die laufende Einwanderung, die die europäischen<br />
Staaten zu multikulturellen umwandeln wird, als auch außerhalb Europas durch die<br />
zunehmende Internationalisierung und Gobalisierung werden Anwendung und Beherrschung<br />
von Fremdsprachen auch das Gesicht von Europa bestimmen.<br />
3. Sprachunterricht – Sprache als Kommunikationsmittel – Ausländische Literatur.<br />
Konzepte des Lebenslangen Lernens und die Rolle von Bibliotheken<br />
Das Erlernen der Muttersprache geht einher mit dem Erwerb der Fähigkeit, sprachliche Äußerungen<br />
zu verstehen und situationsgerecht anzuwenden […] dem Erwerb eines Systems von Benennungen<br />
und Begriffen, die die Umwelt erfassen und gliedern […] Dieses steht mit der kognitiven Entwicklung<br />
in enger Wechselbeziehung. 19<br />
Hier kann auch nicht weiter auf die schichtenspezifischen Unterschiede des Spracherwerbs<br />
eingegangen werden, die der generellen Forderung nach Dreisprachigkeit des zukünftigen europäischen<br />
Bürgers mindestens ein Fragezeichen entgegen setzen. Der Spracherwerb und die<br />
Sprachbarrieren determinieren heute nicht nur den Umgang mit der sogenannten information<br />
literacy 20 , sondern sie bestimmen auch weitgehend den Erfolg oder Mißerfolg beim Erlernen<br />
von Fremdsprachen.<br />
Im Humanismus waren die beiden Sprachen funktional verschieden: Der Laie sprach<br />
Deutsch, der Gelehrte Lateinisch und in den meisten Fällen nicht nur dies, sondern auch Griechisch<br />
und Hebräisch. Dieser internationale Sprachenkanon garantierte auch die internationale<br />
Verständigung mit dem europäischen Wissenstausch und Briefwechsel, der uns heute noch<br />
erstaunt. Diese zwei Sprachkulturen, z.B. der lateinischen und der deutschen Sprache, bilden<br />
auch schichtenspezifische Sprachenrollen, soziale Strukturen und mit dem ständischen Gefälle<br />
verbundene immanente Sprach- und Bildungsbarrieren. 21<br />
Wie stark der Spracherweb in der Kindheit und damit auch das Erlernen von Fremdsprachen<br />
von dem sozialen Gefüge der Umwelt determiniert ist, möge jene hübsche Geschichte von dem<br />
Pharao unterstreichen, der einem Hirten zwei Kinder zur Aufzucht gab. Diese sollten in einem<br />
Raum mit nur Ziegen zu ihrer Nahrung aufwachsen. Keiner durfte mit ihnen sprechen, weil der<br />
Pharao wissen wollte, was für ein Wort die Kinder wohl zuerst aussprechen würden, wenn sie<br />
das Alter des Lallens hinter sich hätten. Nachdem man das ins Werk gesetzt hatte, öffnete man<br />
die Tür, wobei die Kinder ihnen das Wort bekos (ähnliche dem Meckern der Ziegen) entgegen<br />
riefen und die Hände entgegen streckten. Nachdem der Pharao erforscht hatte, daß dieses Wort<br />
tionalbibliothek in ihrer Begrüßung vom Russischen ins Kasachische. Glücklicherweise war die ausgezeichnete Übersetzerin<br />
diesem Sprachwechsel gewachsen. So verständlich der Einsatz für die Muttersprache und für die sich neu<br />
konstituierende Nation ist, so bedauerlich ist es, wenn dieser zu Status- und Machtdemonstrationen mißbraucht wird.<br />
19 Theodor Lewandowski: Linguistisches Wörterbuch, Bd. 3, Heidelberg 1976, S. 699f: Spracherwerb.<br />
20 Myoung Wilson: In Daten ertrunken und durstig nach Wissen. Wie „information literacy“ gelehrt wird. Die Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft, in: Informationsversorgung Politik und Strategie/Information Provision, Politics and<br />
Strategy. Proceedings des internationalen Seminars /of the international seminar 1998 der Bibliothekarischen Auslandsstelle<br />
am Deutschen Bibliotheksinstitut 1998, S. 414-445.<br />
21 Jochim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 107.<br />
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Nation und Sprache<br />
Brot bei den Phrygern bedeutete, räumte man den Phrygern den ersten Platz als ältestes Volk<br />
ein. 22 Man wußte damals noch nicht, daß die ersten Sprachübungen der Kinder auf Nachahmung<br />
beruhen und das beginnend mit den ersten Lebenswochen.<br />
Spracherwerb und Sprachbarrieren bestimmen weitgehend das intellektuelle und soziale<br />
Schicksal jedes Einzelnen, wie es heute mit der wieder aufgenommenen Diskussion um Integration<br />
und Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit auch als Problem in der öffentlichen Diskussion<br />
neu thematisiert wird. In fast allen Staaten ist der Erwerb der Staatsangehörigkeit mit<br />
dem Erlernen der Landessprache verknüpft (so müssen z.B. Deutsche, die in die Schweiz einwandern<br />
eine Prüfung in Schweizerdeutsch machen). Leider sind in der Bundesrepublik bis jetzt<br />
keine bindenden Standards erarbeitet worden. Die Beherrschung der Landessprache ist aber<br />
notwendig, will man keine Unterklasse schaffen, die von dem sozialen und kulturellen Leben<br />
eines Staates ausgeschlossen ist. 23<br />
In Europa erfolgte die Identifizierung mit der eigenen Nationalsprache über die Ablösung<br />
des Lateinischen und Französischen, vor allem in öffentlichen und wissenschaftlichen Texten. 24<br />
Heute läßt sich gerade bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte wiederum eine Veränderung<br />
beobachten. Diese erscheinen meist in Englisch. Deutsche Wissenschaftler veröffentlichen<br />
50-30% ihrer Texte generell in Englisch, vorherrschend auf den Gebieten der Naturwissenschaft<br />
und Wirtschaft. Aber auch in den Geisteswissenschaften wird das Englische zur<br />
vorherrschenden Wissenschaftssprache. Das mag viele Gründe haben, einer liegt bestimmt in<br />
dem Fortschritt der Informationstechnologie in den USA, so daß die Präsenz in weltweit angebotenen<br />
Datenbanken und auch im Netz sehr oft einen Text in Englisch oder Amerikanisch<br />
erfordert. 25<br />
Im 19. Jahrhundert gab es keinen Zweifel darüber, daß die Sprache der Briten ein Herrschaftsinstrument<br />
weltweit wurde, ob sie nun durch Kaufleute, Missionare, Verwalter oder die<br />
Armee vertreten wurde. 26 Das Englische breitete sich durch die Kolonialmacht Großbritanniens<br />
und die Politik des Dominiums weltweit aus, so daß sie auch außerhalb des angelsächsischen<br />
Raumes - USA, Australien Kanada - zur Staatssprache wurde, so z.B. in Singapur oder zur vorherrschenden<br />
Sprache der Oberschicht, der Kaufleute, der Wirtschaft und der Banken wurde.<br />
Englisch ist heute die Lingua Franca vieler Länder und Gebiete. Der Vergleich der Sprachen auf<br />
Grund einer hohen Anzahl von Menschen, die diese Sprache sprechen, verstellt den Blick. Sowohl<br />
Chinesisch als auch Spanisch werden von einer größeren Anzahl von Menschen gesprochen<br />
als Englisch. Deutsch ist die auf dem europäischen Kontinent am meisten verbreitete<br />
Sprache. Trotzdem erreichen diese Sprachen keine dem Englischen vergleichbare kulturelle und<br />
wirtschaftliche Stellung.<br />
22<br />
Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu hrsg. und erl. von H. W. Haussig mit<br />
einer Einl. von W. F. Otto. 3. Aufl. Stuttgart 1963, S. 99f.<br />
23<br />
Großbritannien und die angelsächsischen Länder haben zu diesem Problem ein entspanntes Verhältnis. Das zeigt sich<br />
zum Beispiel auch daran, daß der British Concil alle offiziellen Besucher, die auf Grund des Kulturabkommens nach<br />
England eingeladen wurden, einer informellen Sprachüberprüfung unterzogen wurden.<br />
24<br />
Manfred Görlach, a.a.O., S. 615.<br />
25<br />
Die erste Veröffentlichung meiner Tochter Ruth Simon erfolgte in den USA im Rahmen einer renommierten historischen<br />
Zeitschrift der University of Virginia, die mit Hilfe eines von der Bundesregierung geförderten Projekts elektronisch<br />
angeboten wird.<br />
26<br />
Vgl. dazu Görlach, a.a.O., S. 616.<br />
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Elisabeth Simon<br />
4. Die Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission. Projekte und<br />
Möglichkeiten<br />
Europa hat zur Zeit noch keine Identitätskraft für seine Bewohner entwickelt. Die Sprache<br />
als Identitätsfaktor, wie er mit allen Problemen in den Staaten und Regionen Europas wirksam<br />
wurde, ist für Europa insgesamt nicht anwendbar. Desto wichtiger ist es, die Möglichkeiten der<br />
Kommunikation über die Sprache zwischen den Völkern zu stärken, denn über die Sprache finden<br />
die einzelnen Nationen einen stärkeren Zugang zu dem Nachbarn, so daß die Kommunikation<br />
zwischen den Ländern Europas den Dialog und zwar nicht nur sprachlich sondern auch<br />
kulturell fördert. Dadurch könnte es möglich sein, daß dem Wirtschaftsraum Europa der Staatenbund<br />
Europa folgt. Aus diesem Grund wurde das von der EU organisierte Jahr der Sprachen<br />
einhellig begrüßt. 27<br />
Das Vorhaben versucht, nicht nur bestimmte Projekte anzustoßen, sondern auch jedermann<br />
anzusprechen: “Jeder kann Sprachen lernen, ohne Rücksicht auf Alter Herkunft oder Beruf und<br />
jeder kann von den Vorteilen profitieren. Mit modernen Methoden macht das Lernen sogar<br />
Spaß.“ Europäische Kommission und Europarat haben dazu einen Leitfaden herausgegeben,<br />
„Sprachenlernen für alle“, und ein Logo entwickelt, eine Art Eidechse. Diese Hinwendung zu<br />
einem allgemeinen Publikum wird ausdrücklich in dem Informationstext betont. Die zentrale<br />
Botschaft lautet wir folgt: „Fremdsprachen lernen öffnet die Türen und jeder kann es“. Das ist<br />
sehr nützlich und gut, fragt sich nur, wie viele Menschen damit wirklich erreicht werden, denn<br />
diese Texte sind alle nur durch das Internet abrufbar. Den ersten Ausschreibungstext hatte ich<br />
während eines Seminars in Cluj zum Anlaß genommen, mit Studenten ein europäisches Projekt<br />
ansatzweise zu entwickeln. 28<br />
Diese Initiative umfaßte nur Länder der EU, so daß sich z.B. die Untersuchungen auf die<br />
westlichen Sprachen konzentrieren. Auch der Leitfaden für die Antragsstellung zeigt dies ganz<br />
deutlich. Antragsstellung und Information laufen über nationale Koordinierungsstellen und<br />
diese sind nur in den Ländern der EU eingerichtet. Trotz dieser Enttäuschung – hätte man sich<br />
angesichts der sich entwickelnden Europäischen Gemeinschaft mit der Osterweiterung doch die<br />
Einbeziehung zumindest einiger Länder Mittel- und Osteuropas gewünscht – ist der veröffentlichte<br />
Eurobarometer Report 54 für unser Thema wichtig. Neben Informationen, die wir schon<br />
kennen, daß z.B. die Muttersprache oft nicht identisch mit der Nationalsprache ist, daß man als<br />
dritte Fremdsprache der EU-Bürger das Deutsche betrachtet – sind besonders die Befragungen<br />
zum Thema Fremdsprachenerwerb wichtig und interessant.<br />
Bevor einige Vergleichsdaten zum Spracherwerb in europäischen Ländern aufgeführt werden,<br />
sind zwei Beobachtungen für zukünftiges Handeln wichtig: Die erste betrifft Deutschland.<br />
Der Prozentsatz derjenigen, die Spracherwerb nicht für wichtig halten, ist in den neuen<br />
Bundesländern besonders hoch, nämlich 39% – im Vergleich dazu, halten generell 74 % der<br />
Befragten Fremdsprachenerwerb für sehr wichtig. Auf der anderen Seite glaubt der überwiegende<br />
Teil der Bevölkerung in Ostdeutschland, daß Spracherwerb für die berufliche Ausbildung<br />
und das berufliche Auskommen der Jugendlichen wichtig sind, nämlich 100% aller<br />
Eltern. Dieses diffuse Bild könnte nicht so sehr viel über die Einschätzung des Fremdsprachenerwerbes<br />
aussagen als vielmehr der Ausdruck einer allgemeinen negativen depressiven Haltung<br />
27 http://europa.eu.int/comm/education/languages/actions/year2001htm<br />
28 siehe Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft vom 8.4.2000.<br />
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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Nation und Sprache<br />
der Menschen in den neuen Bundesländern Deutschlands gegenüber der gegenwärtigen<br />
Situation sein.<br />
Das Ergebnis der Befragung, wann und wie man Sprachen lernt, ist für die zukünftige Entwicklung<br />
der Didaktik besonders wichtig. Ein großer Teil der Befragten gab an, daß die Zeit zum<br />
Erlernen einer Sprache fehlt. Das ist realistisch und legt offen dar, daß die Anstrengung und die<br />
Zeit zum Erwerb einer Fremdsprache sehr oft falsch eingeschätzt werden. Das mag auch erklären,<br />
warum nach 3 bis 6 Monaten die meisten Sprachenschüler die Fremdsprachenschule<br />
verlassen. Es bleiben in den Kursen meist nicht mehr als 10 % der Studenten übrig, die sich am<br />
Anfang angemeldet hatten.<br />
Weniger häufig wurde angegeben, daß es an Gelegenheiten fehlte, was darauf schließen<br />
läßt, daß das Angebot zum Erwerb einer Fremdsprache recht gut ist. Die meisten Befragten<br />
gaben an, daß sie die Sprache bei einem Aufenthalt im Lande erlernen wollten. Die bessere<br />
Verständigung für Ferien im Lande wurde häufig als Grund für den Erwerb einer Fremdsprache<br />
angegeben – ein Beweis dafür, daß der viel gescholtene Tourismus sehr positive kulturelle Auswirkungen<br />
haben kann. Dieses Ergebnis gibt den Veranstaltern von Sprachreisen Recht. 29 So<br />
bietet z.B. die Carl Duisberg Gesellschaft 30 Sprachreisen für ältere Menschen an (ab 50 Jahren).<br />
Dies führt uns aber zum dritten Hindernis beim Erlernen einer Sprache - die Kosten. Dies trifft<br />
auch auf das erwähnte Angebot der Carl Duisberg Gesesllschaft zu.<br />
Generell läßt sich sagen, daß der Wunsch zum Spracherwerb eine Schule zu besuchen bei<br />
der Allgemeinheit weniger stark ausgeprägt ist als angenommen. Die Gründe sind, zusammengefaßt:<br />
Mangel an Zeit und Geld und ein fehlendes, auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittenes<br />
Programm. 31 Die bis zum 9. Januar dieses Jahres ausgewählten Projekte der EU<br />
zum Jahr der Sprachen unterstützen finanziell mehr Sprachfestivals und dienen dem<br />
„Marketing“, als daß sie ihre Aufmerksamkeit auf Strategien richten, wie der Spracherwerb in<br />
der EU langfristig zu fördern ist. 32<br />
Der aufgezeigte Trend zum Spracherwerb zusammen mit der Forderung, daß alle Sprachen<br />
in der EU vertreten sind und daß jeder Bürger der EU neben der Muttersprache und der zweiten<br />
perfekt beherrschten Fremdsprache eine dritte sprechen soll, erfordert neue Wege und neue<br />
Möglichkeiten der Sprachvermittlung und des Spracherwerbs in einer engen Zusasmmenarbeit<br />
zwischen verschiedenen Institutionen: Schule, Universität, Sprachenschulen und Bibliotheken,<br />
die sich verstärkt in das System des Lebenslangen Lernens einbringen müssten. Von dem Ausspruch:<br />
“As for actions in the field of youth, sport and civil society they will enhance social<br />
cohesion in Europe and bring citizens to the forefront of encouraging active citizenship among<br />
Europeans. And promoting awareness of Europe‘s rich culture heritage will help to foster a<br />
29 In Berlin und anderen Städten findet alle zwei Jahre eine Messe von Pro Lingua statt, in der Sprachreisen und<br />
Sprachschulen ihre Produkte anbieten. Neben dieser Messe findet auch ein Kulturprogramm statt mit Vorträgen und<br />
Diskussionen, an denen sich die Botschaften und Konsulate wie auch die ausländischen Kulturinstitutionen beteiligen.<br />
30 Adresse: 50676 Köln, Weyerstr. 79-83.<br />
31 INRA – International Research Associates. Eurobarometer 54. Special. Les Européens et les langues. Rapport redigé<br />
par INRA (Europe) European Coordination Office S.A. pour la Direction Générale de l’Education de la Culture, geré et<br />
organisé par la Direction Générale de L’Education et de la Culture Unité Centre pour le citoyen. Analyse de l’opinion<br />
publique, Fev. 2001, 55 S. mit Anhang. http://europa.eu.int/comm/education/lanugues/call/call/htm<br />
32 European Year of Languages 2001, list of Projects selected for Co-Financing under Call for Proposayls Nr. DG EAC<br />
66/00 publsihed on 8 September 2000 /these are the first group of Proejcts to be selected. Projects may be sumbitted<br />
for the second and final deadline until 15 febr.) Project organiser: Gillian McLaughlin Tel. 00322296 1172 Olga Snoeks<br />
003222996642.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
453
454<br />
Elisabeth Simon<br />
truly European identity" 33 sind wir noch sehr weit entfernt. Das Jahr der Sprachen hat aber<br />
gezeigt, daß die mangelnde europäische Identität und Kohäsion Sprengstoff für die Europäische<br />
Gemeinschaft werden können. Dies wird um so gravierender, wenn nicht die reichen Kulturen<br />
Mitteleuropas in den europäischen Dialog einbezogen werden. Dies kann heute geschehen. Die<br />
Digitalisierung des kulturellen Erbes 34 der einzelnen Länder und der Einsatz des e-Learning 35 in<br />
das System des Lebenslangen Lernens sind dafür. Dies erfordert eine Vernetzung der „Anbieter“.<br />
Spracherwerb wird - in den neuen Berufs- und Lebenswelten - zu einem zunehmend individualisierten<br />
Prozeß. Es müssen Schnittstellen neu definiert und Partnerschaften gefunden werden,<br />
damit Spracherwerb in Europa zu besserer Kommunikation, Öffnung der Nationen und<br />
schließlich zu einer Köhäsion der Bürger dieses Kontinents führen kann.<br />
*<br />
* *<br />
L L i i t t e e r r a a t t u u r r :<br />
:<br />
1. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen<br />
(Imagined Communities) von Benedikt Burkard und Christoph Münz. Erweiterte Ausgabe. Berlin: Ullstein 1996.<br />
252 S.<br />
2. Boeckenfoerde, Ernst-Wolfgang: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie.<br />
1. Aufl. Frankfurt a.M. Suhrkamp 1999. 290 S. (Suhrkamp Taschenbuch – Wissenschaft. 1419).<br />
3. Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort. Aus dem Franz. (Choses dites) übers. von Bernd Schwibs. l. Aufl. Frankfurt<br />
a.M.: Suhrkamp 1992. 236 S.<br />
4. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. (Aus dem Franz.: Le sens practique) übersetzt<br />
von Günter Seib. 3. Aufl. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1999. 503 S.<br />
5. Foucault, Michel: les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966. 398 S.<br />
6. Gauger, Jörg Dieter und Justin Stagl: Staatsrepräsentation. Berlin: Dietrich Reimer 1992. 251 S. (Schriften zur<br />
Kultursoziologie. Hrsg. von Justin Stagl. Bd. 12).<br />
7. Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne. Aus dem Englischen (Nations and Nationalism) von Meino Büning. l.<br />
Aufl. Hamburg: rotbuch Verlag 1995. 214 S.<br />
8. Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu hrsg. und erl.von H.We. Haussig.<br />
Mit e. Einf. von W.F. Otto 3. Auflage mit 4 Tafeln und 2 Ktn. Stuttgart: Kröner 1963. XXVIII, 792 S.<br />
9. Informationsversorgung. Politik und Strategie. Information Provision- Politics and Strategy. Proceedings des internationalen<br />
Seminars 1998. Deutsch/Englisch. Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1998. 445 S.<br />
10. Konersmann, Ralf: Kulturphilosophie. 2. Aufl. Leipzig: Reclam 1998. 376 S.<br />
11. Lewandowski, Theodor: Linguistisches Wörterbuch. Bd 1-3. 2. durchgesehene und erw. Aufl. Heidelberg: Quelle &<br />
Meyer 1976. 973 S. (Uni Taschenbücher 200, 201, 300).<br />
12. Literatur und Spracher. Ausländische Literatur und Spracherwerb durch Bibliotheken. Literature and Language.<br />
Foreign Literature and Language Skills by and with libraries. Proceedings des internationalen Seminars 1999.<br />
Deutsch/Englisch Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1999. 307 S.<br />
33<br />
Europea “Ecuation and Culture at a glance“ published bi-monthly by the Directorate for Edu-cation and Culture of<br />
tghe European Community.<br />
http.//europa.euint/comm/d...n_culture/publ/news/01/newsletter_en.htm<br />
34<br />
e-culture. A newsletter on cultural content and digital heritage.<br />
http://www.cordis.lu/ist/ka3/digicult/ennewsletter.htm<br />
35 eLearning. What’s New in eLearning. May 2001<br />
http://europa.eu.int/comm/education/elearning/what.htm<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Nation und Sprache<br />
13. Metzlers Lexikon der Sprache. Hrsg. von Helmut Glück. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. XX, 710 S.<br />
14. Mythen der Nationen. Ein Europäisches Panorama. hrsg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen<br />
Historischen Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Begleitband zur Ausstellung<br />
vom 20. März 1998 bis<br />
15. 9. Juni 1998. Bonn: DHM – Deutsches Historisches Museum. 600 S.<br />
16. Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Andreas Gardt.<br />
Berlin, New York: de Gruyter 2000. 924 S.<br />
17. Nationale und kultruelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von<br />
Bernhard Giese. 2. Aufl.Frankfurt a.M. Suhrkamp. 1991, 577 S. Suhrkamp Taschenbuch – Wissenschaft. 940.<br />
18. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer umheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg:<br />
rowohlts enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag. 2000. 679 S.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
455
AKZENT <strong>UND</strong> RHYTHMUS IM DEUTSCHEN <strong>UND</strong> RUMÄNISCHEN<br />
Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />
Maria Ileana Moise<br />
1. Allgemeines<br />
Akzent und Rhythmus sind für die suprasegmentalen Charakteristika einer Sprache determinant.<br />
Der sprachliche Rhythmus ist ein systemübergreifendes Phänomen, er vereint mehrere<br />
Sprachebenen und bringt sie zum Ausdruck. Er konstituiert den typischen Klang einer Sprache<br />
und gilt als Hauptdeterminante des „fremden Akzents“. Der Rhythmus basiert auf Akzenten,<br />
Pausen, Tempovariationen und auf dem Tonhöhenverlauf. Der Akzent ist als Basiskomponente<br />
des Rhythmus zu betrachten und wird im Folgenden näher analysiert. In der Fachliteratur werden<br />
in den meisten Fällen Sprach 1 - und Sprechrhythmus 2 zusammen behandelt, was eine Simplifizierung<br />
des Phänomens zur Folge hat. Die Erklärung liegt hauptsächlich darin, dass beim<br />
heutigen Stand der Forschung der Rhythmus nicht eindeutig definiert werden konnte.<br />
2. Der Akzent im Deutschen und Rumänischen<br />
Die Gegenüberstellung des Akzents im Deutschen und Rumänischen lässt die Schlussfolgerung<br />
zu, dass sich die beiden Sprachen unter diesem Aspekt wesentlich unterscheiden. Die<br />
Unterschiede betreffen alle Ebenen, d. h. den Wort-, Wortgruppen- und Satzakzent. Für die<br />
Konfrontation der beiden Sprachen werden im Folgenden: a. die Relevanz der Funktionen, b. die<br />
Mittel der Akzentuierung, c. die Akzentplatzierungsregeln berücksichtigt.<br />
2. 1 Unterschiede in der Wortakzentuierung<br />
Hinsichtlich der Funktionen des Wortakzents kann behauptet werden, dass in beiden Sprachen<br />
die universal gültigen Leistungen desselben wirksam sind. Ihre Relevanz und Ausprägung<br />
ergibt aber zwischen den beiden Sprachen wesentliche Unterschiede:<br />
a. die integrierende, gruppenbildende Funktion ist im Deutschen infolge des stark zentralisierenden<br />
Charakters des Akzents bedeutend stärker ausgeprägt als im Rumänischen. Un-<br />
1 Damit bezeichne ich in Anlehnung an METZLER (2000), STOCK (1996), PU{CARIU (1994), GLR (1963) den geregelten<br />
Wechsel von betonten und unbetonten Silben/Wörtern, die Wiederkehr der rhythmischen Einheiten in zeitlich ungefähr<br />
gleichen Intervallen. Der Sprachrhythmus basiert auf dem jeweiligen System, auf der “langue” und ist ein typologisches<br />
Merkmal. Die Einteilung der natürlichen Sprachen (PIKE 1945; ABERCROMBIE 1967) in akzent-, silben- und<br />
morenzähende wird in der Rhythmologie auch heute verwendet.<br />
2 Damit bezeichne ich in Anlehnung an STOCK/VELIČKOVA (2002) die zeitliche Organisation des Sprechens, die annähernd<br />
symmetrische Anordnung der rhythmischen Einheiten im Sprechfluss, die Umsetzung der sprachspezifischen<br />
mentalen Musterhierarchien in Wirklichkeit, die “parole”. Bei der rhythmischen Gliederung werden Silbenfolgen und<br />
Wörter zu Gruppen zusammengefasst, zu Takten, Akzentgruppen, rhythmischen Gruppen, zum Satz, usw. Diese Einheiten<br />
sind als ähnlich zu betrachten, wenn sich ihre Silbenzahl geringfügig unterscheidet oder wenn ihre Aufeinanderfolge<br />
auf Grund von Tempovariationen und der damit verbundenen segmentalen Reduktionen/Elisionen in ungefähr<br />
gleichen Zeitintervallen stattfindet. Außer sprachspezifischen, grammatischen (syntaktischen), semantischen und<br />
intonatorischen Aspekten spielen auch Redeweise und Expressivität des Sprechers, sowie Alliteration, Assonanz und<br />
Reim eine Rhythmus prägende Rolle.
Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />
betonte Vor- und Nachakzentsilben werden punktförmig an die Akzentsilbe gebunden, die<br />
phonetisch sehr stark signalisiert wird. Im Rumänischen ist wegen des vergleichsweise geringen<br />
Kontrasts zwischen betonten und unbetonten Silben die Bindung der inhaltlich und grammatisch<br />
zusammengehörenden Wörter loser.<br />
b. Die bedeutungsdifferenzierende Funktion ist im Rumänischen stärker wirksam. Der Akzent<br />
ist lexikalisch und grammatisch distinktiv, er unterscheidet Wortpaare wie ´copii vs. co´pii,<br />
Wortarten, wie ´barem vs. ba´rem, àcele vs. a´cele oder Tempora, z. B. ´plou` vs. plou´`. Im<br />
Deutschen ist diese Leistung nur marginal relevant, Wortpaare wie ´Perfekt vs. per´fekt,<br />
´wiederholen vs. wieder´holen sind nur im beschränkten Maße vorhanden.<br />
Was die intonatorische Realisierung des Wortakzents anbelangt, sind Unterschiede bezüglich<br />
des Beitrags der phonetischen Mittel Lautheit, Tonhöhe, Dauer und Klangfarbe zu erkennen.<br />
a. Während im Deutschen an der Akzentrealisierung alle intonatorischen Parameter gleich<br />
stark beteiligt sind und zusätzlich auch die Spannung der Muskulatur von Relevanz ist, die<br />
Akzentsilbe deutlicher signalisiert wird, wird im Rumänischen der Akzent primär auf Grund der<br />
Intensität realisiert, Tonhöhe und Dauer wirken eher kompensatorisch. Der Kontrast ist i. d. R.<br />
nur apparativ feststellbar.<br />
b. Wesentliche Unterschiede betreffen auch den Charakter der Betonung, im Deutschen ist<br />
er zentralisierend, im Rumänischen dezentralisierend.<br />
Die Unterschiede in der Wortakzentplatzierung betreffen:<br />
a. den Einheitscharakter des Wortschatzes.<br />
Im Deutschen ist beim jetzigen Stand der Forschung eine Differenzierung zwischen Erb-<br />
und Fremdwörtern erforderlich. Für die erste Kategorie gilt eine kapochrone Betonung, die<br />
Akzentstelle wird morphologisch bestimmt, es ist zwischen betonbaren und unbetonbaren<br />
Präfixen zu differenzieren. Die nicht-nativen Wörter werden kodachron betont, dabei das Silbengewicht<br />
beachtet; der Akzent liegt auf der letzten, vorletzten oder vorvorletzten Silbe. Die<br />
Versuche, einheitliche Regeln für den gesamten Wortschatz zu formulieren, z. B. GIEGERICHs<br />
(1983; 1985) das Silbengewicht berücksichtigende metrische Theorie, EISENBERGs (1991)<br />
rhythmische Theorie und VENNEMANNs (1991) mehrere phonologische Aspekte in Betracht<br />
ziehenden Prinzipien und Normalitätsbeziehungen haben beim jetzigen Stand explorativen<br />
Charakter und bedürfen einer Ergänzung und Revision. Nach ihrer Vollendung könnten sie aber<br />
für die Konfrontation des Deutschen und Rumänischen als Ausgangsbasis dienen, weil sie den<br />
Akzent vom Wortende her bestimmen, und EISENBERG zusätzlich Regularitäten des Wortrhythmus<br />
formuliert und mit Beispielen belegt. Im Rumänischen ist der Unterschied zwischen<br />
nativen und nicht-nativen Wörtern infolge der kodachronen Betonung vergleichsweise gering.<br />
Hier bestehen aber Akzentdubletten, z. B. ´tempo vs. tem´po, ohne bedeutungsdifferenzierenden<br />
Charakter, je nach den Regularitäten der jeweiligen Ausgangssprache.<br />
b. Unterschiede liegen auch bezüglich der Stabilität der Akzentstelle vor. Während der<br />
Wortakzent im Deutschen in der Mehrzahl der Wörter fest ist, hat er im Rumänischen einen<br />
freien Charakter, bei Verben der 1. Konjugation auch einen beweglichen, z. B. ‘cânt` vs. cân’t`.<br />
Die stabile Akzentstelle im Deutschen führt in Simplizia zu einem Trochäus oder Daktylus, der<br />
freie und bewegliche Akzent im Rumänischen zu einer größeren Differenziertheit, einem Jambus,<br />
Trochäus, Daktylus, Amphibrachys oder einem Peon.<br />
c. Unterschiedlich ist auch die Anwendbarkeit der universalen Akzentprinzipien von W.<br />
WURZEL (1980). Während im Deutschen alle sechs Prinzipipien: das segmental-phonologische,<br />
morphologische, syntaktische, semantische, kommunikative und rhythmische zur Geltung<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
457
Maria Ileana Moise<br />
kommen, sind im Rumänischen nur das rhythmische, z. T. das segmental-phonologische in<br />
Fremdwörtern, das semantische und das kommunikative Prinzip anwendbar.<br />
d. Hinsichtlich der Akzentplatzierung in Derivata fungieren in den beiden Sprachen entgegengesetzte<br />
Regeln. Während im Deutschen die Präfixe betont und unbetont auftreten und<br />
auch eine doppelte Präfigierung möglich ist, die Suffixe i. d. R. unbetont sind, z. B. ´anfangen,<br />
be´obachten, ´aufbewahren, be´mitleiden, die ´Fertigkeit, werden im Rumänischen die Präfixe i.<br />
d. R. nicht betont, die Suffixe hingegen betont, wobei auch eine doppelte Suffigierung möglich<br />
ist, z. B. a des´face, c`´lu], slu´garnic.<br />
e. Auch bezüglich der Akzentstelle in Komposita wirken in den beiden Sprachen entgegengesetzte<br />
Regeln. Im Deutschen liegt der Hauptakzent initial, der Nebenakzent auf der 2. oder 3.<br />
Komponente, bei Idiomatisierungen fungieren Sonderregeln, z. B. ´Straßenbahn,haltestelle oder<br />
Alt´weiberfastnacht, Lieb´frauenmilch; im Rumänischen liegt der Hauptakzent final, der Nebenakzent<br />
initial, z. B. ,supra´vie]uire.<br />
f. Unterschiedlich ist auch der Charakter des Nebenakzents. Im Deutschen ist er etymologisch<br />
bedingt und fest, hat morphologisch und semantisch distinktiven Charakter, z. B.<br />
´Sandstein,kunsthalle vs. ´Sandsteinkunst,halle oder ‘wiederholen vs. wieder’holen, im Rumänischen<br />
ist er mobil und hat eher rhythmischen Charakter. Außerdem ist die Anzahl der Komposita<br />
vergleichsweise zum Deutschen geringer.<br />
2.2 Unterschiede in der Wortgruppen- und Satzakzentuierung<br />
Da die Ausmaße der Wortgruppe stark sprechsituativ bedingt sind und der Wortgruppenakzent<br />
ein potenzieller Satzakzent ist, wird der Akzent auf diesen zwei Ebenen zusammen behandelt.<br />
Die Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen betreffen auch auf<br />
dieser Ebene: a. die Relevanz der Funktionen, b. die Mittel der Akzentuierung und den Beitrag<br />
der Konstituenten, c. die Akzentuierungsregeln.<br />
Die Relevanz der Funktionen steht mit der Betonungsart in Verbindung:<br />
a. Der zentralisierende Charakter des Akzents im Deutschen offenbart sich auf dieser Ebene<br />
durch die starke Bindung der unbetonten und deakzentuierten Silben/Wörter an den Akzent. Im<br />
Rumänischen ist infolge des dezentralisierenden Charakters des Akzents die Verbindung zwischen<br />
den Wörtern innerhalb der Wortgruppe loser, was zu mehr Pausen führt.<br />
b. Damit im Zusammenhang steht auch die kulminative oder gipfelbildende Leis-tung des<br />
Akzents. Im Deutschen ist sie sehr stark ausgeprägt, der Kontrast zwischen betonter und unbetonter<br />
Silbe extrem. Im Rumänischen ist der Kontrast gering.<br />
c. Die charakteristische Betonungsart führt im Deutschen zu einer perzeptiv prägnanteren<br />
Gliederung, während im Rumänischen bei gepflegter reproduzierender Sprache, infolge der<br />
loseren Bindung der Wörter, die Tendenz zu kürzeren Wortgruppen besteht.<br />
Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich der Akzentuierungsmittel und des Beitrages der<br />
Konstituenten:<br />
a. In beiden Sprachen sind die universal gültigen Komponenten (Akzent, Pausen, Tonhöhenverlauf,<br />
Tempo) bei der Konstituierung der Wortgruppen wirksam. Die Unterschiede betreffen<br />
aber die Wirkung derselben, besonders diejenige der Tempovariationen. Im Deutschen ergeben<br />
sie extreme Unterschiede zwischen Relaxation und Akzeleration, präakzentuell ist das Sprechtempo<br />
schneller, postakzentuell deutlich verlangsamt. Die finale Dehnung ist im Deutschen<br />
perzeptiv deutlicher als im Rumänischen. Zwar werden auch im Rumänischen wichtige<br />
Informationen langsamer gesprochen, der Kontrast zu den weniger wichtigen ist aber geringer,<br />
der Charakter der Pro- und Enklise loser, die segmentale Abschwächung vergleichsweise gerin-<br />
458<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />
ger, der Kontrast zwischen dem prä- und postakzentuellen Teil der Wortgruppe weniger auffällig<br />
als im Deutschen. Zwar treten im Rumänischen in der ungepflegten Sprache phonetische<br />
Wörter auf, z. B. du-su-mi-s-a, usw., wo die Selbständigkeit der einzelnen Formative vom lautlichen<br />
Gesichtspunkt aufgegeben wird und die Formativ- und Silbengrenzen verwischt werden,<br />
die schwachen Formen im Deutschen, z. B. im (in dem), usw. sind aber auch in der Standardsprache<br />
gestattet.<br />
b. Die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen betreffen weiterhin den Einsatz der<br />
phonetischen Mittel. Während im Deutschen, wie im Falle des Wortakzents, bei der Konstituierung<br />
des Wortgruppen- und Satzakzents alle Mittel beteiligt sind, kommen im Rumänischen<br />
primär die Intensitäts- und Tonhöhenmodifikationen in Frage. Der Akzent ist auch auf dieser<br />
Ebene dezentralisierend, während im Deutschen der zentralisierende Charakter stark ausgeprägt<br />
ist.<br />
c. Unterschiedlich ist auch der Tonhöhenverlauf am Wortgruppen- und Satzende. Zwar bestehen<br />
in beiden Sprachen progrediente, terminale und interrogative Verläufe, im Rumänischen<br />
ist aber die Amplitüde geringer, was einen tieferen Höhepunkt, bzw. höheren Tiefpunkt des<br />
Tonhöhenverlaufs zur Folge hat. Im Deutschen ist das Steigerungs- und Gefälleintervall größer,<br />
ADRIAENS (1984) zufolge von zehn Halbtönen. Im Rumänischen erreicht die Melodie am Satzende<br />
nicht die Lösungstiefe, was im Deutschen eine Fortsetzung und kein Ende der Äußerung<br />
signalisiert.<br />
Die Kontraste zwischen den beiden Sprachen betreffen auch die Akzentplatzierungsregeln:<br />
a. In beiden Sprachen gilt das Prinzip des Fortschreitens der Information vom Bekannten<br />
zum Unbekannten. Unterschiede ergeben sich aber infolge der systembedingten Wortfolge in<br />
der jeweiligen Sprache. Während im Rumänischen keine Verbalklammer vorhanden ist und in<br />
der sachlich-neutralen Rede das am weitesten rechts befindliche Inhaltswort betont wird (z. B.<br />
Attribute, Umstandsbestimmungen, Objekte), liegt im Deutschen der Wortgruppen- und Satzakzent<br />
nicht immer final, sondern kann eine leichte Linkstendenz aufweisen, das finite Verb<br />
erhält einen Nebenakzent, z. B.<br />
Martin Luther wurde im Jahre 1483 in Eisleben als Sohn eines BERGmanns geboren.<br />
Martin Luther s-a n`scut în anul 1483 în Eisleben ca fiu de minER.<br />
b. Unterschiede ergeben sich auch bezüglich der Regeln zur Betonbarkeit der Formwörter.<br />
Prinzipiell gilt für beide Sprachen die Akzentlosigkeit derselben. Die Situationen aber im Rumänischen,<br />
wo ein Kontrastakzent gesetzt wird, sind sehr häufig. Außerdem haben die Einsilber<br />
einen variablen Status, sie treten mal betont, mal unbetont auf (vgl. SFÎRLEA 1970: 193), z. B.<br />
Dac` tu socote[ti c` sunt vinovat`?<br />
Dar în ce situa]ie ai pus-o?<br />
c. In beiden Sprachen tritt ein rhythmischer Akzent auf, der auf einer Alternation von betonten<br />
und unbetonten Silben/Einheiten basiert. Wegen des mobilen Wortakzents, der Akzentdubletten<br />
ohne bedeutungsdifferenzierenden Charakter ist aber der rhythmische Akzent im<br />
Rumänischen häufiger als im Deutschen, wo er hauptsächlich in Sätzen mit geringem Informationsgehalt<br />
auftritt, in denen keine Fokusalternative zur Debatte steht. Untersuchungen von<br />
LÖTSCHER (1983: 52) geben für das Deutsche als präferierte Stellen den Satzanfang, den thematischen<br />
Teil an, oder das Mittelfeld nach stark hervorgehobenem Element im Vorfeld.<br />
Die angeführten systembedingten Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen<br />
führen zu potenziellen Fehlern bei rumänischen Deutschlernenden, denen im DaF-Unterricht<br />
aus Rumänien Rechnung getragen werden muss.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
459
Maria Ileana Moise<br />
2.3 Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in der Akzentuierung im Deutschen und Rumänischen<br />
Trotz zahlreicher Unterschiede in der Akzentuierung bestehen zwischen den beiden Sprachen<br />
auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten. Sie betreffen:<br />
a. das Vorhandensein des Akzents auf der Wort-, Wortgruppen- und Satzebene<br />
b. die Hierarchie der Akzente (Wortakzent, potenzieller Wortgruppen- und Satzakzent)<br />
c. die Wirksamkeit der meisten Funktionen des Akzents (kulminative, bedeutungsdifferenzierende,<br />
usw.)<br />
d. die Komplexität der Akzentuierungsregeln<br />
e. die Existenz des rhythmischen Akzents<br />
f. die Wirksamkeit der Thema-Rhema-Gliederung<br />
g. die prinzipielle Unbetonbarkeit der Funktionswörter<br />
h. die Akzentrealisierung als Komplexerscheinung<br />
i. die schwächere intonatorische Realisierung der Nebenakzente<br />
3. Der Rhythmus im Deutschen und Rumänischen<br />
3.1 Unterschiede im Sprachrhythmus<br />
Für die Bestimmung des Rhythmustyps einer Sprache wurden in der Fachliteratur (AU-<br />
ER/UHMANN 1988; VÖLTZ 1994; DAUER 1987; DUFTER 1997; KALTENBACHER 1998; 1999)<br />
mehrere Kriterien und prototypische Merkmale formuliert 3 . Die einzelnen Autoren berücksichtigen<br />
aber dieselben nur selektiv. Bei der Analyse des Rhythmus des Deutschen und<br />
Rumänischen habe ich alle Kriterien in Betracht gezogen, dieselben wurden sogar mit<br />
phonetisch-intonatorischen erweitert. Es handelt sich um die phonetischen Merkmale des<br />
Akzents, die Betonungsart und um charakteristische Phänomene der rhythmischen Euphonie.<br />
Berücksichtigt wurde auch die distinktive Funktion des Akzents auf grammatischer Ebene.<br />
Meine Absicht war, für den silbenzählenden Charakter des Rumänischen ausführliche<br />
theoretisch fundierte Belege bringen zu können. Bezüglich der rumänischen Forschung in<br />
diesem Bereich ist festzustellen, dass CHI}ORAN (1970; 1977), POPA/PÂRLOG (1973) und<br />
PÂRLOG (1997), die einzigen rumänischen Wissenschaftler, die sich mit dem sprachlichen<br />
Rhythmus in unpoetischer Sprache beschäftigt haben, den Rhythmus des Rumänischen als<br />
silbenzählend definieren. Die Argumente von POPA/PÂRLOG (1973) basieren aber nur auf Ergebnissen<br />
der Fehleranalyse von Äußerungen rumänischer Englischlernenden, ohne genügend<br />
fundierte Belege, im Sinne von systembedingten Charakteristika für das Rumänische zu<br />
bringen, welche diese Zuordnung untermauern.<br />
Für die Konfrontation des Sprachrhythmus in den beiden Sprachen werden im Folgenden: a.<br />
die Isochronie herstellenden rhythmischen Grundeinheiten, b. die Silbenstruktur und die sie<br />
beeinflussenden Faktoren, c. der sprachspezifische Akzent als Fixpunkt der rhythmischen Ein-<br />
3 A. die perzeptive Isochronie der rhythmischen Einheiten<br />
B. die Reduktionsprozesse<br />
C. die Silbenstruktur und die Klarheit der Silbengrenzen<br />
D. die Beziehungen zwischen Silbenstruktur und Akzentposition<br />
E. die Position des Wortakzents<br />
F. die distinktive Funktion des Akzents<br />
G. Phänomene der rhythmischen Euphonie<br />
460<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />
heit analysiert. Diese Kriterien betrachte ich als eine Zusammenfassung der oben angeführten<br />
Charakteristika.<br />
a. Die Isochronie herstellende rhythmische Grundeinheit bildet den ersten wesentlichen<br />
Unterschied zwischen dem Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Im Deutschen ist es<br />
theoretisch der Takt, in der gesprochenen Sprache die Akzentgruppe, im Rumänischen die Silbe,<br />
betonte oder unbetonte. Diese Einheiten kehren in zeitlich ungefähr gleichen Intervallen wieder.<br />
Für die Isochronie der rhythmischen Einheiten finden im Deutschen Reduktionen der unbetonten<br />
Silben und Wörter statt, die einen Dauerausgleich zwischen den Akzenten zur Folge<br />
haben. Auch im Rumänischen treten Ausgleichprozesse ein, sie betreffen aber nur die Silbe. Die<br />
höheren rhythmischen Einheiten entsprechen also hier der Länge der enthaltenen Segmente.<br />
Dieser Umstand führt im Deutschen zu einem akzentzählenden, im Rumänischen zu einem<br />
silbenzählenden Rhythmus.<br />
b. Die Analyse der Silbenstruktur und der sie beeinflussenden Faktoren ergibt zwischen den<br />
beiden Sprachen weitere Kontraste.<br />
- Obwohl auf den ersten Blick bezüglich der Silbenstruktur in den beiden Sprachen keine<br />
wesentlichen Unterschiede vorzuliegen scheinen, da in beiden Sprachen komplexe Konsonantensequenzen<br />
im on- und offset möglich sind, ergibt die Analyse der Häufigkeitsrate der<br />
Konsonantencluster in der Koda im Deutschen mehr Konsonantenanhäufungen (32 CCC-<br />
Verbindungen) als im Rumänischen (16 Konsonantencluster). Im Deutschen treten außerdem<br />
in flektierter Form infolge der Tempobeschleunigung auch 4 bis 5 Konsonanten auf, z. B. du<br />
strolchst, des Herbsts. In dieser Hinsicht kann behauptet werden, dass die Silbenstruktur im<br />
Deutschen komplexer ist. Immerhin weicht das Rumänische unter diesem Aspekt von den<br />
prototypischen silbenzählenden Merkmalen eindeutig ab.<br />
- Wird der Silbentyp in den beiden Sprachen verglichen, so sind laut Angaben von MEIN-<br />
HOLD/STOCK (1982: 204f.), ESSER (1960) im Deutschen die meisten Silben geschlossen,<br />
während im Rumänischen nach ROSETTI (1967: 82) die Mehrzahl offen ist.<br />
- Wird das Kriterium Erhaltung der Silbengrenze herangezogen, z. B. die Geminaten und ihre<br />
Konstanz, so treten andere Kontraste auf. Während im Deutschen ihre Zahl sehr groß ist und<br />
an der Silbengrenze eine Reduktion derselben stattfindet, sind im Rumänischen in der Hochsprache<br />
Doppelkonsonanten untypisch. In dieser Hinsicht weist das Rumänische intakte Silbengrenzen<br />
auf, während diese im Deutschen verwischt sind. Werden auch andere grenzsignalisierende<br />
Faktoren in Betracht gezogen, wie z. B. der Knacklaut, die Aspiration der an-<br />
und auslautenden Klusile oder die Auslautverhärtung im Deutschen, so fungieren sie als deutliche<br />
Signale für die Silbengrenze. Diese Grenzsymbole sind für das Rumänische uncharakteristisch,<br />
stimmhafte Verschlusslaute, z. B. glob, globului, bleiben ungeachtet ihrer<br />
Position immer stimmhaft. Für das Deutsche kann also sowohl von klaren als auch von verwischten<br />
Silbengrenzen gesprochen werden, besonders bei beschleunigtem Tempo, während<br />
sie im Rumänischen dominant intakt bleiben und deutlich zu erkennen sind.<br />
- Werden die auf der segmentalen Ebene stattfindenden koartikulatorischen Prozesse verglichen,<br />
die den Charakter des Rhythmus in den beiden Sprachen determinieren, so treten<br />
sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen Assimilationen, Reduktionen, Elisionen auf.<br />
Wird hingegen der Charakter dieser Prozesse berücksichtigt, so ergeben sich wesentliche Unterschiede.<br />
So z. B. sind für den Rhythmus im Deutschen die quantitativen und qualitativen<br />
Modifikationen der Vokale in den unbetonten Silben von besonderer Relevanz, z. B. Kürzung<br />
und Entspannung der langen Vokale, Öffnung der geschlossenen, Reduktion oder Elision der<br />
E-Laute in Endungen, Zentralisierung der Endung -er. Die Akzentvokale heben sich durch Gespanntheit<br />
der Muskulatur und deutliche Artikulation ab. Wenn die den Silbenkern betreffenden<br />
phonetischen Prozesse im Rumänischen berücksichtigt werden, so können keine<br />
qualitativen oder quantitativen Veränderungen beobachtet werden. Im Rumänischen haben<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
461
Maria Ileana Moise<br />
die Vokale, ob betont oder unbetont, nur einen Wert, eine mittlere Länge. Auch die Hiatusauflösung<br />
durch Hinzufügung der unsilbischen Vokale [i] oder [u], z. B. mitralier`, elogiat,<br />
sowie die für die Bildung von phonetischen Wörtern stattfindenden Elisionen, z. B. [I acum -<br />
> [-acum, se opre[te -> s-opre[te, usw. beeinflussen den Akzentvokal auf keine Weise. Sie<br />
können zwar auf der Silbenebene eine komplexere Struktur bewirken, tragen aber zum Ausgleich<br />
der einzelnen Silbendauern bei. Während die Modifikationen im konsonantischen Bereich<br />
im Deutschen (Auslautverhärtung) den Eindruck von Härte verstärken (vgl.<br />
MEINHOLD/STOCK 1982: 208; GREGOR-CHIRI}Ă 1991: 75), so unterstützt die regressive<br />
Assimilation (Stimmhaftwerden der Konsonanten) im Rumänischen den weichen, fließenden<br />
Klang der Sprache.<br />
- Wird das Merkmal Vokalharmonie in den beiden Sprachen verglichen, so kann für das<br />
Deutsche von einer annähernden Vokalharmonie gesprochen werden, da allein für den<br />
Schwa-Laut in der Akzentsilbe eine totale Restriktion besteht. Im Rumänischen betrifft die<br />
Einschränkung nur das entstimmte [i] im Plural einiger Substantive, für die Phoneme /`/ und<br />
/î, â/ kann die Akzentverlagerung z. B. in l`u’d`, l`u’da, usw. nicht als Beweis für eine eindeutige<br />
Restriktion für diese Vokale in der Akzentsilbe angenommen werden, diese Phoneme<br />
treten sowohl in betonter als auch in unbetonter Position auf. Wird die Häufigkeitsrate des<br />
Schwa-Lautes im Deutschen und des entstimmten “i” im Rumänischen verglichen, so tritt das<br />
letztere seltener auf. Für das Deutsche kann also von einer partiellen Vokalharmonie, für das<br />
Rumänische von einer fast totalen ausgegangen werden.<br />
c. Unterschiede betreffen auch die Akzentstelle als Fixpunkt für die rhythmische Einheit:<br />
- Bezüglich dieses Kriteriums sind die Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen<br />
beim heutigen Stand der Forschung des Wortakzents sehr groß. Im Deutschen werden<br />
Erbwörter kapochron betont, Fremdwörtern kodachron, im Rumänischen besteht generell<br />
eine kodachrone Akzentuierung.<br />
- Auf höheren Ebenen sind infolge der wirksamen Thema-Rhema-Gliederung in der sachlichneutralen<br />
Rede die Unterschiede geringer. Während aber im Rumänischen eine deutliche<br />
Rechtstendenz mit Finalbetonung besteht, so kann im Deutschen infolge der spezifischen<br />
Wortfolge eine leichte Linkstendenz festgestellt werden, z. B.<br />
Drei Jahre später/ im Jahre fünfzehnhundertzwölf/ wurde er zum Doktor theologiae/<br />
und Professor für Bibelerklärung/ in Wittenberg ernannt/<br />
Trei ani mai târziu/ în anul/ o mie cinci sute doisprezece/ a fost numit doctor în<br />
teologie/ [i profesor în interpretarea bibliei/ la Wittenberg/<br />
Hinzu kommen Unterschiede bezüglich des Status der Nebenakzente, als Rhythmus<br />
konstituierende Elemente. Im Rumänischen werden die Nebenakzente in geringerem Maße<br />
abgeschwächt als im Deutschen und sind i. d. R. als Rhythmus konstituierend wirksam. Im<br />
Deutschen ist wegen der Tempovariationen die Tendenz zur Deakzentuierung derselben<br />
stärker. Infolgedessen entstehen längere rhythmische Einheiten, während im Rumänischen<br />
wegen der Realisierung aller potenziellen Akzente die höheren rhythmischen Einheiten<br />
kürzer sind, z. B.<br />
Martin Luther // wurde im Jahre 1483 // in Eisleben // als Sohn // eines BERGmanns geboren.//<br />
1 2 3 4 5<br />
Martin Luther // s-a n`scut // în anul 1483// în Eisleben // ca fiu // de minER.//<br />
1 2 3 4 5 6<br />
462<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />
3.2 Unterschiede im Sprechrhythmus<br />
Für die Gegenüberstellung des Sprechrhythmus werden:<br />
a. Pausen und Sprechtempo als Rhythmus optimierende Faktoren<br />
b. die Länge der Interstressintervalle und die Position der rhythmischen Schwere<br />
c. die rhythmische Euphonie berücksichtigt.<br />
a. In beiden Sprachen sind Pause und Tempo Rhythmus konstituierende Faktoren, zugleich<br />
optimieren sie auch denselben. Der Einsatz der Pausen ist allerdings in der reproduzierten Sprache<br />
strenger geregelt, in der frei produzierten Sprache ist z. B. die Zahl der Häsitationspausen<br />
größer; sie haben oft rhythmischen Charakter und können den Akzent ersetzen, oder die Taktdauer<br />
regulieren.<br />
Wegen der laxen Bindung zwischen den Wörtern innerhalb der rhythmischen Gruppe ist die<br />
Zahl der Pausen im Rumänischen vergleichsweise zum Deutschen größer. Dadurch entstehen<br />
mehrere kürzere Akzentgruppen. Im Deutschen hingegen sind infolge der Reduktionsprozesse<br />
die Akzentgruppen länger, Atempausen sind nicht notwendig.<br />
Zwar treten in beiden Sprachen vom Textinhalt abhängig Tempovariationen auf, ihre Auswirkungen<br />
sind aber unterschiedlich. Im Deutschen begünstigen und produzieren sie Vokal- und<br />
Konsonantenreduktionen und –elisionen, die Isochronie der höheren rhythmischen Einheiten.<br />
Die Anzahl der von den rhythmischen Einheiten enthaltenen Wörter spielt keine besondere<br />
Rolle, da durch Reduktionen/Elisionen perzeptiv eine zeitlich ungefähr gleiche Aufeinanderfolge<br />
der Akzente gesichert werden kann, ohne dass die Dauer der rhythmischen Einheit wesentlich<br />
vergrößert wird. Im Rumänischen bewirken die mit den Tempovariationen verbundenen koartikulatorischen<br />
Prozesse eine Optimierung der Silbenränder und der Silbenlänge und nicht der<br />
höheren rhythmischen Einheiten. Die Verbindung zwischen den Wörtern bleibt vergleichsweise<br />
zum Deutschen loser.<br />
b. Auch bezüglich des zweiten Kriteriums, der Länge der Interstressintervalle und der Position<br />
der rhythmischen Schwere bestehen zwischen den beiden Sprachen Unterschiede:<br />
- Während im Deutschen durch die Tempovariationen die Interstressintervalle ausgeglichen,<br />
d. h. gekürzt oder gedehnt werden, so entspricht im Rumänischen die Länge der höheren<br />
rhythmischen Einheit der Dauer der enthaltenen Silben. Während die Interstressintervalle<br />
im Deutschen infolge der Deakzentuierungen größer sind, betragen sie im Rumänischen<br />
nach SFÎRLEA (1970: 191f.) 1 – 3 unbetonte Silben, z. B.<br />
Martin Luther // wurde im Jahre vierzehnhundertdreiundachtzig // in Eisleben // als Sohn //<br />
2 10 4 3<br />
eines Bergmanns geboren.//<br />
2<br />
Martin Luther // s-a n`scut // în anul o mie patru sute optzeci [i trei // în Eisleben // ca fiu //<br />
1 1 2 1 2 1 1 2 1 1 3<br />
de miner.//<br />
2<br />
c. Während im Deutschen die Hauptakzentposition in höheren rhythmischen Einheiten eine<br />
relative Mobilität (vorletzte, vorvorletzte, viertletzte Silbe oder eine weiter mediale Position)<br />
aufweist, liegt im Rumänischen in der sachlich-neutralen Rede der Hauptakzent in den meisten<br />
Fällen final, d. h. auf der letzten oder vorletzten Silbe.<br />
d. Die rhythmische Euphonie bezieht sich auf die Anwendung von Wohlgeformtheitsregeln<br />
wie Schlaghinzufügung, d. h. Konstituierung eines neuen Akzents, Schlagbewegung, Akzentverlagerung,<br />
Schlageliminierung, Akzentverlagerung oder Deakzentuierung. Der Rhythmus basiert<br />
in beiden Sprachen auf den Haupt- und Nebenakzenten. Der Unterschied in der Herstellung der<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
463
Maria Ileana Moise<br />
rhythmischen Euphonie zwischen dem Deutschen und Rumänischen fußt auf: a. der Regelhaftigkeit<br />
des Akzents (fest – mobil, Akzentdubletten), b. der Häufigkeit der Verwendung des<br />
rhythmischen Akzents und c. der mehr oder weniger strengen Erhaltung der rhythmischen<br />
Wohlgeformtheit.<br />
M. E. wird im Rumänischen der rhythmische Akzent häufiger verwendet.<br />
a. Auf Grund der relativ vielen Akzentdubletten besteht im Rumänischen die Möglichkeit, zu<br />
rhythmischen Zwecken Akzente zu versetzen, ohne eine Bedeutungsänderung zu verursachen,<br />
ein Phänomen, das im Deutschen fremd ist.<br />
b. Die Einsilber haben einen variablen Status, sie treten mal betont, mal unbetont auf. Auch<br />
die Rolle der Formwörter ist weniger streng geregelt, als im Deutschen, sie werden oft betont.<br />
c. Infolge des schwachen Kontrasts zwischen betonten und unbetonten Silben tritt der Kontrastakzent<br />
häufiger auf.<br />
d. Im Rumänischen wird die rhythmische Euphonie durch den geringen Kontrast zwischen Haupt- und<br />
Nebenakzent unterstützt, d. h. die letzteren werden i. d. R. realisiert, nicht deakzentuiert.<br />
e. SFÎRLEA (1970: 192f.) zufolge ist die Alternanz zwischen betonten und unbetonten Silben<br />
obligatorisch.<br />
f. Im Deutschen werden die Interstressintervalle durch Tempovariationen und segmentale<br />
Reduktionen / Elisionen reguliert. Nebenakzente tragende Wörter werden oft deakzentuiert.<br />
Zusätzliche Akzente sind demzufolge für die Optimierung der Interstressintervalle<br />
selten nötig, was allerdings tempoabhängig ist.<br />
Die weiter oben beschriebenen Unterschiede ergeben in den beiden Sprachen verschiedene<br />
Rhythmustypen, im Deutschen einen hämmernden, stoßenden staccato-Rhythmus, im Rumänischen<br />
einen weichen, gleitenden, fließenden legato-Rhythmus, obwohl die beiden Sprachen<br />
die prototypischen Merkmale nicht in idealer Weise erfüllen. Das Deutsche zeigt z. B. beim<br />
langsamen Sprechen silbenzählende Merkmale auf, sein akzentzählender Charakter ist auch<br />
schwächer ausgeprägt als derjenige des Englischen. Wenn die prototypischen Merkmale der<br />
akzentzählenden Sprachen in Betracht gezogen werden, so besteht im Deutschen eine Restriktion<br />
inder Akzentsilbe nur für den Schwa-Laut, im Englischen jedoch sind gesonderte Vokalreihen<br />
vorhanden, die Silbengrenzen sind sowohl intakt als auch verwischt, die bedeutungsdifferenzierende<br />
Funktion des Akzents ist nur marginal wirksam, usw. Untersuchungen für das<br />
Deutsche belegen auch Unterschiede zwischen Dialekt und Hochsprache, der Wiener Dialekt<br />
soll silbenzählender sein als das österreichische Hochdeutsch. Sprachhistorische Untersuchungen<br />
von KALTENBERG (1999: 217) verweisen im AHD und frühen MHD auf deutliche<br />
silbenzählende Merkmale. Wenn im Rumänischen die Silbenstruktur, die Relevanz der<br />
lexikalisch und grammatisch distinktiven Funktion des Akzents, die Mobilität der Akzentstelle,<br />
die Komplexität der Wortakzentuierungsregeln berücksichtigt werden, nähert es sich den<br />
Charakteristika der akzentzählenden Sprachen. Auch für das Rumänische ist anzunehmen, dass<br />
zwischen Dialekt und Hochsprache Unterschiede bestehen, dass in den verschiedenen Entwicklungsetappen,<br />
infolge der Aufnahme von Fremdwörtern aus verschiedenen Sprachen,<br />
andere Charakteristika galten als heute.<br />
3.3 Ähnlichkeiten in der Rhythmisierung im Deutschen und Rumänischen<br />
Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen dem Rhythmus in den beiden Sprachen kann auch<br />
von Ähnlichkeiten gesprochen werden. Die betreffen:<br />
a. Die Silbe als Grundeinheit des Rhythmus, als Baustein für die Konstituierung der höheren<br />
rhythmischen Einheiten;<br />
b. Die Akzente (Hauptakzente) sind Fixpunkte für die Rhythmisierung;<br />
464<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />
c. Sprachspezifische koartikulatorische Prozesse dienen zur Optimierung, Angleichung der<br />
Silbenstruktur und -länge;<br />
d. In beiden Sprachen kann von einer Rechtstendenz der Akzentstelle in höheren rhythmischen<br />
Einheiten ausgegangen werden;<br />
e. Sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen existiert ein rhythmischer Akzent;<br />
f. Pause und Sprechtempo haben eine Rhythmus konstituierende und optimierende Rolle.<br />
4. Potenzielle Fehler rumänischer Deutschlernenden bei der Akzentuierung und Rhythmisierung<br />
im Deutschen<br />
a. Die angeführten Unterschiede führen zu potenziellen Fehlern bei rumänischen Deutschlernenden,<br />
die auch für andere Ausgangssprachen mit silbenzählendem Charakter Gültigkeit<br />
haben. Sie beziehen sich hauptsächlich auf: a. die Konstituierung, Konservierung und Optimierung<br />
der rhythmischen Einheiten, das Segment und Suprasegment betreffende Prozesse, b. die<br />
Akzentplatzierung und -realisierung:<br />
b. Die potenziellen Fehler in der Realisierung des Wortrhythmus betreffen die Initialbetonung<br />
im Deutschen und die Verteilung der Akzente in Derivata und Komposita.<br />
c. Zahlreiche Fehler sind bei der Akzentplatzierung auf der Akzentgruppenebene zu erwarten,<br />
da im Rumänischen die Tendenz besteht, den Akzent final zu setzen, im Deutschen aber<br />
derselbe infolge der unterschiedlichen Wortfolge eine leichte Linkstendenz aufweisen kann. Der<br />
rumänische Lernende wird voraussichtlich auf Grund des negativen Transfers aus der Muttersprache<br />
in den rhythmischen Einheiten den Akzent final setzen.<br />
e. Weil im Rumänischen alle Silben (betonte und unbetonte) intonatorisch wenig differenziert<br />
werden, tendiert der rumänische Deutschlernende auch im Deutschen die Silben alle<br />
gleich lang auszusprechen und die unbetonten Silben zu stark zu gewichten. Der Fehler gilt für<br />
Lernende mit silbenzählender MS als charakteristisch.<br />
d. Damit im Zusammenhang stehen potenzielle Fehler bei der Reduktion der unbetonten<br />
Silben, besonders des Schwa-Lautes in Endungen und bei der Realisierung des vokalisierten “r”,<br />
die für den Rhythmus des Deutschen von besonderer Relevanz sind und für den Erwerb des<br />
Deutschen vielleicht die größte Schwierigkeit bedeuten (vgl. VÖLTZ 1994: 102). Es ist anzunehmen,<br />
dass der rumänische Deutschlernende die Endungen voll realisiert, was zur Längung<br />
der Akzentgruppe, zur Unisochronie der rhythmischen Einheiten führt. Auch dieser Fehler gilt<br />
für Lernende mit einer silbenzählenden MS als charakteristisch. Der Reduktionsprozess des “e”<br />
im Stammauslaut und in Flexionsmorphemen ist bei rumänischen Deutschlernenden besonders<br />
schwer zu beheben, da es im Rumänischen einen ähnlichen Vokal mit Phonemstatus gibt, das<br />
, das dem deutschen Schwa zwar in gewisser Hinsicht ähnlich ist, (zentral gebildeter Vokal),<br />
jedoch auf keinen Fall mit ihm identifiziert werden darf.<br />
e. Zu erwarten sind auch Koartikulationsprozesse, die im Deutschen normwidrig sind, z. B.<br />
regressive Assimilationen, Palatalisierungserscheinungen oder die stimmhafte Realisierung der<br />
Konsonanten im Silben- und Wortauslaut.<br />
f. Potenzielle Fehler betreffen auch die Realisierung der Knacklaute am Silben- und Wortanfang<br />
bei anlautendem Vokal, die im Rumänischen fremd sind und sich letztendlich auf die<br />
charakteristische deutsche Rhythmisierung negativ auswirken.<br />
g. Da im Rumänischen die Anzahl der unbetonten Silben zwischen den Akzenten im Vergleich<br />
zum Deutschen geringer ist, werden die rumänischen Sprecher innerhalb der Akzentgruppe<br />
und der rhythmischen Gruppe voraussichtlich zu mehreren Akzenten tendieren. Dadurch<br />
wird die rhythmische Struktur der Einheiten zerstört. Auch dieser Fehler ist für Lernende mit<br />
silbenzählender MS kennzeichnend.<br />
h. Ebenfalls als potenzielle Fehlerquelle gelten auch die in der gesprochenen Sprache sehr<br />
häufigen “schwachen Formen”, da das Phänomen im Rumänischen nicht als solches vorhanden<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
465
Maria Ileana Moise<br />
ist. Zu erwarten ist, dass der rumänische Deutschlernende die Funktionswörter in ihrer starken<br />
Form realisiert. Diese Fehlleistung wirkt sich auf die rhythmische Strukturierung im Deutschen<br />
im Sinne der Beeinträchtigung der Dauer der rhythmischen Einheiten negativ aus.<br />
i. Eine weitere Fehlerquelle für die rhythmische Strukturierung der Äußerung bildet die Realisierung<br />
des rhythmischen Akzents. Es ist anzunehmen, dass der Deutschlernende die Lokalisierung<br />
der Nebenakzente, deren Platzierung im Rumänischen hauptsächlich vom Prinzip der<br />
rhythmischen Alternation bestimmt wird, im Deutschen verfehlt.<br />
j. Potenzielle Fehler sind auch in der Pausensetzung zu erwarten. Infolge der komplexen<br />
Komposita und der unterschiedlichen Wortfolge im Deutschen, besonders aber der längeren<br />
rhythmischen Gruppen könnte der Lerner zu einer stärkeren Untergliederung der Äußerungen<br />
im Deutschen tendieren. Andererseits könnten auf Grund des Transfers der Akzentplatzierung<br />
im Rumänischen auch fehlerhafte rhythmische Pausen gesetzt werden.<br />
k. Wegen der unterschiedlichen Funktion der Tempovariationen in den beiden Sprachen ist<br />
anzunehmen, dass der rumänische Lerner dieselben nicht oder in ungenügendem Maße für die<br />
Raffung und Reduktion der unbetonten Silben, für die Konstituierung von Gruppen um das<br />
Zentrum einsetzen wird, was ebenfalls zu einer Unisochronie führt.<br />
Schlussfolgernd kann behauptet werden, dass Wahrnehmen und Erwerb des Rhythmus und<br />
seiner konstituierenden Komponenten im Deutschen von außerordentlicher Bedeutsamkeit für<br />
den FU sind. Der Rhythmus bildet den charakteristischen Klang der Sprache und vereint alle<br />
sprachlichen Strukturen und Merkmale, angefangen von der Artikulation und bis zum zusammenhängenden<br />
Sprechen. In diesem Sinne muss VÖLTZ (1994: 100) darin zugestimmt<br />
werden, dass gravierende Fehler in der Rhythmisierung eine Barriere für das normgemäße,<br />
flüssige Sprechen sind, gleichzeitig ein Hindernis für die normal und unaufwändig ablaufende<br />
Sprachwahrnehmung und Verarbeitung in der Kommunikation mit den native-speakers.<br />
466<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. ABERCROMBIE, D. (1967): Elements of General Phonetics. Edinburgh: University Press.<br />
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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />
15. KALTENBACHER, E. (1999): Zur Geschichte der deutschen Prosodik. In: Germanistische Linguistik 141-142, 191-<br />
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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
467
THEMENBEREICHE DER GEGENWÄRTIGEN SEMIOTIK<br />
Mit Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
Jan Kajfosz<br />
Die Bezeichnung Semiotik, abgeleitet vom griechischen ‘semeion’ (Zeichen) steht für die<br />
Lehre von den Zeichen und Zeichenprozessen. Die Semiotik, die in der Vergangenheit eine Teildisziplin<br />
der Philosophie war, hat sich zu einer äußerst transgressiven, also grenzüberschreitenden<br />
Wissenschaft entwickelt, die heutzutage innerhalb vielerlei Fächer betrieben wird,<br />
darunter im Rahmen der Philosophie, Logik, Ästhetik, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft<br />
und in anderen Fächern.<br />
Der Gegenstand der Semiotik ist das Zeichen, also etwas, was für etwas anderes steht und<br />
sogleich zu etwas steht, hauptsächlich zu dem wahrnehmenden Menschen. Anders gesagt: das<br />
Zeichen ist das, was etwas anderes repräsentiert, und zwar im Bezug auf ein wahrnehmendes<br />
Subjekt (Oehler 2000: 18). Das grüne Licht an der Ampel ist ein Zeichen zumindest in dem Sinne,<br />
dass es im Kontext des Straßenverkehrs die Erlaubnis zur Fortbewegung repräsentiert (es steht<br />
für etwas), und zwar im Bezug auf den Autofahrer, der an der Straßenampel vorbeifährt, oder<br />
auf den Fußgänger, der die Straße überquert (es steht zu etwas). Im gleichen Sinne gilt als Zeichen<br />
das rote Licht, das in demselben Kontext das Verbot der Fortbewegung vermittelt. Am angeführten<br />
Beispiel sind zwei Tatsachen zu beachten: Erstens, das Zeichensein des Zeichens besteht<br />
bloß in der kontextgebundenen Relation zwischen dem Zeichen (grünes Licht / rotes Licht)<br />
und seiner Bedeutung (Erlaubnis / Verbot): nicht jedes grüne Licht repräsentiert die Erlaubnis<br />
und nicht jedes rote Licht repräsentiert das Verbot (vgl. grüne und rote Lichter am Tannenbaum).<br />
Diese Relation hat dabei konventionellen, und dadurch arbiträren Charakter: die Bedeutung der<br />
Farben könnte auch umgekehrt sein, oder sie könnten durch andere Farben ersetzt werden,<br />
wenn sich an dieser Änderung die ganze Sprach- und Kulturgemeinschaft einigen würde.<br />
Zweitens, die Repräsentation der Bedeutung durch das Zeichen gilt nicht an sich, sondern, wie<br />
gesagt, nur im Bezug auf jemanden, z.B. auf den Autofahrer, der sie zu verstehen weiß — sie gilt<br />
etwa nicht für einen Hund, der an der Ampel vorbeiläuft.<br />
1. Verstecktheit der Zeichen<br />
Innerhalb der Lebenswelt, die sich dem Menschen meistens als nicht thematisierter, selbstverständlicher<br />
Horizont seines Handelns, Wahrnehmens, Erkennens und Verstehens (oder Mißverstehens)<br />
darbietet, sind überall Zeichen vorzufinden, auch da, wo man sie gar nicht vermutet<br />
hätte. Außer offenkundigen Zeichen, die als solche erkannt werden (z.B. Lichter an Ampeln,<br />
Straßenzeichen, Firmenmarken usw.) gibt es überall "versteckte" Zeichen, also Zeichen, die sich<br />
an Gestaltung der Lebenswelt beteiligen, ohne dass sich der Mensch dessen unbedingt bewusst<br />
sein müsste. Das wesentlichste Zeichensystem, das sich an unserem Wahrnehmen und Handeln<br />
beteiligt und uns somit die Welt vermittelt, ist die Sprache. Wenn an allem menschlichen Wahrnehmen<br />
und Handeln irgendwelche Zeichensysteme teilhaben, lässt es sich sagen, dass wir in<br />
der Welt der Zeichen leben. Der menschliche Weltbezug hat einen Zeichencharakter zumindest<br />
in dem Sinne, dass er davon abhängt, welche Zeichensysteme an ihm beteiligt sind. Das heißt<br />
wiederum, dass es kaum einen Bereich der menschlichen Erfahrung gibt, der sich der semiotischen<br />
Analyse entziehen könnte. Jeder menschliche Weltbezug ist unter dem Gesichtspunkt der<br />
Zeichensysteme, die sich an ihm beteiligen, analysierbar.
Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
Die Annahme, die Welt werde uns durch Zeichensysteme vermittelt — so, dass die von uns<br />
wahrgenommenen Sachverhalte von vornherein mit Zeichen "verschmolzen" sind — bringt mit<br />
sich die Frage, ob und inwieweit die von uns wahrgenommenen Sachverhalte können durch die<br />
Eigenart des an ihm beteiligten Zeichensystems beeinflusst werden. Da das bedeutendste (oder<br />
primäre) natürliche Zeichensystem die Sprache ist, spricht man in diesem Zusammenhang vom<br />
Weltbild einer Sprache. Wilhelm von Humboldt (1765-1835), deutscher Gelehrter, der im<br />
Kontext der europäischen Sprachwissenschaft die Entdeckung gemacht hat, dass unser Weltbild<br />
von der von uns gebrauchten Sprache abhängig sein kann, machte in seiner Abhandlung "Über<br />
das vergleichende Sprachstudium" von 1820 folgende Bemerkung: "Durch die gegenseitige Abhängigkeit<br />
des Gedankens und des Wortes voneinander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen<br />
nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die<br />
vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen,<br />
sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst" (Apel 1991: 106). Anders ausgedrückt<br />
heißt es, in ihrer Gesamtheit bestimmen die Wörter einer Sprache in ihrer Gliederung und in<br />
ihren Beziehungen zueinander die Möglichkeiten der Setzung, also das, was von der Wirklichkeit<br />
erfasst werden kann und wie es erfasst werden kann (Porzig 1950: 366). Dies ist im Kontext der<br />
Semiotik nichts anderes als Anerkennung der Rolle des Zeichens (darunter Wortes) und des Zeichensystems<br />
(darunter der Sprache) in der menschlichen Wahrnehmung und seiner Fähigkeit das<br />
von dem Menschen Wahrgenommene mitzubestimmen und mitzugestalten.<br />
Man sieht also, dass es sich hier ein direkter Übergang zwischen der Semiotik und der Theorie<br />
des sprachlichen Relativismus ebnet, die im Überprüfen besteht, wie und inwieweit die von<br />
dem Menschen wahrgenommenen Sachverhalte von der von ihm gebrauchten Sprache — als<br />
Zeichensystem verstanden — abhängig sein können. Die wichtigsten Verfechter dieses Ansatzes<br />
auf dem amerikanischen Kontinent waren Edward Sapir (1884-1936) und Benjamin Lee Whorf<br />
(1897-1941), in Europa war es der oben erwähnte Wilhelm von Humboldt und alle seine Nachfolger,<br />
unter ihnen der Begründer der sog. inhaltbezogenen Sprachwissenschaft, Leo Weisgerber.<br />
Ähnliches geschah in der zweiten Hälfte des 20. Jhs auf dem Gebiet der Kulturtheorie, vor allem<br />
in Frankreich, wo sich der konstruktivistische Ansatz entwickelte, inspiriert durch das Werk von<br />
Ferdinand de Saussure (1857-1913). Im Rahmen dieses Ansatzes wurden vielerlei aufschlussreiche<br />
Versuche unternommen, die Welt als Kulturgebilde zu thematisieren, d.h. die Rolle der<br />
Kultur als Zeichensystems in der menschlichen Weltauffassung zu erforschen (C. L. Strauss, M.<br />
Foucault, R. Barthes, J. Derrida u.a.) 1 . Auf die Relation zwischen Sprache und Kultur, die die gegenwärtige<br />
Semiotik als innerlich verschmolzene Zeichensysteme auffasst, kommen wir noch zu<br />
sprechen.<br />
Der Zugang zu der Frage nach der Beteiligung der Zeichen an der menschlichen Wahrnehmung<br />
ist durch die Tatsache erschwert, dass sich dem Menschen seine Lebenswelt als Reich<br />
der an sich gebenden Sachverhalte (Dingen und Vorgängen) hergibt und ihn nur selten dazu<br />
veranlasst, sie hinsichtlich der Zeichen, die sich an ihrer Setzung beteiligen, zu hinterfragen. —<br />
"Wahrnehmen" heißt ja eben, etwas "für wahr zu nehmen". Die innere Sicherheit, man nimmt<br />
die Sachverhalte in der Welt unbeteiligt — also "objektiv", so, wie sie in der Tat sind, und wie sie<br />
jeder vernünftige Mensch sehen müsste — nennt man Sprachrealismus (vgl. Weisgerber 1929:<br />
53). Da die Gestalt der von dem Menschen wahrgenommenen Tatsachen neben der Sprache<br />
noch von anderen Zeichensystemen mitbestimmt wird, wie etwa von der Kultur, wäre es angebracht,<br />
vom semiotischen Realismus zu sprechen 2 .<br />
1 Eine elementare Einführung in diese Problematik bieten z.B. G. Deleuze 1993 und J. Culler 1993 an.<br />
2 Im mittelalterlichen Denken taucht Realismus als semiotische Konzeption auf, die auf die Ideenlehre Platos zurückzuführen<br />
ist. Dieser Begriff darf mit dem gegenwärtigen Begriff Realismus (darunter Sprachrealismus) nicht verwechselt<br />
werden, da er im gewissen Sinne seinen Gegensatz bedeutet.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
469
Jan Kajfosz<br />
Die Frage nach der Rolle des Zeichens im menschlichen Wahrnehmen, und daher im menschlichen<br />
Weltverstehen, kann erst da auftauchen, wo der semiotische Realismus, der in der unreflektierten<br />
Einstellung zur Welt gründet, seine Selbstverständlichkeit verliert. Das Zeichen als<br />
Gegenstand der Semiotik wird erst da sichtbar, wo die "naive" Ansicht, die Rolle unserer Sprache<br />
bestehe bloß im Aufkleben von Etiketten auf die vorgegebenen Gegenstände, überwunden wird<br />
(Weisgerber 1971: s. 33-39). Daraus ergibt sich, dass das Zeichen als Gegenstand der Semiotik<br />
— und dadurch die Semiotik als solche — können erst bestimmte Metoden "entstehen" lassen,<br />
und zwar diejenigen, die im reflexiven Hinterfragen der menschlichen Wahrnehmung, des<br />
menschlichen Denkens und Handelns hinsichtlich ihres Zeichencharakters bestehen. Anders gesagt:<br />
erst unter Anwendung gewisser Sehens- und Denkungsart kommt man zur Einsicht, die<br />
menschliche Lebenswelt ist nicht die Wirklichkeit der Dinge, wie sie "an sich" sind, sondern dass<br />
sie uns durch Zeichen vermittelt wird, durch die sie erschlossen und gedeutet, verstellt oder<br />
entstellt, in jedem Fall geprägt wird (Oehler 2000: 13).<br />
Nehmen wir an, wir spazieren in der Stadt und auf einmal erblicken wir einen laufenden<br />
Hund. Man hat dabei den Anschein, man beobachtet einen unmittelbar gegebenen Sachverhalt.<br />
Wenn man jedoch sein eigenes Sehen des Hundes zum Thema macht, sieht man ein, dass die<br />
einfache Erklärung, der laufende Hund sei die Ursache des von uns beobachteten Geschehens,<br />
ungenügend ist. Bevor wir nämlich den laufenden Hund zur Ursache des von uns beobachteten<br />
Geschehens erklären konnten, mussten wir ihn eben als H<strong>UND</strong> erkannt haben. Wir mussten erkannt<br />
haben, dass da vorne ETWAS läuft, und dass es LÄUFT (und nicht etwa KRIECHT oder<br />
SPRINGT), und dass dieses etwas H<strong>UND</strong> ist (Weisgerber 1929: 29, 51-52, Apel 1991: 82).<br />
An jedem Wahrnehmungsurteil — also an jedem erkannten, gesehenen, gehörten oder gespürten<br />
Sachverhalt — beteiligt sich sowohl die postulierte vorbegriffliche Wirklichkeit, die unsere<br />
Sinnen affiziert, als auch die Begriffe unserer Sprache (Eco 2000: 76-98, Roesler 2000:<br />
117-118). Man sieht zwar einen singulären laufenden Hund, nun, mit dem Begriff H<strong>UND</strong> wird<br />
eine Reihe von anderen Objekten und mit dem Begriff LAUFEN eine Reihe von anderen Geschehen<br />
oder Geschehnissen gestellt 3 . Begriffe, die sich an unserer Wahrnehmung beteiligen,<br />
sind somit das Allgemeine, das im Konkreten present ist. Der laufende Hund ist in dem Sinne als<br />
eine Synthese des Konkreten und des Allgemeinen (oder: Kategorialen) anzusehen, was u.a.<br />
heißt, dass an der konkreten "Ursache unserer Wahrnehmung" das Allgemeine, Kategoriale oder<br />
Begriffliche, das im Sprachzeichen seinen Ausdruck findet, von vornherein present ist 4 . Die Anwesenheit<br />
des Abstakten (oder: Kategorialen) im wahrgenommenen Konkreten wird in der<br />
gegenwärtigen Sprachwissenschaft als Problem der Kategorisierung aufgenommen 5 .<br />
Der Mensch hat tatsächlich kein Vermögen, ohne Mitwirkung der Sprache als eines grundlegenden<br />
Zeichensystems irgend etwas wahrzunehmen, so dass es sich sagen lässt: Welt ist nur,<br />
sofern sie semiotisch, darunter sprachlich, vermittelt ist (Heintel 1991: 162). Das gilt auch für<br />
Sachverhalte, die sozusagen "unmittelbar sinnlich" wahrgenommen werden, wie etwa Kopfschmerzen.<br />
Sobald wir Kopfschmerzen in dem Sinne verspüren, dass wir den SCHMERZ in un-<br />
3 Einer der grundlegenden Argumente, an denen sich die Theorie des sprachlichen Relativismus seit ihren Anfängen<br />
stützt, ist die Entdeckung, dass dem Menschen ein Sachverhalt eher als ein Ding oder eher als ein Geschehnis erscheinen<br />
mag, je nach der Sprache, durch die sein Weltbild gestaltet wird. B.L. Whorf kam als erster mit der These,<br />
dass da, wo die Europäer eine klare Trennlinie zwischen Dingen und Geschehnissen sehen, die Indianer Hopi in einigen<br />
Fällen nicht unterscheiden können, und dass Sachverhalte, die den Europäern eher als Dinge vorkommen, von<br />
den Hopi eher als Geschehnisse angesehen werden (vgl. Whorf 1956).<br />
4 vgl. "Das Verhalten des sprachtüchtigen Menschen und die Art seiner sprachlichen Benennung beruht darauf, daß er<br />
die Erscheinungen nicht konkret-vereinzelt sieht, sondern kategorial, in begrifflicher Verarbeitung auffaßt (Weisgerber<br />
1929: 18).<br />
5 vgl. Lakoff 1987, Jackendoff 1983.<br />
470<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
serem KOPF lokalisieren können, geschieht es unter Mitwirkung der sprachlich verankerten Begriffswelt.<br />
Gleiches gilt für das Denken: unsere Gedanken müssten in nichts zerflattern, wenn<br />
nicht die Begriffe den festen Punkt darstellen würden, um die sie sich kristallisieren könnten.<br />
Ohne Sprache wäre unser Denken kaum vorstellbar (Weisgerber 1964: 180). Sprachzeichen haben<br />
integrierende Funktion auch im anderen Sinne — sie vermögen die Mannigfaltigkeit der<br />
Sinneseindrücke zur Einheit zu bringen (Roesler 2000: 117): wenn wir einem Hund begegnen,<br />
sehen wir, wie er aussieht; wir hören, wie er uns anbellt oder anwinselt; wir tasten sein Fell,<br />
wenn wir ihn streichen; wir spüren vielleicht auch seinen Geruch. Alle Eigenschaften des Hundes<br />
erleben wir dabei als integrative Teile einer einzigen wahrgenommenen Entität. Obgleich wir<br />
Informationen aus unserer Umgebung über viele verschiedene Sinneskanäle aufnehmen, werden<br />
die vielfältigen Sinneseindrücke kohärent zu einer Erlebniswelt zusammengefügt, an deren Gestaltung<br />
Begriffe — also Sprachzeichen — teilnehmen (vgl. Schwarz 1992: 92-93).<br />
2. Kontextualität der durch Zeichen erschlossenen Welt<br />
Obschon die Wahrnehmungsurteile sprachlichen Charakter haben, heißt es noch nicht, dass<br />
sie auch sprachlichen Ausdruck haben müssen. Sie finden ihren Ausdruck hauptsächlich im angewöhnten<br />
Handeln: man braucht sich nicht jederzeit, wenn man einem Hund begegnet, vor<br />
Augen zu führen, dass er uns keine Auskunft über die neueste Wettervorhersage geben kann;<br />
einem geht auch nie durch den Kopf, man könnte von ihm einen Strafzettel bekommen, wenn<br />
man falsch geparkt hat. Wenn auf uns auf der Straße ein Hund zukommt, merken wir es in der<br />
Regel nur so nebenbei, es sei denn wir schrecken zurück vor Angst, dass er uns beißen könnte,<br />
oder wir sprechen ihn freundlich an und streichen ihn. Immerhin weiß man von vornherein, wie<br />
man mit so einem "Objekt" umgeht und was von ihm zu erwarten ist. An diesem Beispiel kann<br />
man Zweierlei bemerken: erstens, unsere Wahrnehmungsurteile sind kontextbezogen und haben<br />
einen direkten Bezug auf unser Handeln, zweitens, über die Beschaffenheit der angetroffenen<br />
"Objekte" urteilt man meistens spontan und aus Gewohnheit (van Dijk 2001, 1987). Man urteilt,<br />
ohne sich dessen bewusst zu sein. Die angetroffenen Dinge stellen nur selten Gegenstände der<br />
gezielten oder theoretischen Betrachtung dar (Roesler 2000: 119). Die meisten Dinge werden<br />
dabei mittels ihrer Funktionen wahrgenommen: der H<strong>UND</strong> dient zum HÜTEN, das AUTO zum<br />
FAHREN, der FUSSWEG zum GEHEN, das HAUS zum WOHNEN, die SONNE zum SCHEINEN —<br />
diese Funktionen sind von vornherein anwesend, obwohl über sie gezielt gar nicht nachgedacht<br />
wird. Wir sehen also, dass unsere Lebenswelt mit unserem Begriffsuniversum untrennbar verbunden<br />
ist. Sie stellt sich als Reich des angewöhnten, handlungsbezogenen und nur selten<br />
reflektierten Sinnes dar. Die Lebenswelt gibt sich uns als selbstverständliche — "von Anfang an"<br />
und "von sich selbst" geltende — Ordnung, sie gibt sich uns als das, was die alten Griechen<br />
Kosmos nannten, der für sie den Gegensatz von Chaos bedeutete 6 . Diese Ordnung ist immer als<br />
Synthese des Vorsprachlichen und Sprachlichen, des Vorkulturellen und Kulturelen — also des<br />
Vorsemiotischen und Semiotischen — zu verstehen, so dass sie weder auf "reine", an sich<br />
seiende Natur (Tatsachenwahrheit), noch auf die Sprache und alle anderen semiotischen<br />
Systeme, die dem Menschen die Natur vermitteln, zurückgeführt werden kann 7 .<br />
6 Die Lebenswelt als vortheoretisch gegebene Welt, die intentionalen (subjektbezogenen) Charakter hat, wurde zum<br />
Thema in der Phänomenologie Edmund Husserls. Sein tschechischer Schüler Jan Patočka versuchte diese Auffassung<br />
mit der Erkenntnis über aktive Rolle der Sprache in der Wahrnehmung in Einklang zu bringen (vgl. Patočka J.: Přirozený<br />
svět jako filosofický problém, Praha 1992; deutsch: Die natürliche Welt als philosophisches Problem, Stuttgart<br />
1990)<br />
7 vgl. "Die Namen sind ein Mittel, durch das sich die Gemeinschaft mit ihrer Umwelt auseinandersetzt, sie gliedert und<br />
deutet. Dabei ist sie abhängig sowohl von der Beschaffenheit des menschlichen Seelenlebens und seinen Antworten<br />
auf die Eindrücke der Welt als auch von der geistigen und kulturellen Lage, in der sie sich jeweils befindet." (Porzig<br />
W.: Das Wunder der Sprache, Bern 1950, S. 44-45)<br />
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471
Jan Kajfosz<br />
Im Zusammenhang mit der Kontextualität, Handlungsbezogenheit und verhältnismäßiger<br />
Unbewusstheit der Wahrnehmungsurteile ist auch ihr axiologischer Aspekt zu erwähnen. Der<br />
Mensch ist ständig im Reich der vortheoretisch gegebenen und reflexiv wenig bewussten Werte<br />
eingebettet, die ebenso von seiner Begriffswelt nicht wegzudenken sind. Man beachte erneut<br />
das Beispiel mit dem laufenden Hund: sobald wir einen H<strong>UND</strong> bemerken, erkennen wir ihn als<br />
unseren FRE<strong>UND</strong>, der sich uns gegenüber freundlich verhält; oder vielleicht als einen herrenlosen<br />
PENNER, der HUNGER hat, so dass einem durch den Kopf geht, mann sollte ihm zu essen<br />
geben (= Zuneigung); oder wir erkennen ihn als eine BLUTIGE BESTIE (= Abneigung), die uns<br />
bestimmt BEISST, sie kann an TOLLWUT leiden, man wird also zum ARZT müssen, wo einem<br />
SPRITZEN drohen usw. Jeder von uns wahrgenommene Sachverhalt gibt sich uns in einem Motivationskontext<br />
her, der mehr oder weniger axiologisch geprägt ist (vgl. van Dijk: 2001, 1987).<br />
Die konkrete Gestalt der wertenden Prägung kann dabei durch unsere frühere unmittelbare oder<br />
vermittelte Erfahrungen gegeben werden, die unter Mitwirkung des Begriffsystems unserer<br />
Sprache entstanden sind, darunter unter Mitwirkung der Stereotype.<br />
Unter Stereotypen versteht man Begriffe oder Begriffststrukturen, die mit erstarrten, vereinfachten,<br />
kollektiv bedingten und gepflegten Wirklichkeitsbildern verbunden sind, die eine eindeutige<br />
wertende Prägung haben. Sie können sich beziehen auf Sachen, Tiere, Menschen und<br />
Menschengemeinschaften, Institutionen usw. Da nicht nur Stereotype, sondern auch alle<br />
anderen Begriffe mehr oder weniger mit erstarrten und vereinfachten Wirklichkeitsbildern verbunden<br />
sind, ist die Trennlinie zwischen "gewöhnlichen" Begriffen und Stereotypen gar nicht<br />
scharf. Aus den vorangegangenen Erwägungen über die Angewöhntheit und Kontextbezogenheit<br />
der Sprachzeichen lässt sich schliessen, dass jedes Wort, das etwas bedeutet, mehr oder weniger<br />
stereotyp sein muss. Das Leben der Stereotype — wie das Leben aller anderen Begriffe — erfolgt<br />
im Rahmen der Zusammenwirkung zwischen der unmittelbaren Erfahrung des einzelnen<br />
Menschen und Erfahrungen Anderer, die durch das Erzählte oder im Sprachsystem Niedergeschlagene<br />
an ihn vermittelt werden. Die Stereotype — samt aller Begriffe und<br />
Begriffstrukturen der Sprache — prägen unsere Erwartungen (z.B.: PITBULLS SIND BLUTIGE<br />
BESTIEN), unsere Erwartungen wirken wieder in unsere Erfahrungen hinein (jeder PITBULL jagt<br />
uns Angst ein), die Erfahrungen stärken wiederum die mit ensprechenden Stereotypen verbundenen<br />
Erwartungen usw. Die Spirale des sich steigenden Einklangs zwischen Begriff, Vorstellung<br />
und Erwartung auf der einen Seite und Erfahrung und Handeln auf der anderen kann<br />
jederzeit durch eine zufällige Erfahrung durchbrochen werden (DIESER PITBULL IST HARMLOS),<br />
sowie durch allerlei andere Anstöße, die die Fähigkeit zum Unterscheiden zwischen dem Allgemeinen<br />
und dem Konkreten herbeiführen können. Die Möglichkeiten solcher semiotischen<br />
Sprach- und Kulturkritik sind oft selbst sprachlich und kulturell bedingt 8 . Fassen wir zusammen:<br />
der Mensch ist immer schon eingespannt in ein System von Überzeugungen, von<br />
Fürwahrhaltungen (‘beliefs’), an denen er so lange festhält, wie ein widerstandsloser Umgang<br />
mit seinen Umständen ihm dies ratsam erscheinen lässt (Oehler 2000: 16). Anders gesagt: jede<br />
faktische Begegnung des Menschen mit "reinen" Tatsachen findet schon im Lichte eines<br />
semiotisch — darunter sprachlich — vorgreifenden Bedeutungskontextes oder Weltverständnisses<br />
statt, gleichwohl kann solche Begegnung in einem gewissen Sinne "unvoreingenommen" und<br />
"ursprünglich" sein (ES GIBT HARMLOSE PITBULLS) (vgl. Apel 1991: 117-119).<br />
8 Je nach dem wie stark und erstarrt die Begriffsstrukturen sind, je nach der Haltbarkeit ihrer Vebindung mit entsprechenden<br />
Verhaltensmustern und je nach dem, wie die Verhaltensmuster der Sachlage nach biegsam sind, wird zwischen<br />
paradygmatischen und relationalen Kulturtypen unterschieden. (vgl. Fleischer, M.: Die polnische Diskurslandschaft.<br />
Über paradigmatische und relationale Kulturtypen in: Cultural Semiotics: Facts and Facets, hrsg. von Peter<br />
Grzybek, Bochum 1991, S. 137-159)<br />
472<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
3. Indexikalität von Zeichenprozessen<br />
Oben wurde bemerkt, dass sich die Semiotik sowohl mit Zeichen, als auch mit Zeichenprozessen<br />
beschäftigt. Der Zeichenprozess wird in der Semiotik Semiose genannt. Unter Semiose<br />
versteht man das Funktionieren eines Zeichens. Zeichen und Semiose sind dabei zwei Aspekte<br />
desselben: es gibt keine Zeichen ohne Semiose und keine Semiose ohne Zeichen. Das Wesen des<br />
Zeichens besteht bloß in seiner Funktionalität, also in seiner Fähigkeit etwas anderes zu<br />
repräsentieren. Wenn das Zeichensein des Zeichens in keiner von vornherein gegebenen<br />
‘Substanz’ besteht, sondern in seiner kontextgebundenen Funktion, die je nach Umständen<br />
wechseln kann, heißt das, dass Zeichen prozesuellen Charakter haben, und zwar in dem Sinne,<br />
dass es außerhalb der Semiose keine Zeichen gibt. Alles kann Zeichen sein: sobald etwas etwas<br />
anderes zu repräsentieren beginnt, haben wir mit einer Zeichenfunktion zu tun. Die Zeichenfunktion<br />
können dabei sowohl Concreta, als auch Abstracta haben: sowohl ein gesehenes rotes<br />
Licht, als auch ein erdachtes rotes Licht können in unserem Bewusstsein einen Gedanken an das<br />
Fahrverbot hervorrufen. Anders ausgedrückt: das Fahrverbot kann sowohl durch ein gesehenes<br />
rotes Licht repräsentiert werden, als auch durch ein rotes Licht, das es nur in unseren Gedanken<br />
gibt. Noch einmal zusammengefasst: mit der Semiose haben wir überall zu tun, wo für<br />
jemanden ein Zeichen (= ein Bezeichnendes) etwas (= ein Bezeichnetes) vermittelt, egal ob man<br />
sich dessen Vermittelns bewusst ist. Wie wir oben gesehen haben, ist nicht jede Semiose<br />
unmittellbar einsehbar.<br />
Jede Semiose besteht im Urteilen aus Zeichen (Oehler 2000: 35, Eco 2000: 76-80) — daher<br />
Wahrnehmnungsurteile (siehe oben). Sie kann mehr oder weniger angewöhnt ("automatisch")<br />
und dementsprechend weniger oder mehr anstrengend, und dadurch auch bewusst sein. Es gibt<br />
sowohl Erfahrungsbereiche, wo man sich seines Urteilens äußerst bewusst ist, z.B. vor Angst,<br />
man könnte etwas falsch interpretieren, als auch Erfahrungsbereiche, wo man aus etwas auf<br />
etwas schließt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn die Straße mit Pfützen bedeckt ist,<br />
wissen wir gleichsam, dass es kurz zuvor regnen musste. Die Pfützen stellen im Bezug auf den<br />
Regen das Bezeichnende, der Regen wiederum das Bezeichnete dar. Die Gedankenverbindung<br />
zwischen den Pfützen und dem Regen ist so selbstverständlich, dass man gar nicht merkt, man<br />
schließt aus dem einen auf das andere, und zwar so, dass man einem Zeichen (die Pfütze) eine<br />
Bedeutung (der Regen) zuordnet. Solche Zuordnung erfolgt immer innerhalb eines Interpretationsrahmen,<br />
der u.a. aus unseren Denkgewohnheiten und früheren Erfahrungen besteht 9 .<br />
Diesen Interpretationsrahmen kann man als Vorrat von Regeln verstehen, nach denen die<br />
Semiose erfolgt. Diese Regeln werden in der Semiotik Kode genannt. Da jedes Wahrnehmen<br />
nach irgendwelchen Regeln erfolgt, die in unseren früheren Erfahrungen und in mit ihnen zusammenhängenden<br />
Zeichensystemen (darunter in der Sprache) ihren Ursprung haben, heißt es,<br />
die Semiose beginnt nie "von Anfang an" 10 . Jedes Schließen von etwas auf etwas setzt nämlich<br />
einen Kode voraus — es setzt voraus, dass man sich inmitten seiner Lebenswelt befindet, die als<br />
Horizont (Bedeutungskontext) unseres Wahrnehmens und Interpretierens von vornherein anwesend<br />
ist, selbst wenn man mit einem unbekannten Sachverhalt konfrontiert ist, den man zu<br />
interpretieren versucht. Jedes Unbekannte, an das wir antreffen, gibt sich uns somit immer im<br />
Rahmen des Bekannten und Vertrauten, das den Grund darstellt, aus dem alle Versuche, dieses<br />
9 Wir erinnern daran, dass selbst dieser Interpretationsrahmen einen Zeichencharakter hat, und zwar in dem Sinne,<br />
dass unsere Erfahrungen und Gewohnheiten in Begriffen und Begriffstrukturen unserer Muttersprache eingebettet<br />
sind (vgl. Weisgerber 1964).<br />
10 vgl. "Wir erlernen die meißten ‘Wortinhalte’ nicht bewußt, erst recht nicht kraft einer Definition; vielmehr ist gerade<br />
das die wunderbare Leistung der Sprache, daß unter ihrem Einfluß dieses Wissen unbewußt heranwächst; daß sie es<br />
dem Menschen ermöglicht, alle seine Erfahrungen zu einem Weltbild zu vereinigen, und ihn darüber vergessen läßt,<br />
wie er früher, vor der Spracherlernung, den Erscheinungen gegenüberstand." (Weisgerber 1929, S. 29-30)<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
473
Jan Kajfosz<br />
Unbekannte zu erfassen, unternommen werden. Jeder Sachverhalt wird immer im Bezug auf<br />
einen anderen Sachverhalt verstanden, dieser wieder auf einen anderen usw. Mit anderen<br />
Worten: die Semiose setzt eine andere (frühere) Semiose voraus, die wieder eine andere usw. bis<br />
ins Unendliche (Buczyńska-Garewicz 1978: 3-15). Dies ist nichts anderes als Feststellung der<br />
Tatsache, das unser Wahrnehmen, Verstehen und Interpretieren immer kontextgebunden ist, d.h.<br />
dass es immer durch etwas mitbestimmt ist.<br />
Es wurde schon erwähnt, dass das Urteilen aus Zeichen entweder mehr aus Gewohnheit erfolgt,<br />
so dass es eher "automatischen" Verlauf haben kann, oder dass es mehr Anstrengung in<br />
Anspruch nimmt. Anders gesagt: die Beziehung zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung<br />
kann entweder mehr eindeutig und selbstverständlich sein, oder auch weniger eindeutig, so dass<br />
sie von uns gewisse Erfindungskraft fordert. Je nach dem wie eindeutig die Beziehung zwischen<br />
dem Zeichen und seiner Bedeutung ist, unterscheidet man zwischen bloßem Wahrnehmen und<br />
dem Interpretieren. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass sowohl dem einen, als auch<br />
dem anderen Urteilen zu Grunde liegt, so dass es zwischen Wahrnehmen und Interpretieren<br />
keinen prinzipiellen Unterschied gibt (vgl. Eco 2000: 76-77).<br />
Wie oben gezeigt wurde, auch bloßes Bemerken eines laufenden Hundes, das im Herstellen<br />
der Beziehung zwischen dem, was unsere Sinnen affiziert, und Begriffen unserer Sprache besteht,<br />
Urteilen voraussetzt 11 : ich sehe, in der Ferne BEWEGT SICH ETWAS, und weiter erkenne<br />
ich, dass es sich um einen H<strong>UND</strong> handelt, der LÄUFT. Jeder beobachtete Sachverhalt wird als<br />
solcher immer an etwas erkannt. Sofern lässt sich sagen, dass jedes Erkennen von etwas als<br />
etwas gewisse Relation zwischen dem Erkannten (repräsentiertes Objekt) und dem, woran das<br />
Erkannte erkannt worden ist (repräsentierendes Zeichen), voraussetzt. Jedes Erkennen von einem<br />
Sachverhalt beruht also auf Schließen aus etwas auf etwas. Anders gesagt: es beruht auf<br />
Schließen aus einem Bezeichnenden auf sein Bezeichnetes.<br />
Erst da, wo für den Menschen das Urteilen aus Zeichen mehr Anstrengung und Erfindungskraft<br />
fordert, wird das Urteilen als solches erst ausdrücklich bewusst. Liest man eine Zeitung,<br />
hat man gar nicht das Gefühl, unser Lesen beruht auf Urteilen. Handelt es sich um einen fremdsprachigen<br />
Text, wobei wir die Sprache, in der er aufgeschrieben ist, nur teilweise beherrschen,<br />
nimmt die Entzifferung des Textes mehr Anstrengung und Erfindungskraft in Anspruch. Je<br />
weniger wir die Regeln (den Kode) beherrschen, nach denen dem Zeichen seine Bedeutung zugeordnet<br />
wird und je weniger eindeutig diese Regeln sind, desto mehr wird unser Wahrnehmen<br />
zum Interpretieren. Die feinste Interpretationskunst kennen wir aus Kriminalromanen, in denen<br />
Detektive seltsame Regeln (Kodes) je nach Bedarf herausfinden müssen, nach denen anscheinend<br />
unbedeutenden — und deswegen gar unbemerkbaren — Merkmalen oder Anzeichen<br />
bestimmte Bedeutungen zugeordnet werden, was zum Entschlüsseln der Umstände eines Verbrechens<br />
und zur Erklärung dieses Verbrechens führt. Hier erscheint uns das Urteilen aus Zeichen<br />
(z.B. aus am Tatort hinterlassenen Spuren) auf Umstände eines Verbrechens als feinste,<br />
höchstkomplizierte Interpretation. Sherlock Holmes sieht interpretierbare Anzeichen — also<br />
Zeichen — auch da, wo es für andere gar keine gibt, und zwar deshalb, weil sein Interpretieren<br />
alle herkömmlichen Interpretationskriterien (Kodes) übertrifft (vgl. Sebeok 2000: S. 92-93). Ch.S.<br />
Peirce, Schöpfer der gegenwärtigen Semiotik, nannte das Urteilen von etwas auf etwas Abduktion<br />
(Eco 1984: 39-43, Eco 2000: 59-98, Wirth 2000: 137-139). Unter diesem Begriff verstand<br />
er Erfindung von Hypothesen, die ermöglichen, eine Relation zwischen einem Zeichen und<br />
seiner Bedeutung herzustellen, die, wenn sie einmal erfahrungsgemäß verifiziert ist, zu anderen<br />
11 I. Kant spricht in diesem Zusammenhang von Wahrnehmungsurteilen. Die Beziehung zwischen dem Begriff und<br />
dem, was unsere Sinnen afiziert, ist nur unvollkommen nachvollziehbar: alles, was wir wahrnehmen, stellt von vornherein<br />
eine Synthese des Begrifflichen und des Vorbegrifflichen dar (vgl. Eco 2000, S. 66-98).<br />
474<br />
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Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
Hypothesen führt oder andere Hypothesen verifiziert. Wie wir oben erwähnt haben, kann die<br />
Abduktion unsere Erfindungskraft weniger oder mehr in Anspruch nehmen: wenn wir bemerken,<br />
dass jemand ständig SCHNEUZT (das Bezeichnende oder Repräsentierende), wissen wir gleich,<br />
dass er SCHNUPFEN hat (das Bezeichnete oder Repräsentierte), ohne etwas bewusst interpretiert<br />
zu haben — wir "sehen" es einfach. Wenn ein Arzt aufgrund anstrengender Deutung<br />
einiger schwer bemerkbaren Symptome eine Erkrankung feststellt, die dann durch spätere<br />
Untersuchungen bestätigt wird, handelt es sich um Abduktion "im stärkeren Sinne".<br />
4. Künstliches und natürliches Zeichensystem<br />
Oben haben wir angeführt, dass in der Semiotik alle Regeln, nach denen einem Zeichen seine<br />
Bedeutung zugeordnet wird (z.B. einem Symptom entsprechende Erkrankung), Kodes genannt<br />
werden. Je nachdem, wie eindeutig diese Regeln sind, unterscheiden wir zwischen "harten" und<br />
"weichen" Koden (Eco 1984: 36-39, Giraud 1974: 31-33). Als "harter" Kode ist jede exakte,<br />
künstliche Sprache — also Computersprache oder die Sprache der Logik — zu betrachten, die in<br />
Folge des eindeutigen Definierens entstanden ist. "Harte" Kodes sind grundsätzlich kontextlos.<br />
Einmal festgesetzte Regeln sind in allen Kontexten und unter allen Umständen dieselben. In<br />
dem Sinne sind künstliche Sprachen von ihren Schöpfern völlig "kontrollierbar". Der "harte"<br />
Kode kann sich nur dann ändern, wenn man ihn erneut definiert, wenn man also die Regeln der<br />
Zuordnung von Zeichen und ihren Bedeutungen neu festsetzt.<br />
Keine völlig exakte Sprache (z.B. Computersprache), die aus endlichen Mengen von Zeichen<br />
und Regeln ihrer Anwendung besteht, ist vollständig in dem Sinne, dass sie durch sich selbst<br />
definiert werden kann. So eine Sprache ist von einer Sprache höherer Ordnung abhängig, mittels<br />
sie sie definiert wird. Anders gesagt: jede künstliche Sprache ist durch ihre Metasprache<br />
definiert, von der sie jedoch muss getrennt sein. Jede Kontamination zwischen der Sprache und<br />
ihrer Metasprache würde zu Kontradiktionen und dadurch zu Fehlern führen. Der Grund, weshalb<br />
keine exakte Sprache sich selbst definieren kann, ist folgender: "kein Satz kann etwas über<br />
sich selbst aussagen, weil das Satzzeichen nicht in sich selbst enthalten sein kann" (Wittgenstein<br />
1993: 3.332). Dies könnte man demonstrieren am seit der Antike bekannten Fall von Kreter,<br />
der sagt, alle Kreter seien Lügner. Für die Logik gilt es, dass man keine Bedingungen finden<br />
kann, unter denen man entscheiden könnte, ob er die Wahrheit sagt oder ob er lügt. Ludwig<br />
Wittgenstein (1889-1951), einer der bedeutendsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts,<br />
der in seinem Frühwerk zwischen der exakten Sprache der Logik und der natürlichen Sprache<br />
keinen Unterschied sieht, behauptet, man kann über seine eigene Sprache mit derselben Sprache<br />
gar nicht sprechen, weil es unsinnig wäre (Wittgenstein 1993: 6.54). Wenn es zwischen der<br />
Sprache der Logik ("harter" Kode) und der natürlichen Sprache keinen Unterschied gäbe, hätte er<br />
sicherlich Recht gehabt.<br />
Im Gegensatz zu "harten" (also völlig definierten) Koden ist die natürliche Sprache — also<br />
jede Muttersprache — als "weicher" Kode zu verstehen. Sie ist dem Menschen apriorisch gegeben<br />
in dem Sinne, dass jedes Definieren innerhalb der natürlichen Sprache durch nicht<br />
definierte Bedeutungen bedingt ist (Wittgenstein 1989: § 87) 12 . Die natürliche Sprache ist von<br />
dem Menschen nur teilweise "kontrollierbar", weil sie von ihm als Ganzes gar nicht eingesehen<br />
werden kann (Wittgenstein 1989: § 29). Das Kind, das seine Muttersprache lernt, lernt die<br />
12 vgl.: "Die Wissenschaft entsteht in einer Form der Betrachtung, die, bevor sie einsetzen und sich durchsetzen kann,<br />
überall gezwungen ist, an jene ersten Verbindungen und Trennungen des Denkens anzuknüpfen, die in der Sprache<br />
und in den sprachlichen Allgemeinbegriffen ihren ersten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben" (E. Cassirer:<br />
Philosophie der symbolischen Formen, I. Die Sprache, II. Das mythische Denken, Berlin 1923-25, S. 13)<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
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Jan Kajfosz<br />
Regeln, nach denen Sprachzeichen ihre Bedeutungen zugeordnet werden, nie explizit 13 . Sie sind<br />
ihm zugänglich bloß innerhalb des jeweiligen Sprachgebrauchs, sie werden ihm in der Regel<br />
nicht erklärt, sie werden von ihm eher erraten (Wittgenstein 1989: § 32) und eingeübt<br />
(Wittgenstein 1989: § 5). Da wir in natürlichen Sprachen mit grundlegender Mehrdeutigkeit zu<br />
tun haben, wäre es unmöglich, alle Regeln explizit zu machen, nach denen Sprachzeichen auf<br />
bestimmte Bedeutungen verweisen 14 . Der Mensch beherrscht oft die Regeln der Zuordnung von<br />
Sprachzeichen zu ihren Bedeutungen, ohne sie jemals thematisiert (also: explizit gemacht) zu<br />
haben. Dazu kommt noch die Tatsache, dass sich die Regeln im Sprachgebrauch "von sich selbst"<br />
verändern können. In diesem Sinne sind sie nie definitiv festgesetzt (Wittgenstein 1989: § 83).<br />
Dass die natürliche Sprache ein semiotisches System ist, das in seiner Ganzheit von seinem<br />
Träger, dem Menschen, nie völlig eingesehen — damit auch definiert — werden kann, ergibt sich<br />
daraus, dass sie grundsätzlich analogisch ist. Die natürliche Sprache ist — wie schon Aristoteles<br />
behauptet — analogisch, weil "die Worte und die Menge der Reden (der Zahl nach) begrenzt<br />
sind, die Dinge aber sind der Zahl nach unbegrenzt. Es ist also notwendig, dass eine Rede und<br />
(das ein Wort) vieles bedeute" (Aristoteles, Soph. El. 1, 165a 2-13) 15 . Wenn ein Wort auf vieles<br />
verweist (z.B. das Wort "Hund" auf vielerlei Hünde), heißt das u.a., dass unsere Aussagen nie<br />
eindeutig, sondern bloß analogisch sein können. Die analogische Mehrdeutigkeit des Wortes<br />
kommt auch daher, dass es unmöglich ist, dass ein Wort als Sprachzeichen zweimal in demselben<br />
syntaktischen, semantischen und pragmatischen Kontext erscheint. Dies findet einen<br />
radikalen Ausdruck in der Definition der Wortbedeutung im Spätwerk von Ludwig Wittgenstein,<br />
wo es heisst, dass Bedeutung des Wortes sein Gebrauch im Text ist (Wittgenstein 1989: § 43).<br />
Die Mehrdeutigkeit der Zeichen ist Voraussetzung für die Fähigkeit der natürlichen Sprache,<br />
sich selbst zu thematisieren, sich zu sich selbst beziehen, über sich selbst auszusagen 16 . Ohne<br />
diese Fähigkeit wäre u.a. Linguistik kaum denkbar. Innerhalb der natürlichen Sprache kann ein<br />
Zeichen auf sich selbst verweisen, weil es mit sich selbst nie völlig identisch ist. Selbst Zeichen,<br />
die man für identisch hält, sind in gewissen Aspekten unterschiedlich, schon deshalb, weil sie<br />
nie in demselbem Kontext zweimal erscheinen können. Der analogische Gebrauch des Zeichens<br />
macht möglich, dass man mit der natürlichen Sprache über sie selbst sprechen kann. Weil das<br />
Zeichen als Bestandteil der natürlichen Sprache immer mehrdeutig ist (was heißt, dass es paradoxerweise<br />
mit sich selbst identisch und zugleich nicht identisch ist 17 ), bildet die Metasprache<br />
ein Bestandteil der natürlichen Sprache (vgl. Geert 1991: S. 598-590).<br />
Man beachte noch einmal das Beispiel der logisch unsinnigen Selbstreferenz des Kreters:<br />
was sich im Bezug auf eine Maschine, die nichts von einer kontexthaften Lebenswelt weiß, als<br />
kontadiktorisch und fehlerhaft erweist, kann für einen Menschen verständlich sein (Weisgerber<br />
1973). Die natürliche Sprache ist vom Menschen und seinen verschiedenen Lebenssituationen —<br />
13<br />
"Wir erlernen die meissten ‘Wortinhalte’ nicht bewusst, erst recht nicht kraft einer Definition; vielmehr ist gerade<br />
das die wunderbare Leistung der Sprache, dass unter ihrem Einfluss dieses Wissen unbewusst heranwächst (...)".<br />
(Weisgerber 1929: 29-30)<br />
14<br />
Wie oben gezeigt wurde, ist die Situation dadurch kompliziert, dass es diese Bedeutungen ohne Zeichen, die auf sie<br />
verweisen, gar nicht gibt. Sie sind mit Zeichen von vornherein synthetisch verbunden ("verschmolzen"), so dass man<br />
sagen kann, dass die Zeichen die Bedeutungen, auf die sie verweisen, überhaupt entstehen lassen.<br />
15<br />
Zitat nach Bocheński, J.M.: Formale Logik, Freiburg — München 1956, S. 64f.<br />
16<br />
Roman Jakobson nennt diese Fähigkeit metasprachliche Funktion der Sprache (Jakobson 1971).<br />
17<br />
Dies hat vor allem in der französischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jhs zu sehr aufschlussreichen Ansätzen<br />
geführt (J. Derrida, G. Deleuze u.a.), was kann im Text, der sich grundsätzlich auf sprachwissenschaftliche Semiotik<br />
konzentriert, nicht berücksichtigt werden. Eine zugängliche Einführung in diese Problematik mit entsprechender<br />
Bibliographie findet der Leser z.B. in V. Descombes: Le méme et l'autre, Paris 1979 oder J. Habermas: Der philosophische<br />
Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985.<br />
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Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
also Kontexten — nicht wegzudenken, sie ist auch, wie oben gesagt, immer mit spontan wahrgenommenen<br />
axiologischen Inhalten verbunden. Es ist deswegen nicht schwer, sich einen Kreter<br />
vorzustellen, den einige seiner Landsleute betrogen haben, worauf er verzweifelt ausruft, alle<br />
Kreter seien Lügner. — Aussage, die innerhalb der exakten, kontextfreien Sprache sinnlos ist,<br />
kann innerhalb der natürlichen Sprache einen Sinn haben, und zwar deshalb, dass dank der<br />
Mehrdeutigkeit der natürlichen Sprache (des "weichen" Kodes) der aussagende Kreter mit den<br />
Kretern, über die ausgesagt wird, nur teilweise identisch ist.<br />
Natürliche Sprache ist "hart" genug (also: eindeutig genug), um die Kommunikation überhaupt<br />
möglich zu machen, gleichsam ist sie "weich" genug (also: mehrdeutig genug), um die<br />
Reflexivität zu sichern, die in ihrer Analogie, also im metaphorischen Reichtum der sprachlichen<br />
Begriffe gründet. Innerhalb der natürlichen Sprache ist die Exaktheit graduierbar: in Fachsprachen<br />
haben wir mit stärkerer Eindeutigkeit, in der Sprache der Poesie haben wir wiederum<br />
mit stärkerer Mehrdeutigkeit zu tun. Die Regeln für die Herstellung der Verbindungen zwischen<br />
Sprachzeichen und ihren Bedeutungen — also die Regeln der Textinterpretation — sind in der<br />
Sprache der Poesie am meisten vage und kontextgebunden. Je stärkere Mehrdeutigkeit, desto<br />
mehr Aufwand bei der Entschlüsselung, und umgekehrt: da, wo der Kode eindeutig festgesetzt<br />
ist, bedarf es keiner Entschlüsselung — alles ist exakt vorgegeben (Giraud 1974: 31-33).<br />
Im Zusammenhang damit ist darauf hinzuweisen, was oben über die Indexikalität der Zeichen<br />
gesagt wurde: in der Sprache der Poesie fällt die Deutung der Zeichen am schwersten, weil<br />
die Regeln, nach denen den Zeichen entsprechende Bedeutungen zugeordnet werden, oftmals in<br />
Gestalt schlaffer Indizien auftreten. Deswegen muss bei der Interpretation eines poetischen<br />
Textes nach Bedeutungen gesucht werden. Wie oben betont, besteht der Unterschied zwischen<br />
dem Lesen und dem Interpretieren darin, wieviel Aufwand und Erfindungskraft die Suche nach<br />
Bedeutungen, die von den Zeichen repräsentiert werden, fordert. Dies gilt auch für die<br />
elementarste Ebene: wenn man sich an den Anfang seiner Schuljahre erinnert, erinnert man sich<br />
daran, dass man die Sätze in der Fibel am Anfang mehr "interpretierte" als las, und dass im<br />
Laufe der Zeit, wo sich die Lesefähigkeit stärker entwickelte (also: wo die Regeln der Zuordnung<br />
der Bedeutungen zu entsprechenden Sprachzeichen besser eingeübt wurden), "Interpretieren" in<br />
Lesen überging.<br />
5. Dyadisches Zeichenmodell (Ferdinad de Saussure)<br />
Ferdinand de Saussure gilt als Begründer der strukturellen Linguistik und dadurch als Begründer<br />
der modernen Sprachwissenschaft. Seine Ansichten an das Wesen des Sprachzeichens<br />
und an die Sprache als Zeichensystem sind im Cours de linguistique générale (deutsch: Grundfragen<br />
der allgemeinen Sprachwissenschaft) enthalten, das, nachdem es nach Saussures Tode<br />
von seinen Studenten verfasst worden war, im Jahre 1916 erschien. In diesem Werk wird der<br />
Bedarf geäußert, eine Wissenschaft, die Beschaffenheiten der Zeichen erforschen würde, ins<br />
Leben zu rufen, die er Semiologie 18 nannte und Linguistik als ihre Teildisziplin betrachtete, und<br />
zwar deshalb, weil es neben der Sprache auch andere Zeichensysteme gibt.<br />
Nach Ferdinand de Saussure ist das Zeichen (frz. "signe") eine Einheit von zwei unteilbar<br />
verbundenen Elementen, und zwar von dem signifiant (dem Bezeichnenden) und dem signifié<br />
(dem Bezeichneten). So z.B. beinhaltet das Sprachzeichen Baum zwei innerlich verbundene,<br />
zusammen "verschmolzene" Elemente: das Lautbild (signifiant) und den Begriff (signifié). Den<br />
Begriff, der in der gegenwärtigen Semiotik auch Kategorie oder Konzept genannt wird (vgl.<br />
18 Sémiologie funktionierte lange im romanischen Sprachraum im gleichen Sinne wie semiotics im angloamerikanischen<br />
Sprachraum, wobei jede Bezeichnung auf ihre eigene Tradition verwies. In der letzten Zeit, wo sich diese ursprünglich<br />
unterschiedlichen Ansätze einander immer mehr nähern, verliert der Gebrauch von zweierlei Bezeichnungen<br />
seine Begründung, so dass im Französischen Sémiologie immer öfter durch Sémiotique ersetzt wird.<br />
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477
Jan Kajfosz<br />
Barthes 1997: 119), ist vereinfacht gesagt, das Bild des Baumes, das in unserem Bewusstsein<br />
funktioniert, oder auch unsere Vorstellung von einem typischen Baum — auch Prototyp genannt<br />
19 . Das Lautbild ist ein erkennbares Schallphänomen, das mit einer rein physikalischen<br />
Erscheinung nicht gleichzusetzen ist. Oben haben wir ausgeführt, dass an jedem wahrgenommenen<br />
Konkreten das Allgemeine seinen Anteil hat — dies gilt auch für erkennbare "pure"<br />
Laute und Geräusche 20 . Selbst wenn wir nicht verstehen, was arbor ist, erkennen wir das<br />
Fremdwort als identisch, auch wenn es durch unterschiedliche Personen ausgesprochen wird.<br />
Was physikalisch gesehen nicht identisch ist — schon deswegen, dass jeder eine andere Stimme<br />
hat und es auch teilweise anders artikullieren kann — ist wahrnehmungsgemäß eine identische<br />
akustische Erscheinung, ein erkennbares Fremdwort (vgl. Giraud 1974: 37-38). Wenn wir dann<br />
verstehen lernen, was "arbor" ist (es ist lateinische Bezeichnung für Baum), gesellt sich zu dem<br />
Lautbild der entsprechende Begriff: es gesellt sich die Vorstellung eines typischen Baumes zu<br />
dem früher unbekannten Wort, so dass ein neues Sprachzeichen entsteht. Dieses Zeichen wird<br />
dann aus zwei untrennbar verbundenen Elementen bestehen: aus einer akustischen Ausdrucksform<br />
(signifiant, das Bezeichnende) und aus einem Begriff (signifié, das Bezeichnete). Diese<br />
Elemente können sich gegenseitig hervorrufen und sind miteinander untrennbar verbunden wie<br />
zwei Seiten eines Blattes Papier, so dass sie nur in der Abstraktion voneinander getrennt werden<br />
können.<br />
De Saussure gebraucht das Bezeichnete im anderen Sinne als wir es bisher gemacht haben:<br />
für uns war das Bezeichnete eine Erscheinung innerhalb unserer Lebenswelt. Das Bezeichnete<br />
war für uns etwas sinnlich Wahrnehmbares, etwas, dem wir in der Welt begegnen, selbst wenn<br />
— wie oben betont wurde — an dem Wahrnehmbaren von vornherein unsere Begriffe teilhaben<br />
21 . Für F. de Saussure ist die Zeichenrelation lediglich eine Relation zwischen dem Begriff<br />
und seiner akustischen Ausdrucksform, das Problem der Relation zwischen dem Begriff und<br />
Sachverhalten in der Welt wird hier nicht in Betracht gezogen. Die Eigenart der Beziehung<br />
zwischen dem Begriff BAUM und einem konkreten Baum wird in der Saussures Zeichenkonzeption<br />
außer Acht gelassen (Culler 1993: 86-89, Kalaga 2001: 75). Da in der Struktur des<br />
Zeichens bloß der Begriff und seine Ausdrucksform berücksichtigt werden, sprechen wir in<br />
seiner Theorie von der dyadischen Zeichenkonzeption.<br />
F. de Saussure brachte in die Linguistik Differenzierung zwischen der Sprache (langue) und<br />
dem Sprechen (parole) hinein. Unter Sprache versteht er das Sprachsystem, also die Menge aller<br />
Einheiten der Sprache und der Regeln ihrer Anwendung. Unter Sprechen versteht er die hergestellten<br />
Texte als Realisation des Sprachsystems. Anders gesagt: langue ist unsere Kompetenz<br />
zum Sprechen, parole ist das Gesprochene. In der gegenwärtigen Semiotik wird dieser Unterschied<br />
oft als Unterschied zwischen dem abstrakten Kode (vgl. oben) und dem Text als einer<br />
konkreten Sequenz der Zeichen dargestellt. Beide dieser Aspekte der Sprache können bloß in der<br />
Abstraktion voneinander getrennt werden: in jedem Text, den wir als Text verstehen, ist von<br />
vornherein sein Kode anwesend, sowie in jedem Zeichen von vornherein das ganze Zeichensytem<br />
anwesend ist. Manchmal ist es auch schwer zu entscheiden, was zum Sprachsystem (langue),<br />
und was zum Text (parole) gehört: Texte, die im Laufe der Zeit zum Klischee werden (wie z.B.<br />
19 Wir müssen unterscheiden zwischen den Vorstellungen von unseren eigenen Begriffen, die wir in Reflexion gewinnen,<br />
und den Begriffen selbst, die in unserem Bewusstsein funktionieren, zumindest deshalb, dass wir in der Reflexion<br />
nicht alle Aspekte unserer Begriffswelt uns vor Augen führen können.<br />
20 Dies führte bei dem dänischen Sprachwissenschaftler Louis Hjelmslev (1899-1963) zur noch eingehender Einteilung<br />
der Elemente des Zeichens (siehe L. Hjelmslev: Prolegomena to a Theory of Language, Bloomington 1953).<br />
21 Die Metapher von zwei Seiten eines Blattes Papier ist sehr aufschlussreich im Bezug darauf, dass wir, wie gesagt,<br />
nichts Konkretes ohne das Allgemeine (oder Kategoriale) wahrnehmen können, ebenso wie es keine Seite des Blattes<br />
Papier ohne die andere gibt.<br />
478<br />
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Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
Sprichwörter) und dadurch in das Sprachsystem eindringen, werden zu Bestandteilen des Kodes<br />
(vgl. Barthes 1997: 89-98, Culler 1993: 29-34).<br />
Nach F. de Saussure ist das Sprachzeichen als Einheit des Sprachsystems allein auf das<br />
Sprachsystem zurückzuführen, weil der Wert des Zeichens bloß durch Differenzen zu Werten<br />
anderer Einheiten gegründet ist (Saussure 1996: 137, 144-148). Primär ist hier das System der<br />
Differenzen, sekundär sind die Sprachzeichen, die durch diese Differenzen gesetzt werden. Anders<br />
gesagt: es gibt keine Identität des Sprachzeichens ohne Unterschiede zu anderen Sprachzeichen<br />
im Rahmen des Sprachsystems. Das Sprachzeichen wird dadurch allein durch das<br />
Sprachsystem, das es entstehen lässt, gebildet. Damit hängt die These zusammen, dass das<br />
Sprachzeichen arbiträren Charakter hat, so dass es keine notwendige Verbindung zwischen dem<br />
Bezeichnendem (signifiant) und dem Bezeichnetem (signifié) besteht (Saussure 1996: S. 98-99).<br />
Anders gesagt: das Sprachzeichen als Element des Sprachsystems ist keinesfalls dadurch<br />
bestimmt, zu dem es sich in der realen Welt bezieht, es ist allein durch das Sprachsystem<br />
bestimmt. Wenn aber den Unterschieden zwischen einzelnen Wörtern Unterschiede zwischen<br />
einzelnen Erscheinungen in der Welt, die durch die Wörter bezeichnet werden, entsprechen,<br />
heißt das, dass unser Sprachsystem die Lebenswelt an einzelne Erscheinungen aufteilt, so dass<br />
man annehmen müsse, die Welt wird durch unsere Muttersprache "gebildet" (Culler 1993: S.19-<br />
29). Die Sprache und alle anderen natürlichen semiotischen Systeme (die Kultur) haben tatsächlich<br />
das Vermögen, die Gestalt der von dem Menschen wahrgenommenen Welt zu prägen.<br />
Nehmen wir ein Beispiel: im Farbenspektrum übergehen die Farben ineinander, so dass das<br />
Spektrum die Gestalt des farbigen continuum hat. Damit man über die einzelnen Farben sprechen<br />
kann, müssen sie eingeteilt, also voneinander getrennt werden — es müssen in das Spektrum<br />
Differenzen eingeführt werden 22 . Wir nehmen dann solche Farben wahr, wie es unser arbiträres<br />
Sprachsystem will: ein Abschnitt des Farbenspektrums, der in der Sprache Tsonga eine<br />
einzige Farbe bildet, ist im Englischen in orange, red (rot), pink (rosa) und purple (lila) aufgeteilt.<br />
Wenn im Englischen eine neue Benennung für einen Teil dieses Spektrums — also eine neue<br />
Farbe — auftauchen würde oder, im Gegenteil, in Vergessenheit geraten wäre, würden sich die<br />
Werte der restlichen Farben verändern, und zwar deswegen, dass dadurch das ganze System der<br />
Differenzen, das die einzigen Werte der Farben entstehen lässt, in Bewegung gesetzt wäre. Das<br />
muss jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass es in der Welt gar keine Farben mit intersubjektiver<br />
Geltung gibt oder dass verschiedene Sprachen völlig inkomparable "Farbenwelten" entstehen<br />
lassen: es gibt Beweise, dass sich Sprecher unterschiedlicher Sprachsysteme an bestimmten<br />
Farben dennoch gut einigen können, wie etwa an der Farbe des Blutes, der Milch oder der Holzkohle,<br />
also an Farben der Erscheinungen, die für alle Sprach- und Kulturgemeinschaften mehr<br />
oder weniger verbindlich sind (Taylor 2001: 25-38, vgl. Culler 1993: 23-29).<br />
Obwohl Saussures Thesen über Systemhaftigkeit und Arbitrarität der Zeichen die Linguistik,<br />
sowie auch andere Humanwissenschaften, von Grund auf veränderten, sind sie für manche<br />
Sprachwissenschaftler und Semiotiker zu radikal, und zwar deswegen, dass sie der Tatsache<br />
widersprechen, dass die Sprachzeichen von der Beschaffenheit der Welt, zu der sie sich beziehen,<br />
müssen mindestens teilweise abhängig sein. Die Zeichenlehre von F. de Saussure hat<br />
jedoch zur Folge, dass die Welt wie ein völlig willkürliches Sprachbebilde eingesehen wird 23 .<br />
Dieser extremen Konsequenz liegt die dyadische Konzeption des Zeichens zu Grunde, die die<br />
22 Solche Einteilung wird in der Semiotik Taxonomie genannt.<br />
23 Die Problematik des Weltbezugs der sprachlichen Zeichen wird in der Zeichenkonzeption von F. de Saussure als<br />
These über die Motivierung der Zeichen aufgenommen, sie hat jedoch in seinem Zeichenmodell keinen Niederschlag<br />
gefunden und ist nur fragmentarisch aufgearbeitet, deshalb ist sie unter Sprachwissenschaftlern und Semiotikern bis<br />
heute umstritten.<br />
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Jan Kajfosz<br />
Frage nach der Relation der Sprachzeichen zu Erscheinungen innerhalb der Welt nicht einbezieht.<br />
Viele Nachfolger von de Saussure versuchten die radikalen Schlüsse, die aus seiner<br />
Zeichenlehre hervorgehen, zu mäßigen, wie z.B. die Darsteller der sog. "Wortfeldtheorie" oder<br />
der inhaltbezogenen Sprachwissenschaft in Deutschland (Jost Trier, Walter Porzig, Leo Weisgerber<br />
u.a.). Unter gegenwärtigen Semiotikern der strukturalistischen Tradition wird in der Regel<br />
angenommen, dass die Frage nach dem arbiträren — also willkürlichen — Charakter der Sprache<br />
oder der Kultur, und dadurch nach der Relativität der von einzelnen Sprachen geprägten<br />
Lebenswelten, keine Entscheidungsfrage ist, die mit "ja" oder "nein" zu beantworten wäre. Es ist<br />
vielmehr eine Frage nach dem Maß und Grad der Arbitrarität (Culler 1993: 86-89, Giraud 1974:<br />
33-35, Giraud 1976: 24-29).<br />
6. Triadisches Zeichenmodell (Charles S. Peirce)<br />
Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839-1914) wird als Schöpfer der gegenwärtigen<br />
Semiotik betrachtet. Bei ihm hat ihren Ursprung die Definition des Zeichens (mit<br />
der wir uns am Anfang beschäftigt haben), die These vom kontextuellen Charakter des Zeichens,<br />
sowie auch Begriffe, wie Semiose, Abduktion und viele andere, ohne die die gegenwärtige Semiotik<br />
kaum vorstellbar wäre. Ch.S. Peirce entwickelte ein Zeichenmodell, das nicht aus zwei —<br />
wie bei F. de Saussure — sondern aus drei Gliedern besteht. Im Gegensatz zu Saussures Modell<br />
beinhaltet das Modell von Peirce das Objekt in der realen Welt, auf das sich das Zeichen bezieht.<br />
Das hängt damit zusammen, dass Ch.S. Peirce nicht der Überzeugung ist, dass alle Zeichen ausschließlich<br />
arbiträr sind. Die Konzeption eines dreistelligen Zeichenmodells tauchte in vielen<br />
nachfolgenden Theorien immer wieder auf, wie z.B. in der Zeichentheorie von K. Bühler (1879-<br />
1963) 24 oder von C.K. Ogden und I.A. Richards 25 .<br />
Peirce unterscheidet in der Struktur des Zeichens drei Elemente, die untereinander so eng<br />
verbunden sind, dass die Anwesenheit von jedem von ihnen die notwendige Voraussetzung dafür<br />
ist, dass etwas als Zeichen funktionieren kann (Peirce Vol.3: SS. 77, 82):<br />
1. Das Repräsentamen ist der Zeichenträger, also das, was etwas anderes repräsentiert (vergleichbar<br />
mit Saussures signifiant). Peirce beachtet dabei nicht nur Schallphänomene, wie es bei<br />
de Saussure der Fall ist. Zeichenträger sind bei ihm auch visuelle Phänomene, wie geschriebene<br />
Wörter oder etwa Verkehrsschilden. Für Zeichenträger hält er auch die durch andere Sinne<br />
wahrgenommenen Phänomene, die die Fähigkeit haben, etwas anderes zu repräsentieren, also<br />
hervorrufen (z.B. der verspürte Veilchenduft erinnert mich an meinen Garten). Als Zeichenträger<br />
gelten auch pure Gedanken, die andere Gedanken hervorrufen können (z.B. der Gedanke an<br />
meinen Garten ruft den Gedanken an Wasser hervor, weil ich mir dadurch bewusst mache, dass<br />
es schon lange nicht geregnet hat). Sofern gilt jeder Gedanke als Zeichen für einen anderen Gedanken,<br />
dank dem er verstanden und interpretiert wird (Peirce Vol. 2: SS. 163, 224; Vol. 3: S. 83).<br />
Peirce unterscheidet zwischen dem Token des Zeichens (dem Exemplar des Zeichens) und<br />
dem Typ des Zeichens. Jeder Token ist individuelles "Anwendungsereignis" eines Typs: z.B. arbor<br />
ausgesprochen durch verschiedene Leute, die verschiedene Stimmen haben, ist Exemplifizierung<br />
(oder: Anwendung) eines einzigen Typs — eines Zeichenträgers (vgl. mit Saussures Unterscheidung<br />
zwischen einer rein physikalischer Erscheinung und dem Lautbild). Dies betrifft auch<br />
graphische (sowie auch alle anderen Zeichen): jedesmal, wenn in diesem Text das graphische<br />
Zeichen "arbor" vorkommt, haben wir mit einem Token eines Typs zu tun 26 .<br />
24 Bühler, K.: Sprachtheorie, Jena 1934<br />
25 Ogden, C.K. — Richards, I.A.: The Meaning of Meaning, London 1923<br />
26 Mit anderen Worten: Token ist eine konkrete Realisation des allgemeinen Typs. Vgl. mit der oben erwähnten These,<br />
dass an jedem Konkreten von vornherein das Allgemeine (oder: das Kategoriale) seinen Anteil hat.<br />
480<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
2. Das Objekt ist der Gegenstand, der durch ein Zeichen repräsentiert wird. Anders gesagt:<br />
das Objekt ist das, zu dem sich ein Zeichen bezieht. Ein Zeichen kann sich zu einem materiellen<br />
Gegenstand in der "realen" Welt beziehen, es kann sich aber auch zu einem rein intentionalen<br />
Gegenstand beziehen, den es nur in unseren Gedanken gibt (z.B. das Wort "Zwerg" bezieht sich<br />
zu einer Vorstellung von einem Zwerg, die ein Ergebnis unserer Imagination ist). Peirce unterscheidet<br />
zwischen zweierlei Objekten: dem unmittelbaren Objekt, das das Objekt ist, wie das<br />
Zeichen selbst es repräsentiert (sofern ist sein Sein von dem Zeichen abhängig), und dem dynamischen<br />
Objekt, das das Objekt selbst ist, unabhängig von dem Zeichen. Das dynamische Objekt<br />
ist außerhalb der Semiose, obwohl er der Semiose Ansporn gibt: z.B. das unmittelbare Objekt<br />
wäre die wahrgenommene rote Farbe, die von dem Sprachzeichen "rot" abhängt; das dynamische<br />
Objekt wäre wiederum die rote Farbe "an sich", also die rote Farbe bevor sie als solche<br />
überhaupt wahrgenommen und als rot erkannt wird. Dank der Wirkung des dynamischen Objektes<br />
können wir dann so etwas wie rote Farbe überhaupt wahrnehmen. Alles, was wahrgenommen<br />
wird, sind nur unmittelbare Objekte (vgl. mit der These, dass jeder menschliche<br />
Weltbezug einen Zeichencharakter hat).<br />
3. Der Interpretant ist die Bedeutung oder der Sinn des Zeichens, also alles, was das Zeichen<br />
im Bewusstsein eines Zeichenbenutzers oder Interpreten hervorruft (vergleichbar mit Saussures<br />
signifié). Jeder Interpretant ist nicht nur Bedeutung eines Zeichens, es ist selbst ein Zeichen, der<br />
seinen Interpretanten hat, der, als Zeichen, wiederum seinen Interpretanten hat und so weiter:<br />
z.B. um sich die Bedeutung des Wortes "Baum" bewusst machen zu können, brauche ich zu<br />
wissen, was "wachsen" ist, was "Wurzeln", "Stamm", "Blätter", "Äpfel" oder etwa andere Begriffe<br />
sind. Die Bedeutungen dieser Begriffe werden durch andere Begriffe klargemacht und so<br />
weiter ad infinitum.<br />
Wenn keine Wahrnehmung und kein Denken ohne Zeichen möglich ist (siehe oben), so dass<br />
jede Wahrnehmung und jedes Denken kann als Semiose betrachtet werden, gilt das auch für<br />
Verstehen der Bedeutung eines Zeichens: jede Bedeutung wird durch andere Bedeutungen, und<br />
dadurch durch andere Zeichen, verstanden und erklärt. (Wir können nicht über unsere eigenen<br />
Gedanken nachdenken, ohne dabei Zeichen zu gebrauchen.) Sofern kann jedes Zeichen nur<br />
mittels anderer Zeichen interpretiert werden. Anders gesagt: die Bedeutung eines Zeichens sind<br />
andere Zeichen, in die das Zeichen übersetzt wird (Peirce Vol. 2: S. 225, Vol. 3: S. 76). Somit ist<br />
die Semiose eine unendliche Interpretation. Es ist ein Zeichenprozess ohne Anfang und Ende, bei<br />
dem die einen Zeichen die anderen zu interpretieren helfen. Dabei gilt es, dass jede Bedeutung<br />
die Möglichkeit der unendlichen Übersetzung eines Zeichen in ein anderes ist (Buczyńska-<br />
Garewicz 1965: S. 34). Damit hängt auch die Tatsache zusamen, dass es ein Zeichen nur innerhalb<br />
eines Zeichensystems geben kann, in Umgebung anderer Zeichen, mittels der er verstanden<br />
und erklärt wird. Die Zeichen haben in diesem Sinne kontextuellen Charakter.<br />
Die Konzeption des Zeichensystems als Kontextes, wo nicht die negativen (Differenzen),<br />
sondern die positiven Relationen zwischen Zeichen betont werden (Kalaga 2001: 75), ist einer<br />
der Momente, der zur Neubewertung der Unterscheidung zwischen dem Kode und dem Text<br />
führte, die auf Saussures Unterscheidung zwischen langue und parole zurückzuführen ist. Die<br />
gegenwärtige Sprachsemiotik widmet ihre Aufmerksamkeit gegenseitigen Verbindungen und<br />
Beeinflussungen zwischen langue und parole. Es wird hier oft von Diskurs (discourse) gesprochen,<br />
mit dem dynamische Struktur gemeint wird, die sowohl Kodes als auch Texte, sowie<br />
die gegenseitigen Beeinflussungen unter ihnen, umfasst 27 .<br />
27 vgl. van Dijk, T.A. 1985, van Dijk, T.A. 1998<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
481
Jan Kajfosz<br />
7. Einteilung der Zeichen nach der Beziehung zu ihrem Objekt<br />
Nach Peirce gibt es Zeichen, die keine offensichtlichen Zusammenhänge mit den von ihnen<br />
repräsentierten Objekten aufweisen, aber auch Zeichen, wo es solche Zusammenhänge gibt. Je<br />
nachdem ob es ein Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem von ihm repräsentierten<br />
Objekt besteht, und je nachdem, welche Form dieser Zusammenhang hat, teilt er alle Zeichen in<br />
drei Gruppen ein:<br />
1. Indexe (verweisende Zeichen) sind Zeichen, die in einer direkten Beziehung zu den von ihnen<br />
repräsentierten Objekten stehen. Diese Beziehung kann physikalisch-kausal sein: z.B. Pfützen<br />
verweisen auf Regen, weil Pfützen in der Regel von dem Regen verursacht werden; Rauch<br />
verweist auf Feuer, weil Rauch in der Regel von dem Feuer verursacht wird; Schneuzen ist ein<br />
Anzeichen (ein Symptom) von Schnupfen (oder: Schneuzen verweist auf Schnupfen), weil jeder,<br />
der Schnupfen hat, schneuzt. Indexikalische Zeichen haben weniger arbiträren und mehr objektiven<br />
Charakter, weil es sich um naturbedingte Folgen bestimmter Ursachen handelt, auf die sie<br />
verweisen.<br />
2. Ikonen (abbildende Zeichen) sind Zeichen, die zu den von ihnen repräsentierten Objekten<br />
in einer Ähnlichkeitsbeziehung stehen. Ähnlichkeit kann visuell sein, wie es bei Fotografien und<br />
grafischen Abbildungen der Fall ist, sie kann akustisch sein, wie onomatopöisches Wiedergeben<br />
von Schallphänomenen (z.B. wau-wau für Bellen, miau-miau für Miauen usw.), sie kann auch<br />
rein konzeptuell (oder: kategorial) sein, wie es bei Metaphern der Fall ist (vgl. Lakoff-Johnson<br />
1980). Wenn jeder Semiose Urteilen zu Grunde liegt, heißt das, dass jedes Erkennen von einer<br />
Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Zeichen und seinem Objekt das Schließen aus dem einen<br />
auf das andere voraussetzt. Deswegen müssen auch Ikonen im gewissen Grade indexikalischen<br />
Charakter haben: auch die Beziehung eines Fotos zu der Person, die es repräsentiert, ist etwas<br />
Erfahrenes und nicht etwas "An-sich-gebendes". Ikonizität ist in dem Sinne kein absolutes, sondern<br />
ein relatives Phänomen — man kann verschiedene Grade von Ikonizität annehmen: ein gemaltes<br />
Portrait ist seinem Objekt in der Regel weniger ähnlich als ein Foto, und eine Karikatur<br />
noch weniger. Jede Ähnlichkeit hat Erfahrungscharakter, weil sie als Ähnlichkeit erkannt werden<br />
muss. An unserer Erfahrung beteiligen sich dabei unsere sprach- und kulturbedingte Erkennungsgewohnheiten<br />
(habits) (Sebeok 2000: 90-109). Wenn Ikonizität immer durch Zeichensysteme<br />
wie Sprache und Kultur bedingt ist, heißt das, dass sie im bestimmtem Grade selbst<br />
arbiträr oder konventionell — ebenso wie diese Zeichensysteme — sein kann. Dafür gibt es<br />
interessante antropologische Beweise: wie z.B. ein Fall der Afrikanerin, die am schwarzweißen<br />
Foto von ihrem Sohn gar nichts erkennen konnte. — Sie war nicht daran gewöhnt, sich Fotos<br />
anzusehen, deshalb verfügte sie nicht über den entsprechenden Kode (über entsprechende<br />
Regeln), nach dem man aus Merkmalen eines Foto auf das von ihm repräsentierte Objekt, also<br />
auf ihren Sohn, schliessen könnte 28 . Es gbt also keine Ähnlichkeit "an sich". Es gibt bloß<br />
wahrgenommene Ähnlichkeit, der die Semiose und zusammen mit ihr Urteilen zu Grunde liegt<br />
(Kalaga 1997: S. 111-114).<br />
3. Symbole (konventionelle Zeichen) sind Zeichen, die keinerlei Ähnlichkeit oder objektiv gegebene<br />
Beziehung zu dem von ihm repräsentierten Objekt aufweisen. Symbole sind in dem Sinne<br />
völlig arbiträr und rein konventionell. In einer symbolischen Beziehung zu ihrem Objekt steht die<br />
Mehrheit der Sprachzeichen, aber auch z.B. Zahlen, Nationalflaggen, manche Firmenlogos usw.<br />
Symbole verlangen die höchste Abstraktionsleistung. Das bedeutet nicht, dass das Urteilen aus<br />
dem Zeichen auf seine Bedeutung anspruchsvoll sein muss. Wenn der Kode, der die gegenseitige<br />
28 Melville J. Herskovits: Art and Value in: R. Redfield, M.J. Herskovits, G.F. Ekholm, (eds): Aspects of Primitive Art, New<br />
York 1959, S. 42-97<br />
482<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
Zuordnung von Zeichen und ihren Objekten regelt, einmal gut erlernt, also eingeübt wird, erfolgt<br />
die Zuordnung mehr oder weniger "automatisch" — aus Gewohnheit. Man ordnet dem<br />
akustischen Lautzeichen ‘Baum’ seine Bedeutung zu, ohne das Gefühl zu haben, man schließt<br />
aus etwas auf etwas, weil man es gewöhnt ist. Ebenso ordnet man dem visuellen Zeichen, das<br />
aus drei Streifen an einer Sportjacke besteht, die Marke Adidas zu, ohne zu merken, dass man<br />
gerade ein Urteil vollzogen hat.<br />
8. Primäres und sekundäres Zeichensystem<br />
Oben haben wir erwähnt, dass sowohl Sprache als auch Kultur als Zeichensysteme betrachtet<br />
werden können. Es handelt sich dabei um zwei ineinandergreifende Systeme, so dass<br />
sie nur in der Abstraktion voneinander getrennt werden können (Lotman — Uspienski 1975:<br />
179). Da jeder Kultur eine Sprache zu Grunde liegt, wird die Sprache als primäres semiotisches<br />
System betrachtet, die Kultur wiederum als sekundäres semiotisches System. Diese<br />
Unterscheidung wurde durchgeführt von Jurij Lotman (1922-1993) und anderen Mitgliedern der<br />
semiotischen Schule von Moskau und Tartu, die sich um die in Tartu herausgegebene Zeitschrift<br />
Trudy po znakovym sistemam konzentrieren. Die Unterscheidung zwischen dem primären und<br />
dem sekundären semiotischen System wird gegenwärtig eher heuristisch begründet: Sprache<br />
und Kultur sind zwei innerlich verbundene Zeichensysteme, die man voneinander trennt, um sie<br />
besser erfassen zu können: es geht um keinen "objektiv" gegebenen Unterschied. Das primäre<br />
und das sekundäre semiotiche System — sowie alle ihren Subsysteme — bilden in der<br />
Wirklichkeit ein continuum, das von Lotman Semiosphäre genannt wurde (Lotman 1999: S.15)<br />
(vgl. mit dem Begriff Semiose von Ch. S. Peirce).<br />
Ähnlich sieht die Beziehung zwischen Sprache und Kultur der französische Semiotiker Roland<br />
Barthes (1915-1980), der sich u.a. mit der Art der Verbindung zwischen Sprache und Mythos,<br />
als einem Kulturgebilde, beschäftigt. Auch für ihn ist die Sprache das primäre semiotische<br />
System, das mit Mythos, den er für das sekundäre semiotische System hält, verbunden ist. Barthes<br />
zeigt, dass sich der Mythos des Sprachzeichens auf diese Weise bedient, dass er aus ihm ein<br />
Element größerer Bedeutungseinheit macht — ein Element von Mythos. Dies erfolgt so, dass ein<br />
Sprachzeichen, das ursprünglich eine Bedeutungseinheit von einem Bezeichnenden (signifiant1)<br />
und seinem Bezeichneten (signifié1) ist, als Ganzes zu einem Bezeichnenden höherer Ordnung<br />
(signifiant2) verwandelt wird, zu dem sich der Mythos als sein Bezeichnetes (signifié2) gesellt<br />
(Barthes 1970: 31-32). So ein Sprachzeichen, das von dem Mythos zu einem Bezeichnendem<br />
gemacht wird, verliert seine Eigenständigkeit dadurch, dass er uns eine zusätzliche Bedeutung<br />
vermittelt, auf die unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird. Sofern kann man mit Barthes sagen,<br />
dass der Mythos unsere Sprache "stiehlt" (Barthes 1970: S. 51-52).<br />
Nach Barthes wird das Sprachzeichen von dem Mythos zu einer bloßen Form (oder: zu einem<br />
blossen Zeichenträger) reduziert, die den Mythos repräsentiert. Dies betrifft nicht nur Sprachzeichen,<br />
sondern alle wahrnehmbaren Sachverhalte, Gegenstände und Vorgänge im Rahmen<br />
unsererer Lebenswelt, darunter Bilder und alle anderen graphischen Zeichen, Rituale usw. Dies<br />
erklärt er an Hand vielerlei Beispiele: ROSENSTRAUSS ist für ihn im Rahmen des primären<br />
semiotischen Systems eine selbstständige Bedeutungseinheit, im Rahmen des sekundären<br />
semiotischen Systems erfüllt sie jedoch die Repräsentationsfunktion gegenüber einer anderen<br />
Bedeutung, gegenüber dem GEFÜHL oder ZUNEIGUNG. ROSENSTRAUSS bedeutet also immer<br />
"mehr" als ein Bündel von Rosen (Barthes 1970: 29-30). Die Verbindung zwischen dem ROSEN-<br />
STRAUSS als Bezeichnendem (signifiant2) und dem GEFÜHL als Bezeichnetem (signifié2) hat<br />
dabei kulturellen Charakter. Sie ist auch mehr oder weniger konventionell und dadurch arbiträr:<br />
nicht in allen Kulturen werden GELIEBTE FRAUEN mit ROSEN beschenkt.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
483
Jan Kajfosz<br />
Die Thesen von Barthes über die Verbindung der Sprache mit Mythos — und dadurch mit der<br />
Kultur — weisen bedeutende Affinität mit der Peirces Auffassung von Semiose als einem kontinuierlichen<br />
Zeichenprozess und mit seiner Auffassung von der Kontextualität der Zeichen: das<br />
Wort AMPEL ruft in unserem Bewußtsein nicht nur die Vorstellung eines Gegenstands hervor,<br />
der durch das Wort gestellt wird, sondern auch STRASSE, KREUZUNG, AUTOS, STADT usw. Die<br />
Einsichten von Barthes hängen auch damit zusammen, was oben über Stereotype gesagt wurde:<br />
auch Stereotyp ist ein Wort, das uns neben seiner primären, "ursprünglichen" Bedeutung noch<br />
sekundäre, zusätzliche Bedeutungen vermittelt. Stereotyp ist somit ein Sprachzeichen, das im<br />
Rahmen eines sekundären semiotischen Systems gefangen ist: PITBULL verweist auf einen<br />
H<strong>UND</strong> bestimmter Rasse, aber gleichsam verweist er auf KAMPF, AGRESIVITÄT, REISSW<strong>UND</strong>EN,<br />
BLUT oder GEFAHR, weil es am meisten in der Umgebung dieser Begriffe erscheint (in den Medien).<br />
Die primäre, unmittelbare Bedeutung des Wortes wird Denotation genannt, die sekundäre,<br />
also zusätzliche oder begleitende Bedeutung wird Konnotation genannt. Denotation ist also die<br />
eigentliche Bedeutung, die durch die Definition des Wortes getroffen wird, Konnotation ist wiederum<br />
die Zusatzbedeutung, die von der Definition kaum oder nur zum Teil getroffen wird. Da<br />
die konnotativen Bedeutungen in der Regel nicht definiert — also bewusst gemacht — werden,<br />
ist es ziemlich schwer, sie zu erfassen 29 . Wenn es keine Sprachzeichen außer dem kulturellen<br />
Kontext gibt, gibt es im Rahmen der natürlichen Sprache keine konnotationslosen Sprachzeichen.<br />
Anders gesagt: jedes Sprachzeichen ist sowohl ein Bestandteil des primären semiotischen Systems,<br />
sowie auch des sekundären semiotischen Systems (Barthes 1997: 169-173, Kalaga 2001:<br />
184-187). Die Feststellung, dass jede denotative Bedeutung von konnotativen Bedeutungen begleitet<br />
wird, dass kulturell bedingte Vorstellungen von der Sprache nicht wegzudenken sind und<br />
dass Stereotype sowohl eine sprachliche, als auch eine kulturelle Erscheinung darstellen, ist<br />
nichts anderes als Anerkennung der Tatsache, dass Sprache und Kultur eine Einheit bilden, die<br />
man mit Worten von J. Lotman Semiosphäre oder mit Worten von W. von Humboldt Weltbild<br />
einer Sprache (siehe oben) nennen kann.<br />
Sprachzeichen und die von ihnen gebildeten Kontexte (darunter Mythen und Stereotype)<br />
können als Sedimente früherer menschlicher Erfahrungen und Erfindungen betrachtet werden,<br />
die unter Mitwirkung anderer Zeichenkontexte entstanden sind. Sofern beinhalten Zeichen die<br />
Spuren ihrer Vergangenheit (Weisgerber 1964: 186-191). Die Struktur der Sprache erinnert an<br />
Struktur einer archäologischen Ausgrabung, wo auf die ältesten und ursprünglichsten Schichten im<br />
Laufe der Zeit immer neue Schichten aufgelegt wurden, bis zu den neuesten Schichten, die sich<br />
gegenwärtig bilden und auflegen (Anusiewicz 1995: 57-58). Die Rekonstruierung von Weltbildern,<br />
die in Zeichensystemen wie Sprache und Kultur seine Spuren hinterlassen haben, erfordert<br />
komplizierte Interpretationsvorgänge, wo versucht wird, die ursprünglichen Bedeutungskontexte<br />
zu rekonstruieren (vgl. Foucault 1966).<br />
Der semiotische Ansatz findet in der Sprachwissenschaft seit den achtziger Jahren des 20.<br />
Jhs eine seiner einflussreichsten Fortsetzungen in der sog. kognitiven Linguistik, die sich mit<br />
Zusammenhängen zwischen Sprache und Kognitionsprozessen beschäftigt. Anders gesagt: kognitive<br />
Linguistik beschäftigt sich mit der Rolle der Sprache innerhalb der menschlichen Wahrnehmung.<br />
Sie ist auf die Voraussetzung zurückzuführen, dass es keinen wesentlichen Unterschied<br />
zwischen dem sprachlichen und aussersprachlichen Wissen gibt (Taylor 2001: 41). Das<br />
29 Selbst wenn man die konnotativen Bedeutungen des Wortes in seine Definition einbeziehen wollte, könnte man<br />
nicht alle Kontexte auflisten, in denen das definierte Wort erscheint — man könnte nicht alle möglichen Zusatzbedeutungen<br />
erfassen, auf die das definierte Wort verweisen könnte. In Wörterbüchern werden in der Regel nur die in<br />
der Kultur der betreffenden Sprachgemeinschaft am stärksten verankerten Konnotationen berücksichtigt.<br />
484<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />
heißt nichts anderes als die oben gemachte Feststellung, dass der Mensch in der Welt der<br />
Zeichen (darunter Sprachzeichen) lebt, und dass sein Wahrnehmen und sein Handeln durch<br />
Zeichensysteme (darunter Sprache) vermittelt — und dadurch auch geprägt — wird.<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Anusiewicz, Janusz: Lingwistyka kulturowa, Wrocław 1995<br />
2. Apel, Karl-Otto: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce, Frankfurt am Main 1975<br />
3. Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, Bd 1, Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt am Main<br />
1991<br />
4. Barthes, Roland: Éléments de Sémiologie, Paris 1964 (englisch: Elements of Semiology, Noonday Press 1977,<br />
tschechisch: Základy sémiologie in: Kritika a pravda, Praha — Liberec 1997)<br />
5. Barthes, Roland: Mit i znak, Warszawa 1970<br />
6. Buczyńska-Garewicz, Anna: "Sign and Continuity", Ars Semeiotica 2, 1978<br />
7. Culler, Jonathan: Saussure, Harvest Press Limited 1976 (slowakisch: Saussure, Bratislava 1993)<br />
8. Deleuze, Gilles: A quoi reconnait on le structuralisme? in: François chatelet: La philosophie au XX. siécle 4 (slowakisch:<br />
Podľa čoho rozpoznáme štrukturalizmus?, Bratislava 1993)<br />
9. Derrida, Jacques: Texty k dekonstrukci, Bratislava 1993<br />
10. Descombes, Vincent: Le m me et autre, Paris 1979 (tschechisch: Stejné a jiné, Čtyřicetpět let francouzské<br />
filosofie (1933-1978), Praha 1995)<br />
11. van Dijk, Teun, ed.: Discourse as Structure and Process, London — Thousand Oaks — New Delhi 1998 (polnisch:<br />
Dyskurs jako struktura i proces, Warszawa 2001)<br />
12. van Dijk, Teun: Handbook of Discourse Analysis, London 1985<br />
13. Eco, Umberto: Kant and the Platypus, London 2000<br />
14. Eco, Umberto: La struttura assente, Milano 1991 (polnisch: Nieobecna struktura, Warszawa 1996<br />
15. Eco, Umberto: Mysl a smysl, Sémiotický pohled na svět, Praha 2000<br />
16. Eco, Umberto: Semiotics and the Philosophy of Language, The Macmillan Press Ltd 1984<br />
17. Foucault, Michel: archéologie du savoir, Paris 1969 (tschechisch: Archeologie vědění, Praha 2002)<br />
18. Foucault, Michel: Les mots et les choses, Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966 (slowakisch: Slová a<br />
veci, Archeológia humanitných vied, Bratislava 2000)<br />
19. Geert, Keil: Die Sprache in: Philosophie, Ein Grundkurs (E. Martens, H. Schnädelbach, eds.), Reibek bei Hamburg<br />
1991 (polnisch: Filozofia, Podstawowe pytania,Warszawa 1995)<br />
20. Giraud, Pierre: La Sémantique, Paris 1971 (polnisch: Semantyka, Warszawa 1976)<br />
21. Giraud, Pierre: La Sémiologie, Paris 1971 (polnisch: Semiologia, Warszawa 1974)<br />
22. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985<br />
23. Hawkes, Terrence: Structuralism and Semiotics, London 1992 (tschechisch: Strukturalismus a sémiotika, Brno<br />
1999)<br />
24. Heintel, Erich: Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 1991<br />
25. Jackendoff, Ray: Semantics and Cognition, London 1983<br />
26. Jakobson, Roman: Language in Relation to other Communication Systems, Selected Writtings, The Hague 1962-<br />
1971<br />
27. Kalaga, Wojciech: Nebulae of Discourse: Interpretation, Textuality and the Subject, Frankfurt am Main 1997<br />
(polnisch: Mgławice dyskursu, Kraków 2001)<br />
28. Krampen, Martin (Hg.): Die Welt als Zeichen, Klassiker der modernen Semiotik, Berlin 1981<br />
29. Lotman, Jurij M.: Kultura i eksplozja, Warszawa 1999<br />
30. Lotman, Jurij M. — Uspienskij, Boris A.: O Semiotičeskom mechanizme kuľtury, Trudy po znakovym sistemam 5<br />
(polnisch: O semiotycznym mechanizmie kultury in: Semiotyka kultury, E. Janus, M.R. Mayenowa, eds., Warszawa<br />
1975)<br />
31. Lotman, Jurij M.: Text a kultúra, Bratislava 1994<br />
32. Lotman, JurijM.: Universe of the Mind, A Semiotic Theory of Culture, London — New York 1990<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
485
Jan Kajfosz<br />
33. Lakoff, George — Johnson, Marc: Metaphors We Live, Chicago 1980 (polnisch: Metafory w naszym Ŝyciu, Warszawa<br />
1988)<br />
34. Lakoff, George: Women, Fire and Dangerous Things: What Categories Reveal about the Mind, Chicago 1987<br />
35. Marchewka, Feliks S.: Semiotyka, Zarys teorii i jej rozwoju, Kalwaria Zebrzydowska 1996<br />
36. Oehler, Klaus: Einführung in den semiotischen Pragmatismus in: Die Welt als Zeichen und Hypothese, Perspektiven<br />
des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce, U. Wirth. ed., Frankfurt am Main 2000<br />
37. Ogden, C.K. — Richards I.A.: The Meaning of Meaning, London 1923<br />
38. Pappe, Helmut: Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozess. Charles S. Peirces Entwurf einer spekulativen<br />
Grammatik des Seins, Frankfurt am Main 1989<br />
39. Pelc, Jerzy — Koj, Leon (eds.): Semiotyka dziś i wczoraj, Wybór tekstów, Wrorcław 1991<br />
40. Pelc, Jerzy: Wstęp do semiotyki, Warszawa 1984<br />
41. Peirce, Ch.S.: Writings of Charles S. Peirce, A Chronological Edition, Vol. 1: 1857-1866, Max Fisch, General Editor,<br />
Bloomington — Indiana 1982; Vol. 2: 1897-1871, E.C. Moore, Editor, 1984; Vol. 3: 1872-1878, Christian J. W.<br />
Kloesel, Editor, 1986<br />
42. Roesler, Alexander: Vermittelte Unmittelbarkeit. Aspekte einer Semiotik der Wahrnehmung bei Charles S. Peirce<br />
in: Die Welt als Zeichen und Hypothese, Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders<br />
Peirce, U. Wirth. ed., Frankfurt am Main 2000<br />
43. Saussure, Ferdinand: Cours de linguistique générale, Paris 1919 (deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft,<br />
Berlin 1967; englisch: Course in general Linguistics, London 1983; tschechisch: Kurs obecné lingvistiky,<br />
Praha 1996)<br />
44. Schwarz, Monika: Einführung in die Kognitive Linguistik, Tübingen 1992<br />
45. Sebeok, Thomas A.: Indexikalität in: Die Welt als Zeichen und Hypothese, Perspektiven des semiotischen Pragmatismus<br />
von Charles Sanders Peirce, U. Wirth. ed., Frankfurt am Main 2000<br />
46. Taylor, John R.: Linguistic Categorization, Prototypes in Linguistic Theory, Oxford 1995 (polnisch: Kategoryzacja w<br />
j zyku, Prototypy w teorii j zykoznawczej, Kraków 2001)<br />
47. Weisgerber, Leo: Die Zusammenhänge zwischen Muttersprache, Denken und Handeln in: Zur Grundlegung der<br />
ganzheitlichen Sprachauffassung, H. Gipper, ed., Düsseldorf 1964<br />
48. Weisgerber, Leo: Muttersprache und Geistesbildung, Göttingen 1925<br />
49. Weisgerber, Leo: Zweimal Sprache, Düsseldorf 1973<br />
50. Whorf, Benjamin L.: Language, Thought and Reality, New York 1956 (polnisch: Język, myślenie i rzeczywistość,<br />
Warszawa 1982)<br />
51. Wirth, Uwe (Hg.): Die Welt als Zeichen und Hypothese, Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles<br />
Sanders Peirce, Frankfurt am Main 2000<br />
52. Wirth, Uwe: Zwischen Zeichen und Hypothese: für eine abduktive Wende in der Sprachphilosophie in: Die Welt als<br />
Zeichen und Hypothese, Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce, U. Wirth. ed.,<br />
Frankfurt am Main 2000<br />
53. Wittgenstein, Lugwig: Philosophische Untersuchungen in: Werkausgabe. Bd. 1, Frankfurt am Main 1989 (tschechisch:<br />
Filosofická zkoumání, Praha 1998)<br />
54. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Logisch-Philosophische Abhandlung, Frankfurt 1964<br />
486<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
VERB <strong>UND</strong> AUSSAGE<br />
Elemente eines integrierten Valenz-Modells 1<br />
Klaus Fischer<br />
1. Problemstellung<br />
Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, Elemente einer Valenztheorie (VT) vorzustellen. Die VT ist in<br />
den letzten 20 Jahren unter besonderen Rechtfertigungszwang geraten. Dieser entstand aus<br />
einer Reihe von unbeantworteten Fragen:<br />
Wie kann Valenz definiert werden? Dies ist zugleich die Frage nach der Abgrenzung von Ergänzungen<br />
und Angaben (im Folgenden E/A-Abgrenzung), die bekanntlich nicht eindeutig zu<br />
beantworten ist. Die Frage ist mit dem Namen J. Jacobs und dessen intelligenter und amüsanter,<br />
aber methodisch problematischer Polemik „Kontra Valenz“ (1994) verbunden.<br />
Wie ist das Verhältnis von Lexem und Textrealisierung zu sehen? Ich denke hier an R.<br />
Sadzińskis „dynamische Valenz“ (1989), an A. Storrers (1992) pragmatische Auflösung der<br />
Valenz und an V. Ágels „kontextuell-situative Valenzrealisierung“ (2000).<br />
Wie ist das Verhältnis von Valenz und Typologie? Diese Frage wurde erst relativ spät und zunächst<br />
auch nur am Rande gestellt, was angesichts der typologischen Ausrichtung von L.<br />
Tesnière (1966) und des kontrastiven Programms der VT etwas überraschend ist. Zu nennen sind<br />
hier u.a. F. Pasierbsky (1981), der den Begriff der Mikrovalenz eingeführt hat, S. László (1988),<br />
die den Begriff kontrastiv angewandt hat, und V. Ágel (2000), der verschiedene Ansätze zusammengeführt<br />
hat und eine strukturelle Valenzrealisierung von der kontextuell-situativen<br />
unterscheidet. Als Einflüsse auf die VT sind u.a. Milewski (1967), Fourquet (1970) und Nichols<br />
(1986) zu nennen.<br />
Die drei Fragen hängen offensichtlich zusammen. Ich werde sie kurz kommentieren:<br />
ad a) Valenzdefinition. Jacobs hatte Valenz mangelnden begrifflichen Inhalt attestiert und<br />
durch eine Reihe von Einzelrelationen ersetzt. An dem unten stehenden Beispiel sind drei der<br />
Relationen angezeigt (Form, Notw, Syn):<br />
1 (Thema: Die prekäre Situation der Gebäude Venedigs)<br />
Esub: PAT Esit: LOC / Asit: LOC Esub: PAT<br />
Aber noch stand alles fest auf seinen hölzernen Beinen, und Victor lehnte<br />
+Form -Form +Form<br />
+Notw -Notw +Notw<br />
+Syn -Syn +Syn<br />
Esit: LOC Edir: PATH DIR<br />
an seinem Fenster und blickte durch die staubige Scheibe nach draußen.<br />
-Form -Form<br />
1 Ich danke Ruxandra Cosma und Speran]a St`nescu für Diskussionen und Hinweise. Dank aussprechen möchte ich<br />
auch der London Metropolitan University und dem britischen Arts and Humanities Research Board, die meine Arbeit<br />
durch zwei Forschungstrimester unterstützt haben (Research Leave Scheme Award RL/AN6564/APN 16978).
488<br />
Klaus Fischer<br />
+Notw +Notw<br />
-Syn -Syn<br />
(Cornelia Funke: Der Herr der Diebe, Hamburg, Cecilie Dressler Verlag 2000)<br />
Form: Formale Determinierung durch das regierende Element (Rektion)<br />
Notw: Notwendigkeit der Realisierung (im unmarkierten Fall)<br />
Syn: Synsemantik (die semantische Rolle wird vom regierenden Element<br />
bestimmt)<br />
Weder sind E alle in ihrer Form oder semantischen Rolle vom Verb determiniert, noch sind<br />
sie alle notwendig. Jacobs zog daraus den Schluss, dass Valenz lediglich ein Sammelbegriff sei:<br />
eigentlich wichtig seien die einzelnen Valenzrelationen.<br />
ad b) Lexem und Textrealisierung. Stehen hat viele miteinander verbundene Verwendungsweisen.<br />
Wieviele Bedeutungen hat es? Es ist anzunehmen, dass das Verb nur eine hat, die im<br />
Kontext erweitert oder reduziert wird. Die Bedeutung von stehen kann mit ‘in aufrechter Ruhelage<br />
verharren’ angegeben werden. Bei geografischen Angaben ist die Bedeutung auf ‘sich befinden’<br />
reduziert, die Situativergänzung obligatorisch:<br />
2 Esit: LOC<br />
Das Rathaus steht/ist am Markt.<br />
-Form<br />
+Notw<br />
-Syn<br />
Der Hörer wendet ein auf Erfahrung basierendes Schlussverfahren an, um die Textbedeutung<br />
und die ihr entsprechenden Valenzforderungen, das heißt den passenden Satzbauplan, zu ermitteln.<br />
Die Erfahrung sagt ihm, dass Gebäude nicht einmal stehen, ein andermal liegen und<br />
auch nicht den Ort wechseln können. In 2 kann es sich also nicht um das Aufrechtsein des Rathauses,<br />
das zufällig am Markt stattfindet, handeln. Gebäude können aber zusammenfallen oder,<br />
im Falle Venedigs, versinken. Entsprechend wird die Bedeutung in 1 angepasst: stehen bedeutet<br />
hier ‘in Ruhelage, intakt sein’. Das Thema Venedig verhindert in 1, dass der Leser an bewegliche<br />
Güter (Noch stand alles in der Küche) oder an Pläne denkt (Noch stand alles fest, dann wurde es<br />
wieder geändert). Noch und fest deuten auf Veränderlichkeit, d.h. auf im Prinzip vertikales<br />
Stehen hin, eben das Stehen von Gebäuden, dessen Gegenteil nicht ein Liegen, sondern ein<br />
Zusammenfallen oder hier Versinken ist. Mit dieser Textbedeutung geht eine Degradierung des<br />
Ortsbezuges einher: Aber noch stand alles. ist ein kompletter Satz. Ob die Angabe des Untergrundes<br />
als fakulative E oder als A angesehen wird, möchte ich im Moment zur Seite stellen. Auf<br />
jeden Fall liegt ein anderes Verhältnis zur Ortsbestimmung vor als in Der Campanile steht am<br />
Markusplatz. Wichtig ist die Einsicht, dass der Satzbauplan aus dem Kontext heraus konstruiert<br />
wird: Das Verb ist hinsichtlich seiner Textlesart unterdeterminiert. 2<br />
Das Verhältnis von Lexem zur Textverwendung ist Valenzpraktikern nur zu gut vertraut. Ich<br />
sehe hier vor allem eine Chance, als Valenzgrammatiker am Modellieren der Sprachverarbeitung<br />
2 Man vergleiche Marten 2002. Zur Unterspezifizierung von Äußerungen generell siehe Sperber & Wilson (1995) und<br />
Kempson et al. (2001).<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />
mitzuwirken. Außerdem kann von der Sprachverwendung her korrektiv gegen vorschnelle typologische<br />
Generalisierungen vorgegangen werden.<br />
Dies bringt mich zum dritten Punkt:<br />
ad c) Valenz und Typologie. Von der textuellen Realisierung zu unterscheiden ist die<br />
strukturelle Valenzrealisierung in einer Einzelsprache. Dazu finden sich in kontrastiven Valenzstudien<br />
immer wieder Bemerkungen, z.B. im Valenzlexikon deutsch-rumänisch und in der<br />
Kontrastiven Grammatik deutsch-rumänisch Hinweise auf pro-drop, das Auslassen von<br />
Personalpronomen (Engel & Savin et al. 1983: 32, Engel et al. 1993: 50f.: inbegriffenes / mitverstandenes<br />
/ unbestimmtes Subjekt), und auf Verdopplungen von E (Engel & Savin et al. 1983: 33,<br />
Engel et al. 1993: 52-63). Implizit werden hier „Mikrorealisierungen“ (s.u.) angenommen: prodrop<br />
des Subjekts wird nicht als Fakultativität interpretiert und die Verdoppelungen führen zu<br />
keiner Änderung der (makrovalenziellen) Satzbaupläne. Person und Numerus des inbegriffenen<br />
Subjekts seien durch die Personalendungen des Verbs gesichert (Engel et al. 1993: 50). Auch<br />
eine Funktion bzw. ein Effekt der Verdoppelungen wird identifiziert: Disambiguierung (ebd.: 52).<br />
Die typologische Relevanz dieser Phänomene wird allerdings nicht herausgestellt. Dies ist einerseits<br />
durch den Entwicklungsstand und die Prioritäten der damaligen VT zu erklären, andererseits<br />
scheint auch das am Deutschen entwickelte Valenzmodell einen gewissen Anpassungszwang<br />
ausgeübt zu haben. Die Bevorzugung einer Sprache durch den Beschreibungsapparat ist<br />
bei kontrastiven Unternehmungen fast unvermeidlich. Eine am Rumänischen entwickelte VT<br />
hätte vielleicht den typologischen Ansatz von Tesnière stärker integriert bzw. weiter entwickelt.<br />
2. Methodik<br />
Die strukturelle Valenzrealisierung einer Einzelsprache muss identifiziert werden, schon<br />
allein, um sie methodisch von der kontextuell-situativen trennen zu können. Außerdem eröffnet<br />
die strukturelle Valenzrealisierung die Chance einer Valenztypologie.<br />
Wie soll man also vorgehen? Man kann Valenz auch nach Jacobs einfach als die Gesamtheit<br />
der syntaktischen und semantischen Anforderungen bestimmen, die ein Lexem an seine Umgebung<br />
stellt. Ein solcher Begriff läuft auf das heute übliche multidimensionale Valenzmodell<br />
mit abgestufter E/A-Abgrenzung hinaus. Da er keine Auskunft darüber gibt, warum die Anforderungen<br />
bestehen, bleibt Valenz ein Sammelbegriff.<br />
Ich möchte einen anderen Weg einschlagen und zuerst fragen, was ein Valenzmodell eigentlich<br />
erklären soll:<br />
a) Es sollte eine universal anwendbare Definition von Valenz leisten.<br />
b) Typologisch unterschiedliche Realisierungsformen von Valenz müssen im Modell darstellbar<br />
sein.<br />
c) Es sollte die „klassischen“ Einsichten in die Valenz erklären:<br />
a) die Relationalität von Valenz,<br />
b) die Gleichordnung der Ergänzungen (flache Struktur).<br />
d) Das Verhältnis der verschiedenen Valenzrelationen (Partner-Bindungsbeziehungen) sollte<br />
bestimmt werden.<br />
e) Der in der Valenzpraxis weitgehend bestehende Konsens über die E/A-Abgrenzung sollte<br />
sowohl von der Definition erfasst als auch erklärt werden.<br />
f) Die Indeterminiertheit eines Teils der Satzglieder bezüglich der E/A-Abgrenzung und die<br />
Unterdeterminiertheit von Prädikaten sollte berücksichtigt werden.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
489
Klaus Fischer<br />
g) Der Umfang des Valenzträgers, die verschiedenen Realisierungsformen von Valenz<br />
(Mikro- vs. Makrovalenz; interne vs. externe Valenz), die semantische und syntaktische<br />
Ausgestaltung von Textprädikaten durch Interaktion mit der jeweiligen Verbform (z.B.<br />
Konverse) sowie dem Ko- und Kontext und daraus resultierende Valenzreduktion/erhöhung<br />
sollten beschrieben werden.<br />
3. Valenzdefinition<br />
Beginnen wir mit der Definition: Formale Anforderungen an E sind nicht universal, da die<br />
Beziehung zwischen E und Verb rein semantisch sein kann, die Identifikation und Unterscheidung<br />
der E also vom Hörer erschlossen wird. Obwohl Deutsch eine Kasussprache ist,<br />
können E wegen mangelnder morphologischer Nominativ-Akkusativ-Differenzierung relativ<br />
häufig nur kontextuell differenziert werden:<br />
3 Mehr als 50 Frauen sollen zwei Westafrikaner nach NRW eingeschleust und zur<br />
Prostitution in Bordellen in Oberhausen, Düsseldorf und Köln gezwungen haben. (Rheinische<br />
Post, nach Spiegel 13/2001, S. 246, Rubrik Hohlspiegel)<br />
Wer hat wen eingeschleust und zur Prostitution gezwungen? Unser Weltwissen gibt uns die<br />
Antwort. Zumindest ein Leser hat die fokussierte Akk-E aber zunächst als Subjekt interpretiert,<br />
sonst wäre der Satz nicht aufgefallen und an den Spiegel eingesandt worden.<br />
Unter einem universalen Blickwinkel kann es nur eine semantische Definition von Valenz<br />
geben: Valenz ist Sachverhaltskonstitution. Sachverhaltskonstitution ist nötig, um etwas zu<br />
sagen: das Prinzip, mit dem wir über Welt sprechen, ist, dass wir Entitäten zueinander in Beziehung<br />
setzen. (Ob unser kognitives Erfassen von Welt auch so funktioniert, wissen wir nicht.)<br />
In 3 wird der Kernsachverhalt des Jemanden-an-einen-Ort-Einschleusens etabliert. Drei Entitäten<br />
werden miteinander verbunden und mit semantischen Rollen versehen: die Einschleuser,<br />
die Eingeschleusten und das geographische Ziel des Einschleusens. Dies leistet das im Kontext<br />
interpretierte Verb. Einen Sachverhalt des Einschleusens gibt es nicht an sich, nur Menschen, die<br />
sich relativ zum Raum bewegen. Der Sachverhalt ist ein sprachlich gefasster.<br />
Die Relation Sachverhaltskonstitution ist also valenzbegründend, ist die synthetische<br />
Valenzrelation (vgl. Ágel 2003). Dies ist im Prinzip seit Tesnière bekannt und wird auch in der<br />
Grammatik der deutschen Sprache (GdS) so ausgeführt: Stichworte Sachverhaltsentwurf,<br />
Minimalproposition (Zifonun et al. 1997: 601, 1028) – um dann im zweiten, etwas unverbunden<br />
neben dem ersten stehenden GdS-Valenzmodell als eine gleichberechtigte Relation neben<br />
anderen wieder zu erscheinen (ebd.: 1030-43). Der Grund dafür ist m.E., dass das volle Erklärungspotenzial<br />
der Relation Sachverhaltskonstitution nicht erkannt wurde:<br />
a) Sie erklärt den hartnäckigen, theorieübergreifenden Valenzkonsens, der so unterschiedliche<br />
E anerkennt wie das Subjekt, adverbiale Bestimmungen, prädikative Phrasen.<br />
b) Sie erklärt auch die letztlich unfruchtbare Diskussion um die Abgrenzung von E und A:<br />
Kernsachverhalte können enger oder weiter gefasst werden. Es ist nicht entscheidbar,<br />
ob für Satz 1 ein Kernsachverhalt des Stehens, des Auf-etwas-Stehens, des Auf-eine-<br />
Art-Stehens oder eines Auf-eine-Art-auf-etwas-Stehens angenommen werden soll.<br />
Sachverhaltskonstitution ist partiell indeterminiert (was nicht dasselbe ist wie vage:<br />
kein fließender Übergang wird angenommen). Ich schlage vor, eine lexikalische Grundvalenz<br />
durch Häufigkeitsuntersuchungen zu etablieren. Sie ist etwas weiter gefasst als<br />
bei Welke (1988): essen z.B. wäre zweiwertig, nicht einwertig. Diese kann dann in der<br />
Textrealisierung durch Valenzreduktion oder -erhöhung verändert werden. Valenzerhöhungen<br />
können weit in den Bereich der klassischen Angaben hineinragen, da es wie<br />
490<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />
gesagt nicht entscheidbar ist, ob adverbiale Bestimmungen als Argumente oder<br />
Prädikate zweiter Stufe angesehen werden sollen.<br />
Sachverhaltskonstitution erklärt auch die von Tesnière angenommene Gleichheit der<br />
strukturalen Beziehung von E zum Vt. Hat man sich entschieden, was der Kernsachverhalt ist,<br />
dann benötigt man alle E, um diesen zu konstituieren. In dieser Beziehung sind E gleichberechtigt<br />
und gleich wichtig. In anderer Hinsicht sind sie syntaktisch und semantisch unterschieden.<br />
3<br />
Ich gehe das Problem der Valenzdefinition nochmal aus einem etwas anderen Blickwinkel<br />
an. Es wird oft gesagt, dass die syntaktische Valenz der Ausdruck der semantischen Valenz sei.<br />
Dabei schwingt die Frage mit: Worum wurde hier eigentlich diskutiert? Ich kann dem so nicht<br />
zustimmen, weil die Formulierung zu Missverständnissen führen kann.<br />
Formale Markierung an sich zeigt syntaktische Beziehungen, z.B. Dependenzrelationen an.<br />
Sie kann vereinfacht ausgedrückt in zweierlei Form auftreten, am Kopf der Dependenzrelation<br />
oder am Dependens (s. Nichols 1986):<br />
4 Der Kanzler schmollt.<br />
Dependensmarkierung Kopfmarkierung der Dependenzbeziehung<br />
5 Sie springt über den Bach.<br />
Dependensmarkierung der Dependenzbeziehung<br />
6 Sie überspringt den Bach.<br />
Kopfmarkierung der Dependenzbeziehung<br />
Kasus sind z.B. Dependensmarkierungen, die auch bei Angaben auftreten können:<br />
7 den ganzen Tag/des Tages (obs.) schlafen<br />
Häufiger als im Deutschen z.B. im Lateinischen, besonders mit dem Ablativ (Kasusendungen<br />
fett):<br />
8 omnibus amicis/duobus modis/ruri/ vere celebrare<br />
‘mit allen Freunden/auf zweifache Weise/auf dem Lande/im Frühling feiern’<br />
Die ide. Verbflexionen markieren die Beziehung zum Subjekt am Kopf, was wie gesagt als<br />
sogenannte Mikrovalenz bezeichnet wird und eine Form von struktureller Valenzrealisierung<br />
darstellt. Aber wieder ist Markierung nicht auf E beschränkt: Auch A können kopfmarkiert sein:<br />
9 Sie kauften gestern ein. (s. Pasierbsky 1981)<br />
In 9 wird der Zeitbezug am Verb markiert. Von den Formen an sich führt kein Weg zur<br />
Valenz, vielmehr muss erst entschieden werden, ob die Markierung vom Vt abhängt, d.h. wir<br />
müssen die Valenz zuerst bestimmen, um die Markierung einzuordnen. Da weder einzelsprach-<br />
3 Genauer in Fischer 2000, 2001, 2003b. W. Bondzio z.B. vertritt seit den 70er Jahren einen semantischen Valenzbegriff<br />
(s. etwa Bondzio 2001: 157f.). Zur flachen Satzstruktur im Deutschen vgl. Kathol 2001, zu Graden von Konfiguriertheit<br />
Berg 2002.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
491
Klaus Fischer<br />
lich noch universal alle E eine formale Markierung tragen, drücken Markierungen nicht Valenz<br />
an sich aus: sie sind vielmehr auf Unterscheidung der E angelegt. Eine finite ide. Verbendung<br />
bedeutet also nicht: das entsprechende Dependens ist ein E, sondern eine bestimmte E, ein<br />
Subjekt. Gleichfalls bedeutet ein vom Verb geforderter Nominativ nicht E, sondern Subjekt.<br />
4. Valenzrealisierung<br />
4.1 Pro-drop<br />
Wir haben gesagt, dass etwas sagen bedeutet, zwischen Entitäten Beziehungen herzustellen.<br />
Das im Kontext interpretierte Verb entscheidet über die Art der Beziehung und damit darüber,<br />
welche Entitäten verbunden werden. Die Referenz auf die Entitäten wird durch die Makro-E<br />
geleistet, z.B. durch Nominalphrasen. Dies muss aber nicht sein:<br />
492<br />
10 la Laboro<br />
‘ich arbeite’<br />
11 ro Am o carte.<br />
‘ich habe ein Buch’<br />
Die deiktische Referenz wird hier jeweils durch das Verb selbst bewerkstelligt, und zwar<br />
durch die Personalendung -o bzw. -m. Lateinisch und Rumänisch, wie auch Spanisch,<br />
Portugiesisch, Italienisch, Katalanisch, Griechisch, Bulgarisch, Serbokroatisch, Chinesisch,<br />
Japanisch, Thai, Koreanisch und viele andere Sprachen, sind pro-drop, d.h. das Personalpronomen<br />
kann weggelassen werden. 4 In pro-drop-Sprachen ist die Realisierung des Personalpronomens<br />
dann markiert:<br />
12 la Ego laboro.<br />
‘ICH arbeite’ (nicht die anderen)<br />
13 ro Eu am o carte.<br />
‘ICH habe ein Buch’<br />
Die Nichtrealisierung ist nicht als Fakultativität misszuverstehen, sie ist ein struktureller Zug<br />
von pro-drop-Sprachen. Ein Sprecher des Lateinischen hätte nicht die Wahl gehabt, 12 ohne<br />
Emphase zu realisieren. Dafür hätte er 10 sagen müssen.<br />
Auch das Deutsche hat pro-drop-Strukturen, z.B. beim Imperativ:<br />
14 Komm jetzt.<br />
Die Makrorealisierung des Angesprochenen ist emphatisch:<br />
15 Komm du jetzt.<br />
Die VT hat hier durchaus eine Aufgabe: zu bestimmen, welche unmarkierte strukturelle<br />
Valenzrealisierung in einer Sprache besteht und welche markierten Strukturen nach einem<br />
anderen Muster realisiert werden. Mikrovalenz gehört also in ein integriertes Valenzmodell.<br />
Allerdings sollte Mikrovalenz aus einer Reihe von Gründen nicht überinterpretiert werden:<br />
4 Im Rumänischen ist pro-drop in der 2. Person Singular Präsens eingeschränkt, da z.B. Pleci la mare als Aufforderung<br />
interpretiert würde: Fahr ans Meer.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />
a) Eine explizite Kopfmarkierung in Form einer Personalendung ist universal nicht nötig.<br />
Ostasiatische Sprachen sind trotz fehlender Verbflexion pro-drop:<br />
16 zh Zhangsan kanjian Lisi le ma? (Roberts 1997: 154)<br />
Zhangsan see Lisi ASP Q ASP: Aspektmarkierung<br />
‘Did Zhansan see Lisi? Q: Fragemarkierung<br />
kanjian le (eine mögliche Antwort)<br />
see ASP<br />
‘He saw him’<br />
Pro-drop-Sprachen scheinen entweder eine reiche Verbmorphologie zu haben oder gar<br />
keine (Zushi 2003). Wenn man mit Tesnière ide. Personalendungen zum Subjekt rechnet, sind<br />
ostasiatische Sprachen die eigentlichen pro-drop-Sprachen.<br />
a) Auch eine Sprache wie das Deutsche, die im Konstativsatz obligatorische Makrorealisierung<br />
eines valenziell vorgesehenen Subjektelementes besitzt, ist umgangssprachlich<br />
pro-drop:<br />
17 Bin gleich wieder da.<br />
Die beiden Punkte unterminieren m.E. die syntaktische Relevanz von pro-drop und lassen es<br />
als ein pragmatisches, wenn auch in pro-drop-Sprachen stark normiertes, Phänomen erscheinen.<br />
4.2 Weitere Mikrorealisierungen<br />
Nicht nur das Subjekt kann mikrovalenziell realisiert werden. Betrachten wir kurz ein Beispiel<br />
der oben angesprochenen Verdopplungen von Dativ- und Akkusativergänzungen in Form<br />
von unbetonten Pronomen im Rumänischen (Engel & Savin et al. 1983: 33):<br />
18 Petre l-a salutat pe profesor.<br />
‘Peter hat den Lehrer gegrüßt.’<br />
Im Valenzlexikon deutsch-rumänisch heisst es dazu „Die Verdopplung hat mit der Valenz des<br />
Verbs überhaupt nichts zu tun.“ (ebd.: 33) Tatsächlich ist es dieselbe E, die zweimal realisiert<br />
wird: Am makrovalenziellen Satzbauplan ändert sich deshalb nichts. Die klitische Realisierung<br />
der E am Kopf der Phrase, dem Verb, ist vielmehr ein Phänomen der strukturellen Valenzrealisierung,<br />
hier als markierte, an gewisse Bedingungen gebundene Struktur. Zu beachten ist,<br />
dass Mikrovalenz verschiedene Formen besitzen kann: Klitika sind natürlich weniger eng an das<br />
Verb gebunden als Flexive.<br />
Nichols und Ágel fassen auch adverbiale Präfixe als Kopfmarkierungen bzw. mikrovalenzielle<br />
Realisierungen auf:<br />
19 Wir montieren die Reifen (an das Auto) an.<br />
An sei eine Mikrorealisierung der Direktivergänzung. Adverbiale Verbpartikel sind aber nicht<br />
mit Personalendungen gleichzusetzen:<br />
20 Wir montieren die Reifen an es an.<br />
ist keine emphatische Realisierung wie 12 und 13, obwohl die Direktivergänzung zweimal<br />
phorisch verwirklicht wäre. Die Lösung könnte darin gesehen werden, dass die Partikel an nur<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
493
Klaus Fischer<br />
eine Teilmikrorealisierung der Direktivergänzung darstellt: an repräsentiert den Kontakt, nicht<br />
den Gegenstand, mit dem der Kontakt stattfindet. Nicht umsonst sind PP exozentrisch.<br />
4.3 Appositive Interpretation<br />
Nichols und Ágel verbinden mit der Mikrovalenz in pro-drop-Sprachen eine auf F. Boas’ Analyse<br />
amerikanischer Sprachen 5 fußende funktionale Interpretation, die sich gegen die<br />
Kongruenzinterpretation richtet. Die Personalendung sei phorisch-deiktisch, da sie allein die<br />
Referenz sichern kann. Werde ein Subjekt realisiert, sei dieses appositiv zur Personalendung:<br />
494<br />
21 Puer laborat. ‘der/ein Junge arbeitet’<br />
––––––→<br />
„Apposition“ Personalendung sichert Referenz<br />
Die appositive Interpretation ist m.E. aus einer Reihe von Gründen nicht haltbar 6 :<br />
Laborat für sich kann nur eine definite, nicht eine indefinite Referenz besitzen. Für eine indefinite<br />
Lesart ist immer ein Makrosubjekt oder eine Passivkonstruktion nötig:<br />
22 Aliquis laborat. / Laboratur.<br />
‘jemand arbeitet’ / ‘es wird gearbeitet’<br />
Eine funktionale Teilung zwischen indefiniter und definiter Subjektphrase ist aber absurd.<br />
b) NP referieren, sobald sie im Redefluss auftreten. Ein Hörer des Lateinischen würde mit<br />
der Referenz von puer nicht warten, bis das Verb auftritt.<br />
c) Es ist unwahrscheinlich, dass sich bei einem Registerwechsel wie z.B. dem ins „Telegrammdeutsch“<br />
die funktionalen Bezüge im Satz verändern.<br />
Ich möchte der appositiven Sichtweise den Versuch einer einheitlichen funktionalen der ide.<br />
Verbflexion in Form eines Imperativs gegenüberstellen:<br />
„Suche nach einem valenzkonformen Subjekt“, ausführlicher: „Suche nach einer valenzkonformen<br />
Subjektphrase im Kotext oder, wenn nicht vorhanden, nach einem passenden<br />
Subjektreferenten im Kontext zwecks Formung einer Aussage (die zu verschiedenen Sprechakten<br />
benutzt werden kann)“. Diese Funktionsbestimmung der finiten Verbflexion hat den Vorteil, dass<br />
sie sowohl auf Sprachen mit obligatem Subjekt und auf pro-drop-Sprachen passt. Die finite<br />
Flexion verändert nicht ihre Funktion je nach Typ der Valenzrealisierung.<br />
5. Die Aussagedimension<br />
Bisher haben wir das Wesen der Valenz als Sachverhaltskonstitution bestimmt. Dies ist die<br />
lexikalische Forderung nach Valenzpartnern, die ein Verb mit dem entsprechenden Nomen teilt:<br />
laufen → der Lauf (vgl. Eichinger 1995). Verben haben aber auch eine grammatische Bedeutung,<br />
die sie von anderen Wortarten unterscheidet. Diese grammatische Bedeutung wurde in der VT<br />
meist nicht explizit benannt. Sie besteht darin, Aussagen zu ermöglichen (vgl. Bossong 2001).<br />
Unter Aussage verstehe ich das Einbringen eines Sachverhaltsentwurfs in einen Satz. Der<br />
Terminus ist sprechaktneutral gemeint. In diesem Sinne beinhalten auch Fragen und Anweisungen<br />
„Aussagen“, d.h. jeweils wird ein von der Verbsemantik bestimmter Sachverhaltsent-<br />
5 Boas 1911: 29, s.a. 74f.<br />
6 Genaueres in Fischer (2003b). Zur Referenzialität und (In-)Definitheit von Personalpronomen, personalen Affixen<br />
(Klitika) und Personalflexiven vergleiche Lyons 1999, insbesondere 26-32, 311; Corbett 2003: 173, 184f. und Mithun<br />
2003: 239ff.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />
wurf realisiert. Leiss (2002) spricht von einer Zeit- oder Innenperspektive, die Verben von Nomen<br />
unterscheidet: Nomen schauen von Außen auf die Welt und erfassen „Weltabschnitte“ als abgeschlossenes<br />
Ganzes – sozusagen in einem Augenblick. Verben erfassen Welt dynamisch, als<br />
unabgeschlossenen Vorgang. Dies ist besonders deutlich in der ersten Person. Man vergleiche<br />
ich laufe mit der Lauf. Mit dieser sspezifischen grammatischen Leistung des Verbs sind weitere<br />
Merkmale verbunden: Verben sind komplexer als Nomen, sie sind einzelsprachspezifischer und<br />
deshalb schwieriger zu übersetzen (Bybee 2000: 795). Im Spracherwerb werden sie später gelernt<br />
als Nomen.<br />
Von der VT als einer verbzentrierten Theorie kann erwartet werden, dass sie auch die<br />
grammatische Bedeutung der Kategorie Verb untersucht. Das Fehlen einer solchen Untersuchung<br />
birgt die Gefahr in sich, dass Valenz unreflektiert auf andere Wortarten, z.B. Nomen,<br />
übertragen wird (Eichinger 1995). Die prototypische Aufgabe von Nomen ist Referenz 7 . Um diese<br />
durchzuführen, genügt meist eine minimal ausgestattete NP (Determinativ und Nomen).<br />
Deshalb sind unmarkierte N gerade nicht die relationalen N, und deshalb haben Leerstellen von<br />
N einen anderen Stellenwert als Leerstellen von V: ihre Füllung ist möglich, aber meist nicht<br />
nötig. N verlangen in der Regel keine Mitspieler, tolerieren sie nur. Sekundär wird N allerdings in<br />
den Dienst von als Referenzen verkleideten Prädikationen gedrückt. Ganz deutlich und häufig<br />
geschieht dies in der deutschen Schriftsprache mit ihren kompakten, semantisch unterdeterminierten<br />
Nominalisierungen. Der Aufwand bei ihrer Rezeption – sie sind meist semantisch<br />
weniger transparent als entsprechende verbale Phrasen und zuerst muss eine Prädikation durchgeführt<br />
werden, um die Referenz zu erfassen – ist Zeuge ihrer „Zweckentfremdung“ 8 . Auf der<br />
Plusseite sind Nominalisierungen oft kürzer und erlauben deshalb kompakte Sätze.<br />
6. Valenzmodell<br />
Die bisherigen Ergebnisse sind in dem auf der nächsten Seite stehenden Modell zusammengefasst.<br />
7. Schluss<br />
Ich habe einige der Anforderungen angesprochen, die ein integriertes Valenzmodell erfüllen<br />
sollte, und in Grundzügen einige Elemente eines solchen Modells vorgestellt. Valenz hat sich<br />
dabei keineswegs als Sammelbegriff erwiesen, sondern als klassisch definierbarer semantischer<br />
Begriff, der die oft kritisierte Valenzpraxis im Prinzip rechtfertigt und auch in Bezug auf zentrale<br />
Lehrsätze der VT Erklärungspotenzial besitzt.<br />
Es wurde vorgeschlagen, zwischen der semantischen Begründung von Valenz durch die<br />
Relation Sachverhaltskonstitution und der Beschreibung der Valenz durch alle anderen<br />
Relationen zu unterscheiden. Auf diese Weise können die seit Jacobs’ Kritik erzielten Fortschritte,<br />
insbesondere auch die Relationen des zweiten Modells in der GdS, integriert werden.<br />
Die semantische Begründung von Valenz hat auch den Vorteil, dass sich die von der Theorie<br />
der strukturellen Valenzrealisierung angemahnte Beschreibung der einzelsprachlichen Valenzrealisierungen<br />
problemlos integrieren lässt. Es wurde allerdings zu einer differenzierenden Sicht<br />
der unterschiedlichen „Mikrovalenzen“ aufgefordert und davor gewarnt, das ursprünglich<br />
pragmatisch motivierte Phänomen des pro-drop funktional überzubewerten: Die appositive<br />
Abwertung von Makrosubjekten in pro-drop-Sprachen wurde verworfen. Im Übrigen lässt sich<br />
die heute auch von Konstituentenstrukturgrammatiken akzeptierte Verbzentralität im uni-<br />
7<br />
Der Einfachheit halber wird hier nicht zwischen referenziellem und essenziellem (Gegenstände setzenden) Gebrauch<br />
von N unterschieden (s. Zifonun et al. 1997: 781-3).<br />
8<br />
Dies soll keinesfalls als Stilkritik missverstanden werden, es geht lediglich um den prototypischen Gebrauch grammatischer<br />
Kategorien und um eine Kosten-Nutzenrechnung bei atypischem Gebrauch. Vgl. Fischer (2003a).<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
495
Klaus Fischer<br />
versalen Beitrag des Verbs zur Satzkonstitution, zur Formung einer Aussage, demonstrieren, die<br />
im Unterschied zum Nomen, im Aufbreiten eines generellen Ereignisraumes bzw. Zeithorizontes<br />
und im Konstituieren eines bestimmten, u.U. kulturell und einzelsprachlich geprägten Szenarios<br />
besteht. Aus dieser von der VT zu wenig thematisierten universalen Funktion des Verbs ergeben<br />
sich Unterschiede zur Valenz anderer Wortklassen, insbesondere der des Nomens.<br />
Nicht angesprochen wurden wichtige Elemente einer VT wie z.B. die Abgrenzung der Valenzträger<br />
(Kollokationen, Phraseologismen, innere und äußere Valenz, vgl. Ágel 2003) und die Ermittlung<br />
einheitlicher Lexembedeutungen (Willems & Coene 2003).<br />
Grammatische<br />
Leistung<br />
der Kategorie<br />
Verb<br />
Aussage:<br />
Einbringen<br />
eines Sachverhalts-entwurfs<br />
in einen Satz<br />
(sprechaktneutral)<br />
496<br />
Definition<br />
(„Wesen de<br />
Verbvalenz“);<br />
universal<br />
Sachverhaltskonstitution;<br />
Entscheidung<br />
E/A (partielle<br />
Indeterminierthe<br />
it)<br />
Unidimensionales Modell der Verbvalenz<br />
formale Kennzeichnung<br />
keine<br />
(Valenz ist impliziert)<br />
L i t e r a t u r :<br />
Konsequenzen aus E-Status<br />
(einzelsprachliche Beschreibung der Verbvalenz)<br />
semantisch 9 syntaktisch<br />
Das im Kontext<br />
interpretierte<br />
Verb determiniert<br />
semantische<br />
Rollen und<br />
Restriktionen<br />
aller E und<br />
perspektiviert<br />
einige E<br />
Zum Teil Kennzeichnung der<br />
Dependenzbeziehung zum<br />
Verb und der Art der<br />
Dependenzbeziehung, d.h.<br />
Unterscheidung der E durch:<br />
1. Kopfmarkierung<br />
a) formale syntaktische<br />
Mittel:<br />
- Verbflexion<br />
- Position der Verbflexive<br />
zueinander<br />
- Verbform (genus verbi)<br />
- Betonung von Affixen<br />
b) lexikalische syntaktische<br />
Mittel:<br />
- Affixe<br />
2. Dependensmarkierung<br />
a) formale syntaktische<br />
Mittel:<br />
- Position<br />
- Flexion (Kasus, Kasustransfer)<br />
- Intonation<br />
b) lexikalische syntaktische<br />
Mittel<br />
- Kopf der Phrase (NP vs. PP)<br />
- Wahl der konstanten<br />
Adposition<br />
9 Wegen der in wesentlichen Punkten ähnlichen bzw. identischen Erfahrungen menschlicher Individuen und Gesellschaften<br />
gibt es weitgehende semantische Überschneidungen zwischen den Verben bzw. Prädikatsausdrücken verschiedener<br />
Sprachen, auch, was die Anzahl und Rollen der Mitspieler und ihre Abbildung auf syntaktische Funktionen<br />
betrifft.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />
1. Ágel, Vilmos, 1993. Ist die Dependenzgrammatik wirklich am Ende? Valenzrealisierungsebenen, Kongruenz,<br />
Subjekt und die Grenzen des syntaktischen Valenzmodells, in: ZGL 21.1, 20-70.<br />
2. -- , 2000. Valenztheorie. Tübingen: Narr.<br />
3. -- , 2003. Phraseologismus als (valenz)syntaktischer Normalfall. Typoskript. (= Vortrag Jahrestagung des IDS<br />
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4. Berg, Thomas, 2002. The historical development of English sentence structure: from less to more hierarchical, in:<br />
Wolfram Bublitz et al. (Hgg.), Philologie, Typologie und Sprachstruktur. Festschrift für Winfried Boeder zum 65.<br />
Geburtstag, Frankfurt a.M., Lang, 111-36.<br />
5. Bondzio, Wilhelm, 2001. Wortbedeutung und Circonstants, in: Werner Thielemann & Klaus Welke (Hgg.), Valenztheorie.<br />
Einsichten und Ausblicke. Münster, Nodus, 157-68.<br />
6. Bossong, Georg, 2001. Ausdrucksmöglichkeiten für grammatische Relationen, in: Martin Haspelmath et al.(Hgg.),<br />
Language Typology and Language Universals. An international handbook. 1. Halbband, Berlin, de Gruyter, 657-<br />
68.<br />
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(= Transactions of the Philological Society Bd. 101, Nr. 2), Oxford, Blackwell, 155-202.<br />
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10. Eichinger, Ludwig M. 1995. Von der Valenz des Verbs und den Abhängigkeiten in der Nominalgruppe, in: Ludwig<br />
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(Hg.): Die Valenztheorie. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Frankfurt a.M., Lang. (in Vorbereitung)<br />
21. -- , 2003b: Verb, Aussage, Valenzdefinition und Valenzrealisierung: auf dem Weg zu einer typologisch adäquaten<br />
Valenztheorie, in: Ann Coene, Jeroen Van Pottelberge & Klaas Willems (Hgg.), Valenztheorie: Neuere Perspektiven<br />
(= Themenheft der Studia Germanica Gandensia), Gent, Universität Gent. (in Vorbereitung)<br />
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23. Hawkins, John A., 1986. A Comparative Typology of English and German. Unifying the contrasts. London: Croom<br />
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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
497
Klaus Fischer<br />
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35. Marten, Lutz, 2002. At the Syntax-Pragmatics Interface. Verbal underspecification and concept formation in<br />
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41. Quirk, Randolph et al., 1972. A Grammar of Contemporary English. Harlow: Longman.<br />
42. Radford, Andrew, 1997. Syntactic theory and the structure of English. A minimalist approach. Cambridge,<br />
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43. Roberts, Ian, 1997. Comparative Syntax, London, Arnold.<br />
44. Sadzinski, Roman, 1989. Statische und dynamische Valenz. Probleme einer kontrastiven Valenzgrammatik<br />
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45. Schumacher, Helmut (Hg.), 1986. Verben in Feldern. Valenzwörterbuch zur Syntax und Semantik deutscher<br />
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52. Willems, Klaas, 2002. Valenz und Metasprache. Überlegungen zum epistemologischen Stellenwert von Beispielsätzen<br />
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in: Sprachwissenschaft 27 (4/2002), 363-96.<br />
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Werner Eroms, Dependenz und Valenz. Hamburg: Helmut Buske, 177-90.<br />
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498<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
FRAUEN<strong>SPRACHE</strong> — MÄNNER<strong>SPRACHE</strong><br />
Fragebogenuntersuchung<br />
Emilia Muncaciu-Codarcea<br />
Einleitende Bemerkungen<br />
Die Frauen- und Männersprache ist in den letzten Jahren Gegenstand soziolinguistischer<br />
Untersuchungen geworden und gehört zum Bereich der Soziolinguistik, die die Beziehungen<br />
zwischen der Sprache und der gesellschaftlichen Gruppenzugehörigkeit von Sprechern untersucht.<br />
Die Frauen– und Männersprache könnte also als Soziolekt definiert werden, da unter<br />
Soziolekt eine gruppenspezifische Sprachvarietät verstanden wird, die Kommunikationsbarrieren<br />
darstellt und wertende Einstellungen zu anderen sozialen Gruppen verstärkt. Ein<br />
Soziolekt ist eine Sprachvarietät, die von einer sozialen Gruppe oder einer sozialen Schicht benutzt<br />
wird. Für den Begriff Soziolekt gibt es verschiedene Definitionen, z.B. „Spezifische<br />
Sprachform einer sozialen Schicht.“ 1 („Knaurs Fremdwörterlexikon“), „eine bestimmte soziale<br />
Gruppe kennzeichnende Sondersprache“. 2 (dtv-Lexikon, Band 17) oder „Sprachgebrauch einer<br />
sozialen Gruppe oder Schicht.“ 3 (Wahrig — Deutsches Wörterbuch).<br />
Ich betrachte die Frauensprache — Männersprache als einen Soziolekt, als eine geschlechtsspezifische<br />
Sprache mit geschlechtsspezifischem Sprachverhalten in kommunikativen<br />
Situationen. Die Beschäftigung mit dem Thema „Männersprache — Frauensprache“ begann Anfang<br />
der 70er Jahre in Amerika und wurde von der neuen Frauenbewegung der letzten 20 Jahre<br />
initiiert und in die Linguistik hineingetragen worden. Seit Trömel-Plötz 1978 ihren Aufsatz<br />
„Linguistik und Frauensprache“ 4 veröffentlichte, ist das Thema auch in der germanistischen<br />
Linguistik verstärkt angegriffen und bearbeitet worden. Das Thema steht aber in engen Beziehungen<br />
auch zur Soziologie, Psychologie oder Pädagogik, besonders wenn man auch den<br />
Zusammenhang zwischen Sprache und sozialer Herkunft in Betracht zieht.<br />
Bei der Behandlung der Frauensprache — Männersprache unter soziolinguistischer Perspektive<br />
müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden: das unterschiedliche Sprachverhalten von<br />
Männern und Frauen, die Position der feministischen Linguistik dazu und die sprachliche Gleichstellung<br />
der Frau in der Rechts- und Verwaltungssprache. Auch im Schul- und Schulbuchbereich<br />
sind über ministerielle Erlasse und Gutachterrichtlinien erhebliche Veränderungen im Sinne<br />
einer feministischen Lehr- und Lernmittelkritik feststellbar.<br />
Meine Arbeit beruht auf einer Fragebogenuntersuchung. Befragt wurden 50 Studenten sowohl<br />
der Germanistik als auch der nichtphilologischen Fakultäten, der deutschen Abteilung,<br />
Studienfächer in deutscher Sprache, 1. und 2. Jahrgang, darunter 20 Studenten und 30 Studentinnen.<br />
1<br />
Knaurs Fremdwörterlexikon 1992, Hg. vom Lexikograph. Institut, vollständ. Taschenbuchausg., München, S. 395.<br />
2<br />
Dtv-Lexikon, Bd 17, 1992, F.A. Brockhaus GmbH, Mannheim und DTV Verlag GmbH &Co KG, München, S. 119.<br />
3<br />
G. Wahrig 1986: Deutsches Wörterbuch, völlig überarb. Neuausg., Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/ München,<br />
S. 1195.<br />
4<br />
S. Trömel-Plötz 1978: Linguistik und Frauensprache; in „Linguistische Berichte“ 57, S. 49-68.
Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />
Ich war durch die Fachliteratur angeregt, diesen Fragebogen aufzustellen, dessen Fragen ich<br />
teils selbst formuliert habe, teils der Literatur entnommen habe. Für die Aufstellung des Fragebogens<br />
war ich besonders von Harro Gross 5 inspiriert. In der Fragebogenuntersuchung habe ich<br />
den Standpunkt der Fachliteratur und der Linguistik vertreten, denn es wäre schwierig gewesen,<br />
dieses Thema nur vom Standpunkt der Germanisten, die aber keine Muttersprachler sind, aufschlußreich<br />
zu behandeln. Durch die Fragebogenuntersuchung wollte ich noch erreichen, daß<br />
die Studenten eine Parallele zu ihrer Muttersprache (Rumänisch oder Ungarisch) machen und<br />
sehen, ob diese sprachlichen Unterschiede auch in ihrer Muttersprache die Frauen betreffen,<br />
damit ich dann daraus schließen kann, ob die Frauen- und Männersprache als soziolinguistisches<br />
Thema auch in anderen Sprachen untersucht werden kann. Natürlich waren die<br />
Meinungen der Studenten subjektiv und unterschiedlich und deshalb stimmten sie auch nicht<br />
überall mit den Standpunkten der Fachliteratur oder meinen Meinungen überein. Darüber war<br />
ich froh.<br />
Im folgenden werde ich die Ergebnisse der Auswertung der Fragebögen darstellen.<br />
500<br />
Auswertung der Fragebögen<br />
In der Fragebogenuntersuchung zum Thema “Frauensprache — Männersprache” wurden 50<br />
Studenten befragt, davon 20 Studenten und 30 Studentinnen. 33 von ihnen sind im ersten Studienjahr,<br />
also im Alter von 19 Jahren und 17 von ihnen sind im zweiten Studienjahr, also im<br />
Alter von 20- 21 Jahren. Aus denen, die im ersten Studienjahr sind, studieren 23 Deutsch als<br />
Nebenfach, 8 sind Studenten der Fakultät für Mathematik/Informatik, deutsche Abteilung und<br />
2 sind Studenten der Fakultät für Physik/Mathematik, deutsche Abteilung. Ebenfalls gehören<br />
von diesen 33 Studenten 22 der ungarischen Minderheit, 1 der deutschen Minderheit und die<br />
anderen 10 sind Rumänen. Von den 17 Studenten, die im zweiten Studienjahr sind, studieren 2<br />
Deutsch als Hauptfach, 8 sind Studenten der Fakultät für Mathematik/Informatik, deutsche<br />
Abteilung und 7 sind Studenten der Fakultät für Physik/Mathematik, deutsche Abteilung. Von<br />
diesen 17 Studenten gehören 4 der ungarischen Minderheit, 1 der deutschen Minderheit und<br />
die restlichen 12 sind Rumänen.<br />
Das Ziel dieser Fragebögen war, die Kenntnisse der Studenten über dieses Thema zu überprüfen,<br />
was sie darunter verstehen, ob sie diese sprachlichen Unterschiede bisher bemerkt haben,<br />
in der deutschen Sprache aber auch in ihrer Muttersprache, und ihre persönlichen Meinungen<br />
überhaupt zum Ausdruck zu bringen, indem sie die Fragen eingehen.<br />
Die Meinungen und Eindrücke waren sehr unterschiedlich: manche reagierten eher negativ,<br />
und diese waren insbesondere die Jungen, manche jedoch empfanden dieses Thema als besonders<br />
interessant, da sie gestanden haben, daß sie sich bisher noch keine Gedanken darüber<br />
gemacht haben und daß es tatsächlich ein heikles, problemhaftes Thema ist auch nachteilig,<br />
was die Frauen sprachlich und beruflich betrifft. Diese waren natürlich die Stimmen der<br />
Studentinnen. Es gab natürlich auch Stimmen, die dieses Thema für absolut sinnlos hielten, da<br />
es eigentlich Frage der Mentalität sei und nicht der Sprache, denn die gesellschaftliche Interaktion<br />
der Frauen und Männer würde weiterhin dieselbe bleiben und es habe keinen Sinn jetzt<br />
die sprachlichen Unterschiede im einzelnen zu betrachten, da es seit Jahrhunderten eine<br />
Männer geprägte Sprache und Gesellschaft war und auch weiterhin bleiben würde. Die Behandlung<br />
dieses Themas von der feministischen Linguistik und von der Linguistik im allgemeinen<br />
würde keinesfalls erhebliche Änderungen in der Sprache und Gesellschaft mit sich<br />
5 H. Gross 1990: Einführung in die germanistische Linguistik, 2. Auflage, iudicium Verlag GmbH, München.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Emilia Muncaciu-Codarcea<br />
bringen nur vielleicht eine stärkere Bewußtmachung. Der Fragebogen enthielt 25 Fragen, betreffend<br />
die sprachlichen, semantischen und soziologischen Unterschiede zwischen Männern<br />
und Frauen.<br />
Auf die 1. Frage: „Männliche Dominanz wird besonders bei Berufs- und Titelbezeichnungen<br />
deutlich. Viele traditionell männliche Berufe sind inzwischen von Frauen 'erobert' worden, ohne<br />
daß die Bezeichnungen dafür auch immer motiviert oder neue geschaffen worden sind. Was ist<br />
Ihnen dabei aufgefallen?“ empfanden die meisten Studenten, darunter 10 Studenten und 20<br />
Studentinnen, daß es ein Ergebnis der Emanzipation und Selbständigkeit der Frauen sei, und<br />
daher eine positive Sache, daß auch typisch männliche Berufe von Frauen ausgeübt werden<br />
und umso besser wenn diese auch eine feminine Bezeichnung haben. 15 Stimmen, darunter 5<br />
weiblichen und 10 männlichen, waren dagegen und meinten, daß es eine blöde Frage sei, weil<br />
es eigentlich sinnlos wäre, daß typisch männliche Berufe von Frauen „erobert“ werden sollten<br />
und eine feminine Bezeichnung haben, da die Männer jahrtausendelang diese Berufe ausgeübt<br />
hätten. 5 Studenten waren unentschieden.<br />
Die 2. Frage: „Gibt es Ihrer Meinung nach eine feminine Form von folgenden 10 Berufsbezeichnungen?<br />
Geschäftsmann, Tierarzt, Kaufmann, Pilot, Kapitän, Torwart, Minister, Professor,<br />
Magister, Doktor.“ Alle Studenten haben erkannt, daß nicht alle Berufsbezeichnungen eine<br />
feminine Form haben, z.B. Torwart hat keine feminine Form. Die anderen lauten: Geschäftsfrau,<br />
Tierärztin, Kauffrau, Pilotin, Kapitänin, Ministerin/Frau Minister, Professorin. Pusch meint, daß<br />
selbst die motivierten Formen zur Bezeichnung weiblicher Menschen eine sprachliche Diskriminierung<br />
darstellen. Denn das Suffix -in (Kunde — Kundin) „konserviert im Sprachsystem<br />
die jahrtausendealte Abhängigkeit vom Mann, die es endlich zu überwinden gilt. Auch sprachlich“.<br />
6 Als Therapievorschlag wird die Verwendung des geschlechtsneutralen Feminins<br />
empfohlen, zum Beispiel: Sie ist eine gute Student oder Männer sind Bürgerinnen erster Klasse.<br />
Als Gegenargument gilt folgendes Urteil: "Wenn Ute Schülerin ist und Uwe Schüler, dann sind<br />
Ute und Uwe Schüler, nicht Schülerinnen — denn Uwe verträgt das Femininum nicht" 7 .<br />
Was die 3. Frage betrifft: “Kennen sie traditionelle Frauenberufe, die jetzt auch von Männern<br />
ausgeübt werden, etwa: Putzmann, Hausmann, Kindergärtner, Erzieher?” haben die Studenten<br />
zahlreiche Beispiele genannt: Krankenschwester- Krankenpfleger, Striptease Tänzer, Babysitter,<br />
Prostituierte- Gigollo, Koch, Verkäufer, Näher, Weber, Bibliothekar, Schneider, Lehrer, Sekretär,<br />
Friseur, Kosmetiker, Geburtshelfer u.a. 10 der Befragten wußten keine andere Beispiele oder<br />
haben nur allgemein auf die Frage geantwortet.<br />
Die 4. Frage: “Kennen sie typisch männlich/weibliche Personen- und Berufsbezeichnungen?”<br />
wurde auch unterschiedlich beantwortet. 5 Studentinnen und 5 Studenten meinten, daß es in<br />
unserem Jahrhundert keine typisch männliche/ weibliche Personen- und Berufsbezeichnungen<br />
gibt und geben sollte oder, daß sie keine wüßten. Die anderen Studenten haben zahlreiche Beispiele<br />
dafür genannt: typisch weiblich: Nonne, Hexe, Sekretärin, Verkäuferin, Putzfrau, Krankenschwester,<br />
Hausfrau, Hebamme, Au-Pair-Mädchen, Stewardess, Dienstmädchen, Jungfrau,<br />
Hure, Prostituierte, Weberin, Näherin, u.a.; typisch männlich: Hirte, Priester, Jäger, Förster, Feuerwehrmann,<br />
Polizist, Wissenschaftler, Elektroniker, Schuster, Maurer, Mönch, Bischof, Papst,<br />
Pilot, Bergarbeiter, Minister, Schmied, Handwerker, Mechaniker, Taxifahrer, Schornsteinfeger,<br />
6 Luise F. Pusch 1984: Das Deutsche als Männersprache, Frankfurt/ M., S. 59.<br />
7 L. Pusch 1984: 11 urteilt etwas provozierend: „Weibliche Bezeichnungen sind für Männer genauso untragbar wie<br />
weibliche Kleidungsstücke.“<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
501
Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />
Anwalt, Ingenieur, Boss, Kapitän, Präsident, Torwart, Soldat, Offizier, Politiker, Direktor, Tischler,<br />
Pfarrer, Fußballspieler u.a.<br />
5. Frage: "Nennen Sie ein paar Paarbezeichnungen und achten Sie dabei auf die Reihenfolge<br />
'männlich/weiblich' oder umgekehrt." Alle Studenten haben als Beispiele Mutter- Vater, Bruder<br />
und Schwester, Oma und Opa, Junge und Mädchen, Herr und Dame, Hänsel und Gretel, Tristan<br />
und Isolde, Großvater und Großmutter, Onkel und Tante, Sohn und Tochter genannt, wie auch<br />
solche, die auf – in endeten: Lehrer- Lehrerin, Schüler- Schülerin, Arzt- Ärztin, Student- Studentin,<br />
Kaufmann- Kauffrau, Putzmann- Putzfrau , Herr Kohl und seine Frau, Bill Clinton und<br />
Hillary, u.a. Man kann dabei die feste Reihenfolge männlich/weiblich beobachten.<br />
6. Frage: "Kennen Sie Phraseologismen mit dem Grundwort 'Mann' und mit dem Grundwort<br />
'Frau'“? Die Antworten auf diese Frage bewiesen, daß die Studenten eher Phraseologismen mit<br />
dem Grundwort „Mann“ kannten als mit dem Grundwort „Frau“, z.B. Ein Mann von Wort, mit<br />
Mann und Maus, ein Mann von Geist, ein Mann ein Wort, Strohmann, Mann für Mann, allemann,<br />
er stellt seinen Mann, aus dem echten Mann kommen, ein Mann von echtem Schrot und<br />
Korn, ein Mann von Wort, er ist Mann genug, ein ganzer Mann, von Mann zu Mann, seinen<br />
Mann finden, ein Mann der Feder, Mann-oh-Mann, er steht seinen Mann, der rechte Mann<br />
sein, ein Mann des Todes, ein Mann der Tat, der Mann im Haus, Blödmann, ein Mann für alle,<br />
u.a. Für Frauen galten: Sich eine Frau nehmen, die Frau des Hauses, das Kind bleibt in einem<br />
Mann immer drin, aber aus einer Frau geht es manchmal raus, zänkische Weiber, jn. zu Frau<br />
nehmen, sich eine Frau nehmen, die Frau ist das Herz einer Familie, ein Mann, ein Wort, eine<br />
Frau, ein Wörterbuch?.13 der Befragten waren unentschieden.<br />
7. Frage: "Der Bereich patriarchalischer Sprachprägungen betrifft u.a. viele Personenbezeichungen<br />
und große Teile der Idiomatik. So werden z.B. viel mehr Schimpfwörter mit weiblicher<br />
Grundbedeutung auf Männer aufgewandt als umgekehrt. Welche der folgenden Schimpfwörter<br />
werden für Männer, welche für Frauen gebraucht?<br />
Blödmann, Idiot, Rindvieh, Esel, Kamel, alter Hornochse, eingebildeter Affe, arroganter Heini,<br />
Depp, mieser Typ, dämlicher Kerl, alte Sau, dumme Kuh, blöde Ziege, alte Hexe, falsche<br />
Schlange, doofe Zicke, komische Schreckschraube, blöde Tussi. Nennen sie auch andere Beispiele,<br />
die Sie kennen."<br />
Alle Studenten haben erkannt, daß die ersten 12 für Männer gebraucht sind, die anderen<br />
für Frauen. Sonstige Beispiele waren: Arschloch, Schwein, Trottel, Dummkopf (für Männer),<br />
Blondine, sauere Gurke (für Frauen).<br />
8. Frage: "Das Grundgesetz der Bundesrepublik verkündet zwar in Art. 3 (2): 'Männer und<br />
Frauen sind gleichberechtigt', enthält jedoch viele Personenbezeichnungen, die den Eindruck<br />
erwecken, als wären nur Männer betroffen. Im Gesetzestext gibt es aber auch wirklich<br />
geschlechtsneutrale Ausdrücke. Welche der folgenden Bezeichungen wirken eher männlich, und<br />
wie könnten sie neutralisiert werden? So z.B.:<br />
Art. 2 (1) — Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.<br />
Art. 3 (3) — Niemand darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt oder bevorzugt werden.<br />
Art. 7 (3) — Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu<br />
erteilen.<br />
Art. 16 (2) — Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.<br />
Art. 40 (1) — Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer.<br />
Art. 116 (1) — Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist…."<br />
Die Bezeichnungen, die männlich wirkten und die neutralisiert werden könnten, ergaben<br />
sich folgende: jeder — jede Person, jeder Mensch, jeder/jede, jeder Mann und jede Frau, ein<br />
502<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Emilia Muncaciu-Codarcea<br />
Mitglied der deutschen Nation; niemand- keine Person, kein Lehrer — kein Lehrer/keine Lehrerin,<br />
seinen/ihren, kein Deutscher — ein Bürger der deutschen Bundesrepublik, Deutscher —<br />
deutsche Leute. 6 Studenten meinten, daß diese Bezeichnungen eigentlich nicht neutralisiert<br />
werden könnten und sollten, man müßte dann den Wortschatz ändern. Andere meinten, daß<br />
die Neutralisierung erfolgen könnte, wenn auch die motivierten feminine Bezeichnungen im<br />
Text stehen würden. Das kann natürlich geschehen, durch die entsprechende Lexik: Mensch(en),<br />
Person(en), Kind(er), Jugend, Volk, Mitglied(er) usw. Aber auch durch die Grammatik: Plural von<br />
Adjektiven und Partizipien: Deutsche, Abgeordnete, Gewählte, Vertriebene, Staatsangehörige,<br />
Lehrende, Studierende, wenn Gruppen beiderlei Geschlechts gemeint sind.<br />
Tatsächlich kann das generische Maskulinum durch den Gebrauch nominalisierter Adjektive<br />
und Partizipien (der/die Vorsitzende) oder durch den generischen Plural (statt: ein Beamter soll<br />
— Beamte sollen) ersetzt werden. Die Indefinitpronomen man/jedermann können jedoch nicht<br />
durch frau/jedefrau ersetzt werden. Entsprechende Beispiele finden sich nur in feministischen<br />
Zeitschriften, zum Beispiel: Denn nicht jedefrau kann Abitur haben. Im Gegensatz zum Indefinitpronomen<br />
man ist frau betont. Das unbetonte man verhält sich wie das unpersönliche es,<br />
zum Beispiel: Es ist erstaunlich, daß es heute so weit kommt.<br />
9. Frage: "Was bedeutet selbstbewußtes Auftreten für Sie? Formulieren Sie bitte ganz ehrlich,<br />
welche Eigenschaften Sie mit Selbstbewußtsein und Selbstbehauptung verbinden. Auch,<br />
welche Sprache Sie damit assoziieren."<br />
Die Studenten verstanden darunter eine klare, objektive Sprache, Offenheit, Klugheit, Ehrlichkeit,<br />
direkter Ausdrucksstil, eine höflichere Haltung und Sprache der Frauen gegenüber der<br />
der Männer, reicheren Wortschatz, wenigere vulgäre Ausdrücke, Selbstsicherheit, Zugabe von<br />
Schwächen, unnötiges Entschuldigen, ständiger Gebrauch des Konjunktivs, sogar Witze auf<br />
eigene Kosten. Die Männer hätten eine starre Haltung, seien sach- und informationsorientiert,<br />
verwendeten mehr Kraftausdrücke, seien objektiver und hätten eine größere Charakterstärke. 8<br />
Studenten haben keine Antwort auf diese Frage gegeben.<br />
10. Frage: "Sprechen Frauen anders als Männer? Wenn ja, dann was für Unterschiede gibt<br />
es?"<br />
Alle haben zugegeben, daß Frauen schöner, korrekter, mit einer reicheren Wortwahl sprechen,<br />
reden und weniger als die Männer schimpfen würden. Ihre Sprache sei gefühlsbetonter,<br />
optimistischer während die Männer mehr Schimpfwörter benutzten und eine sachlichere Sprache<br />
hätten. Sie modifizierten ihre Gesprächsbeiträgte häufig durch Höflichkeitsfloskeln und<br />
verschiedene Formen der Abschwächung,z.B.: unnötiger Gebrauch des Konjunktivs: Ich würde<br />
sagen, von Partikeln: bißchen, eigentlich, vielleicht; Entschuldigungen, Aussagen, die durch<br />
Anhängsel zu Fragen werden: Das ist doch wahr, oder ? Frauen hätten ein primäres Bedürfnis<br />
nach Bestätigung ihrer Persönlichkeit und einer Sicherheit der Beziehung zum Gesprächspartner,<br />
Männer hingegen nach Lösungen, Ergebnissen, Erfolg und würden sich erst danach der<br />
Beziehung zuwenden.<br />
11. Frage: "Nennen Sie ein paar Beispiele von Selbstdarstellung von Frauen."<br />
Zartheit, Empfindsamkeit, Schönheit, Klugheit, Indirektheit, nonoffensive Haltung aber auch<br />
Selbstabwertung, Zugeben von Schwächen, die Verwendung der Ich- Formeln „Ich glaube, meine,<br />
denke“, Zuwendung zur Familie, Hausarbeit oder Karriere seien ein paar Stichwörter von der<br />
Selbstdarstellung der Frauen. Frauen versuchen die Distanz zum Gesprächspartner zu überwinden<br />
und lassen andere an der eigenen persönlichen Welt teilhaben und signalisieren damit:<br />
„Vertraue dich mir, öffne dich mir, mach dich auch transparent“. Frauen sagen oft Ich denke /<br />
Ich glaube / Ich meine, auch wenn sie sich sich ihrer Sache ganz sicher sind, weil sie den Ge-<br />
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Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />
sprächspartner nicht "überfahren" wollen. Sie laden somit zum kommunikativen Austausch ein,<br />
nach dem Motto: "Wenn du eine andere Meinung, andere Informationen hast, sag mir das bitte".<br />
Solche Formulierungen wirken auf Männer oft unsicher und werden als Schwäche und Inkonsequenz<br />
empfunden, denn sie formulieren ihre Aussagen zum indirekten Ausdruck ihrer<br />
persönlichen Wünsche und Forderungen, durch subjektive Formulierungen mit Hilfe der Ich-<br />
Formeln.<br />
12. Frage: "Schreiben Frauen anders als Männer? Was für Unterschiede haben Sie festgestellt?"<br />
Alle Befragten waren sich in ihren Meinungen einig, daß Frauen ordentlicher, schöner, reiner,<br />
grammatisch korrekter als Männer schreiben würden, mit weniger Fehlern und daß sie sich<br />
auf ihre persönlichen Erfahrungen in ihrem Schreiben beziehen. Die Männer hingegen schreiben<br />
schneller, technischer, betrachten die Themen aus einer globalen, abstrakteren Perspektive<br />
und würden eher geschichtliche oder sozialpolitische Themen angehen.<br />
504<br />
13. Frage: "Ist es Ihnen aufgefallen, wie die 3 Artikel in den Grammatiken erscheinen?"<br />
Die Antwort war: der, die, das und das kann auch nicht geändert werden.<br />
14. Frage: "Frauen in hohen politischen Positionen. Was halten Sie davon?"<br />
12 Stimmen, davon 3 weibliche und 9 männliche waren dagegen, da Frauen eher in der Küche<br />
oder ins Bett gehörten, oder im Haushalt, sie würden mehr lügen, sich schneller ärgern und<br />
seien ungeduldiger als Männer. Die Politik sei Männersache. Die anderen waren dafür, da auch<br />
Frauen begabt seien, leistungsfähig und für den politischen Dialog geeignet. Sie haben gute<br />
Ideen, wenden auch den anscheinend unwichtigen Sachen Aufmerksamkeit zu und haben eine<br />
bessere Organisationsfähigkeit.<br />
15. Frage: "Wie grüßen Sie Ihre männlichen oder weiblichen Professoren?"<br />
Die meisten Studenten grüßen ihre Professoren gleich: „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“und<br />
je nach dem Verhältnis zu ihnen: „Hallo“ oder „Tschüß“egal ob es ein Mann oder eine Frau ist. 5<br />
von ihnen verwenden die Form „Guten Tag, Herr/Frau Professor/ Schmidt“.<br />
16. Frage: "Wie möchten Sie angesprochen werden, mit 'Frau' oder 'Fräulein'?"<br />
Außer einer Studentin, die mit „Frau“ angesprochen werden wollte, bevorzugen alle anderen<br />
unverheirateten die Form „Fräulein“.<br />
17. Frage: "Was verstehen Sie unter 'Gewalt durch Sprache'? Wodurch unterscheidet sich in<br />
dieser Hinsicht die Sprache der Männer von der der Frauen?"<br />
Mit Ausnahme von zwei Studenten, die keinen Unterschied zwischen der Sprache der Männer<br />
und der Frauen erkannt haben, da sie gleich sprechen würden, verstanden alle anderen unter<br />
Gewalt durch Sprache Flüche, Schimpfwörter, Kraftausdrücke, eine Sprache, die den Frauen<br />
Gewalt antut, sie beleidigt, terrorisiert und aggressiv wirkt, eine typische Männersprache, die<br />
den Gesprächspartner in einen unangenehmen psychischen Zustand versetzt. Die Männer seien<br />
vulgärer als die Frauen, aber die Frauen erbarmungsloser; sie versuchten mit Schmeicheleien<br />
oder Schreien, Befehlen und Autorität die Männer zu manipulieren. Die Männer verwendeten<br />
die Sprache als ein Instrument der Dominanz über die Frauen durch aggressive, gewaltige<br />
Wörter, das sei eine betont brutale Sprache, wodurch sie die Frauen erschüchtern, verletzen<br />
oder unterdrücken wollen. Sie greifen auf einen agressiven Zustand zurück: „Vino-ncoa’ c te<br />
plesnesc“. Gewalt durch Sprache heißt aber auch die Verwendung und Bevorzugung von männlichen<br />
Berufs- und Titelbezeichnungen, die keine feminine Form haben und die Frauen beruflich<br />
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Emilia Muncaciu-Codarcea<br />
benachteiligt. Aber auch Frauen könnten durch ihre Sprache ihren Gesprächspartner verletzen,<br />
auch wenn sie keine oder weniger Schimpfwörter und Kraftausdrücke verwenden würden.<br />
Unter soziolinguistischer und juristischer Perspektive unterscheidet man zwischen legaler<br />
und illegaler Gewalt, d.h. körperlich verletzende Gewaltsamkeit, nichtverletzender Zwang, physische<br />
und psychische Gewaltanwendung. "Gewalt durch Sprache" ist auch die personale Gewalt<br />
(Männer lassen Frauen nicht ausreden, schneiden ihnen das Wort ab, bestimmen die Gesprächsthemen,<br />
reden mehr), die psychische Gewalt (Männer verfügen über die Sprache, sie<br />
definieren und fixieren Frauen sprachlich. Trömel-Plötz meint dazu, daß die Frauen so reden<br />
müssen wie der Mann, um ernst genommen und gehört zu werden. Dann sind sie aber männlich<br />
und werden als Frauen entwertet.) oder die strukturale Gewalt bezogen auf gewisse Eigenschaften<br />
des deutschen Sprachsystems, z.B. das generische Maskulinum, motivierte Personenbezeichnungen<br />
oder grammatische Kongruenzregeln.<br />
18. Frage: "Nennen Sie ein paar Beispiele von Komposita auf -frau. Was kennzeichnen sie?"<br />
Die Studenten haben dafür zahlreiche Beispiele genannt: Unifrau, Filmfrau, Kirchenfrau,<br />
Vorstandsfrau, Berufsfrau, Hausfrau, Putzfrau, Kauffrau, Geschäftsfrau, Jungfrau, Schutzfrau,<br />
Wäschefrau, Karrierefrau, Ehefrau, Klosterfrau, Dienstfrau, Amtfrau, Arztfrau als Berufsbezeichnungen,<br />
Bezeichnungen von typischer Frauenarbeit, von Beziehungen zu jemandem, von<br />
der sozialen Stellung der Frau in der Gesellschaft, die aber Frauen auch entstellen und erniedrigen.<br />
Die Komposita auf -frau könnten die -in Suffixe ersetzen. Ein interessantes Beispiel<br />
war, daß die Reihenfolge: Jungfrau, Traumfrau, Ehefrau und Hausfrau die chronologische Entwicklung<br />
eines weiblichen Daseins kennzeichnen würde. Die neuen Komposita auf -frau oder<br />
das -in Suffix als motivierte Personen- und Berufsbezeichnung waren häufig Anlässe für<br />
Sprachnormkonflikte. 5 Studenten haben eine unschlüssige Antwort darauf gegeben.<br />
19. Frage: "Ist die Sprache ein Instrument der sozialen Kontrolle bzw. der sozialen Kontrolle<br />
der Frauen? Wenn ja, nennen Sie ein paar Beispiele."<br />
Die Meinungen dazu waren sehr unterschiedlich. 8 Studenten wußten nicht, ob das der Fall<br />
sei, 3 meinten, es könnte auch umgekehrt sein, denn jeder Mensch könne durch die Sprache<br />
manipuliert werden, 18 Studenten (6 männliche und 12 weibliche Stimmen) waren der Meinung,<br />
daß die Sprache kein Instrument der sozialen Kontrolle der Frauen sei, da Frauen und<br />
Männer gleichberechtigt seien oder nur schwache Frauen durch die Sprache kontrolliert werden<br />
könnten. Die Sprache sei nicht die Ursache für die Position der Frauen, sondern die Folge, denn<br />
sie ist zuerst das Instrument der Gedanken und Gefühle. Das ganze sei eine Übertreibung der<br />
Feministinnen. Ein Beispiel wäre der Beruf „Babysitter“, der eine männliche Form hat, aber von<br />
Frauen ausgeübt wird. Die restlichen 21 meinten, die Sprache sei ein Instrument der sozialen<br />
Kontrolle der Frauen, weil sie die Frauen beeinflussen könnte, etwas zu machen, sie nicht zu<br />
Wort kommen ließe, sie nicht in acht genommen würden oder nicht wirklich gemeint wären<br />
und als zweitrangig erschienen, z.B. auf Einladungen steht: „Herr X mit Frau“.<br />
Die feministische Linguistik untersucht den Sexismus im deutschen Sprachsystem und kritisiert<br />
das geschlechtstypische Kommunikationsverhalten in gemischtgeschlecht-lichen Gruppen.<br />
Sie meint, daß auch bei der Erforschung der schichtspezifischen Sprachvarianten von Herrschaft<br />
durch Sprache als Instrument sozialer Kontrolle die Rede sei. Diesen Zusammenhang<br />
empfindet Trömel-Plötz als „soziale Kontrolle der Frauen“. 8 Trömel-Plötz meint, es handle sich<br />
um eine soziale Interaktion und eine Änderung der Sprache und des Sprechens würde eine Än-<br />
8 S. Trömel- Plötz 1984: Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen; Frankfurt, Fischer Tas-<br />
chenbuch Verlag, S. 39.<br />
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505
Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />
derung des Zusammenlebens, der Gesellschaft und sogar der Welt implizieren. Diesbezüglich<br />
wird der Mechanismus des Mitgemeint- und Eingeschlossenseins im generischen Maskulinum<br />
untersucht. Dabei wird argumentiert, daß die Sprache den Frauen Gewalt antut, insofern sie die<br />
männlichen Formen bevorzugt.<br />
20. Frage: "Wie würden Sie eine Rede beginnen? z.B. Liebe Herren und Damen; Liebe Damen<br />
und Herren; Liebe Kollegen und Kolleginnen; Liebe KollegInnen!"<br />
Außer einer Stimme, die „Liebe Herren und Damen!“ bevorzugt, und 5 Stimmen, die „Liebe<br />
Kollegen und Kolleginnen“ oder „Liebe KollegInnen“ bevorzugen, würden alle Studenten ihre<br />
Rede mit „Liebe Damen und Herren“ beginnen. Homberger meint, man solle zu Beginn einer<br />
Rede, sowie an markanten Stellen die maskuline und die feminine Form nennen, während im<br />
Fortgang der Rede das generische Maskulinum stehen könnte, um den flüssigen Vortrag zu<br />
gewährleisten. Seit 1980 ist die verbindliche, nicht diskriminierende Sprache in Stellenangeboten<br />
offiziell angenommen worden wie auch die Verpflichtung, in behördlichen<br />
Schreiben, Frauen nur mit der weiblichen Form anzureden.<br />
21. Frage: "Wie könnten Frauen in grammatischer Hinsicht sprachlich gleichberechtigt werden?"<br />
11 Studenten waren unschlüssig, 13 Studenten meinten, das wäre unmöglich oder unwichtig,<br />
denn dann müßte man die Sprache verändern und eine „neutrale“ Sprache schaffen<br />
und das habe keinen Sinn. 26 Studenten (4 Männer, 22 Frauen) meinten, das könnte geschehen,<br />
indem die Berufsbezeichnungen sowohl feminine als auch maskuline Formen hätten,<br />
durch die Abschaffung des „In“- Suffixes, für motivierte Berufs- und Personenbezeichnungen,<br />
durch die Verwendung von neutralen Formen und Indefinitpronomina, durch die Anordnung der<br />
Artikel „die, der, das“, durch die partielle Feminisierung der Sprache, durch die Verwendung<br />
derselben Grammatikartikel für Männer und Frauen, genaue Nennung der Frauen, Hinzufügen<br />
der weiblichen Form neben der männlichen, Umformulierung, aber vor allem Gleichberechtigung<br />
auf mentaler Ebene. Andere Vorschläge wären die Großschreibung von I bei den<br />
motivierten Bezeichnungen, Bindestriche, Umwandlung der maskulinen Bezeichnungen in<br />
feminine (z.B. Arbeitnehmenrinnenschicksal, Sekretärinnenausbildung, heldinnenhaft,<br />
junggesellinnenhaft) oder die Herstellung von Referenzidentität durch die Feminisierung der<br />
Pronomina (z.B. Wer ihre Hausaufgaben nicht macht, die muß eben zusehen, wie sie die Arbeit<br />
schafft.).<br />
506<br />
22. Frage: "Was ist typisch für den weiblichen Kommunikationsstil?"<br />
Alle 20 Studenten meinten, daß Frauen nicht direkt sagten, was sie meinten, viel plaudern<br />
würden, ein schnelles Tempo hätten, leise, gefühlsbetonter und höflicher sprä-chen, Oberflächengespräche<br />
führten, nicht zum Objekt sprächen. Sie hätten eine andere Wortwahl, die<br />
persönliche Nähe und Akzeptanz sucht, weisen eine gewisse Unsicherheit auf, sind mehr<br />
orientiert auf gegenseitige Beziehungen, Gefühlsäußerungen und verwenden häufig „Ich-<br />
Formeln“, „ich denke, glaube….tut mir leid“, was als Nachteil für sie empfunden sei.<br />
Die anderen 30 Studentinnen hatten ungefähr dieselbe Meinung, daß der Kommunikationsstil<br />
der Frauen Unsicherheit aufweise, durch die Verwendung der „Ich-Formeln“, der Zugabe von<br />
Schwächen, der Indirektheit, Gebrauch des Konjunktivs. Sie hätten eine gefühlsbetonte, gepflegte,<br />
persönliche Sprache, die die Distanz zum Partner zu überwinden versuche, Zuwendung<br />
zum Gesprächspartner, Verständnis, Wärme und Höflichkeit aufweise aber auch Nachgiebigkeit,<br />
Extrovertiertheit und Bedürfnis von Bestätigung. Sie hätten eine stark gesprägt Körpersprache,<br />
Gestik und Mimik und benutzten mehr Formen der Verniedlichung. 5 Studenten waren in bezug<br />
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Emilia Muncaciu-Codarcea<br />
auf diese Frage unschlüssig. Andere Merkmale sind, daß Frauen untereinander persönlicher<br />
reden, sie lassen sich mehr ein auf ihre Gesprächspartnerinnen und deren Themen, weil sie<br />
besser zuhören können. Die Frauen handeln nach dem Motto: "Eigenlob stinkt", sie verwenden<br />
selbstabwertende Äußerungen wie: "Ich bin nur Hausfrau …", sie werten sich selbst ab, durch<br />
unnötiges Zugeben von Schwächen und Fehlern ("Ich brauch' immer so lang"), durch Witze auf<br />
eigene Kosten, durch Betonen von rollenkonformem Verhalten ("Bin brav auf das Gymnasium<br />
gegangen !") und andere.<br />
23. Frage: "Wie unterscheidet sich die Kommunikation von Mann und Frau?"<br />
Die Unterschiede der Kommunikation von Mann und Frau wären, daß die Männer zielinteressiert<br />
seien, eine direkte, distanzierte, objektive Sprache verwendeten, während die<br />
Frauen einfühlsamer und hilfs- und kompromißbereiter seien. Männer sind introvertierter, sparsamer,<br />
was ihr Innenleben anbelangt, Frauen hingegen wollen einen regen Informationsaustausch<br />
haben. Männer reden mehr als Frauen, sie signalisieren Anfang und Ende von Gesprächen,<br />
sie machen mehr urteilende, analytische Äußerungen. Frauen formulieren oft ihre<br />
Aussagen in Form von Fragen, sie verwenden keine Vulgärausdrücke, ihnen geht es primär um<br />
die Beziehung zum Gesprächspartner. Die Männer behalten die Distanz, verwenden kürzere<br />
Sätze aber mehr Behauptungen, ihnen geht es primär um Information und weniger um Interaktion.<br />
Frauen kommunizieren ganzheitlich, ihnen geht es um Information und Interaktion,<br />
Männer geht es primär um Information. Für die Frauen sei die menschliche Nähe der Schlüssel<br />
in einer Beziehungswelt, in der Übereinstimmung das Ziel ist. Für die Männer dagegen ist Unabhängigkeit<br />
der Schlüssel in einer Statuswelt, in der der Status durch Befehle begründet wird.<br />
24. Frage: "Wie werden Mädchen und Jungen, Frauen und Männer in den Schulbüchern dargestellt?"<br />
Die meisten Antworten lauteten, daß die Männer/Jungen auf allen Ebenen höher gestuft<br />
werden als Frauen/Mädchen. Die Mädchen und Jungen erscheinen als Kinder, also irgendwie<br />
gleichberechtigt, aber die Frauen würden eher als Hausfrauen, Mütter dargestellt, während die<br />
Männer als Väter im Mittelpunkt standen und von ihren Frauen bedient würden. Die Frauen<br />
erschienen oft in ihrer Rolle als Hausfrauen, die kochen, backen, putzen, die Männer hingegen<br />
leisten die harte Arbeit und läsen in der Freizeit die Zeitung. Auch in Erzählungen und Märchen<br />
würde den Mädchen weniger Bedeutung gewidmet als den Jungen, die als Ritter und Helden<br />
dargestellt würden. Mädchen erzielen bessere Schulnoten als Jungen, da sie bessere Leistungen<br />
haben, während die Jungen mehr Ausmerksamkeit fordern und ihr Leben interessanter und vielseitiger<br />
dargestellt würde (z.B. in den Mathematikbüchern). Die Mädchen und Frauen seien<br />
auch in Schulbüchern diskriminiert und benachteiligt, da sie eher in stereotypen Rollen präsentiert<br />
würden, ihr Leben monoton und einseitig. 7 Studenten haben auf diese Frage nicht geanwortet,<br />
manche meinten, die Mädchen und Jungen seien in Schulbüchern gleichgestellt. In der<br />
Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden werden Schülerinnen weniger beachtet und<br />
gelobt als Jungen. Die Erklärung ist, daß Jungen mehr stören als Mädchen, laut protestieren,<br />
wenn ihre Interessen nicht wahrgenommen werden und so mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit<br />
einfordern. Deshalb hat das deutsche Kultusministerium Maßnahmen und Regelungen zur<br />
Veränderung des Rollen- und Sprachbewußtseins im schulischen Bereich eingeleitet. Die Familie<br />
und die Rolle der Frau sollen im Schulbuch dargestellt werden, und diese Schulbücher sollten<br />
den Mädchen und Jungen Identifikationsangebote geben. Die Darstellungen in den Schulbüchern<br />
sollten jedoch der Realität entsprechen.<br />
25. Frage: "Was verstehen Sie unter frauenfeindlichem Sprachgebrauch? Nennen Sie ein<br />
paar Beispiele."<br />
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Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />
Die meisten Studenten verstanden darunter Schimpfwörter, Vorurteile gegenüber den Frauen<br />
(z.B. Alle Frauen sind…, Frauen gehören hinter dem Kochtopf, Sie sind nur hinter dem Geld<br />
her usw.), eine Sprechweise, die Frauen als dem Mann untergestellte, niedrig entwickelte Wesen<br />
darstellen würde, dumme Witze, grobe Bemerkungen über die Frauen, unterdrückende, demütigende<br />
Bemerkungen (z.B. ich habe dich nicht gefragt, du weißt das sowieso nicht, warum<br />
mischst du dich ein, das hier ist Männersache, nichts für dich, usw.). Das könnte auch die Sprache<br />
der Männer sein, wodurch sie ihre Erstrangigkeit betonen und die Frauen wegen ihrer Mutlosigkeit<br />
oder Dummheit verspotten würden (z.B. Witze: der Typ der blonden Frau). Eine<br />
Studentin betrachtet diesen Sprachgebrauch nicht frauenfeindlich sondern eher männerorientiert.<br />
4 der Befragten haben auf diese Frage nichts geantwortet.<br />
Peter Braun 9 unterscheidet vier Arten frauenfeindlichen Sprachgebrauchs:<br />
1. „Sprache, die Frauen ignoriert und ausschließt“ (sie werden nur mitgemeint), zum Beispiel:<br />
Sehr geehrte Herren, Liebe Kollegen<br />
2. „Sprache, die Frauen immer in Abhängigkeit vom Mann darstellt, als zweitrangig und<br />
untergeordnet“, zum Beispiel Thomas Mann und Frau Katja, Herr Meier mit Frau (statt<br />
Frau M. und Herr M.)<br />
3. „Sprache, die Frauen nur in traditionellen Rollen mit den sogenannten weiblichen Eigenschaften<br />
und Verhaltensweisen darstellt“ (Hausfrauen, Ehefrauen, Mütter), zum<br />
Beispiel: Fräulein Sell, Hausfrauenpflicht<br />
4. „Abwertende Sprache, durch die, Frauen degradiert werden“, zum Beispiel: das schwache<br />
Geschlecht, Dienstmädchen.<br />
508<br />
Schlussfolgerungen<br />
1. Die Auswertung der Fragebögen hat ergeben, daß die Frauensprache- Männersprache<br />
eine starke Reaktion in den Studenten hervorgerufen hat, da die meisten gestanden haben, daß<br />
sie sich nur wenig oder überhaupt keine Gedanken bisher darüber gemacht haben, daß die<br />
Frauen anders als die Männer sprächen, was sie auch in vielen Bereichen benachteilige und<br />
diskriminiere. Sehr gut empfand ich auch die Tatsache, daß 20 Männer an dieser Fragebogenuntersuchung<br />
beteiligt waren und somit ihre Meinungen dazu schreiben konnten, so daß die<br />
Ergebnisse objektiv und ausschlaggebend ausgewertet werden konnten. Auch die Tatsache, daß<br />
unter den Befragten 26 Studenten der ungarischen Minderheit waren, half mir sie zu<br />
provozieren eine Parallele zu ihrer Muttersprache zu machen und ihre Meinungen zu sagen, wie<br />
das in der ungarischen Sprache aussieht, ob man auch dort von einer Frauensprache- Männersprache<br />
überhaupt reden kann.<br />
2. Vom Standpunkt der Fachliteratur und ausgehend von den Meinungen der Studenten<br />
kann ich behaupten, daß sich die Benachteiligung von Frauen in den meisten sozialen Bereichen<br />
auch in der Sprache spiegelt. Sie ist aber schwer zu erfassen, weil das Sprachverhalten<br />
durch die Sozialisation tief verinnerlicht ist und erst bewußt gemacht werden muß. Diesbezüglich<br />
wird nicht selten von Gewalt, Macht, Kontrolle und Herrschaft gesprochen. Zwischen Frauen<br />
und (Unter-)Schichtensprache wird oft eine Analogie gesehen, die weder soziologisch noch<br />
linguistisch haltbar ist. Daß Frauen anders sprechen als Männer ist ein Indiz für die gesellschaftliche<br />
Privilegiertheit der Männer. Es geht also darum, die Privilegiertheit der Männer<br />
und damit auch den Sexismus in der Sprache aufzudecken, und eine Emanzipation in Richtung<br />
auf eine „weibliche“ Sprache zu erreichen. Das Geschlecht stellt also eine der wichtigsten<br />
soziolinguistischen Variablen in allen Sprachen dar.<br />
9 P. Braun 1993: Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Berlin, Köln, S. 58.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Emilia Muncaciu-Codarcea<br />
Ich betrachte die Frauen- und Männersprache eher als eine geschlechtsspezifische Sprache,<br />
da sie stark subjektiv und emotional geprägt ist und weil sie nicht von einer sprachgeschichtlichen<br />
Entwicklung kennzeichnet ist, sondern erst von der feministischen Linguistik in Verbindung<br />
mit der feministischen Bewegung eingeführt worden ist.<br />
Also bleibt das Thema Frauensprache — Männersprache in der Linguistik weiterhin ein<br />
heikles, es sucht immer noch nach Lösungen, Vorschlägen und Denkanstößen.<br />
*<br />
* *<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Braun, Peter: Personenbezeichnungen – mehr oder weniger tierisch ernst; In: „Deutsch als Muttersprache“, 1992,<br />
GfdS Verlag, Wiesbaden<br />
2. Braun, Peter: Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache, 1993, dritte erweiterte Auflage, Kohlhammer Verlag,<br />
Stuttgart, Berlin, Köln<br />
3. Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, 2. völlig neu bearbeitete Auflage, 1990, Alfred Kröner<br />
Verlag, Stuttgart<br />
4. Dtv-Lexikon, Bd 17, 1992, F.A. Brockhaus GmbH, Mannheim und DTV Verlag GmbH, München<br />
5. Gross, Harro: Einführung in die germanistische Linguistik, 2. Auflage, 1990, iudicium Verlag, München<br />
6. Guethenrodt, I./M. Hellinger/L. F. Pusch/S. Trömel-Plötz: Richtlinien zur Vermeidung des Sexistischen Sprachgebrauchs;<br />
In: „Linguistische Berichte“, 69/1980<br />
7. Hartig, Matthias: Soziolinguistik für Anfänger, 1980, 1.Auflage, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg<br />
8. Hartig, Matthias/ Kurz, Ursula: Sprache als soziale Kontrolle, 1971, Frankfurt/ M.<br />
9. Homberger, Dietrich: Männersprache — Frauensprache: Ein Problem der Sprachkultur?; In: „Deutsch als Muttersprache“,<br />
1993, GfdS Verlag, Wiesbaden, S. 89-110<br />
10. Knaurs Fremdwörterlexikon, Hg. v. Lexikograph. Institut, vollständ. Taschenbuchausg., 1992, München<br />
11. „Lexikon der Germanistischen Linguistik“, Studienausg. II, Hrsg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert<br />
Ernst Wiegand, 1. Aufl. 1973; 2. vollständig neu bearb. u. erweit. Aufl. 1980, Max Niemeyer Verlag, Tübingen<br />
12. Lewandowski, Th: Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, 6. Auflage, 1994, unveränderter Nachdruck der 5. überarbeiteten<br />
Auflage, Quelle& Meyer Verlag, Heidelberg. Wiesbaden<br />
13. Oppermann, Katrin / Weber, Erika: Frauensprache — Männersprache. Die verschiedenen Kommunikationsstile von<br />
Männern und Frauen, 1994, Orell Füssli Management, S. 80-93<br />
14. Pflug, Günther: Probleme der geschlechtsneutralen Rechts- und Verwaltungssprache, 1990; In: Diskussion<br />
Deutsch, 111, S. 98-102<br />
15. Polenz, Peter von: Sprachkritik und Sprachnormkritik; In: Heringer, 1982a, S. 70- 93<br />
16. Pusch, Luise F.: Das Deutsche als Männersprache, 1984, Frankfurt/M.<br />
17. Schlieben-Lange, B.: Soziolinguistik. Eine Einführung, 1973, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, S. 73<br />
18. Trömel-Plötz, Senta: Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen, 1984, Frankfurt Fischer<br />
Taschenbuch Verlag<br />
19. Trömel-Plötz, Senta: Sexismus in der Sprache, aus „Maskulin — Feminin“, S. 72- 75<br />
20. Trömel-Plötz: Linguistik und Frauensprache; in „Linguistische Berichte“, 57, 1978, S. 49-68<br />
21. Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch, 1986, völlig überarb. Neuausg., Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/<br />
München<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
509
NAMENGEOGRAFIE <strong>UND</strong> NAMENETYMOLOGIE<br />
Eine Fallstudie am Beispiel "Lippmann"<br />
Adina-Lucia Nistor<br />
Namengeografie ist ein wichtiger Teil und eine Spezialität der Namenkunde (Namenforschung<br />
oder Onomastik). Ihr Gegenstand ist die räumliche Verbreitung der Namen (der Orts-<br />
und Personennamen). Die Grundlage der modernen Namengeografie ist es, mit Hilfe von EDV-<br />
Programmen Namenkarten zu erstellen. Diese Art von Materialsammlung und -bearbeitung war<br />
der Traum und Wunsch früherer namengeografischer Analysen, die sich leider nur auf Urkunden,<br />
Kirchen-, Steuer-, Zinsregister, alten Einwohner- oder Adressbüchern stützen konnten<br />
und dies mittels mühelosem Durchzählen. „Bei der Erfassung der räumlichen Bindungen der<br />
Familiennamen sollte in Zukunft stärker als seither von einer statistisch vergleichenden<br />
Methode Gebrauch gemacht werden, die auch für die Namendeutung von Wichtigkeit werden<br />
kann.“ 1 Telefonverzeichnisse bieten eine neue, moderne, umfassende und zuverlässige namenkundliche<br />
Datenbasis. Für Deutschland wurden sie erstmals von Prof. Dr. Konrad Kunze von der<br />
Universität Freiburg und der Tivano Software GmbH in Neu Isenburg genutzt, die zusammen ein<br />
EDV-Programm entwickelt haben, mit dessen Hilfe man einzelne Namen, Namenvarianten und<br />
Namenkombinationen sowie ihre geografische Verbreitung komplett erfassen kann. Als Verbreitungsraster<br />
der Namenkarten können bis fünfstellige Postleitzahlbezirke zugrunde liegen.<br />
Erste Auswertungen dieses EDV-Programms wurden im Dtv-Atlas Namenkunde 2 , 1999 von<br />
Konrad Kunze veröffentlicht. Unsere Analyse ist Teil einer umfassenden Studie über die Familiennamen<br />
auf -mann in Deutschland, die wir dank eines Alexander von Humboldt-Forschungsaufenthaltes<br />
von 2000-2001 an der Universität Freiburg unternommen haben. Unsere Studie in<br />
Freiburg wurde im Rahmen des Projektes Deutscher Familiennamen-Atlas durchgeführt.<br />
Im folgenden wollen wir zeigen, welche Rolle die Namengeografie für die Klärung der Namenetymologien<br />
hat - u. zw. anhand des Beispiels Lippmann.<br />
Zur gesamtgeografischen Verbreitung des Namens Lippmann in Deutschland hat sich bis<br />
jetzt nur Brechenmacher (1960-63, 197) geäußert; er lokalisiert Lippmann im Mitteldeutschen.<br />
Unsere Karte zeigt das Vorkommen von Lippmann in ganz Deutschland und erstmals seine genaue<br />
Konzentration im Ostmitteldeutschen: hauptsächlich im Obersächsischen und teilweise im<br />
angrenzenden Thüringischen (siehe Karte Namenverteilung für Typ: Lippmann 1627 3 ). Für die<br />
Namengeografie spielen die Namenhäufungen bzw. Namenkonzentrationen eine entscheidende<br />
Rolle.<br />
1 Bach, 1953, Bd. I, S. 139.<br />
2 Kunze, 1999, S. 198-207.<br />
3 In: Kunze, 1999.
Namengeografie und Namenetymologie. Eine Fallstudie am Beispiel Lippmann<br />
5,6 % aller Deutschen tragen einen Familiennamen, der auf -mann endet 4 .Von den 4,4 Millionen<br />
Familiennamen auf -mann in Deutschland 5 ist Lippmann der 153.-häufige.<br />
Die Eingabe des regulären Ausdrucks Lippe?mann?s? in der Freiburger Datenbank 1995 ergab<br />
folgende Varianten: Lippman 2, Lippmann 1625. Historische Schreibweisen mit einem auslautenden<br />
-n sind zweimal belegt, patronymische Bildungen fehlen.Wenn wir davon ausgehen,<br />
dass pro Telefonanschluss durchschnittlich 2,8 Träger 6 des betreffenden Namens zu veranschlagen<br />
sind, so ergeben sich für den Typ Lippmann 1627 x 2,8 = 4555,6 Namenträger, das<br />
heißt eine für die Namengeografie beträchtliche Namenanzahl.<br />
Welches ist aber die Hauptbedeutung von Lippmann? Ist es „der Mann an / von der Lippe,<br />
Nebenfluss des Rheins“ oder „ein liebenswerter Mann“ oder sonst was? Die überregionalen Namenlexika<br />
geben für den Familiennamen Lippmann folgende Hauptbedeutungen an (fast jeder<br />
Familienname hat auch Bedeutungskonkurrenzen, das heißt Nebenbedeutungen, doch ist die<br />
Erstbedeutung die wichtigste): Bahlow (1985, 319), Gottschald (1982, 329), Kohlheim (2000,<br />
427) und Naumann (o.J., 184) geben als Erstbedeutung für den Familiennamen Lippmann die<br />
Kurzform Lipp des Vornamens Philipp (griechisch Philippos, bed. „Pferdefreund“) und das Suffix<br />
-man(n) an; Cascorbi (1933, 330 u. 326) deutet den Namen als Vaternamen, doch leitet er ihn<br />
zuerst von Rufnamen auf ahd. liut „Volk“ z.B. Liutbald, Liebhard, Leupold u.ä. ab,<br />
Brechenmacher (1960-63, 197, 188 u. 187) erklärt Lippmann als Übernamen und zwar als<br />
mitteldeutsche Variante für Lieb(er)mann (Ableitung zu mhd. liep für einen lieben, angenehmen<br />
Menschen). Kunze (1999, 71, 87, 143) und Zoder (1968, 65) erklären den Namen als Herkunfts-<br />
oder Wohnstättennamen, nach den vielfachen Ortsnamen Lippe in Schleswig-Holstein, Westfalen,<br />
Rheinland, Brandenburg, Pommern, Schlesien oder nach dem Gewässernamen Lippe, dem<br />
rechten Nebenfluss des Rheins. Welche ist nun die eigentliche Erstbedeutung: Patronymikum,<br />
Übername oder Herkunfts- bzw. Wohnstättenname?<br />
Andere Bedeutungskonkurrenzen des Familiennamens Lippmann sind slawischer Herkunft:<br />
Patronymikum von tschech. liby, wendisch luby bed. „lieb“ zu den Personennamen Ljubogost,<br />
Lubomer 7 u.ä. oder Wohnstättenname von tschech. lipa bed. „Linde“. 8<br />
Für den Familiennamen Lippmann wird vereinzelt auch jüdische Herkunft 9 angegeben, z.B.<br />
Samuel Lipman 1786, jüdischer Handelsmann in Bremen. In Frankfurt ist Lippmann zu Anfang<br />
des 19. Jahrhunderts ebenfalls als Judenname zu mhd. lieb, liep „angenehm, erfreulich“ belegt. 10<br />
Jetzt werden wir die einzelnen Hauptbedeutungen des Familiennamens Lippmann: Herkunftsname<br />
bzw. Wohnstättenname, Übername, Personenname in seinem Konzentrationsgebiet<br />
genauer analysieren. Die Bedeutung Wohnstätten- bzw. Herkunftsname vom Flussnamen Lippe<br />
(sie sind schwer voneinander zu trennen, deshalb behandeln wir sie zusammen) entfällt im<br />
Ostmitteldeutschen, wegen der zu großen Entfernung zwischen diesem Gebiet und dem betreffenden<br />
Fluss. Herkunftsnamen aus Ortsnamen und Wohnstättennamen nach der Oberflächengestalt<br />
oder nach Gewässern sind nur in einer begrenzten Entfernung (maximal 60-80<br />
km) vom Ausbreitungszentrum verbreitet, weil die Migration infolge der Eheschließung oder der<br />
4 Ebd., S. 69.<br />
5 Ebd., S. 69.<br />
6 vgl. ebd., S. 199.<br />
7 Gottschald, 1982, S. 329.<br />
8 Wenzel, 1999, S. 160.<br />
9 So: Bahlow, 1985, S. 319; Zoder, Bd. 2, 1968, S. 65; Weiss, 1992, S. 199.<br />
10 Vgl. Schiff, 1917, S. 25.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
511
512<br />
Adina-Lucia Nistor<br />
Arbeitssuche zur Entstehungszeit der Familiennamen, im Mittelalter diesen Radius nicht übertraf<br />
(vgl. hierzu die Familiennamen: Münstermann, Siekmann u.ä.). Heutige Migrationen beeinflussen<br />
das Konzentrationsgebiet eines Familiennamens nur wenig, zu ungefähr 15 %. In Ost-<br />
und Westfalen kann Wohnstätten- bzw. Herkunftsname die Hauptbedeutung sein, vergleiche<br />
hierzu die Gleichung bei Zoder (1968, 65) „Hinrik van der Lippe 1447 = Hinrik Lipman junior,<br />
Hinrikes sone 1458 = Hinrik Lippeman 1470/80“, doch ist für die Erstbedeutung das Konzentrationsgebiet<br />
eines Namens ausschlaggebend. Die Bedeutung Übername für einen „lieben,<br />
angenehmen Menschen“ oder „einem dem Herren bevorzugten, begünsteten Menschen“ 11 von<br />
Lippmann als Variante von Liebmann mit Auslautverhärtung, kommt, so glauben wir, wegen der<br />
zu engen Nachbarschaft der Namen eher nicht in Frage. Brechenmacher (1960-63, 197, 188)<br />
behauptet, Lippmann sei die mitteldeutsche Variante von Lieb(er)mann. Weil sich jedoch beide<br />
Namen im Ostmitteldeutschen konzentrieren (siehe Karte Verhältnis Typ: Liebmann 942 / Typ:<br />
Lippmann 1627 12 ), ist es unwahrscheinlich, dass hier die Namen dieselbe Bedeutung, nur verschiedene<br />
lautliche Formen haben. Lippmann (1627 Telefonanschlüsse) konzentriert sich im<br />
Obersächsischen (teilweise auch im Thüringischen); das hier ungedruckte Kartenbild des Typs<br />
Liebmann (Liebmann 942 Telanschl.und Liebermann 853 Telanschl.) zeigt hingegen eine Konzentration<br />
im Thüringischen (partiell auch im Obersächsischen) (vgl. Karte Liebmann – Lippmann<br />
13 ). Die Familiennamen Lippmann und Lieb(er)mann kommen in den regionalen Namenbüchern<br />
von Hellfritzsch (1992) für das Sächsische Vogtland, sowie bei Neumann (1981) für die<br />
Gebiete Oschatz, Riesa, Grossenhain in Sachsen nicht vor. Lieb(er)mann fehlt auch bei Schwarz<br />
(1973) für das Sudetendeutsche.<br />
Bei Grünert (1958) bedeuten in Altenburg (im Ostmitteldeutschen), wohl nicht zufällig, Liebermann<br />
„Übername, ein angenehmer, lieber Mann“ 14 und Lippmann „Patronymikum, Kurzform<br />
von Philippus mit -mann-Ableitung.“ 15 Schwarz (1973, 193) erklärt Lippmann für das Sudetendeutsche<br />
auch als Patronymikum zur Kurzform Lipp von Philipp. Neumann (1981) führt in<br />
ihrem regionalen Familiennamenbuch Sachsens den Familiennamen Lip an: „Rufname, Kurzform<br />
zu Philippus, wohl kaum Übername mhd. lefs(e), mitteldt. Lipp = Lippe“ 16 an. Daraus<br />
schließen wir, dass der Familienname Lippmann in seinem Konzentrationsgebiet Sachsen, die<br />
Erstbedeutung Patronymikon hat und eine Ableitung auf -mann mit der alten Kurzform für<br />
Philipp ist, wahrscheinlich wegen der Verehrung des Heiligen Apostels Philippus gewählt. In<br />
Einzelfällen kann Lippmann auch eine mit dem Suffix -mann erweiterte Bildung der Kurzform<br />
von germanischen Rufnamen mit lieb (ahd. liub, liob) z.B. Liebhard, Liebfried, Liebwald u.ä. sein,<br />
oder einen westslawischen Einfluss zu Personennamen auf slaw. liby, luby = lieb oder zu slaw.<br />
lipa = Linde und demzufolge als Vatername oder als Wohnstätten- bzw. Herkunftsname gedeutet<br />
werden. An dieser Stelle bleibt unsere Forschung noch offen. Über jeden Einzelfall<br />
können nur familiengeschichtliche Untersuchungen entscheiden.<br />
Bei der Etymologie von Familiennamen geht es zuerst um den Rang der Bedeutungen. Im<br />
Fall Lippmann haben wir gezeigt, wie man mit Hilfe der Namengeografie einzelne Bedeutungen<br />
eines Namens als Hauptbedeutungen ausschalten kann. In den überregionalen Namenlexika<br />
11 vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, 1984, Sp. 941.<br />
12<br />
In: Kunze, 1999.<br />
13<br />
Ebd.<br />
14<br />
so: Grünert, 1958, S. 393-394.<br />
15 So: Grünert, 1958, S. 54.<br />
16 Neumann, 1981, S. 108.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Namengeografie und Namenetymologie. Eine Fallstudie am Beispiel Lippmann<br />
kam Lippmann mit den Hauptbedeutungen Patronymikum, Übername und Wohnstätten-Herkunftsname<br />
vor. Die Namengeografie hat uns dazu verholfen, auf die Erstbedeutung Patronymikon<br />
von der Kurzform zu Philipp zu kommen.<br />
Schlussfolgernd können wir behaupten:<br />
➧ Namengeografie spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über die Erstbedeutung<br />
eines Familiennamens.<br />
➧ Die moderne Namengeografie eröffnet der Namenkunde neue Wege, sie reißt sie aus<br />
dem Bereich des Hypothetischen heraus und konkretisiert sie.<br />
➧ Namengeografie ist ein Instrument zur Überprüfung der überregionalen Namenbücher.<br />
➧ Infolge moderner namengeografischer Studien müssen Namenbücher neu geschrieben,<br />
etymologisch neu geschichtet werden.<br />
➧ Namengeografie kann in manchen Fällen noch unbekannte Bedeutungen der Namen<br />
ans Licht bringen.<br />
➧ Die Rolle der Namengeografie darf nicht absolutisiert werden. Sie kann nicht immer die<br />
endgültige Lösung bringen, weil auch aus namengeografischer Perspektive manches<br />
ungelöst bleiben kann.<br />
LL L ii i t t e e r r aa a a tt t u u r r :<br />
:<br />
1. Bach, Adolf (1953): Deutsche Namenkunde. Die deutschen Personennamen. Bd. I 1 u. 2. Heidelberg.<br />
2. Bahlow, Hans (1985): Deutsches Namenlexikon. Baden-Baden.<br />
3. Brechenmacher, Josef Karlmann (1960-63): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Familiennamen. Bd. 2.<br />
Limburg an der Lahn.<br />
4. Fleischer, Wolfgang (1968): Die deutschen Personenamen. Geschichte, Bildung und Bedeutung. Berlin.<br />
5. Gottschald, Max (1982): Deutsche Namenkunde. 5. Auflage. Berlin.<br />
6. Grimm, Jakob u. Wilhelm (1984): Deutsches Wörterbuch. Bd. 12. München.<br />
7. Grünert, Horst (1958): Die Altenburgischen Personennamen. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Namenforschung.<br />
Tübingen.<br />
8. Heintze, Albert u. Cascorbi, P. (1933): Die deutschen Familiennamen geschichtlich, geografisch, sprachlich. 7.<br />
Auflage. Halle-Berlin.<br />
9. Hellfritzsch, Volkmar (1992): Familiennamenbuch des sächsischen Vogtlandes. Auf der Grundlage des Materials<br />
der Kreise Plauen und Oelsnitz. Berlin.<br />
10. Kohlheim, Volker u. Rosa (1998): Duden-Lexikon der Vornamen.3. Auflage. Mannheim.<br />
11. Kohlheim, Volker u. Rosa (2000): Duden-Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Mann-heim.<br />
12. Kunze, Konrad (1999): dtv-Atlas Namenkunde. Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebiet. 2. Auflage.<br />
München.<br />
13. Lexer, Matthias (1979): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Stuttgart.<br />
14. Naumann, Horst (o.J.): Das große Buch der Familiennamen. Alter-Herkunft-Bedeutung. o.O.<br />
15. Neumann, Isolde (1981): Die Familiennamen der Stadtbewohner in den Kreisen Oschatz, Riesa und Grossenhain<br />
bis 1600. Berlin.<br />
16. Schiff, Adelheid (1917): Die Namen der Frankfurter Juden zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Freiburg.<br />
17. Schwarz, Ernst (1973): Sudetendeutsche Familiennamen des 15. und 16. Jahrhunderts. München.<br />
18. Weiss, Nelly (1992): Die Herkunft jüdischer Familiennamen. Herkunft, Typen, Geschichte. Bern.<br />
19. Wenzel, Walter (1999): Lausitzer Familiennamen slawischen Ursprungs. Bautzen.<br />
20. Zoder, Rudolf (1968): Familiennamen in Ostfalen. Bd. 2, Hildesheim.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
513
EIN DEUTSCH-RUMÄNISCHES AUSTRIAZISMENLEXIKON<br />
Mit besonderer Hervorhebung der österreichischen<br />
und rumäniendeutschen sprachlichen Gemeinsamkeiten<br />
Hermann Hermann Scheuringer Scheuringer Scheuringer / / / Ioan Ioan L`z`rescu<br />
L`z`rescu<br />
Nachdem Hugo Moser in der ersten Auflage des Handbuchs Sprachgeschichte im Jahre<br />
1985 ein letztes Mal die, wie man jetzt sagt, monozentrische Sicht aufs Deutsche, d.h. die<br />
deutsche Standardsprache, mit einer Hauptvariante Bundesrepublik und Nebenvarianten wie<br />
damals noch DDR-Deutsch, dazu Österreichisch, Schweizerhochdeutsch u.a. vertreten hatte<br />
(Moser 1985), gewann in der Folgezeit die heute diesbezüglich dominierende, allseits auch<br />
problemlos akzeptierte poly- oder plurizentrische Sicht an Boden. Sie anerkennt die Tatsache,<br />
dass auch die deutsche Hochsprache kein monolithischer Block ist, sondern auch auf dieser<br />
hochsprachlichen Ebene regionale Varianz kennt, Zwei- und Mehrgleisigkeiten, wie sie ein so<br />
großes Sprachgebiet wie das deutsche einfach hervorbringen muss angesichts sprachhistorisch<br />
wie auch territorialpolitisch vielfältiger Entwicklungen. Bezeichnenderweise waren es außersprachliche<br />
Anlässe, die die Diskussion ums mono- oder polyzentrische Deutsch immer wieder<br />
angestoßen haben, schon in den siebziger Jahren die Emanzipationsbestrebungen der DDR, in<br />
den späten achtziger Jahren und bis zur Mitte der neunziger Jahre, zwischen so genannter<br />
Wiedervereinigung und österreichischem EU-Beitritt, die damals geradezu besessen zelebrierte<br />
Angst österreichischer Intellektueller vor der kulturellen Vereinnahmung durch Deutschland.<br />
Im speziellen Arbeitsbereich „Österreichisches Deutsch“ ist inzwischen Ruhe eingekehrt, die<br />
sprachpolitische Debatte zwischen, wie Wiesinger es genannt hat, österreichisch-nationalem<br />
und deutsch-integrativem Standpunkt scheint ausgereizt zu sein. Österreichisches Deutsch ist<br />
eine wohlbekannte und wohlbeschriebene, auch allgemein anerkannte Größe. Unterschiedliche<br />
Sichtweisen zur Regionalität der deutschen Standardsprache zwischen plurizentrisch oder etwa<br />
pluriareal ändern nichts am allgemein als regional anerkannten sprachlichen Ausgangsmaterial,<br />
und auch Vertreter einer pluriarealen Sicht aufs Deutsche, frei von Abgrenzungs- und Distanzierungsbemühungen<br />
Deutschland und „den Deutschen“ gegenüber, sehen ohne jede Selbstüberwindung<br />
neben süddeutschen oder bairisch-österreichischen Sprachformen eindeutig auch<br />
nur österreichische oder nur schweizerische, Austriazismen und Helvetismen, aber auch Liechtensteinismen<br />
und Südtirolismen und natürlich auch rein bundesdeutsche, vor dem Hintergrund<br />
des Staates Deutschland erklärbare Sprachformen, vielleicht als Teutonismen oder besser:<br />
Deutschlandismen etikettierbar, wie z.B. das Wort Abitur. Es ist einsichtig, dass insbesondere im<br />
politisch-administrativen Bereich und in allen weiteren Lebensbereichen mit größeren staatlichen<br />
Eingriffen und Befugnissen staatliche Wortschätze und weitere staatlich eingrenzbare<br />
sprachliche Formen auftreten.<br />
Bevor es noch Internet-Suchmaschinen und große über das Internet zugängliche Textkorpora<br />
und Datensammlungen gab, waren jedem Unterfangen, staatlich geprägte sprachliche<br />
Formen innerhalb des Deutschen herauszufiltern und zu beschreiben, relativ früh unüberwindbare<br />
Hürden gesetzt in dem Sinne, dass neben einem kleinen, nach bestem Wissen und Ge-
Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon …<br />
wissen, nach allgemeinem Dafürhalten und wiederholt verifizierten, quasi „zweifelsfrei“ z.B. als<br />
Austriazismen klassifizierten Anteil sprachlicher Formen viele weitere, ja die meisten dieser<br />
Formen nur auf Grund von Intuition und Einschätzung, auf Grund immer einseitiger und beschränkter<br />
räumlicher Lebenswelten ihrer Bearbeiter Eingang in entsprechende Lexika fanden.<br />
Diese Hürden sind jetzt nicht beseitigt, doch weitaus kleiner bzw. später zu sehen. Das „Wörterbuch<br />
der nationalen und regionalen Standardvarianten des Deutschen“, ein trinationales<br />
Forschungsprojekt an den Universitäten Duisburg, Basel und Innsbruck, finanziert von Deutscher<br />
Forschungsgemeinschaft, Schweizerischem Nationalfonds und Österreichischem Forschungsförderungsfonds<br />
und Geisteskind von Ulrich Ammon in Duisburg, kann die neuen technischen<br />
Möglichkeiten ausschöpfen und wird voraussichtlich ab 2004 die neue Messlatte vorgeben<br />
– und insofern auch für das österreichische Deutsch bisher noch nie gesehene Zuverlässigkeit<br />
in puncto Belegmaterial aufweisen. 1 Eine Seite der im Folgenden vorzustellenden<br />
österreichisch-rumänischen Forschungskooperation hat damit eine optimale Materialbasis zur<br />
Verfügung, die beim derzeitigen Stand der Dinge nicht weiter hinterfragt werden muss – wünschenswerte<br />
Voraussetzung auch, um das Augenmerk ganz auf die andere, rumänische Seite<br />
konzentrieren zu können. Das „Wörterbuch der nationalen Standardvarianten des Deutschen“<br />
ist grundsätzlich ein bundesdeutsch-österreichisch-schweizerisches Werk, dazu die zwei Kleinstaaten<br />
Liechtenstein und Luxemburg und allenfalls am Rande noch Südtirol und Ostbelgien<br />
berücksichtigend, es geht aber über den geschlossenen deutschen Sprachraum Mitteleuropas<br />
nicht hinaus. Dies gilt leider – fast – genauso für Ulrich Ammons 1995 erschienenes Standardwerk<br />
„Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ (Ammon 1995), in<br />
dem sich das Deutsche in Rumänien, mit dem Deutschen im Elsass und in Lothringen zusammengefasst<br />
in einem kleinen Kapitel unter der Überschrift „Zentrumsansätze ohne Amtssprachlichkeit“,<br />
mit 4 von 575 Seiten begnügen muss.<br />
Die Forschung zum plurizentrischen Deutsch, insbesondere zu seinen staatlichen Standardvarianten,<br />
hat Varietäten außerhalb des geschlossenen Stamm-Sprachraums somit bis dato<br />
wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt, ein Manko, das gerade angesichts des Rumäniendeutschen<br />
schmerzt, ist doch das Deutsche in Rumänien eine vollwertige regionale Varietät<br />
– mit Spezifika natürlich, aber nur wenigen Einschränkungen. Es hat alles dazu Erforderliche,<br />
muttersprachliche Vielfalt von der dialektalen bis zur hochsprachlichen Ebene, Schrifttum jedweder<br />
Spielart einschließlich einer Tageszeitung, Schulen, Theater und Germanistik-Lehrstühle<br />
u.v.a.m., natürlich als Sprachminderheit in einem dominant rumänischen Staat und insofern z.B.<br />
nicht auf gleicher Ebene etwa mit Südtirol, wo die Minderheit de facto die dominante sprachliche<br />
Gruppe ist. Der demografische Aderlass des letzten Jahrzehnts mag ein Übriges dazu<br />
beitragen, dass rumänisches Deutsch kaum (mehr) Beachtung findet. Seine dialektale Seite ist<br />
gut erforscht, es gibt eine lange Tradition vor allem siebenbürgischer und Banater Mundartkunde,<br />
seine hochsprachliche Seite wurde und wird nur allzu gern als Variante oder Abart des<br />
Österreichischen gesehen, was es – vielleicht – bis 1918 auch war, aber das gilt bis 1918 auch<br />
für Südtirol, und wir erkennen Südtirolismen heute zuhauf.<br />
Bei Ammon (1995), der sich bei seinen diesbezüglichen Ausführungen, wie andere auch,<br />
hauptsächlich auf die Arbeit Helmut Kelps (Kelp 1982–1984) stützt, heißt es: „Ein Großteil der<br />
von Kelp präsentierten lexikalischen Besonderheiten sind Austriazismen. In der Tat entsteht für<br />
die Rumäniendeutschen erst 1918 die politische Grundlage für die Ausbildung eines eigenen<br />
nationalen Zentrums der deutschen Sprache.“ Und weiter: „Die spezifisch rumäniendeutschen<br />
1 Vgl. dazu Ammon (1998).<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
515
Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu<br />
nationalen Varianten [Ammon nennt sie „Transsylvanismen“], ohne die Austriazismen, entstammen<br />
vor allem den folgenden drei Quellen: (1) den rumäniendeutschen Dialekten (Siebenbürger<br />
Sächsisch, Banater und Sathmarer Schwäbisch), (2) dem Rumänischen und (3) dem<br />
Ungarischen“. Die strenge Durchsicht der Kelpschen Listen durch rumänische Informantinnen<br />
führt bei Ammon (1995) letztlich zu ganz wenigen Lexemen, die zweifelsfrei als so genannte<br />
Transsylvanismen durchgehen, darunter Aufboden „Dachboden“, Hattert „Feld, Gemarkung“,<br />
Klettiten „Pfannkuchen“, Schopfen „Schuppen“ und versorgen „beiseite legen“.<br />
516<br />
Bisheriges zusammenfassend, ist festzustellen:<br />
➧ Der Status der deutschen Sprache in Rumänien geht weit über den einer durchschnittlichen<br />
Minderheitensprache hinaus. Deutsch in Rumänien kann als eine staatliche<br />
Varietät des Deutschen gesehen werden.<br />
➧ Deutsch in Rumänien zeigt zweifellos Eigenheiten, primär natürlich auf lexikalischer<br />
Ebene, wobei die Herausbildung spezifischer Rumänismen, weitgehend unabhängig<br />
von den dialektalen deutschen Grundlagen, erst ab 1918 anzusetzen ist.<br />
➧ Deutsch in Rumänien (und mittelbar damit auch das Rumänische) kennt in historischer<br />
Sicht als primären Kontaktpartner im deutschen Binnenraum die österreichische Standardvarietät,<br />
in merklichem Kontrast zu seiner vornehmlich moselfränkischen und<br />
schwäbischen dialektalen Grundlage, im letzten halben Jahrhundert verstärkt auch die<br />
westdeutsch-bundesdeutschen und DDR-Standardvarietäten.<br />
Die historische Verquickung von österreichischem Deutsch und rumänischem Deutsch stellt<br />
auch die Grundlage unseres „Doppelprojektes“ dar, das hier kurz vorzustellen auch Zweck unserer<br />
Ausführungen ist. Am Anfang steht dabei das für diesen Beitrag den Titel abgebende<br />
„Austriazismenlexikon mit besonderer Hervorhebung der österreichischen und rumäniendeutschen<br />
sprachlichen Gemeinsamkeiten“. Es soll ein deutsch-rumänisches Wörterbuch primär<br />
für rumänische Muttersprachler mit fortgeschrittener Kompetenz im Deutschen werden, in dem<br />
das besondere Augenmerk der Einbeziehung hochsprachlicher Austriazismen gilt, rumänische<br />
Deutschlerner also gezielt lexikografisch mit österreichischem Deutsch bekannt gemacht werden<br />
sollen, und dabei sollen auch die zahlreichen Rumäno-Austriazismen bewusst als eben<br />
österreichisch-rumänische Gemeinsamkeiten in der deutschen Standardsprache hervorgehoben<br />
werden. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes wird auf Struktur und Inhalt des Wörterbuchs, auf<br />
Lemmata und Lemmatisierungsproblemen usw. eingegangen. Dieses „austro“-deutsch-rumänische<br />
Wörterbuch, Teil 1 des erwähnten Doppelprojektes, wurde und wird finanziell von der<br />
Universität Wien und von der Österreichischen Botschaft in Bukarest gefördert und soll im Jahr<br />
2004 in Bukarest der Öffentlichkeit präsentiert werden.<br />
Teil 2 stellt ein noch 2003 beim Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung<br />
(FWF) in Wien einzureichendes Drei-Jahres-Forschungsprojekt dar mit dem Arbeitstitel „Erforschung<br />
und Beschreibung der rumänischen Variante der deutschen Standardsprache“, in<br />
dem, falls als förderungswürdig erachtet, eine Projektmitarbeiterin aktuelle rumäniendeutsche,<br />
gesprochene wie geschriebene Texte auf Rumänismen hin auswerten soll, wie sie natürlich<br />
primär im lexikalischen Bereich zu erwarten sind, aber nicht nur: Auch die Aussprache der<br />
deutschen Hochsprache in Rumänien ist zu thematisieren und wohl auch grammatische<br />
Aspekte. Erster Projektpartner in Rumänien ist natürlich Ioan L`z`rescu, mit weiteren<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon …<br />
rumänischen Partnern laufen zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags im Spätsommer 2003<br />
Kontaktgespräche, als Berater in Österreich uns zur Seite stehen will Jakob Ebner in Linz,<br />
seinerseits der herausragende und erfahrenste Lexikograf des österreichischen Deutsch und<br />
auch Mitarbeiter des erwähnten neuen Varietätenwörterbuchs, dessen Korpus uns dankenswerterweise<br />
schon jetzt zugänglich gemacht worden und weiter zugänglich ist und zu dem sich<br />
das geplante FWF-Projekt gleichsam als Ergänzungsprojekt versteht. Natürlich soll nach dem<br />
Aufspüren spezifischer Rumänismen insbesondere gemeinsamen Rumänismen und Austriazismen<br />
nachgegangen werden, doch auch gemeinsamen Rumänismen und Deutschlandismen, wie<br />
sie aus den letzten Jahren vermehrt zu erwarten sind, abgerundet durch einen Blick auf die<br />
Geschichte der deutschen Standardsprache in Rumänien, für die gerade auch dieser Wechsel<br />
vom primären Kontaktpartner Österreich zum primären Kontaktpartner Deutschland bedeutsam<br />
erscheint. Wir bitten generell die Germanisten an den rumänischen Universitäten um ihre Mithilfe.<br />
Auch in diesen Zeiten demografischer Schwächung der deutschen Bevölkerung Rumäniens<br />
steht z.B. der tagtägliche Ausstoß an – von deutschen Muttersprachlern – Geschriebenem weit<br />
vor oder über vergleichbarem Schrifttum deutscher Minderheitsbevölkerungen in andern Ländern<br />
außerhalb des Stammsprachraumes. Allein die Produktion aktuellen Schrifttums, wie es<br />
z.B. in Hermannstadt erscheint, ist weiterhin beeindruckend, von der wöchentlichen Hermannstädter<br />
Zeitung bis zu den Büchern des Hora-Verlages, Fachliteratur wie Belletristik usw. Gesamtrumänisch<br />
kommt die tägliche Allgemeine deutsche Zeitung dazu, weitere deutsche Presseerzeugnisse<br />
und die weiterhin vielfältige Buchproduktion in Städten wie Temeswar oder<br />
Kronstadt u.v.a.m.<br />
Schon der Blick in nur eine dieser Quellen zeitigt Ergebnisse mehrerlei Schattierung mit reinen<br />
Rumänismen, Bezeichnungs- wie Bedeutungsrumänismen, und natürlich auch mit Rumäno-Austriazismen.<br />
Exemplarisch habe ich 2 im Vorfeld des VI. Rumänischen Germanistenkongresses<br />
dafür fünf Ausgaben der Hermannstädter Zeitung (HZ) von Anfang April bis Anfang<br />
Mai 2003 durchgesehen, mir auffällig Erschienenes mit Hilfe deutscher Wörterbücher und mit<br />
Hilfe der Internet-Suchmaschine „Google“ überprüft. Manches erwies sich dabei als nur mir<br />
auffällig, sonst aber nicht einschlägig, ein paar der gefundenen Einträge seien hier vor- und zur<br />
Diskussion gestellt. In der HZ vom 4. April 2003 findet sich ein Artikel über das rumänische<br />
Gesundheitssystem, der vorrangig von kompensierten Medikamenten handelt. Der Terminus<br />
wird auch, wohl mit Blick auf nicht rumänische Leser, erklärt: Medikamente, bei denen die<br />
Krankenkasse den Apotheken die Preisdifferenz zum dort reduzierten Preis ausgleicht. Mit dem<br />
in der gleichen Ausgabe vorkommenden Spital verwendet die HZ ein älteres Lexem des<br />
Deutschen, wie es in Österreich und in der Schweiz weiterhin uneingeschränkt standardsprachlich<br />
ist, nicht mehr aber in Deutschland. Auf Seite 1 besagter Ausgabe findet sich auch ein<br />
Bericht über die neuen Korruptionsbekämpfungsgesetze, die nun vom Präsidenten promulgiert<br />
werden können, also bekannt gemacht, etwas, das im Deutschen heute sonst nur noch<br />
höchsten kirchlichen Würdenträgern vorbehalten ist. Ob der in der HZ vom 11. April in einer<br />
Anzeige des Kreisrates Sibiu gelesene Hausanschluss der sonstigen Nebenstelle oder Durchwahl,<br />
österreichisch auch Klappe, entspricht, weiß ich nicht, doch sei das Lexem hier zur Diskussion<br />
gestellt, ebenso in der HZ vom 18. April gesehenes Freizeit in einem Bericht über eine<br />
„Einladung zu Freizeiten der Senioren“, also Seniorenfreizeiten, in dem auf zwei solche Frei-<br />
2 i.e.Hermann Scheuringer.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
517
Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu<br />
zeiten hingewiesen wird und es dann auch heißt: „Für beide Freizeiten besteht Abholmöglichkeit<br />
von den nächstliegenden Bahnhöfen.“ In der gleichen Ausgabe begegnen in einem Artikel<br />
zur Internationalen Meisterschaft im Kunstturnen auch Gymnasten und Gymnastinnen, wie es<br />
sie im Rumänischen gibt und auch im Englischen, meines Wissens aber sonst im Deutschen<br />
nicht. Das in einer Wohnungsanzeige in der HZ vom 25. April gelesene Direktorenbadezimmer<br />
mag meiner mangelnden einschlägigen Lebenserfahrung entsprießen – ich weiß es nicht,<br />
Sparkassa wiederum in der HZ vom 9. Mai und auch Rauchfangkehrer sind unschwer als<br />
Rumäno-Austriazismen zu identifizieren. So weit ein erster Blick meinerseits unter Berücksichtigung<br />
des Hermannstädter genius loci.<br />
518<br />
Näheres zum "austro"-deutsch-rumänischen Wörterbuch:<br />
1. Anvisierter Benutzerkreis. Das Austriazismen-Lexikon wendet sich an rumänische<br />
Deutschlernende, die die Mittelstufe erreicht haben, und selbstverständlich an Fortgeschrittene,<br />
somit an rumänische Muttersprachler, die weit über den Grund- und Alltagswortschatz hinaus<br />
sind und in schriftlichen und/oder gesprochenen Texten auf lexikalische Spezifika des österreichischen<br />
Deutsch stoßen und sich darüber Klarheit verschaffen bzw. Kommunikationsstörungen<br />
vorbeugen oder vermeiden wollen. Gemeint sind hier die Lektüre der österreichischen<br />
Presse, von österreichischen Prospekten, Broschüren und Sachtexten verschiedensten Inhalts<br />
bis hin zu belletristischen Texten, ferner das Verstehen von Hörtexten in Form von unterschiedlichen<br />
An- und Durchsagen, im Rundfunk und Fernsehen, bzw. während Gespräche, die mit<br />
Österreicherinnen und Österreichern geführt werden.<br />
2. Das Wortinventar. Aufgenommen werden lexikalische Besonderheiten des österreichischen<br />
Deutsch im weitesten Sinne des Wortes, also neben den typischen Austriazismen<br />
auch solches Wortgut, das in der Regel als bairisch-österreichisch bezeichnet wird, ist doch in<br />
vielen Fällen eine strenge Trennung zwischen Austriazismen und Bavarismen praktisch kaum<br />
durchzuführen, wobei unter letzteren die sprachlichen Besonderheiten der Region verstanden<br />
werden, die man gewöhnlich als Altbayern zusammenfasst – nämlich Oberbayern, Niederbayern<br />
und die Oberpfalz (vgl. auch die sog. "unspezifischen Bavarismen" bei Zehetner ²1998, 7).<br />
Sieben Kategorien von Wörtern machen den Wortbestand unseres Lexikons aus:<br />
(1) In erster Linie geht es um Wörter, die in den bisher erschienenen zweisprachigen Wörterbüchern<br />
überhaupt nicht vorkommen, verständlicherweise nicht in den kleinen und mittelgroßen<br />
älteren wie jüngeren Datums, erstaunlicherweise aber auch im großen deutschrumänischen<br />
Wörterbuch der Rumänischen Akademie (2., erweiterte und bisher letzte Auflage<br />
1989) nicht. Es sind dies vornehmlich Elemente der Fachsprachen und der Behördensprache<br />
(z.B. anverwahrt für 'beiliegend', Aufgriff im Sinne von 'etw. von der Polizei Beschlagnahmtes',<br />
beeinspruchen 'gegen etw. Einspruch erheben', auffirnen 'körnig und weich werden (vom<br />
Schnee)' u.v.a.m. Zwar bildet gewissermaßen das 1996 von Ioan L`z`rescu herausgegebene<br />
Dic]ionar de argou [i limbaj colocvial german-român (Deutsch-rumänisches Wörterbuch der<br />
Gauner- und Umgangssprache) 3 diesbezüglich eine Ausnahme, zumal eine verhältnismäßig<br />
große Anzahl der darin vorkommenden Lemmata der österreichischen Umgangs-, Gauner- und<br />
Jugendsprache angehören, lexikalische Elemente der österreichischen Standardsprache scheinen<br />
jedoch in der rumänischen Lexikographie noch ein Kellerkind zu sein.<br />
3 Niculescu-Verlag, Bukarest.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon …<br />
(2) Wörter, die in deutsch-rumänischen Lexika zwar vorkommen, jedoch lediglich mit deren<br />
bundesdeutschen Bedeutungspalette, wobei etwaiige zusätzliche österreichische Bedeutungsvarianten<br />
in der Beschreibung fehlen, z.B.: anschließen, das im deutsch-rumänischen Wörterbuch<br />
der Akademie nur mit den Bedeutungen 'festmachen; verbinden; folgen lassen' – auch mit<br />
dessen reflexiver Bedeutung – vorkommt, jedoch ohne die für die österreichische Behördensprache<br />
typische zusätzliche Bedeutung 'anfügen, beilegen (etwa Unterlagen)'.<br />
(3) Wörter, die hauptsächlich in Österreich verwendet werden, somit als "reine Austriazismen"<br />
zu bezeichnen sind, in den gängigen deutsch-rumänischen Wörterbüchern jedoch bestenfalls<br />
die Markierung reg. (= regional/Regionalismus) haben. Der Wörterbuchbenutzer bekommt<br />
somit dabei gar keine Information darüber, dass das betreffende Wort als typisch österreichisch<br />
zu verstehen ist zum Unterschied von anderen Lemmata, die gleichfalls die Markierung<br />
reg. haben, die aber norddeutsch, west- oder ostmitteldeutsch oder sonstwie sind (vgl.<br />
die Einträge Buchtel und Schmetten im Wörterbuch der Akademie: in beiden Fällen steht in<br />
Klammern der Vermerk reg., man erfährt aber nicht, dass der erstere österreichisch, der letztere<br />
ostmitteldeutsch ist).<br />
(4) Es fällt auf, dass bei vielen typischen Austriazismen in den meisten bisher in Rumänien<br />
erschienenen Wörterbüchern überhaupt keine diatopische Markierung steht, also kein Vermerk<br />
über den nur auf Österreich beschränkten Gebrauch – etwa beim Verb beheben i.S.v. 'Geld<br />
abheben', so dass der darauf nicht vorbereitete Benutzer den falschen Schluss ziehen kann,<br />
diese Bedeutung sei gesamtdeutsch. Aber ein im nordwestlichen Teil des deutschen Sprachraums<br />
lebender Sprecher verwendet beheben nur im Zusammenhang mit Fehlern. Solche<br />
Wörter werden in unserem Lexikon selbstverständlich zu Austriazismen gezählt und als solche<br />
behandelt.<br />
(5) Wörter, die im Österreichischen mit anderen Wortbildungsmitteln als im bundesdeutschen<br />
Sprachraum gebildet bzw. gebräuchlich sind, z.B. im Falle der Komposita andere<br />
Fugenelemente (Rindsbraten vs. Rinderbraten, aufnahmsfähig vs. aufnahmefähig), bei<br />
Derivaten andere Suffixe usw. (Ausbildner vs. Ausbilder, Wissenschafter vs. Wissenschaftler,<br />
Wörter auf -hältig/-haltig, -färbig/-farbig usw.), oder Wörter, die sich in ihrer grammatischen<br />
Beschaffenheit von ihren bundesdeutschen Entsprechungen unterscheiden (Verben mit festen<br />
Präpositionen, wobei die Präpositionen differieren – z.B. erinnern bzw. denken auf statt an –,<br />
Substantive mit unterschiedlichem Genus: österr. das – dt. die Vokabel, österr. der – dt. das<br />
Polster usw.)<br />
(6) Österreichische Spezifika, die "durchsichtig" zu sein scheinen, die aber sehr leicht zu<br />
Verwechslungen führen könnten, falls der Leser die Bildungen wörtlich nehmen oder sie mit<br />
deren bundesdeutschen Homographen gleichsetzen würde, etwa Bügelladen, das kein "Laden/Geschäft"<br />
ist, sondern ein 'Bügelbrett', bzw. Brötchen, das in Österreich 'ein kleines belegtes<br />
Brot' bezeichnet, in Deutschland aber ein kleines rundes oder längliches Brot, was in<br />
Österreich seinerseits eine Semmel ist, Gebäck, das in Österreich ein 'Oberbegriff für Semmel,<br />
We-ckerl usw.' ist, während in Deutschland das Gebäck klein und süß ist, betreten, das in<br />
Österreich auch im Sinne von 'ertappen, festnehmen' verwendet wird, nicht nur von 'in einen<br />
Raum treten'.<br />
(7) Das, woran uns am meisten gelegen war, ist die Markierung von Rumäno-Austriazismen,<br />
um eben die zahlreichen lexikalischen österreichisch-rumäniendeutschen Gemeinsamkeiten<br />
hervorzuheben. Die meisten davon kommen zwar auch in den bisher erschienenen deutschrumänischen<br />
Wörterbüchern vor, jedoch ist dabei überhaupt nicht zu ersehen, dass diese Wörter<br />
auch dem Rumäniendeutschen und nicht nur dem Österreichischen eigen sind. Rumänien-<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
519
Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu<br />
deutsche-österreichische Gemeinsamkeiten sind in unserem Lexikon mit dem hochgestellten<br />
Kürzel (RO) markiert, das rechts vom Lemma steht.<br />
3. Benutzte Quellen. Zweierlei Quellen werden bei der Erstellung dieses Wörterbuchs benützt:<br />
die einen für die Lemmatisierung von "allgemeinen" Austriazismen, die anderen für die<br />
auch in der rumäniendeutschen Verkehrssprache verwendeten Austriazismen. Von vornherein<br />
muss präzisiert werden, dass wir nur verschriftlichte Formen berücksichtigen. Dialektförmige<br />
Lemmata wie abidrahn, abistessen, abizahn usw., die zwar im DUDEN-Wörterbuch Wie sagt man<br />
in Österreich? vorkommen, werden in unser Lexikon nicht aufgenommen, da diese sozusagen<br />
transkribierte Dialektformen sind. Wir berücksichtigen nur standardsprachliche, also schriftliche<br />
Formen, ist es doch praktisch kaum anzunehmen, dass sich ein rumänischer Deutschlerner mit<br />
einem Österreicher in der Mundart unterhalten wird. Unsere Lemmata sind den folgenden<br />
Quellen (in alphabetischer Reihenfolge) entnommen:<br />
1. Ammon, U. (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen<br />
Varietäten. Berlin/New York: de Gruyter.<br />
2. Ebner, J. (³1998): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch des österreichischen Deutsch. Mannheim u.a.:<br />
Dudenverlag.<br />
3. Jontes, G. (1998): Österreichisches Schimpfwörterlexikon. Wien: Donauland Kremayr & Scheriau.<br />
4. Österreichisches Wörterbuch. 39., neu bearb. Aufl., hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung,<br />
Wissenschaft und Kunst. Auf der Grundlage des amtlichen Regelwerks. Wien: ÖBV 2001.<br />
5. Seibicke, W. (1983): Wie sagt man anderswo? Landschaftliche Unterschiede im deutschen Sprachgebrauch.<br />
Mannheim u.a.: Dudenverlag.<br />
6. Wehle, P. (1997): Die Wiener Gaunersprache. Von Auszuzln bis Zimmerwanzen. Wien: Ueberreuter.<br />
7. Weihs, R. (2000): Wiener Wut. Das Schimpfwörterbuch. Wien: Uhudla.<br />
Und selbstverständlich dem 10bändigen DUDEN.<br />
Dazu gesellt sich das eingangs erwähnte, noch in Arbeit befindliche Wörterbuch der nationalen<br />
und regionalen Standardvarianten des Deutschen, kurz das neue "Varietätenwörterbuch",<br />
dessen Manuskript mit den bisher erstellten Lemmata uns vom Autorenteam freundlicherweise<br />
zur Verfügung gestellt wurde.<br />
Die Belege für die Rumäno-Austriazismen entnahmen wir den folgenden einschlägigen<br />
Werken (hier alphabetisch geordnet):<br />
8. Ammon, U. (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen<br />
Varietäten. Berlin, New York: W. de Gruyter<br />
9. G`deanu, S. (1998): Sprache auf der Suche. Zur Identitätsfrage des Deutschen in Rumänien am Beispiel der<br />
Temeswarer Stadtsprache. Regensburg: S. Roderer [Theorie und Forschung 574: Sprachwissenschaften 8]<br />
10. Gehl, H. (1997): Deutsche Stadtsprachen in Provinzstädten Südosteuropas. Stuttgart: Franz Steiner<br />
11. Gehl, H./Purdela Sitaru, M. (Hrsg.) (1994): Interferenzen in den Sprachen und Dialekten Südosteuropas. Tübingen:<br />
Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde [Materialien, Heft 4]<br />
12. Isb`[escu, M./Kisch, R./Mantsch, H. (1972): Zu den Merkmalen der gesprochenen deutschen Sprache in Rumänien.<br />
In: "Analele Universit`]ii Bucure[ti - Limbi germanice" (XXI), S. 45-58. (dass. in: "Gesprochene Sprache.<br />
Jahrbuch 1972", hrsg. von H. Moser, Düsseldorf 1973, S. 229-244 [Sprache der Gegenwart 24])<br />
13. Isb`[escu, M./Kisch, R. (1972): Beiträge zu einer soziolinguistischen Betrachtung siebenbürgisch-deutscher<br />
Sprachformen. In: "Germanistische Linguistik in Rumänien 1958-1983. Eine Textauswahl", hrsg. von H. Kelp, mit<br />
einem Vorwort von G. Klaster-Ungureanu, Bukarest: Kriterion 1993, S. 173-183 (dass. in: "Festschrift für Hans<br />
Eggers zum 65. Geburtstag", hrsg. von H. Backes, Tübingen 1972, S. 307-317)<br />
14. Kelp, H. (1982/83): Die österreichischen Formen. In: Neuer Weg 20.02.1982-23.04.1983 [Lexikalische Besonderheiten<br />
unserer deutschen Schriftsprache, Folgen 4-26]<br />
15. Wolf, J. (1975): Kleine Banater Mundartenkunde. Bukarest: Kriterion<br />
16. Wolf, J. (1977-78): Zu den sprachlichen Voraussetzungen der deutschsprachigen Literatur im rumänischen<br />
Sprachraum. In: "Germanistische Linguistik in Rumänien 1958-1983. Eine Textauswahl", hrsg. von H. Kelp, mit<br />
520<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon …<br />
einem Vorwort von G. Klaster-Ungureanu, Bukarest: Kriterion 1993, S. 270-289 (dass. in: "Neuer Weg", 17.12<br />
und 23.12.1977; 7.1. und 14.1.1978)<br />
4. Aufbau des Lexikons. Im deutsch-rumänischen Austriazismenlexikon werden die streng<br />
alphabetisch geordneten Lemmata mit ihrer grammatischen Beschaffenheit beschrieben, bedeutungsgemäß<br />
erklärt und schließlich ins Rumänische übersetzt. Die Verben – auch die regelmäßigen<br />
– erscheinen mit ihren vollständigen Stammformen und dem verbspezifischen Hilfsverb,<br />
die Substantive mit den gängigen Endungen für G.Sg. und N.Pl. Fallweise werden morphosyntaktische,<br />
sprachschichtliche und stilschichtliche Angaben gemacht, z.B. ob das betreffende<br />
Verb unpersönlich ist oder hauptsächlich im Infinitiv oder im Partizip vorkommt, ob ein<br />
Substantiv in der Regel im Plural gebraucht wird, ob das behandelte Stichwort einer Fach- oder<br />
Sondersprache gehört bzw. pejorativ, poetisch usw. verwendet wird. Zum Unterschied von<br />
einem für deutsche Muttersprachler konzipierten Lexikon, das auch eine diatopische Komponente<br />
zu berücksichtigen hat, wird in unserem Wörterbuch bloß zwischen standardsprachlich<br />
und dialektal im weiten Sinne des Wortes unterschieden, ohne ferner zwischen donau- und<br />
alpenösterreichisch, zwischen vorarlbergisch und wienerisch usw. zu differenzieren. Wörter mit<br />
in Österreich landschaftlich restringiertem Gebrauch sind einfach mit reg (=regional) markiert.<br />
In den meisten Fällen steht anschließend die rumänische Übersetzung. Bloß in den Fällen,<br />
wo das Lemma sozial-politisch-administrative oder landeskundliche Sachen bezeichnen – etwa<br />
Bräuche, Sitten, Institutionen, Speisen usw. –, für die es im Rumänischen keine Entsprechung<br />
gibt, werden Erklärungen statt Äquivalente angegeben, z.B. Apfelpatzen 'g`lu[tele din aluat cu<br />
mere rase', Ausgedinge 'parte p`strat` de p`rin]i dup` ce [i-au cedat averea copiilor', Belangsendung<br />
'emisiune (radio/TV) difuzat` într-un spa]iu de emisie acordat gratuit unei forma]iuni<br />
politice, sindicale etc., de al c`rei con]inut r`spunde aceasta' usw.<br />
Von Fall zu Fall werden – nach einer Raute – auch idiomatische Wendungen angeführt, z.B.<br />
Bankerl b`ncu]` # ein ~ reißen a da ortul popii.<br />
Am Ende einer Lemmabeschreibung wird in runden Klammern nach der Abkürzung Germ für<br />
'Germania' die bundesdeutsche Entsprechung angegeben, zumal der rumänische Deutschlerner<br />
heutzutage eher am Bundesdeutschen orientiert ist, aus Gründen, deren Aufzählung den Rahmen<br />
des heutigen Beitrags sprengen würde. Wo das nicht der Fall sein kann, weil es nämlich<br />
keine bundesdeutsche Entsprechung für das betreffende Stichwort gibt, steht in Klammern<br />
nach der Abkürzung Expl für 'explica]ie' eine Erklärung:<br />
Beispiel 1: Bankomat (Germ Geldautomat, Bankautomat)<br />
Beispiel 2: Burenwurst (Expl grobe Brühwurst)<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen<br />
Varietäten. Berlin/New York.<br />
2. Ammon, Ulrich (1998): "Plurinationalität oder Pluriarealität? Begriffliche und terminologische Präzisierungsvorschläge<br />
zur Plurizentrizität des Deutschen - mit einem Ausblick auf ein Wörterbuchprojekt." In: Deutsche Sprache<br />
in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Peter Ernst und Franz Patocka.<br />
Wien, S. 313-322.<br />
3. Kelp, Helmut (1982–1984): Lexikalische Besonderheiten unserer deutschen Schriftsprache. 50 Zeitungsartikel im<br />
Neuen Weg, Bukarest, zwischen 6.2.1982 und 8.12.1984.<br />
4. Moser, Hugo (1985): Die Entwicklung der deutschen Sprache seit 1945. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte<br />
der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. Band 2.<br />
Berlin/New York. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2), S. 1678-1707.<br />
5. Zehetner, Ludwig (²1998): Bairisches Deutsch. Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern. München.<br />
521
DIE PERZEPTION DER DIGLOSSIE VON IMMIGRANTEN<br />
in deutschsprachigen Ländern am Beispiel der Arabophonen<br />
in Österreich<br />
Agata S. Nalborczyk<br />
Einleitung<br />
In den letzten Jahrzehnten verließen immer mehr Menschen ihre Heimatländer und<br />
siedelten sich in anderen Staaten an. Am meisten wanderten und wandern sie aus Asien und<br />
Afrika nach Europa und Amerika aus. Viele von diesen Immigranten wählen die deutschsprachigen<br />
Länder als neue Wohnorte. Im Jahre 2001 gab es beispielsweise in Deutschland 7,81<br />
Millionen Ausländer, was 9,5% der ganzen Bevölkerung (82 Millionen) ausmacht 1 . Der<br />
Imigrationsstrom fließt natürlich auch in Richtung Österreich, wo im Jahre 2001 die Ausländer<br />
9,1% der ganzen Bevölkerung ausmachten 2 .<br />
Arabische Diglossie<br />
Unter den Immigranten in Österreich befinden sich auch Araber: Sie bilden eine Gruppe von<br />
mehr als 20.000 Personen. Die Arabophonen-Immigranten stammen aus den arabischsprachigen<br />
Gemeinschaften, deren soziolinguistische Situation sich durch klassische, d.h. sogenannte<br />
scharfe Diglossie charakterisiert. Der Begriff 'Diglossie' wurde von Charles A. Ferguson<br />
(1959) definiert: 3<br />
DIGLOSSIA is a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of<br />
the language (which may include a standard or regional standards), there is a very divergent, highly<br />
codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and<br />
respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community,<br />
which is learned largely by formal education and is used for most written and formal spoken<br />
purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation.<br />
Ch. A. Ferguson verwendete für diese zwei Sprachvarietäten die Bezeichnungen 'high<br />
variety' (H) und 'low variety' (L). Die L-Variante/n herrscht/en weitaus im mündlichen Sprachgebrauch,<br />
die H-Variante weitaus im schriftlichen. Kinder erlernen von ihren Eltern nur die L-<br />
Variante - sie ist ihre Erstsprache, die H-Variante muss erst in der Schule gelernt werden. Die<br />
H-Variante verfügt zwar über eine Fülle an angesehener geschriebener Literaturzeugnisse wird<br />
aber mündlich nie in der Familie oder im Bekanntenkreis verwendet.<br />
Grammatik und Wortschatz der beiden Sprachformen weisen Unterschiede auf. Bei den L-<br />
und H-Varianten handelt es sich um Sprachformen, die von den Mitgliedern der betreffenden<br />
1<br />
Statistisches Jahrbuch 2002, http://www.destatis.de/allg/d/veroe/proser217_d.htm, file stjb2_pdf, 12.10.2002 10:40,<br />
Statistisches Bundesamt http://www.destatis.de.<br />
2<br />
Statistische Nachrichten – Februar 2002, http://www2.statistik.gv.at/fachbereich_15/heft1.shtml, 5.10.02, 11:35.<br />
3 Ch. A. Ferguson, Diglossia, “Word” 15:2, 1959, 325-340, 336.
Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern<br />
Sprachgemeinschaft zu derselben “Sprache“ zugerechnet werden, d.h. um Sprachformen, die<br />
dem gleichen Diasystem zugeschrieben werden.<br />
Die Diglossie herrscht im arabischen Sprachraum, wie Ch. A. Ferguson schreibt, “as far back<br />
as our knowledge of Arabic goes”. 4 Die arabischen Dialekte (und das gesprochene Arabisch der<br />
Gebildeten – ESA 5 ) gehören zu den L-Varianten (oder zu dem L-Diasystem), die arabische<br />
Standardsprache bildet die H-Variante. Anzumerken ist, dass die arabischen Dialekte heute von<br />
vielen Wissenschaftlern aufgrund anderer Herkunft und ihrer Unterschiede zum Standardarabisch<br />
als eine andere Sprache betrachtet werden. Das Neuarabische (die Dialekte und ESA)<br />
hat einen analytischen Charakter, das Standardarabische dagegen einen synthetischen<br />
Charakter. 6<br />
Aber wegen eines großen Anteils an Analphabeten beherrscht nur ein Teil der Bevölkerung<br />
aktiv die arabische Standardsprache überhaupt. 7 Doch die Mehrheit der Mitglieder der<br />
arabischen Sprachgemeinschaften besityen eine passive Kompetenz (die Möglichkeit zu verstehen).<br />
8<br />
Österreichisch-deutsche Diglossie<br />
Seit einigen Jahren findet der Begriff 'Diglossie' durch die Arbeiten von J. A. Fishman 9 in<br />
einem größeren Umfang Anwendung, dass heißt, er wird auch auf Sprachrelationen bezogen,<br />
die Ch. A. Ferguson als 'Standard-und-Dialekte' 10 beschrieben hat. Zu solchen Sprachrelationen<br />
zählt man, außer der Schweiz (die schon von Ferguson als klassische Diglossie klassifiziert<br />
wurde) die Standard-Dialekt-Relationen im deutschsprachigen Raum. In der einschlägigen<br />
Fachliteratur wird solche soziolinguistiche Situation als Diglossie bezeichnet.<br />
Die sprachsoziologische Situation in Österreich charakterisiert sich ebenso wie in den<br />
anderen deutschsprachigen Ländern dadurch, dass die Mitglieder der Sprachgemeinschaft,<br />
einschließlich der Immigranten, differenzierte Sprachformen in verschiedenen Sprachsituationen<br />
und sozialen Kontexten verwenden: Hochdeutsch (Standardsprache), Umgangssprache,<br />
Dialekt. Obwohl es aber viele Ähnlichkeiten zwischen der arabischen und der<br />
4 Ferguson, 326-327.<br />
5 T. F. Mitchell, Soziolinguistische und stilistische Aspekte des gesprochenen Arabisch der Gebildeten in Ägypten und<br />
der Levante, Berlin 1984.<br />
6 O. Jastrow, Die Struktur des Neuarabischen, in: W. Fischer (Hrsg.), Grundriß der arabischen Philologie, T. 1, Sprach-<br />
wissenschaft, Wiesbaden 1982, 141ff.<br />
7 H. Wehr, Entwicklung und traditionelle Pflege der arabischen Schriftsprache in der Gegenwart, ZDMG 97 (N.F. 22),<br />
1946, 32; W. Diem, Hochsprache und Dialekt im Arabischen, Wiesbaden 1974, 87; A.S. Kaye, Remarks on diglossia in<br />
Arabic. Well-defined vs. ill-defined, “Linguistics. An International Revue” 81, 1972, 52.<br />
8 Wehr, 32.<br />
9 J. A. Fishman, Bilingualism with or without diglossia. Diglossia with or without bilingualism, “Journal of Social Issues”<br />
23:2, 1967, S. 29-38; J. A. Fishman, The sociology of language…, 226-299 und Societal bilingualism: stable and transitional,<br />
in: J. A. Fishman, Language in sociocultural change, Stanford University Press, Stanford, California 1972, 135-<br />
152.<br />
10 W. Besch, Entstehung und Ausprägung der binnensprachlichen Diglossie im Deutschen, in: W. Besch (Hrsg.) Dialektologie.<br />
Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, de Gruyter, Berlin / New York 1983 – Handbücher<br />
zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 2., 1399-1411; U. Ammon, Die deutsche Sprache in Deutschland,<br />
Österreich und der Schweiz: das Problem der nationalen Varietäten, Berlin / New York 1995.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
523
524<br />
Agata S. Nalborczyk<br />
deutschen-österreichi-schen Diglossie gibt, 11 erkennt man zugleich einen großen Unterschied<br />
zwischen der arabischen und der deutschen/österreichischen Sprachsituation.<br />
Der wichtigste Unterschied zwischen der klassischen, stabilen und der weiten, unstabilen<br />
Diglossie besteht darin, dass es Mitglieder der Sprachgemeinschaft in der weiten Diglossiesituation<br />
gibt, die die Standardsprache als ihre erste Sprache von den Eltern erlernen (höhere<br />
Sozialschichten) und dass es keine scharfe Grenzen zwischen den funktionalen Domänen der<br />
einzelnen Sprachvarianten gibt. 12 Die Aufwertung und der zunehmende Gebrauch der Umgangsprache<br />
vor allem in den mittleren Gesellschaftsschichten der städtischen Bereiche und ihre Stellung als Bindeglied<br />
zwischen dem Dialekt und der Standardsprache bilden die charakteristischen Merkmale der österreichischen<br />
(und allgemein der süddeutschen) Sprachsituation. 13<br />
In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass es nach Meinung einiger Forscher d in<br />
Österreich keine Diglossie gibt, sondern dass die Sprachformen ein Kontinuum bilden, weil sie<br />
nicht voneinander getrennte Systeme, sondern Inventare von Varianten sind, zwischen denen<br />
permanente Interferenzen bestehen. 14<br />
Aber für einen Ausländer, der in Österreich lebt, ist es vor allem wichtig, dass manche Mitglieder der<br />
Sprachgemeinschaft andere Sprachvarianten verwenden als jene, die während des Sprachkurses gelernt<br />
wird. Darüber hinaus gilt es, dass sie nicht alle Varianten verstehen können.<br />
Umfrage<br />
Erkennt man die Unterschiede zwischen der arabischen und der österrichisch-deutschen<br />
Sprachsituation, erscheint es als äußerst interessant, der Frage nachzugehen, wie die<br />
Arabophonen-Immigranten, die aus der klassischen Diglossiesituation stammen, die österreichische,<br />
unstabile Diglossie beurteilen. Ist oder war das Vorhandensein der verschiedenen<br />
österreichischen, deutschen Sprachformen eine Schwierigkeit für sie? Bemerken sie Unterschiede<br />
zwischen der arabischen und der deutschen Diglossie?<br />
Im Jahre 2000 wurde von mir eine mikrosoziolingusitische 15 Umfrage bei einer Gruppe von<br />
Arabophonen, die seit längerer Zeit in Österreich leben, durchgeführt. Als Informanten wurden<br />
11<br />
A. S. Nalborczyk, the similarities and commonalities in the sociolinguistic situation of the Arabic and German language<br />
areas, “TRANS” 14, 2003, http://www.inst.at/trans/14Nr/.<br />
12<br />
Andere Unterschiede: ebd.; M. H. Ibrahim, Linguistic distance and literacy in Arabic, “Journal of Pragmatics”, 7:5,<br />
1983, 509; P. Wiesinger, Standardsprache und Mundarten in Österreich, in: G. Stickel (Hrsg.), Deutsche Gegenwartssprache.<br />
Tendenzen und Perspektiven, Berlin / New York 1990, 228-229.<br />
13<br />
P. Wiesinger, Die deutsche Sprache in Österreich. Eine Einführung, in: P. Wiesinger (Hrsg.), Das österreichische<br />
Deutsch, Wien / Köln / Graz 1988, 9-30.<br />
14<br />
z. B. I. Reiffenstein, Sprachebenen und Sprachwandel in österreichischen Deutsch der Gegenwart, in: H. Kolb, H.<br />
Lauffer (Hrsg), Sprachliche Interferenz, Festschrift für Werner Betz zum 65. Geburtstag, Tübingen 1977, 175-183; und<br />
I. Reiffenstein, Deutsch in Österreich, in: I. Reiffenstein, H. Rupp (Hrsg.) Tendenzen, Formen und Strukturen der<br />
Deutschen Standardsprache nach 1945, Marburg 1983, 15-27.<br />
15<br />
Die mikrosoziolinguistiche Umfrage ermittelt keine statistischen, quantitativen Ergebnisse, sondern qualitative; P.<br />
Atteslander, Befragung, in: U. Ammon, N. Dittmar, K. J. Mattheier (Hrsg.), Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch<br />
zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, Berlin / New York 1988 - Handbücher zur Sprach- und<br />
Kommunikationswissenschaft, 3:2, 945-946; N. Dittmar, Quantitative – qualitative Methoden, in: Sozioliguistik:<br />
Handbuch, 3:2, 879. Die Mikrosoziolinguistik untersucht die Verwendung von gegebenen/konkreten Sprachvarianten<br />
(in Abhängigkeit von den soziologischen Variablen wie z.B. Alter, Generation, Geschlecht), Erwerbung und Veränderung<br />
von der Sprachkompetenz, Spracheinstellungen usw.; J. A. Fishman, Domains and relations between microand<br />
macrosociolinguistics, in: J. J. Gumperz, D. Hymes (Hrsg.), Directions in sociolinguistics, the ethnography of<br />
communication, New York / Chicago 1972, 435-453.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern<br />
Araber gewählt, die Hochdeutsch recht gut beherrschten, so dass sie nicht nur Fragen der Umfrage<br />
verstehen konnten, sondern auch imstande wären, die sprachsoziologische Situation in<br />
Österreich zu beurteilen. Mit meiner Umfrage wollte ich aber vor allem prüfen, ob die arabische<br />
Diglossie der Grund dafür sein könnte, dass die arabischen Immigranten in der zweiten, dritten<br />
Generation ihre Muttersprache verlieren würden.<br />
1. Zum Bild der österreichischen Diglossie bei den Arabophonen-Immigranten<br />
Die Arabophonen, die Informanten meiner Umfrage, waren sich in der Regel des Vorhandenseins<br />
der Diglossie in den arabischen Ländern bewusst, obwohl manche von ihnen, insbesondere<br />
die Ungebildeten, beim Erkennen und Bezeichnen der jeweils in einer Sprachsituation<br />
gesprochenen arabischen Sprachvariante Schwierigkeiten hatten.<br />
Die Diglossie in Österreich beurteilten sie im allgemeinen als normale Sprachsituation. Fast<br />
alle Informanten dachten, dass das Vorhandensein von mehr als einer Sprachvariante in der<br />
gegebenen Sprachgemeinschaft allgemein ist. Einige von ihnen waren sogar erstaunt darüber,<br />
dass in der Umfrage überhaupt danach gefragt wurde. Sie wunderten sich über meine Beschreibung<br />
der polnischen Sprachsituation, wo es keine Diglossie gibt: die Polen benutzen<br />
dieselbe Sprachvariante, wenn sie schreiben und reden, und in den offiziellen und unoffiziellen<br />
Sprachsituationen.<br />
Zwei Informanten beurteilten aber die Diglossiesituation in Österreich aus ästhetischen<br />
Gründen als nicht normal: ihrer Meinung nach ist es “unschön“, wenn die österreichische L-<br />
Variante benutzt wird. 16<br />
Auf die Frage, ob sich die Informanten des Vorhandenseins der Diglossie in Österreich vor<br />
ihrer Ankunft in dieses Land bewusst waren, antworteten alle, dass sie sich dessen nicht<br />
bewusst gewesen seien. In ihrer Antwort begründeten sie diesen Umstand dadurch, dass sie<br />
darüber einfach nicht nachgedacht hatten. Es fällt auf, dass eine solche Antwort auch zwei<br />
andere Informanten gaben, die als einzige von der ganzen Gruppe noch vor ihrer Ankunft in<br />
Österreich ihr Deutsch (gut) gelernt hatten. Darüber hinaus wurde vermerkt, dass der Vater des<br />
einen von den beiden Informanten in der DDR studiert, dem Sohn jedoch über die deutsche<br />
diglossische Situation und ihre Folgen nichts erzählt habe. Dies ist meiner Meinung nach<br />
darauf zurückzuführen, dass das Vorhandensein der Diglossie für die Arabophonen eine normale<br />
Situation ist, und dass sie deswegen darin keinen Anlass zur weiteren Diskussion erblicken.<br />
Die nächste Frage betraf das Problem, ob das Vorhandensein von mehreren Sprachformen in<br />
Österreich den Arabophonen Schwierigkeiten bereiten oder nicht. Von 21 Informanten stellten<br />
9 sofort fest, dass das Vorhandensein einer L-Variante neben dem Hochdeutschen (das sie in<br />
den Sprachkursen erlernt haben) am Anfang ihres Aufenthaltes in Österreich zu Verständigungsschwierigkeiten,<br />
insbesondere im Umgang mit den ungebildeten Österreichern,<br />
führte.<br />
Ein Student gab folgendes Beispiel: immer wenn er Bratwurst kaufte, fragte ihn der Verkäufer<br />
im Wienerischen Dialekt: “Einpacken oder gleich essen?“. Der Student (der schon in<br />
Libanon Deutsch gelernt hatte) wurde nervös, weil er die Frage nicht richtig verstehen konnte<br />
und antwortete immer: “Beides“ - er stellte sich vor, die Frage bezihe sich darauf, ob er Senf<br />
16 Beide von ihnen waren Frauen und ihre Antworten waren immer sehr emotionell, also auf das Gefühl bezogen.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
525
Agata S. Nalborczyk<br />
oder Ketchup nehmen wollte. Einige von den Informanten erwähnten auch, dass sie sich aufgeregt<br />
hatten, wenn sie nicht weiter verstanden haben. In solchen Situationen (meistes bei<br />
dem Einkaufen, in einer Reparaturwerkstatt oder im Autoservice) haben sie immer mit “Ja!“<br />
geantwortet.<br />
12 Informanten, die die Antwort gebene haben, dass das Vorhandensein von mehreren<br />
Sprachformen ihnen keine Schwierigkeiten bietent, lebten schon seit langem (15-20 Jahren) in<br />
Österreich. 8 von ihnen fügten jedoch nach einer längeren Überlegung hinzu, dass diese<br />
Situation ihnen zwar in ihrer Gegenwart keinerlei Schwierigkeiten mehr bereite, dass sie jedoch<br />
am Anfang ihres Aufenthaltes im neuen Land, in Österreich die L-Varianten überhaupt nicht<br />
verstehen konnten.<br />
Aus der Umfrage läßt sich schließen, dass die Mehrheit von den Arabophonen-Informanten<br />
(15 von 21) in der Verständigung mit den Österreichern Schwierigkeiten haben, obwohl sie die<br />
Diglossiesituation in Österreich als normale Sprachsituation beurteilten. Für einen Teil von<br />
ihnen stellt die Diglossie immer noch ein Problem dar.<br />
2. Spracheinstellungen der Arabophonen zu der L-Variante der deutschen Sprache in<br />
Österreich<br />
Die meisten von den Informanten haben ihr Deutsch in den Sprachkursen gelernt und beherrschten<br />
also die deutsche/en L-Variante/en nicht. Sie hatten, wie ausgeführt, Schwierigkeiten<br />
beim Verstehen dieser Sprachformen. Nur wenige, und zwar diejenigen, die seit mehr als<br />
20 Jahren in Österreich leben und dazu noch eine/en ÖsterreicherIn als Ehepartner haben, sind<br />
imstande, diese Sprachvariante zu sprechen.<br />
Eine andere Frage betraf das Problem, ob es den Informanten gefällt, wenn Österreicher<br />
ihre L-Variante benutzen. 8 Informanten beantworteten, dass dies ihnen gefalle, andere 7<br />
wiederum knüpften ihre Antwort an die Sprachsituation an. Einer von ihnen sagte:<br />
526<br />
Es gefällt mir, wenn sich jemand in dieser Sprachform nicht an mich wendet, wenn er aber zu mir in<br />
dieser Sprachform spricht, gefällt es mir nicht.<br />
Meiner Meinung nach soll man diese Antwort folgendermaßen verstehen, dass es ihm nämlich<br />
immer noch Schwierigkeiten bereitet, die österreichischen L-Varianten zu verstehen.<br />
Andere Informanten brachten dasselbe noch deutlicher zum Ausdruck:<br />
Es gefällt mir, wenn ich verstehe; wenn ich aber nicht verstehe, gefällt es mir nicht, wenn jemand<br />
diese Sprachform benutzt.<br />
6 Informanten hatten eine negative Haltung zu der/den L-Variante/en und ihrer Verwendung<br />
im Gespräch. Sie äußerten sich folgendermaßen:<br />
Das ist eine vulgäre Sprache, die nur in einem Heurigen gut klingt; Das ist eine ordinäre Sprache,<br />
die Sprache der Ungebildeten.<br />
Einer von meinen Informanten, der keinen Deutschkurs besucht hatte und die ganze Zeit die<br />
österreichische L-Variante (Umgangssprache) benutzte, äußerte sich auch in diesem Sinne.<br />
8 Informanten gestanden ihre negative Einstellung zu den österreichischen L-Varianten in<br />
den Massenmedien, erstaunlicherweise waren sie nicht dieselben, die eine solche Haltung zu<br />
diesen Sprachformen im Gespräch hatten.<br />
Alle Informanten bekundeten aber ihre positive Einstellung zu der Verwendung der<br />
arabischen L-Variante/en im Gespräch und in den Massenmedien und knüpften die Benutzung<br />
dieser Sprachformen nicht an die Bildung des Sprechers an. Die Beurteilung der Verwendung<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern<br />
der deutschen L-Varianten war demzufolge keinesfall einhellig. Aufgrund dieser Umfrage läßt<br />
sich also behaupten, dass die Arabophonen-Immigranten die deutsche Sprache schneller gelernt<br />
haben als die Nuancen der sprachsoziologischen Situation, obwohl intuitiv manche von<br />
ihnen diese Situation gut beschreiben konnten.<br />
3. Bewusstsein von den Unterschieden zwischen der arabischen und österreichischen<br />
Diglossie<br />
Die meisten Informanten (14) bemerken keine Unterschiede zwischen der arabischen und<br />
österreichischen Diglossie, sie antworteten: „Man benutzt in Österreich die H- und L-Varianten<br />
in denselben Situationen und Kontexten wie im arabischsprachigen Gebiet“. Aber 8 von ihnen<br />
ergänzten nach längerer Überlegung und nach meinen zusätzlichen Fragen, dass jedoch in<br />
Österreich die Hochsprache mehr als in den arabischen Ländern gesprochen werde. Die anderen<br />
(7) bemerkten diesen Unterschied schneller.<br />
Obwohl die Informanten meistens keine Unterschiede zwischen der arabischen und österreichischen<br />
Diglossie wahrnahmen, beantworteten sie intuitiv die Frage nach der Sprache in der<br />
Schule wiederum richtig. Für die deutsche Schule wählten sie Hochdeutsch als Instrument der<br />
Kommunikation zwischen dem Lehrer und den Schülern. Sie waren sich dessen bewusst, dass<br />
sowohl der Lehrer als auch die Schüler meistens imstande sind, diese Sprache im Gespräch zu<br />
benutzten. Für die arabische Schule wählten sie häufig die L-Variante, weil es für sie klar war,<br />
dass weder der Lehrer noch die Schüler sehr oft imstande sind, arabische H-Variante problemlos<br />
zu verwenden.<br />
Zusammenfassung<br />
Die meisten Arabophonen sind sich der Unterschiede zwischen der arabischen und der<br />
österreichischen Diglossie nicht bewusst, sie denken, dass man in Österreich die L-Variante/en<br />
in denselben Situationen und Kontexten benutzt. Manchmal dient aber die arabische,<br />
manchmal jedoch die österreichische Sprachsituation als Muster. Intuitiv aber, wenn sie auf<br />
Einzelheiten eingehen, spüren sie die realen Sprachrelationen heraus. Aus der Umfrage läßt sich<br />
also schließen, dass die Arabophonen-Immigranten die deutsche Sprache schneller gelernt<br />
haben als die Nuancen der sprachsoziologischen Situation.<br />
Obwohl die Immigranten aus den arabischen Ländern die österreichisch-deutsche Diglossie<br />
als normale Sprachsituation beurteilen, weil sie in einer anderen, arabischen Diglossiesituation<br />
gewachsen sind, bereitet sie der Mehrheit von ihnen Schwierigkeiten bei der Verständigung mit<br />
den Österreichern. Allgemein bekunden sie ihre positive Einstellung zu der L-Variante, dennoch<br />
gibt es ein unabdingbares Erfordernis, eine reale Bedingung: Sie müssen nämlich alle Sprachformen<br />
aus dem Sprachrepertoire der neuen Gemeinschaft verstehen.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
527
f o r u m<br />
SONDERASPEKTE VERBALER<br />
KOMMUNIKATION<br />
Zum Zum Geleit<br />
Geleit<br />
Kommunikation ist keinesfalls eine Erfindung der modernen Gesellschaft, doch wäre die Existenz der<br />
Gesellschaft ohne sie nicht zu denken, denn<br />
⇒ Kommunikation führt zusammen, sie ermöglicht die Bildung von Gemeinschaften;<br />
⇒ Kommunikation hält zusammen, sie ist die erste Bedingung für das Bestehen der Gemeinschaften;<br />
⇒ Kommunikation lässt wachsen, sie ermöglicht wichtige Schritte in der Entwicklung der Gemeinschaften.<br />
Die Gesprächsanalyse untersucht die Bedingungen, unter denen sich Kommunikation entwickelt,<br />
welche Regeln man in der sprachlich-sozialen Interaktion befolgt, wie man sich zu verhalten hat, wenn<br />
man erfolgreich kooperieren will, welche Mittel Gesprächspartner einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. In<br />
ihrem Vorgehen fügen sich die Mitglieder der Sprachgemeinschaft - wenn sie sich in Gesprächen als<br />
Interaktionspartner gegenüberstehen - den allgemein geltenden Konventionen.<br />
Um diese Tatsachen wissenschaftlich angemessen zu beschreiben, müssen alle Faktoren, die auf den<br />
Kommunikationsakt Einfluss ausüben, wahrgenommen und ihrer Bedeutung nach hierarchisiert werden.<br />
Der Analytiker wird durch die Wiederholbarkeit aller Einflussfaktoren dank gleichen Parametern und ihrer<br />
Messbarkeit an präzisen Maßstäben unterstützt.<br />
Wie hat man aber zu verfahren, wenn die Komplexität des untersuchten Sachverhaltes auch eine ununterbrochene<br />
Veränderbarkeit und eine Vielfalt der Gestaltungsformen aufweist? Am Raster der Beschreibung<br />
von Gesprächen werden Regularitäten und Ähnlichkeiten erkannt, Bedingungen für die Einschätzung<br />
von Erwartungen sowohl beim Sprecher als auch beim Hörer, verschiedene Strategien, die zum<br />
erstrebten Ziel führen sollen. Trotzdem bewährt sich auch die Annahme, die kommunikativen Akte seien<br />
eher wahre Kunstwerke zwischenmenschlicher Beziehungen mit eigener Persönlichkeit. Dabei kann nie<br />
vorausgesehen werden, wie die Kommunikationspartner mit den ihnen zur Verfügung stehenden (sprachlichen,<br />
parasprachlichen und aussersprachlichen) Mitteln umgehen werden, um ihr Ziel zu erreichen. Ein<br />
Faktor ist dabei ausschlaggebend: die Emotionen, die jedes menschliche Handeln (folglich auch die<br />
Kommunikation) begleiten und entscheidend beeinflussen.<br />
In den Beiträgen auf dem im Rahmen des VI. Kongresses der Germanisten Rumäniens in Sibiu/<br />
Hermannstadt eingerichteten Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation wurden einige Aspekte der<br />
vielfältigen Formen zwischenmenschlicher Kommunikation mit ihren Besonderheiten im Einsatz von<br />
Kommunikationsmitteln zur Diskussion gestellt. Einige Beiträge dieses Forums legen wir hiermit vor.<br />
Doina Doina Doina Sandu<br />
Sandu
ASPEKTE DER KOMMUNIKATION<br />
in den internationalen Verhandlungen<br />
Florentina Alexandru<br />
International verhandeln<br />
Das Schlagwort der modernen Wirtschaft ist die Globalisierung. Das bedeutet in erster Linie<br />
die Erweiterung des Spielfeldes aller wirtschaftlichen Tätigkeiten. Die Unternehmen beschränken<br />
ihre Beziehungen nicht mehr nur auf das Inland, sondern sie überschreiten ihre<br />
nationalen Grenzen, um nach Partnern, Arbeitskräften, Finanzquellen zu suchen, um neue<br />
Märkte zu erschließen. Das Ziel aller Unternehmen bleibt aber weiterhin die Maximierung des<br />
Gewinns durch die Minimierung der Kosten 1 . In dem neuen internationalen Kontext können<br />
aber eben diese Kosten so hoch werden, dass sie die Globalisierung erschweren oder sogar zum<br />
Scheitern dieses Prozesses führen können. Vor allem stehen die Führungskräfte jetzt vor neuen<br />
Anforderungen, zu deren wichtigsten die Fähigkeit zählt, überall in dieser Welt erfolgreich<br />
verhandeln zu können, d.h. das zu erreichen, was man sich vorgenommen hat. Die internationalen<br />
Verhandlungen setzen solche Kommunikationsformen voraus, die eine so weit wie<br />
möglich reibungslose Abwicklung der Geschäfte ermöglichen.<br />
Der Wechsel vom heimischen auf das internationale Spielfeld bringt sehr viele Veränderungen<br />
mit sich, vor allem in dem Verhalten und in dem Kommunikationsprozess der Geschäftsleute.<br />
Das Problem liegt in der Betrachtungsweise dieses neuen komplexen Kommunikationsnetzes.<br />
Manche Unterhändler betrachten die internationalen Geschäftsbeziehungen als ein<br />
unbekanntes Handlungsfeld, wo fremde Kulturen, Sprachen, Mentalitäten und Traditionen die<br />
Verhandlungen riskant und sogar unmöglich machen. Andere Firmenvertreter setzen die internationalen<br />
mit den heimischen Transaktionen gleich, ohne daran zu denken, dass es manche<br />
Faktoren gibt, die diese beiden Verhandlungsformen radikal voneinander unterscheiden. Jeder<br />
Verhandlungsprozess ist anders und verläuft unter unterschiedlichen Bedingungen, die die<br />
Verhandlungsweisen prägen. Deswegen gibt es kein Rezept, keine festen Regeln, die die Unterhändler<br />
erfolgreich machen können. Der Erfolg jeder Verhandlung hängt von dem Geschick<br />
jedes Verhandlers ab, diejenigen Faktoren, die den Kommunikationsprozess entscheidend beeinflussen<br />
können, rechtzeitig zu identifizieren, zu bewerten und zu interpretiren.<br />
Die kulturelle Heterogenität der Interaktanten im internationalen Kommunikationsprozess<br />
Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen versuchen sich an der Definition des Begriffs<br />
der interkulturellen Kommunikation 2 , ohne dass aber die beiden Bestandteile, Kultur und<br />
Kommunikation, bis jetzt erschöpfend definiert werden zu können. Die Kultur ist ein komplexes<br />
System mit mehreren sich überschneidenden Strukturebenen, ein historisch überliefertes<br />
System von Symbolen und Bedeutungen, die eine bestimmte Mobilität, Funktion und<br />
1 Dazu zählen auch die Ausbildungskosten, die für die interkulturellen Trainings erheblich hoch sein können. Deswegen<br />
verzichten viele Unternehmen darauf. So ist der Fall in den meisten ehemaligen kommunistischen Ländern aus Europa.<br />
2 Vgl. Harms 1973, Prosser 1978, Maletzke 1984, Rehbein 1985, Knapp / Knapp-Potthoff 1990, Hinnenkamp 1990,<br />
Gudykunst / Kim 1992.
530<br />
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru<br />
Adaptationsfähigkeit aufweisen. Das führt zu einer Dynamik und Durchlässigkeit des ganzen<br />
kulturellen Systems, welches ständig unter dem Druck der externen Einflussfaktoren, aber auch<br />
der internen veränderlichen Größen steht.<br />
Die interkulturelle Perspektive setzt einen erweiterten Kulturbegriff voraus. Unter Kultur<br />
versteht man nicht nur den geteilten Wissensvorrat der Kulturteilnehmer, “aus dem sich<br />
Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in der Welt verständigen, mit Interpretationen<br />
versorgen” 3 , so dass sie innerhalb und außerhalb des eigenen kulturellen Systems<br />
angemessen handeln und kommunizieren können. Die Kultur umfasst auch das, was dem alltäglichen<br />
Wirklichkeitsbereich angehört: Werte, Normen, Einstellungen, Stereotype, Verhaltensweisen,<br />
Bräuche, Sitten, Gewohnheiten. Die Kultur ist also nicht nur das Schöne und das<br />
Erhabene, sondern auch die Lebenskultur, d.h. ein Verhaltens und Handlungsmuster, nach dem<br />
sich die Kulturteilnehmer in ihrem Alltagsleben richten. Die Kultur spielt die Rolle eines<br />
Orientierungssystems, das zum einen das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln der<br />
Kulturteilnehmer beeinflußt, und zum anderen ihre Zugehörigkeit zu einer Nation, Gesellschaft,<br />
Gruppe oder Organisation bestimmt.<br />
Die Struktur eines Orientierungssystems ist auf bestimmte Maßstäbe angewiesen. Diese<br />
Orientierungsmaßstäbe ermöglichen den Kulturteilnehmern ihre Umwelt zu bewältigen. In<br />
fremden kulturellen Kontexten greifen die Kulturmitglieder immer auf ihre vertrauten<br />
Orientierungssysteme und vor allem auf ihre typischen zentralen Kulturstandards 4 zurück,<br />
damit sie leichter die potentiell konflikthafte interkulturelle interpersonale Begegnung überwinden<br />
und sich der neuen Situation anpassen können. Die Interaktionsprobleme nehmen<br />
immer zu, wenn die Interaktanten, ausgehend von einer scheinbaren Identität von Kulturen, ein<br />
hohes Maß an Ähnlichkeit im Denken, Interpretieren und Handeln erwarten, aber große Unterschiede<br />
erfahren. Wie die Kulturen gegeneinander abgegrenzt werden können, ist eine Frage,<br />
die in den meisten theoretischen Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation zur Diskussion 5<br />
kommt, und die letzten Endes nicht beantwortet wird. Abgrenzungskriterien wie Staatsgrenzen,<br />
Nationalität, gemeinsamer relativ homogener Wissensvorrat, Sprachgemeinschaft können<br />
Kultursysteme nicht genügend voneinander unterscheiden.<br />
Jedes Individuum, das einem Kultursystem angehört, verfügt aufgrund seiner eigenen und<br />
der tradierten Erfahrungen und infolge der Interaktionen in Gruppen, Gesellschaften und<br />
Organisationen über eine eigene Art, die Umwelt wahrzunehmen, sie zu interpretieren und zu<br />
kategorisieren und entsprechend der Situation angemessen zu handeln. Das erklärt die Heterogenität<br />
innerhalb desselben Kultursystems. Der Grad der Heterogenität hängt von der<br />
kommunikativen Kompetenz des Individuums ab. Je besser man diese Fähigkeit ausdrücken<br />
kann, desto größer wird der Grad der Heterogenität. Die individuellen kommunikativen Fähigkeiten<br />
können je nach den Forderungen des Systems funktional oder disfunktional sein. Man<br />
unterscheidet drei Kompetenzstufen:<br />
⇒ eine minimale Kompetenz (Die kommunikativen Fähigkeiten des Individuums sind geringer<br />
als diejenigen, die von einem bestimmten System verlangt werden. Solche Personen befinden<br />
sich außerhalb des sozialen Systems und sie können nicht einmal innerhalb des<br />
Systems angemessen handeln und kommunizieren.)<br />
3<br />
Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt am Main, S.209.<br />
4<br />
Die Kulturteilnehmer betrachten die Kulturstandards als Richtlinien des Handelns. Für eine Kultur sind sie typisch und<br />
verbindlich (vgl. Thomas, A. 1991).<br />
5<br />
Vgl. Goodenough 1971, Gumperz 1977, Galtung 1985, Knapp / Knapp-Potthoff 1990, Knapp 1992, Müller 1991,<br />
Loenhoff 1992, Hofstede 1993.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen<br />
⇒ eine zufriedenstellende Kompetenz (Das Individuum ist im System gut verankert, es ist gut<br />
sozialisiert, es kann leicht innerhalb des Systems, aber nicht außerhalb dessen, handeln<br />
und kommunizieren.)<br />
⇒ eine optimale Kompetenz (Die kommunikativen Fähigkeiten des Individuums sind sehr<br />
umfangreich. Das Individuum handelt und kommuniziert leicht innerhalb und außerhalb<br />
des Systems abhängig von seinen Absichten.)<br />
In den theoretischen und empirischen Studien über internationales Verhandeln wird immer<br />
auf kulturelle Unterschiede als das größte Hindernis in der Abwicklung der Auslandsgeschäfte<br />
hingewiesen. Kulturelle Unterschiede sind sicherlich ein wichtiges Element bei internationalen<br />
Verhandlungen, aber sie sind nicht der einzige Faktor. Jede Verhandlung wird von einer Unzahl<br />
verschiedener Faktoren auf viele verschiedene Weisen geprägt.<br />
Kultur und Wirtschaft gehören auf den ersten Blick nicht zusammen. In unserem Denken ist<br />
die Kultur gewöhnlich das Gegenteil der Wirtschaft. Die beiden Systeme stehen sozusagen<br />
diametral zueinander. Trotzdem sind alle, die in dem Wirtschaftsbereich tätig sind, zunächst<br />
Kulturträger eines kulturellen Systems, dem sie im Prinzip von Geburt angehören. Ihre arbeitsbezogenen<br />
Grundeinstellungen werden von bestimmten Werten beeinflußt, die für einen<br />
Kulturkreis kennzeichnend sind. Hofstede unterscheidet vier sozialpsychologische Dimensionen,<br />
die allen Kulturen gemeinsam seien 6 : Distanz zu bzw. Abhängigkeit von Autoritäten,<br />
Individualismus bzw. Kollektivismus, Maskulinität bzw. Feminität und Ambiguitätstoleranz bzw.<br />
Unsicherheitsvermeidung. Die Werte, die als Grundlage dieser Dimensionen zu betrachten sind,<br />
und ihre Ausdrucksweisen, wie z. B. Kommunikationsstrategien, Gesprächsverhalten, Verhandlungsstil,<br />
unterscheiden die Kulturen voneinander.<br />
In interkulturellen Begegnungen benötigen die Interaktanten ein umfangreicheres Wissen<br />
über die kulturelle Abhängigkeit von Verhaltens-, Handelns- und Kommunikationsstrategien, so<br />
dass sie die kulturell bedingten Abweichungen rechtzeitig erkennen und verarbeiten können.<br />
Die möglichen Abweichungen weisen offensichtlich auf die Heterogenität der Interaktanten<br />
hin. Der Grad der Heterogenität nimmt zu, wenn die Interaktanten aus ganz entgegengesetzten<br />
Kultursystemen kommen, d.h., dass die grundlegenden Werte der schon genannten sozialpsychologischen<br />
Dimensionen im Gegensatz zueinander stehen.<br />
Andere Faktoren, die den Kommunikationsprozess in interkulturellen Begegnungen bestimmen<br />
und zur Heterogenität der Interaktanten beitragen, sind: die Zugehörigkeit zu einer<br />
Hoch- oder Niedrig-Kontext-Kultur 7 und das Zeitverständnis. Diese Faktoren beziehen sich auf<br />
ganz wichtige Aspekte des Alltagslebens wie Klarheit und Präzision (Hoch-Kontext-Kulturen)<br />
bzw. Ambiguität im sprachlichen Ausdruck (Niedrig-Kontext-Kulturen), Lebensrhythmus und<br />
Handlungsorganisation. Die letzten zwei Aspekte hängen von dem linearen oder monochronen<br />
und von dem zirkulären oder polychronen Zeitkonzept der Interaktanten ab.<br />
Die Berufstätigen einer Nation sind durch die Ausübung ihrer Berufe Mitglieder unterschiedlicher<br />
Organisationen. Jede Organisation verfügt über bestimmte Praktiken 8 , die ihre<br />
eigene Kultur definieren und die die Unternehmen voneinander unterscheiden. Die Kulturteilnehmer<br />
eines bestimmten Kultursystems besitzen einen gemeinsamen, relativ homogenen<br />
6 Obwohl Hofstedes Studie sehr umfangreich ist und eine beeindruckende Datenbasis anbietet, sind die Ergebnisse, vor<br />
allem für die Länder, die nicht in die Forschung einbezogen wurden, nur teilweise relevant. Gemeint sind hier die<br />
europäischen Länder des ehemaligen Ostblocks, die mehrere politische und wirtschaftliche Umwandlungen nur in dem<br />
letzten Jahrhundert erlebt haben. Das hatte und hat noch offensichtlich Auswirkungen auf die Wertesysteme und<br />
implizit auf die soziopsychologischen Dimensionen dieser Kulturen.<br />
7 Vgl. Hall 1976.<br />
8 Vgl. Hofstede 1993.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
531
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru<br />
Wissensvorrat und ein typisches, für jeweilige Kultur allgemeingültiges Wertesystem. Das<br />
bringen die Berufstätigen in die Organisation mit. Mit dem Eintritt in einen Beruf müssen sie<br />
aber auch die Elemente der Unternehmenskultur, also die Praktiken, übernehmen. Die Berufstätigen<br />
sind also auf der Makroebene die Mitglieder einer Kultur und auf der Mikroebene die<br />
Mitglieder einer Organisationskultur.<br />
Die verschiedenen Strukturmodelle 9 der Organisationen erklären die Verhaltens-, Handelns-<br />
und Kommunikationsstrategien innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Bis vor kurzem<br />
konnte man noch von homogenen Organisationen sprechen, die durch bestimmte Verhaltenserwartungen<br />
ein Klima des Vertrauens erzeugten. Das erleichterte natürlich in der ersten Linie<br />
die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der Organisation. Unter den Globalisierungsbedingungen<br />
kann man aber von einer solchen Stabilität nicht mehr sprechen. Bei den multinationalen<br />
Organisationen, die in mehreren Kulturräumen aktiv sind und mit einer Vielfalt von<br />
Wertesystemen konfrontiert werden, ist die Homogenität keine Voraussetzung mehr. Der Grad<br />
der Heterogenität hängt von dem Gleichgewicht von Identität und Differenz innerhalb einer<br />
multinationalen Organisation ab.<br />
Die Interkultur als Verbindungsfläche in internationalen Begegnungen<br />
Die Globalisierung ist ohne internationale Kommunikation kaum denkbar. Die internationale<br />
Kommunikation ist heutzutage zur Voraussetzung wirtschaftlichen Erfolgs geworden. Jeder<br />
Kommunikationsprozess beruht auf dem schon klassisch gewordenen linearen<br />
Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver, das einen Sender und einen Empfänger,<br />
einen Enkodierungs- und einen Dekodierungsprozess, eine Nachricht und eine potentielle Störquelle<br />
umfasst. Der Prozess ist nur von dem Sender gesteuert, er ist also einseitig. Das bildet<br />
nur das Gerüst der Kommunikation, denn der Kommunikationsprozess ist viel komplexer.<br />
Die Verhandlung ist die direkte, face-to-face Begegnung zwischen zwei Parteien, die ein<br />
bestimmtes Ziel erreichen möchten.Wir sprechen hier von einer zweiseitigen interpersonalen<br />
arbeitsbezogenen Kommunikation. Die Interaktanten spielen die Rollen des Senders und des<br />
Empfängers, aber die Rollen sind nicht fest, sie haben eine Dynamik, weil die Kommunikationsbeteiligten<br />
diese Rollen ständig wechseln können. Die Themen der Geschäftsgespräche beziehen<br />
sich auf den Arbeitsprozess einer Organisation und deswegen betrachtet man auch die<br />
Kommunikation als arbeitsbezogen.<br />
Als interkulturelle Kommunikation bezeichnet man hier die interpersonale Interaktion<br />
zwischen Angehörigen verschiedener Kultur- und Sprachräume. Damit sie sich verständigen<br />
können, muss zumindest einer von denen eine Fremdsprache sprechen, oder beide müssen sich<br />
einer lingua franca bedienen.<br />
Als Vertreter einer Kultur werden die Interaktanten ihre sozialen Identitäten gegenüber den<br />
personalen hervorheben. Die interkulturelle Kommunikation im wirtschaftlichen Bereich erfordert<br />
ein genaueres Eingehen auf die Arbeitsmethoden, Denk- und Handlungsweisen und<br />
Lebensgewohnheiten der Partner. Das Profil der Unterhändler, die in verschiedenen Kulturräumen<br />
tätig sind, umfasst folgende Komponente:<br />
⇒ fachliche Kompetenz im Bereich der Wirtschaft<br />
⇒ interpersonale Kompetenz (Die Fähigkeit der Interaktanten den interpersonalen<br />
Kommunikationsprozess in einer bestimmten Kommunikationssituation erfolgreich zu<br />
führen.)<br />
9 Ausgehend von den soziokulturellen Dimensionen Machtdistanz und Unsicherheitsvermeidung unterscheidet Hofstede<br />
vier Strukturmodelle: die Pyramide, die gut geölte Maschine, die Familie und den Wochenmarkt.<br />
532<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen<br />
⇒ kommunikative Kompetenz (Hier geht es zum einen um die persönlichen Eigenschaften,<br />
wie Flexibilität, Leistungsbereitschaft, Verhandlungsgeschick, Überzeugungskraft, Teamfähigkeit,<br />
und zum anderen um die Fähigkeit Verhandlungen erfolgreich auch in anderen<br />
Sprachen zu führen.)<br />
⇒ interkulturelle Kompetenz (Die Fähigkeit die kulturellen Ähnlichkeiten und die Differenzen<br />
in internationalen Begegnungen zu erkennen und anhand der Interkultur die richtigen<br />
Kommunikationsstrategien auszuwählen, damit die Ziele der Verhandlung erreicht werden<br />
können.).<br />
Im Folgenden soll versucht werden, ein interkulturelles Kommunikationsmodell in internationalen<br />
Verhandlungen zu beschreiben und graphisch zu veranschaulichen (Abb. 1). Der<br />
Ausgangspunkt dieses Kommunikationsmodells ist die interpersonale arbeitsbezogene Kommunikation,<br />
die zwischen Angehörigen verschiedener Kulturräume stattfindet, die also als interkulturell<br />
definiert werden kann. Berücksichtigt werden nur die direkten Interaktionen zwischen<br />
den Vertretern verschiedener Organisationen der Weltwirtschaft. Die Kommunikationspartner<br />
haben unterschiedliche Muttersprachen, so dass sie als Verkehrssprache entweder eine Fremdsprache<br />
oder eine lingua franca benutzen müssen. In dem ersten Fall ist die Kommunikation<br />
asymmetrisch, weil einer der Interaktanten über die Vorteile der Muttersprache verfügt. In dem<br />
zweiten Fall kann man die Kommunikation als symmetrisch bezeichnen, weil die ausgewählte<br />
Verkehrssprache eine Fremdsprache für alle Interaktanten ist. Diese Symmetrie hängt mit dem<br />
Grad des Beherrschens der Fremdsprache zusammen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Fähigkeit<br />
der Interaktanten ihre Fachsprachkenntnisse mittels einer Fremdsprache zu übertragen.<br />
Jeder Kommunikationsprozess verläuft unter bestimmten Bedingungen, die von verschiedenen<br />
Faktoren beeinflußt werden. Diese Faktoren prägen sowohl die Enkodierungs- als<br />
auch die Dekodierungsprozesse der Interaktanten und wirken sich auch auf ihren Verhandlungsstil<br />
aus. Diese Einflussfaktoren bilden ein System mit drei Ebenen, die in Beziehung<br />
zueinander stehen. Die untere Ebene oder die Tiefenstruktur des Systems umfasst diejenigen<br />
Faktoren, die für eine bestimmte Kultur kennzeichnend sind und die die Entfaltung eines<br />
Individuums prägen. Die Elemente einer Kultur werden von den Individuen erlernt und im<br />
Prozess der Sozialisation internalisiert. In Anlehnung an dem Kommunikationsmodell von<br />
Gudykunst und Kim 10 entsprechen diese grundlegenden Faktoren den vier Filtern 11 : dem<br />
kulturellen (dazu gehören Werte, Normen, Regeln, kognitive Schemas, Handlungsmuster) dem<br />
soziokulturellen (es geht um die soziale Identität der Interaktanten und um die Dimensionen<br />
Machtdistanz, Individualismus / Kollektivismus, Feminität / Maskulinität, Unsicherheitsvermeidung),<br />
dem psycho-kulturellen (dazu gehören Einstellungen, Vorurteile, Stereotype) und<br />
dem situativen (der physischen Umwelt). Die Organisationskultur bildet die mittlere Ebene des<br />
Systems. Die corporate culture, definiert als “die kollektive Programmierung des Geistes” 12<br />
innerhalb einer Organisation, unterscheidet die Belegschaften der Unternehmen voneinander.<br />
Die Mitglieder jeder Organisation besitzen ein gemeinsames Wissen über die Arbeits- und<br />
Leistungsmentalität, über Praktiken, wie Konventionen, Gewohnheiten, Bräuche, Traditionen,<br />
Rituale, Symbole, die zum einen die Identität eines Unternehmens ausmachen, und zum<br />
anderen die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern, mit den Führungskräften und mit<br />
anderen Organisationen ermöglichen.<br />
Die Kultur einer Organisation steht unter dem Einfluss interner und externer Faktoren.<br />
Machtdistanz und Unsicherheitsvermeidung sind z. B. externe Faktoren, die die Struktur einer<br />
Organisation und die Beziehungen zwischen den Mitgliedern zueinander bestimmen. Die<br />
internen und externen Kommunikationsprozesse einer Organisation werden aber vor allem von<br />
den wirtschaftlichen Faktoren geprägt. Es geht um die wirtschaftlichen Ziele, um das Interesse<br />
10 Es geht um das Organisationsmodell “Communicating with strangers”.<br />
11 “Mechanismus that delimit the number of alternatives from which we chose when we decode and encode messages”<br />
Gudykunst / Kim 1992: Communicating with Strangers, S.32.<br />
12 Hofstede, G. (1993): Interkulturelle Zusammenarbeit, S.204.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
533
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru<br />
an Mitarbeitern und an Kunden, um den Grad der Durchlässigkeit des Systems, um Gewinn und<br />
Kosten. Die Durchsetzung und die Anerkennung der Kultur einer Organisation hängt von ihrer<br />
wirtschaftlichen Kraft ab. Je stabiler ihre Lage in der National- und Weltwirtschaft ist, desto<br />
dauerhafter ist auch ihre Kultur. Die Lebensdauer einer Organisation kann kürzer oder länger<br />
sein, abhängig von dem wirtschaftlichen Kontext. Für viele Organisationen, die eine längere<br />
Stabilität aufweisen, ist ihre eigene Kultur schon ein Kennzeichen geworden, an dem man sie<br />
auf allen Märkten erkennen kann.<br />
534<br />
Organisationskultur<br />
AA<br />
Arbeits-<br />
mentalität<br />
Symbole,<br />
Rituale<br />
Traditio<br />
Abb. 1 / Fortsetzung nächste Seite./<br />
S<br />
physische Umwelt<br />
Ort – Zeit – Klima – Landschaft<br />
Interaktion<br />
Arbeitsbezogene<br />
Kommunikation<br />
Nachricht<br />
Übertragungsmedium<br />
Fremdsprache<br />
Fachsprache<br />
Verbindungsfläche<br />
situative, fluide, temporäre<br />
Interkultur<br />
Nachricht<br />
Interaktion<br />
interpersonale Kommunikation<br />
Organisationskultur<br />
B<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
E<br />
Arbeitsmentalität<br />
Symbole,<br />
Rituale<br />
Traditi
Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen<br />
Tiefenstruktur<br />
kognitive Schemas<br />
Handlungsmuster<br />
Werte, Normen, Regeln<br />
soziokulturelle Dimensionen<br />
soziale Identität<br />
relative Homogenität<br />
Abb. 1<br />
Wegen der politischen und wirtschaftlichen Umwandlungen sind die Organisationen und<br />
implizit ihre Kulturen nur relativ stabil. Die Organisationskultur bildet eine Art Oberflächenstruktur<br />
in diesem Kommunikationsmodell, weil die physische Umwelt die beiden Ebenen umfasst.<br />
Die gepunkteten Linien des Parallelogramms weisen auf die Durchlässigkeit der<br />
Organisationskultur hin. Das Profil der Organisationskultur ändert sich immer nach den Anforderungen<br />
der wirtschaftlichen Kontexte. Die Mitglieder einer Organisation übernehmen und<br />
internalisieren die Elemente der Organisationskultur, aber als ihre Kulturträger betrachtet man<br />
sie nur während der Zeit, in der sie Arbeitsplätze in der jeweiligen Organisation belegen. Der<br />
Wechsel des Arbeitsplatzes bedeutet auch das Eingliedern in eine neue Organisationskultur. Die<br />
physische Umwelt bildet die obere Ebene des Systems, die sich über die beiden anderen spannt.<br />
Verhandlungen finden in einer spezifischen Umwelt statt und die Elemente dieses Umfelds –<br />
Ort, Zeit, Klima, Landschaft – können den Verlauf der Gespräche nachhaltig beeinflussen.<br />
Fremde Umgebungen lösen immer Angst aus. Wenn die Unterschiede zwischen der heimischen<br />
und der fremden Umwelt, wo der Verhandlungsort sich befindet, sehr groß sind, kann der<br />
Kulturschock bis zum Scheitern der Verhandlungen führen. Die situativen Faktoren wirken in<br />
gleichem Maße sowohl auf die Landeskultur als auch auf die Organisationskultur.<br />
In dem Kommunikationsprozess zwischen Interaktanten aus mehr oder weniger unterschiedlichen<br />
Kulturräumen entsteht eine Verbindungsfläche, die Interkultur, ohne die die Verständigung<br />
nicht möglich wäre. Die entstehende Interkultur ist situativ, fluid und temporär. Die<br />
drei Merkmale kennzeichnen die internationalen Verhandlungsgespräche. Der wichtigste Bestimmungsfaktor<br />
der Interkultur ist der Verhandlungsort. Abhängig davon wählen die Interaktanten<br />
die zur Kommunikationssituation passenden kulturellen, soziokulturellen und psychokulturellen<br />
Elemente, die eine reibungslose Abwicklung der Gespräche ermöglichen. Mit dem<br />
Wechsel des Verhandlungsortes ändern sich auch die situativen Bedingungen.<br />
Die Interkultur als offenes System weist einen hohen Grad an Durchlässigkeit auf. Die Bestandteile<br />
des Systems variieren nach dem situativen Kontext, so dass manche Elemente, die<br />
für bestimmte Kommunikationssituationen notwendig sind, können sich in anderen Situationen<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
H<br />
E<br />
T<br />
E<br />
R<br />
O<br />
G<br />
E<br />
N<br />
I<br />
T<br />
Ä<br />
T<br />
Tiefenstruktur<br />
kognitive Schemas<br />
Handlungsmuster<br />
Werte, Normen, Regeln<br />
soziokulturelle<br />
Dimensionen<br />
soziale Identität<br />
relative Homogenität<br />
535
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru<br />
nicht nur als unbrauchbar, sondern auch als schädlich für die Ergebnisse des Kommunikationsprozesses<br />
erweisen. Diese hohe Mobilität des Systems erschwert natürlich die Kommunikation.<br />
Eine wichtige Rolle kommt hier der richtigen Interpretation und Bewertung der<br />
Kommunikationssituation zu.<br />
Internationale Transaktionen nehmen in der Regel viel Zeit in Anspruch. Diese Zeitspanne,<br />
die man benötigt, um zu einem Abschluss zu kommen, bedeutet hohe Kosten, Geduld seitens<br />
der beiden Parteien und Vorbereitungen. Im Verhältnis zu der gesamten Dauer einer Transaktion<br />
sind die Verhandlungsgespräche, also die direkten Interaktionen, sehr kurz. Sie können<br />
höchstens paar Stunden dauern. Die Interkultur ist temporär, weil sie ihre Funktion nur in<br />
dieser Zeit, wenn die direkte Interaktion stattfindet, erfüllt. Werden die Gespräche abgeschlossen,<br />
schaltet jeder Interaktant sofort auf die eigene Kultur. Die Beendigung der Verhandlungen<br />
oder das Abbrechen der Beziehungen zu den Partnern aus einem bestimmten<br />
Kulturraum bedeutet, dass auch die entstandene Interkultur als Pufferzone zwischen den verschiedenen<br />
Kulturen nicht mehr als Kommunikationsinstrument benötigt wird. Die Interkultur<br />
ist also ein temporäres Kommunikationsmittel.<br />
Zusammenfassung<br />
Das kommunikative Verhalten eines Kommunikators hängt – ob im intra- oder interkulturellen<br />
Kontext – prinzipiell von dem Rezipienten und von der Situation ab. Die für die<br />
Abwicklung des Kommunikationsprozesses nötigen Eigenschaften und Fähigkeiten variieren<br />
nicht nur von Kultursystem zu Kultursystem, sondern auch von Situation zu Situation und von<br />
Rezipient zu Rezipient. Alle diese Faktoren bestimmen den Grad der Heterogenität der Interaktanten<br />
sowohl in intra- als auch in interkulturellen Begegnungen. Die wichtigste Voraussetzung<br />
einer erfolgreichen Kommunikation ist eben die Homogenität der Beteiligten, d.h. in<br />
erster Linie das a-priori vorhandene Wissen, die Erwartungen, Einstellungen und Verhaltensweisen,<br />
die von den Interaktanten mitgebracht und geteilt werden. Als kleinster gemeinsamer<br />
Nenner könnte also festgehalten werden, dass eine gewisse Homogenität der Eigenschaften<br />
und Fähigkeiten der Interaktanten erfolgsversprechend sein kann. Die Frage ist, inwieweit die<br />
Interkultur, als Pufferzone zwischen unterschiedlichen Kulturen, den Interaktanten die<br />
Kommunikation erleichtern kann. Anhand der Angleichungs- und Adaptationsmechanismen, die<br />
Hauptbedingungen der Interkultur sind, könnten sich die Interaktanten als homogener wahrnehmen,<br />
was natürlich zu einer besseren Bewältigung der Kommunikatiossituation, sei es im<br />
alltäglichen oder beruflichen Leben, führen kann.<br />
536<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Galtung, Johann(1985): Struktur, Kultur und intellektueller Stil. In: Wierlacher, A. (Hg.): Das Fremde und das<br />
Eigene. München, 151-193.<br />
2. Goodenough, Ward H.(1971): Culture, language and society. Reading, Mass.<br />
3. Gudykunst, William B. / Kim, Y. Y.(1992): Communicating with Strangers, 2. Aufl., New York.<br />
4. Gumperz, John J.(1977): The Conversational Analysis of Interethnic Communication. In: Ross, E. L. (Hg.):<br />
Interethnic Communication. University of Georgia Press.<br />
5. Hall, E. T.(1976): Beyond Culture. New York: Doubleday.<br />
6. Harms, Leroy S.( 1973): Intercultural Communication. New York: Harper & Row.<br />
7. Hinnenkamp, Volker(1990): Wieviel und was ist “kulturell” in der interkulturellen Kommunikation? Fragen und<br />
Überblick. In: Spillner, Bernd (Hg.): Interkulturelle Kommunikation. Kongreßbeiträge zur 20. Jahrestagung der Gesellschaft<br />
für Angewandte Linguistik GAL e. V. Frankfurt am Main, 46-52.<br />
8. Hofstede, Geert(1993): Interkulturelle Zusammenarbeit, Wiesbaden: Gabler.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen<br />
9. Knapp, Karlfried / Knapp –Potthoff, Annelie(1990): Interkulturelle Kommunikation. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung<br />
1, 62-93.<br />
10. Knapp, Karlfried(1992): Interpersonale und interkulturelle Kommunikation. In: Bergemann / Sourrisseaux (Hg.):<br />
Interkulturelles Management, Heidelberg, 59-80.<br />
11. Loenhoff, J.(1992): Interkulturelle Verständigung, Opladen.<br />
12. Maletzke, Gerhard(1984): Interkulturelle und internationale Kommunikation – Vorschläge für Forschung und<br />
Lehre. In: Bausteine zur Kommunikationswissenschaft 1949-1984 Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess, 169-<br />
178.<br />
13. Müller, Bernd-Dietrich (Hg.) (1991): Interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Studium Deutsch als Fremdsprache<br />
– Sprachdidaktik 9, München: Iudicium.<br />
14. Prosser, Michael H.(1978): The Cultural Dialogue. An Introduction to Intercultural Communication. Boston:<br />
Houghton – Mifflin.<br />
15. Rehbein, Jochen(1985): Einführung in die interkulturelle Kommunikation. In: Rehbein, J. (Hg.): Interkulturelle<br />
Kommunikation. Tübingen: Narr, 7-39.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
537
VERBALE STRATEGIEN IN MÜNDLICHEN PRÜFUNGEN<br />
Ioana Ioana Hermine Hermine Hermine Fierbin]eanu Fierbin]eanu<br />
Fierbin]eanu<br />
In der vorliegenden Arbeit gehe ich davon aus, daß während der Prüfungsdiskurse beim<br />
Kandidaten ein Wissensdefizit auftreten kann, den dieser zu verbergen versucht. Es gilt die Anwesenheit<br />
der Fragen, innerhalb des Fragen-Antwort-Musters, die beim Prüfer und beim Prüfling<br />
auftreten, zu überprüfen und die Formulierungstätigkeit der Kommunikationsteilnehmer.<br />
Diskursart: Prüfungsdiskurs<br />
Prüfungsdiskurse sind die mündlichen Prüfungen an der Hochschule in Deutschland, die es<br />
dem Hochschulabsolventen erlauben, seinen M.A. zu machen. Diskurs wird von Hoffmann<br />
1997:161 wie folgt definiert:<br />
Unter einem Diskurs verstehen wir diejenige mündliche Form sprachlicher Kommunikation, die an<br />
das Hier und Jetzt der aktuellen Sprechsituation, an Ko-Präsenz und Handlungskoordination von<br />
Sprecher(n) und Hörer(n) gebunden ist.<br />
An dem Prüfungsdiskurs nimmt der Prüfer - ein Hochschulprofessor - der Agent der Institution,<br />
der über das nötige Institutionswissen verfügt, und der jeweilige Prüfling - als Klient der<br />
Institution teil. Sie erfüllen die Bedingung der zeitlichen und räumlichen Kopräsenz und der<br />
Handlungskoordination, das beide Kommunikationsteilhaber aktiv sind. Der Prüfer ist bereit,<br />
den Wissensstand des Kandidaten zu überprüfen, und der Prüfling seinerseits möchte, daß sein<br />
Wissen geprüft und bewertet wird, um seinen Hochschulabschluß machen zu können. Prüfungsdiskurse<br />
sind komplexe sprachliche Handlungsmuster, die sich schon lange in der Gesellschaft<br />
eingebürgert haben. Sprachliche Handlungsmuster sind:<br />
eine spezifische Zweck-Mittel-Konfiguration, an die sich Sprecher orientieren können, um eine bestehende<br />
Wissens- und Situationskonstellation über kooperative Handlungsschritte in gewünschter<br />
Weise zu transformieren. Zu den Mitteln gehört das Gesagte (Diktum) mit den Formeigenschaften<br />
der Äußerung und ihrem propositionalen Gehalt, nonverbale Mittel können hinzukommen. Die<br />
Zwecke sind interaktionsgeschichtlich standardisiert, ohne daß dieser Vorgang abgeschlossen oder<br />
abschließbar wäre; einige sind universal in Handlungsmuster umgesetzt. Komplexe sprachliche<br />
Handlungsmuster werden als Text-/-Diskursarten realisiert. (Hoffmann, 1997: 101)<br />
Der Zweck der Prüfungsdiskurse ist die Präsentation des fachlichen Wissens durch den Kandidaten,<br />
das im Laufe des Studiums erworben und durch eingehende Vorbereitung für die Prüfung<br />
vorbereitet wurde. In den pädagogischen Institutionen - den Hochschulen - finden Prüfungsdiskurse<br />
statt, durch die der Wissensstand der Kandidaten überprüft werden kann. Die<br />
Prüfung bietet den Kandidaten die Möglichkeit ihr Wissen, die erlernte Wissenschaftssprache,<br />
die Aneignung von Verfahren wissenschaftlicher Diskursproduktion, die Wissensverarbeitung<br />
und die Fähigkeit alle Kenntnisse zu verbinden, zu beweisen.
Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen<br />
Was die Mittel betrifft, wird das Gesagte transkribiert und auf die Formeigenschaften und<br />
den propositionalen Gehalt eingegangen. Im Falle des Prüfungsdiskurses tritt beispielsweise das<br />
Frage-Antwort-Muster. Die mündliche Prüfung dauert an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät<br />
im Hauptfach 60 Minuten und im Nebenfach eine halbe Stunde. Als Vorbereitung gilt der<br />
Vorschlag des Kandidaten, was Themen und Bibliographie betrifft, die von einem Ausschuß<br />
zugelassen werden müssen. Für die Prüfungsdiskurse hat der Prüfling Texte, die Bibliographie<br />
vorbereitet aus deren Gesamtenge er das Wesentliche herausnimmt, um es mündlich zu präsentieren.<br />
Dadurch findet ein Filtern, eine Reduktion und eine Textverflechtung statt, die zu<br />
dem Entstehen einer Prüfungsdiskurses beiträgt.<br />
Das Handlungsmuster Frage-Antwort im Prüfungsdiskurs<br />
Die Wissensdarstellung des Kandidaten erfolgt durch das Handlungsmuster Frage-Antwort.<br />
Der Prüfer formuliert Fragen, damit der Kandidat ein bestimmtes Thema behandeln soll. Wenn<br />
die Darstellung nicht die erwünschte ist, treten detaillierte Fragen oder Stützfragen auf, durch<br />
die der Prüfer den Kandidaten anleitet oder ihm seine Hilfe bietet. Es können aber Fragen beim<br />
Kandidaten auftreten, ihre Anwesenheit und Form soll untersucht werden. Das Handlungsmuster<br />
Frage-Antwort wird von dem Prüfer eingesetzt um Regie-bzw. Examensfragen zu<br />
formulieren. Die Fragen gelten als Regiefragen, da der Prüfer selbst nicht über eine Wissenslücke,<br />
wie im Normalfall - dem Zweckbereich-Wissenstransfer - verfügt, die beseitigt werden<br />
soll.<br />
Wie aus dem Frage-Antwort-Handlungsmuster erfolgt, ist der Ausgangspunkt, das der<br />
Nichtwissende eine Wissenslücke bei sich entdeckt. Diese muß er formulieren und an einen<br />
geeigneten potenziellen Antwortenden richten. Der Hörer führt einen mentalen Suchprozeß<br />
aus, indem er sein Wissen auf geeignete Elemente hin befragt. Findet er solche, äußert er sic als<br />
Antwort auf die Frage, wenn nicht, kann er schweigen oder ein Nichtwissen mitteilen. Der<br />
Fragende überprüft, ob die Antwort sein Wissensdefizit zufriedenstellend behebt und kann dies<br />
im positiven Fall einer Rückbestätigung bekannt geben, im negativen Fall bleibt sein Wissensdefizit<br />
bestehen und er kann zu einer Wiederholung der Frage an einen Mitaktanten gehen oder<br />
reformulieren. Im Fall der Prüfungsdiskurse umreißt der Prüfer nicht seine Wissenslücke,<br />
sondern das vom Kandidaten zu behandelnde Thema. Seine Frage ist eine Examens und Regiefrage,<br />
bei der kein Wissenstransfer, sondern eine Wissensüberprüfung stattfindet, da er selbst<br />
über das Wissen, das er überprüfen und bewerten soll, bereits verfügt. Bei der Regiefrage besteht<br />
an der Oberfläche kein Unterschied zur W-Frage / Ergänzungsfrage oder zu den ob-<br />
Fragesätzen. Auf diese wäre die „ja“- Antwort pragmatisch unangemessen, da die Frage auf<br />
Momente des Handlungsprozesses zielt und zur Realisierung der Regiefrage (Ehlich/Rehbein<br />
1986: 66) beiträgt. Auf die Regiefrage oder die Aufforderung des Prüfers reagiert der Prüfling<br />
mit einer Antwort, die durch eine Assertion oder Assertionsverkettung realisiert wird, die zur<br />
Entstehung des Diskurses beiträgt.<br />
Handlungstheoretisch differenzieren Ehlich / Rehbein (1983: 12) in ihrem Grundmodell drei<br />
Typen von Wirklichkeit: die außersprachliche (P), die mentale (π) (d.h. die Widerspiegelung von<br />
P im Kopf vom Sprecher (πS) und im Kopf vom Hörer (πH) und die sprachliche Wirklichkeit. Ob<br />
die mentale Wirklichkeit bei Prüfer und Kandidat übereinstimmt, gilt innerhalb der mündlichen<br />
Prüfung festzustellen.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
539
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Ioana Hermine Fierbin]eanu<br />
Zum Korpus allgemein<br />
Meine Analyse der mündliche Kommunikation in Prüfungen stützt sich auf ein Korpus, das<br />
zu diesem Zweck erstellt wurde. Die Aufnahmen stammen aus dem Bereich Geisteswissenschaften.<br />
Ich nahm Kontakt mit dem Prüfen und erhielt die Zusage zur Aufnahme währen der<br />
mündlichen Prüfungen. Bei der Prüfung wahren: der Prüfer, der Kandidat, der Protokollant und<br />
ich anwesend. Die Kandidaten wurden über den Zweck der Aufnahmen informiert und um ihr<br />
Einverständnis gebeten, um keinen Anlaß zum Rechtsverstoß zu bieten.<br />
540<br />
Prüfungsdiskurs: Wissensdefizit beim Kandidaten<br />
T – Turn<br />
K – Kandidat<br />
P – Prüfer<br />
T1P: Gibt es ein Suffix, das nur aus einem Vokal besteht im Deutschen?<br />
T2K: Ja, nämlich das “e” z.B.<br />
T3P: Nur aus einem Vokal?<br />
T4K: “e” ist ja ein Vokal<br />
T5P: “E” haben sie gesagt? Ich hab “g∂” verstanden. Ja, “∂ “ meinen Sie, nicht? Also in “Gebirg∂“<br />
T6K: Nee, wie beim “Lehre”<br />
T7P: Lehr∂<br />
T8K: “e” ist ein Suffix dann<br />
T9P: Früher haben sie “e” gesagt. Hier verbirgt sich hinter dem Buchstaben “e” verbergen sich ja<br />
verschiedene<br />
K: hm<br />
T10:Vokalphoneme im Deutschen, das , manchmal paßt das e: Bei den Suffixen geht es konkret um<br />
das “∂“<br />
K: hm<br />
T11P: Ja, das “e” haben wir in “Frankfurter Sufflé”<br />
T12K: Ja, mhm<br />
T13: Aber ansonsten ist es das “∂“. Wie nennen wir diesen Vokal? Das “∂“? Ja, mit einem bestimmten<br />
Namen in der Linguistik?…äh...Weil es ganz besondere Stellung…<br />
T14K: Umlaut (zögernd)<br />
T15P: Nein, nein. Es ist kein Umlaut.<br />
T16K: Also, welches “∂“? Also O in Umlaut?<br />
T17P: Was haben Sie jetzt im äh … z.B….<br />
T18K: oder U-Umlaut, meinen Sie?<br />
T19P: Ich meine nicht das “ü” ich meine nicht das “ö”, ich meine dieses “∂“, was eben dieses Suffix<br />
ausmacht in: “Straß∂“. Wie heißt dieser Laut am Schluß?<br />
T20K: Ja, mhm… Nullmorphem?<br />
T21P: Nein, es ist ja / wird ja gesprochen. Straß∂, Hos∂, Dos∂, hm los∂…. Es ist das Schwa. Sind sie<br />
mal darauf gestoßen? Schwa? Offensichtlich nicht.<br />
T22K: Also, in dieser meiner Literatur nicht.<br />
T23P: In Ihrer Literatur… Das ist jetzt so zu sagen, eigentlich Grundstudium.<br />
T24K: Auch nicht aus dem Wortbildungsseminar, das wir gemacht haben.<br />
T25P: Ja, ja. Nein, da sind wir darauf nicht eingegangen.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen<br />
Im ausgewählten und transkribierten Beispiel handelt es sich um eine Prüfung im Nebenfach<br />
germanistische Sprachwissenschaft mit dem Thema: deutsche Wortbildung. Durch eine<br />
Aufforderung seitens des Prüfers hat der Kandidat sein Wissen zum Thema: Wortbildung zu<br />
präsentieren begonnen. Der Prüfer steuert die Handlung des Kandidaten, sein Initiativrecht ist<br />
begrenzt. Die Assertionskette kann durch Fragen seitens des Prüfers, der den Kandidaten lenken,<br />
anleiten möchte, um ihn von Ausschweifungen zu bewahren oder um auf Detailes einzugehen,<br />
unterbrochen werden.<br />
Das Beispiel beginnt mit einer Regiefrage, die die Form einer Ergänzungsfrage hat. Der<br />
Prüfer hat der Kandidaten aufgefordert über die morphematische Struktur der Lexeme in<br />
Deutschen zu sprechen. In dem behandelten Beispiel formuliert er eine Detailfrage, auf die der<br />
Kandidat eingeht. Der Diskurs dauert ca. 2 Minuten und stellt einen Fall dar, in dem der Kandidat<br />
sein Wissen zum Thema Wortbildung darstellt. Er behandelt komplexe Wortbildungsstrukturen<br />
– Komposita, Derivate und was die Ableitungen betrifft, verlangt der Prüfer, daß er<br />
auf die Struktur der Affixe eingeht. Daher stellt er die Frage, nach einem Suffix, das nur aus<br />
einem Vokal besteht.<br />
Die formulierte Frage seitens des Prüfers isr eine Regiefrage, eine typische Examensfrage,<br />
auf die der Kandidat mit „ja“ antwortet, pragmatisch unpassend, um dann gleich eine Antwort<br />
zu bieten: das „e“. In den folgenden Turns kommt es zu einem Mißverständnis, da der Prüfer<br />
den Prüfling akustisch nicht richtig wahrnimmt. Er wiederholt daher in T3 seine Frage, ob die<br />
Antwort des Kandidaten das Wort „ein Vokal“ enthält. Der Kandidat assertiert, daß „e“ ein Vokal<br />
ist, wobei der Prüfer das Mißverständnis klärt u.zw., daß er statt „e“ – „ge“ verstanden hat, um<br />
gleich mit einer Frage – einer Entscheidungsfrage, durch die er die Antwort suggeriert, fortzusetzen.<br />
Er bietet sogar ein Beispiel – Gebirge, er spricht den Auslaut korrekt aus, als Schwa-<br />
Laut, was die von ihm erwünschte Antwort darstellt.<br />
Durch die erfolgte Antwort verbessert der Kandidat den Prüfer, indem das Beispiel wiederholt<br />
wird, die Endsilbe aber phonetisch falsch ausgesprochen wird. Durch die in T1 formulierte<br />
Frage hat der Prüfer den Kandidaten bereits auf den Bereich Phonetik hingewiesen, das gebotene<br />
Beispiel sollte als Stütze gelten, jedoch bleibt der Kandidat beim Buchstaben „e“, ohne<br />
an die richtige Aussprache desselben in einer Endsilbe zu denken. Dadurch, daß der Kandidat<br />
auf die Aussprache „e“ statt „∂“ beharrt, erkennt der Prüfer den Wissensdefizit, versucht aber<br />
erneut den Kandidaten auf die von ihm erwünschte Antwort zu bringen. In T9 - T10 erklärt der<br />
Prüfer dem Kandidaten, daß hinter dem Buchstaben „e“ sich mehrere Vokalphoneme verbergen,<br />
er bietet dem Kandidaten dadurch eine weitere Hilfe an, die dieser nicht wahrnimmt. Durch die<br />
korrekte Aussprache „∂“ ergibt sich die Gelegenheit dem Kandidaten helfend entgegenzukommen,<br />
was in einer schriftlichen Prüfung ausgeschlossen wäre. Der Prüfer verlangt den Fachterminus<br />
in T13. Die darauffolgende Antwort in T14, als Assertion, wird als falsch zurückgewiesen.<br />
Während der Kandidat weiter überlegt, bringt der Prüfer Beispiele für die Vokalphoneme<br />
des Deutschen, um dann zu fragen, wie „∂“ mit einem Fachwort bezeichnet wird. In<br />
T14 versucht der Kandidat eine Antwort, die Stimme ist zögernd, die falsch ist, der Prüfer weist<br />
sie gleich als falsch zurück.<br />
Durch T16 formuliert der Kandidat zum ersten Mal eine Frage und zwar eine Ergänzungsfrage,<br />
die er selbst zu beantworten versucht, um sie dann doch in eine Frage , vom Tonhöhenverlauf<br />
her, zu verwandeln. Durch T17 versucht der Prüfer weitere Beispiele zu bringen,<br />
während er noch überlegt, folgt in T18 ein weiterer Versucht – eine fragende Antwort, da durch<br />
das „meinen Sie“ das an den Prüfer gerichtet ist, nach einer Präzisierung, der Proposition ver-<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
541
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Ioana Hermine Fierbin]eanu<br />
langt wird. Die ursprüngliche Assertion wird in eine Entscheidungsfrage transformiert. In T19<br />
findet die Präzisierung statt, der Kandidat nimmt zur Kenntnis, daß er keine richtige Antwort<br />
gegeben hat, er macht einen weiteren Versuch in T20, die Antwort erfolgt als Quästiv. In T21<br />
entscheidet sich der Prüfer den Wissensdefizit als solchen zu akzeptieren und die von ihm<br />
erwünschte Antwort zu bringen. In den darauffolgenden Turns (T22-T24) beantwortet der<br />
Kandidat die Frage (Entscheidungsfrage) des Prüfers, ob ihr der Fachterminus bekannt sein oder<br />
nicht u.zw. dadurch, daß derselbe in ihrer Literatur, die sie vorbereitet hat, nicht gewesen wäre,<br />
sehr höflich und hebt hervor, daß sie den Terminus auch nicht in dem Wortbildungsseminar,<br />
daß sie während des Studiums besucht hat, gehört hat. Durch den Turn 25 wird von dem Prüfer<br />
auf ein weitere Thema hingewiesen.<br />
Aus dem dargestellten Beispiel geht hervor, daß die Prüfungsdiskurse nicht immer „problemlos“<br />
verlaufen. Es treten Situationen auf, in denen bei den Kandidaten ein Wissensdefizit<br />
aufkommt, den diese nicht gleich zugeben, sondern zu verbergen versuchen. Der Prüfer handelt<br />
unterschiedlich. In dem von mir behandelten Beispiel bemüht sich der Prüfer, sobald er das<br />
Nichtwissen des Prüflings erkannt hat die Wissenslücke desselben durch helfende Fragen zu<br />
beheben. Zu einem Wissensdefizit, kommt es, wenn die mentale Wirklichkeit π des Prüfers und<br />
des Kandidaten nicht übereinstimmt. Theoretisch hat der Prüfling für die Themen, die er vorgeschlagen<br />
hat, Aufsätze und Bücher gelesen und verarbeitet. Diese sind dem Prüfling bekannt,<br />
daher sollte die mentale Wirklichkeit der beiden Aktanten die gleiche sein. Die Texte werden zu<br />
Diskursen von dem Kandidaten verarbeitet. Der Kandidat hat die Texte im Kopf aus deren<br />
Gesamtmenge er wissenschaftlich herausnimmt, um die entsprechende Fragen / Aufgaben<br />
beantworten bzw. erfüllen zu können. Eine Textverflechtung findet statt, die Texte werden<br />
reduziert und gefiltert und ein Diskurs entsteht, der die Beantwortung der Fragen des Prüfers<br />
darstellt.<br />
Aus dem Beispiel geht hervor, daß der Kandidat nicht nur Texte im Kopf hat, sondern auch<br />
Unterrichtsdiskurse, das Wissen, das er während des Studiums, beim Besuchen der Seminare<br />
und Vorlesungen sich angeeignet hat. Der Kandidat beantwortet die Fragen des Prüfers aufgrund<br />
einer Verflechtung von Texten und Unterrichtsdiskursen, dank des erworbenen Grundwissens,<br />
der Fähigkeit und Fertigkeit zu abstrahieren, zu filtern und zu reduzieren, die dazu<br />
beitragen, daß ein wissenschaftlicher Diskurs entsteht. Der Prüfer ist darum bemüht den Wissensdefizit<br />
des Kandidaten zu beheben, er formuliert Stützfragen, helfende Fragen, die seine<br />
Strategien darstellen, dadurch diese der Prüfer ein eigenes Ziel und zwar dem Kandidaten zu<br />
helfen, verfolgt und nicht einen Zweck. Zum Unterschied von dem Frage-Antwort-Muster, bei<br />
dem der Sprecher, sobald er eine Antwort nicht erhalten hat einen anderen Hörer aussucht, von<br />
dem er annimmt, daß er seine Fragen beantworten kann, versucht der Prüfer durch seine Examensfragen<br />
die Antwort von ein- und demselben Hörer, nämlich dem Kandidaten zu bekommen.<br />
Der Kandidat formuliert auch Fragen, zwar sind es Antworten, sie beginnen als Assertionen,<br />
werden in Entscheidungsfragen ungewandelt, durch die Struktur „meinen Sie“, mittels derer<br />
eine Präzisierung – ob die Antwort richtig oder falsch ist – verlangt wird. Es wird sowohl vom<br />
Prüfer als auch vom Kandidaten das Frage-Antwort-Muster initiiert, der Prüfer setzt es als eine<br />
Strategie ein, durch die er dem Kandidaten helfen kann sein Wissensdefizit zu beheben, dem<br />
Kandidaten dient es auch als Strategie durch die er von dem Prüfer erfährt, ob seine Antwort<br />
die erwünschte ist oder nicht.<br />
542<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen<br />
Schlußfolgerungen<br />
Durch das untersuchte Korpusbeispiel wollte ich überprüfen, was für Strategien die Kandidaten<br />
einer mündlichen Abschlußprüfung an der Hochschule in Deutschland und die Prüfer, die<br />
in solchen Prüfungen agieren einsetzen, ob sie das Frage-Antwort-Muster initiieren und welche<br />
Formulierungstätigkeit die beiden Kommunikationspartner eingehen. Die Anwesenheit des<br />
Frage-Antwort-Musters beim Prüfer wurde bestätigt, da dieser durch Regiefragen den Wissensstand<br />
des Prüflings überprüfen und bewerten soll. Indem er Stützfragen äußert, setzt er eine<br />
Strategie ein durch die er den Wissensdefizit des Kandidaten, den er sofort erkannt hat, beheben<br />
möchte. Das gleiche Muster wurde auf von dem Kandidaten initiiert, um durch die<br />
Struktur „meinen Sie“ die Präzisierung zu erhalten, ob seine Kenntnisse richtig oder falsch sind.<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Becker-Mrotzek, Michael (1989) Schüler erzählen aus ihrer Schulzeit. Eine diskursanalytische Untersuchung über<br />
das Institutionswissen. Frankfurt/Bern: Peter Lang<br />
2. Brünner, Gisela (1989) Intonation und Diskurs. In: Linguistische Studien 199. Reihe A (Berlin/DDR), S.233-244<br />
3. Cherubim, D./Henne, H./Rehbock, H. (Hgg.)(1987) Gespräche zwischen Alltag und Literatur. Beiträge zur<br />
germanistischen Gesprächs-forschung. Tübingen: Niemeyer<br />
4. Ehlich, Konrad (1992) Language in the Professions: Text und Discourse. In: Grindsted, A./Wagner, J. (Hgg.)(1992),<br />
S.9-29<br />
5. Ehlich, Konrad (Hg.)(1980) Erzählen im Alltag. Frankfurt: Suhrkamp<br />
6. Ehlich, Konrad/Wagner, Klaus R. (Hgg.)(1989) Erzählerwerb. Frankfurt/Bern: Peter Lang<br />
7. Ehlich, Konrad/Rehbein, J.(1986)Muster und Institution.Untersuchungen zur schulischen Kommunikation.Tübingen:Narr<br />
8. Fritjof, Werner (Hg.)(1983) Gesprächsverhalten von Frauen und Männern. Frankfurt/Bern: Peter Lang<br />
9. Grindsted, Annette/Wagner, Johannes (Hgg.)(1992) Communication for Specific Purposes/Fachsprachliche<br />
Kommunikation Tübingen: Narr (Kommunikation und Institution 21)<br />
10. Günthner, Susanne (1992) Sprache und Geschlecht: Ist Kommunikation zwischen Frauen und Männern interkulturelle<br />
Kommunikation ? In: Linguistische Berichte 138/1992, S.123-143<br />
11. Hoffmann, L.. (1997) Kap.C1:Sprache und Illokution.In:Zifonun; G./Hoffmann, L./Strecker, B. (1997) Grammatik der<br />
deutschen Sprache,.Bd.1 Berlin, New York: de Gruyer.<br />
12. Jin, Friederike (1990) Intonation im Gespräch. Tübingen: Niemeyer<br />
13. Kallmeyer, Werner (1985) Handlungskonstitution im Gespräch. Dupont und sein Experte fähren ein Beratungsgespräch.<br />
In: Gülich, E./Kotschi, Th. (Hgg.)(1985) Grammatik, Konversation, Interaktion. Beiträge zim<br />
Romanistentag 1983. Tübingen: Niemeyer, S.81-122<br />
14. Kallmeyer, Werner (Hg.)(1986) Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten und Situationstypen.<br />
Jahrbuch 1985 des IDS. Düsseldorf: Schwann<br />
15. Kallmeyer, Werner/Schütze, Fritz (1977) Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung.<br />
In: Wegner, D. (Hg.)(1977), S.159-274<br />
16. Lämmert, Eberhard (Hg.)(1982) Erzählforschung. Stuttgart: Metzler<br />
17. Nothdurft, Werner (1984) "äh folgendes problem äh". Die interaktive Ausarbeitung "des Problems" in Beratungsgesprächen.<br />
Tübingen: Narr<br />
18. Nothdurft, Werner/Reitemeier, Ulrich/Schröder, Peter (1992) Beratungsgespräche-Analyse asymetrischer Dialoge.<br />
Tübingen: Narr<br />
19. Quasthoff, Uta (1980) Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am<br />
Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tübingen: Narr<br />
20. Redder, Angelika/Rehbein, Jochen (Hgg.)(1987) Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation. Bremen: OBST 38<br />
21. Rehbein, Jochen (1984) Beschreiben, Berichten, Erzählen. In: Ehlich, K. (Hg.)(1984), S.57-124<br />
22. Rehbein, Jochen (1989) Biographiefragmente. Nicht-erzählende rekonstruktive Diskursformen in der Hochschulkommunikation.<br />
In: Kokemohr, R./Marotzki, W. (Hgg.)(1989), S.163-254<br />
23. Rehbein, Jochen (Hg.)(1985) Interkulturelle Kommunikation. Tübingen: Narr<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
543
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Ioana Hermine Fierbin]eanu<br />
24. Schank, Gerd/Schwitalla, Johannes (Hgg.)(1987) Konflikte in Gesprächen. Tübingen: Narr<br />
25. Schmitz, Ulrich (Hg.)(1990) Schweigen. Bremen:OBST 42<br />
26. Schönert, Jörg (Hg.)(1991) Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in<br />
Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen: Niemeyer<br />
27. Schröder, Peter (Hg.)(1985) Beratungsgespräche - ein kommentierter Textband. Tübingen: Narr<br />
28. Schütze, Fritz (1982) Narrative Repräsentation kollektiver Schicksalsbetroffenheit. In: Lämmert, E. (Hg.)(1982), S.<br />
568-590<br />
29. Schütze, Fritz (1984) Kognitive Figuren des Stegreiferzählens. In: Kohli, M./Robert, G. (Hgg.)(1984) Biographie.<br />
Stuttgart: Metzler, S. 78-117<br />
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Merkmalen des Berater- und Klientenverhaltens. In: Psychologie und Praxis 19/1975, S. 126-135<br />
31. Spillner, Bernd (Hg.)(1990b) Interkulturelle Kommunikation. Kongreßbeiträge zur 20. Jahrestagung der GAL.<br />
Frankfurt/Bern: Peter Lang<br />
32. Thimm, Caja (1987) Die "Zweierkiste" als Zweierfront - Solidarität über alles ? In: Schank, G./Schwitalla, J.<br />
(Hgg.)(1987), S. 292-325<br />
33. Watts, Richard J./Sachiko, Ide/Ehlich, Konrad (Hgg.)(1992) Politeness in Language. Studies in its History, Theory<br />
and Practice. Berlin/New York: de Gruyter<br />
34. Zifonun; G./Hoffmann, L./Strecker, B. (1997) Grammatik der deutschen Sprache,. Bd.1 Berlin, New York: de Gruyer.<br />
544<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
“DER SPRECHER <strong>UND</strong> DAS WORT SIND ZWEI PERSONEN”<br />
(M. Luther, T is c hr ede n)<br />
Zum Gebrauch des politischen Euphemismus in den Massenmedien<br />
Maria Muscan<br />
Vorbemerkungen<br />
Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine theoriegeleitete empirische Untersuchung zum<br />
Euphemismus-Problem in politischen Pressetexten allgemein. Das Ziel dieser Arbeit ist einerseits,<br />
auf der Grundlage eines Korpus die möglichen Kontexte, in denen Euphemismen verwendet<br />
werden, aufzudecken und zu analysieren und somit theoretisch zur Erklärung des<br />
politischen Euphemismus beizutragen. Andereseits sollen Herkunftsbereiche und Funktionen<br />
untersucht und Vorschläge zu einer Klassifikation von Euphemismen in politischen Pressetexten<br />
gemacht werden..<br />
Mein Untersuchungsmaterial umfasst zwei Textkorpora: zum ersten gehören die Tageszeitungen<br />
Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Wochenmagazin<br />
Der Spiegel aus dem Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis zum 30. September 2001. Zum zweiten<br />
Textkorpus zählen Schlagzeilen verschiedener Fernsehsender (Antena 1, Realitatea TV, România<br />
1, CNBC, CNN, Euro News) in der Zeitspanne 21. – 28. März 2003. Selbst wenn man das untersuchte<br />
Material auf die politische Berichterstattung eingrenzen würde, wäre sein Umfang zu<br />
groß, als dass es im Rahmen der vorliegenden Arbeit gründlich analysiert werden könnte. Es ist<br />
infolgedessen nötig, das Material weiter zu reduzieren. Ich beschränke mich daher auf zwei<br />
Themen: der Irak-Krieg im März 2003 und sozial-politische Entscheidungen in Deutschland im<br />
Zeitraum Juli-September 2001. Um euphemistischen Sprachgebrauch als solchen zu erkennen,<br />
muss zunächst der Bezug zum Tabu hergestellt werden. Erst vor diesem Hintergrund werden die<br />
verschleiernde und verhüllende Funktion von Euphemismen insbesondere in den politischen<br />
Pressetexten bzw. Pressemitteilungen deutlich.<br />
Begriffsklärung<br />
Die Politik<br />
Für den Begriff Politik gibt es in der Forschung keine allgemeingültige Definition. In meiner<br />
Untersuchung gehe ich von E. Leinfellners Definition aus (zit. nach Xiaon: 1993), die über Politik<br />
sagt, es sei:<br />
die Wissenschaft oder Kunst der Regierung, Verwaltung oder Leitung von öffentlichen oder staatlichen<br />
Angelegenheiten;<br />
die Angelegenheiten oder Tätigkeiten derjenigen, die eine Regierung oder Organe einer Regierung<br />
kontrollieren oder zu kontrollieren versuchen;<br />
die Prinzipien oder Ziele einer Regierung, einer Partei oder einer Gruppe innerhalb einer Regierung,<br />
ausgedrückt z.B. in Manifesten, Parteiprogrammen, Reden nach Art der State of the Union Message<br />
usw.;<br />
allgemein die Praktiken derjenigen, die Macht, Autorität oder ihren Vorteil im Rahmen des Staates<br />
suchen (…);<br />
(…) politische Gedanken oder Meinungen.
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />
Die Politik eines Staates oder einer Partei kann auf verschiedene Ebenen angesiedelt sein.<br />
Dazu gehören z.B. die Außen-, Innen- oder Sozialpolitik. In dem von mir untersuchten Material<br />
geht es hauptsächlich um die Innen- und Sozialpolitik Deutschlands bzw. um die Außenpolitik<br />
der USA, wie sie von europäischen / rumänischen Fernsehsendern präsentiert wird.<br />
Obwohl es die oben erwähnten Kriterien für Politik erleichtern, die Bereiche zu identifizieren,<br />
ist es bei der konkreten Auswahl sehr schwierig, eine klare Abgrenzung zwischen<br />
Politik und anderen Sachbereichen vorzunehmen. In manchen Fällen überschneiden sich zwei<br />
Bereiche, wie z.B. Politik und Wirtschaft, so stark, dass die Grenzen zwischen ihnen kaum gezogen<br />
werden können. In Bezug auf das von mir recherchierte Material werden die Texte in den<br />
meisten Fällen aus der Sparte Politik einzelner Zeitungen bzw. der Zeitschrift Der Spiegel entnommen.<br />
Aber manchmal bleiben die von Redakteuren gemachten Verteilungen der Sachbereiche<br />
nicht problemlos. Manche Artikel, die z.B. von Redakteuren in die Sparte Wirtschaft<br />
aufgenommen werden, könnten m.E. auch der Sparte Politik zugeordnet werden, weil sie eher<br />
mit der Wirtschaftspolitik zu tun haben und sie grösstenteils ja doch politische Entscheidungen<br />
mit wirtschaftlicher Auswirkungen sind. Dasselbe gilt für die Politikersprache in Bezug auf den<br />
Irak-Krieg im März – April 2003, da diese eigentlich politische Entscheidungen wiedergibt, die<br />
einen bedeutenden Einfluss auf die rumänische Zivilbevölkerung aus Constan a bzw. Mihail<br />
Kog lniceanu (wo US-Truppen stationierten) hatte. Die Euphemisierung dieser Sprache konnte<br />
festgestellt werden anhand der verschleiernden Aussagen, die im Gegensatz zu der konkreten<br />
Realität stand, nämlich einem zerstörerischen Krieg.<br />
546<br />
Die politische Rolle des Journalisten<br />
Wie die Massenmedien im Allgemein, so spielen die Journalisten im Besonderen eine wichtige<br />
Rolle innerhalb der politischen Meinungs- und Willensbildung. Massenkommunikation<br />
ohne hauptberufliche Journalisten – das ist heute kaum noch vorstellbar. Beispiele für die Verbindung<br />
zwischen Politik und Journalismus fanden und finden sich immer in grosser Anzahl –<br />
so etwa in Deutschland Willy Brandt oder der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky. Vor<br />
allem die aus der Arbeiterbewegung stammenden Politiker haben häufig über den Journalismus<br />
ihre politische Laufbahn begonnen (Victor Ciorbea, Miron Mitrea). Dennoch lassen sich anhand<br />
solcher Beispiele nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede zwischen den<br />
Berufsrollen des Politikers und des Journalisten erkennen: Politik – wie immer sie begrifflich<br />
erfasst wird – ist direkt am Entscheidungsprozess der Gesellschaft gebunden; der Journalismus<br />
begleitet hingegen diesen Prozess – kommentierend, berichtend oder selbst Einfluss nehmend.<br />
Journalisten bringen nicht nur ihre eigene Meinung oder die der Medieneigentümer zum<br />
Ausdruck, sondern geben häufiger lediglich wieder, was andere, beispielsweise Politiker, gesagt<br />
haben, die damit zum sog. Ausgangskommunikator werden. Beim Verfolgen einer Nachrichtensendung<br />
im Fernsehen kann jeder selbst feststellen, dass das, was der Nachrichtensprecher vorliest,<br />
gar nicht seine eigenen Worte sind, sondern die Worte eines Ministers, die eines Parteivorsitzenden,<br />
eines Sprechers einer Meinungsgruppe usw. Kommunikatoren sind alle diejenigen,<br />
die eine Meinung ausdrücken, während der Journalist diese im Allgemeinen nur vermittelt..<br />
Inwieweit Journalisten ihre Rolle als Mediatoren verstehen und ausüben sprengt den Rahmen<br />
der vorliegenden Arbeit und wird daher nicht eingehender dargestellt.<br />
Tabus und politische Euphemismen<br />
Man gewinnt einen ersten Überblick über Euphemismen aus Lehrbüchern der Rhetorik, die<br />
durch Lexika und erklärende Wörterbücher ergänzt werden können. Außer dem Begriff Euphemismus<br />
muß der von Tabu gedeutet werden, wenn geklärt werden soll, ob Euphemismen<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />
sprachliche Reaktionen auf gesellschaftlich geltende Tabus und Abweichungen von politisch<br />
nicht korrekten Spracheinheiten sind. Auch hierfür bieten sich für die Erfassung der Terminologie<br />
Wörterbücher, Lehrbücher sowie unzählige Internet-Seiten an. Im Rahmen des vorliegenden<br />
Vortrages/Arbeit würde es zu weit führen detaillierter ausleuchten zu wollen. Daher<br />
beziehe ich mich auf folgende Definitionen für Tabus, um dann eingehender über den<br />
Euphemismus zu sprechen. Tabus sind immer eng verknüpft mit den Verboten und Einschränkungen<br />
und werden innerhalb einer bestimmten Gesellschaft als Instrument der sozialen<br />
Kontrolle gesehen. Luchtenberg (1975) betrachtet die Tabus als<br />
alle mit Denk-, Anfass- oder Nennverbot belegten Gegenstände, Vorgänge oder Gedanken – in einer<br />
bestimmten Gesellschaft entstanden und durch ihre Besonderheiten bedingt.<br />
Christel Balle (1990:20) erweitert Luchtenbergs Definition und meint:<br />
Heutige Tabus unterscheiden sich von früheren durch ihre Motivation: während der Naturmensch<br />
glaubte, Dämonen zu erzürnen und durch Verletzung des Verbots leibhaftigen Schaden davonzutragen,<br />
bedingen heute vorwiegend die Angst, Aufsehen, Peinlichkeit, Scham und Verletzung zu erregen,<br />
also Rücksichtsnahme und Respekt, die Achtung der Gebote.<br />
Tabuvorstellungen finden ihren Niederschlag in der Sprache. Aus den bereits erwähnten<br />
Gründen versucht der Sprecher ein Tabu zu umschreiben, er drückt somit einen Sachverhalt<br />
indirekt aus. Es gibt viele Gründe, uneigentlich zu sprechen, von feinzüngiger Rhetorik bis hin<br />
zum akuten Mangel an passenden Ausdrücken, der den Sprecher zwingt das Gemeinte zu umschreiben.<br />
Um von einem Euphemismus sprechen zu können fordert Michael Crombach<br />
(2001:86) grundsätzlich die Existenz eines Tabus, der allerdings nicht religiöser oder abergläubischer<br />
Natur sein müsse. Crombach vertritt weiterhin die Meinung, dass jedwelche außersprachlichen<br />
Tabus Grund für ein Sprachtabu sein können; zudem könnten Tabus aus weit unterschiedlicheren<br />
Gründen entstehen als nur Religion und Aberglauben.<br />
Anderer Ansicht ist Elisabeth Leinfellner (1971:71), die der Meinung ist,<br />
dass in der politischen Sprache der Euphemismus als Deckausdruck für Tabus keinen Platz finden<br />
kann, oder nur selten.<br />
Crombach meint hingegen, dass die von Leinfellner angegebenen Gründe nicht mit dem<br />
Prinzip Euphemismus zu tun hätten (Crombach 2001:87). So sei es kein hinreichender Grund für<br />
die Nutzung eines Euphemismus, an der Macht bleiben beziehungsweise an die Macht kommen<br />
zu wollen (so Leinfellner). Es gehe dabei darum, dass man, um dieses Ziel zu erreichen, bestimmte<br />
Dinge nicht beim Namen nennen sollte, weil sie tabu sind. Man kann diese Tabus unter<br />
tabous de sentiment zusammenfassen, auch wenn die Gewichtungen im Umfeld der Politik etwas<br />
anders liegen als bei der alltäglichen zwischenmenschlichen Erscheinung dieses Phänomens.<br />
Zur Stützung ihrer eigenen These gibt Leinfellner folgendes Beispiel:<br />
Typisch sind hier auch die Euphemismen, die die Krankheiten von Politikern verhüllen. (…) Wir sehen<br />
hier nochmals den grossen Unterschied zwischen alltäglichen und politischen Euphemismen. Während<br />
die alltäglichen Euphemismen für Krankheiten tatsächlich als Deckausdrücke für ein Tabu aufgefasst<br />
werden können, ist dieser Aspekt hier vollständig verschwunden. Als Beispiel führen wir<br />
John F. Kennedy an, der an der Addisonschen Krankheit [Unzureichende Funktion der Nebennierenrinde]<br />
litt; diese wurde – schon vor seiner Wahl zum Präsidenten – der Öffentlichkeit stets nur euphemistisch<br />
präsentiert, nämlich als `partial adrenal insufficiency`.<br />
Crombach macht diesbezüglich folgende Bemerkung, die durchaus den Schluss zulässt, dass<br />
hinter diesem Euphemismus ein Tabu verborgen werden soll. Crombach (2001:87) lässt die Behauptung<br />
stehen, die besagt, dass dieses Tabu ein anderes sein kann als im alltäglichen Bereich.<br />
Was an Krankheiten im zwischenmenschlichen Gespräch tabu sein kann, erörtert Crombach<br />
nicht näher, er fokusiert seine Aufmerksamkeit auf Tabus, die hinter einer solchen euphemisti-<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
547
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />
schen Phrase in der politischen Sprache stehen. Das wichtigste ist laut Crombach, dass eine<br />
`Krankheit` - noch dazu eine mehr oder weniger chronische, unheilbare Krankheit – die Regierungsfähigkeit<br />
eines US-Präsidenten mehr als nur fragwürdig erscheinen lassen würde. Und<br />
ein solcher Gedanke soll dem Wähler nicht kommen, diese Vorstellung alleine ist tabu. Aber<br />
auch an das Publikum eines politischen Euphemismus muss gedacht werden. Crombach erläutert<br />
weiter, dass Tabus situationsgebunden und nicht immer und überall gültig seien, dass<br />
sich somit auch die Euphemismen änderten. Während im umgangssprachlichen Gebrauch<br />
Addinson`sche Krankheit schon ein recht brauchbarer Euphemismus ist, ist der terminus<br />
technicus für ein grosses Publikum, in dem sich auch Ärzte, KrankenpflegerInnen etc. befinden,<br />
zu schwach. Somit muss man (Crombach 2001:88) Zuflucht zu einem anderen Euphemismus<br />
suchen, der auch für diese Zielgruppe durch `Vagheit` euphemistische Wirkung erzielt.<br />
Für diesen konkreten Fall hat Crombach nur ein mögliches situationsgebundenes Tabu erwähnt:<br />
die Regierungsuntauglichkeit, die eben nicht einmal angedacht werden soll. Ein anderes<br />
mögliches Tabu wäre, seiner Meinung nach, trotz allem, der Umstand des Krankseins als solcher.<br />
Crombach (2001:88) stellt natürlich die absolut rhetorische Frage, warum bei Politikern<br />
nicht die gleichen Spielregeln wie bei allen anderen Menschen gelten sollten. Er beantwortet<br />
mit der Annnahme, dass, obwohl es um Machterhalt ginge, doch letztlich das nichts mit dem<br />
Tabu zu tun habe, mit dem Krankheiten grundsätzlich tendenziell belegt seien. Also auch bei<br />
einem Menschen, der im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, gibt es ein tabou de sentiment.<br />
Dass politische Gegner eben diese nicht einhalten werden, liegt in der Natur der politischen<br />
Auseinandersetzung, und doch gibt es auch in dieser Grenzen des guten Geschmacks, deren<br />
Übertretung oftmals das Gegenteil dessen bewirkt, was mit der Kampagne beabsichtigt war.<br />
Es gibt immer einen Grund, ein Tabu, wenn man etwas nicht beim Namen nennt. Oftmals<br />
sehr alte Gründe, die z.B. verhindert haben, dass sich ein (neutrales) Vokabular ausbilden<br />
konnte, etwa im Bereich der Sexualität, aber auch sehr aktuelle Gründe: wie beispielsweise das<br />
Image der Hochpräzisionswaffen der US Armee, die keine zivilen Opfer fordern, wie dies noch<br />
im Vietnamkrieg der Fall war, sondern “nur” Kollateralschäden verursachen. Mit anderen Worten,<br />
es steht hinter jedem Euphemismus in der einen oder anderen Form ein Tabu.<br />
In Politikerreden und politischen Texten der Tagespresse stößt man auf veschleiernde Aussagen,<br />
die sich als Euphemismen fassen lassen. Allerdings erfordert das Erkennen politischer<br />
Euphemismen sowohl Sachkenntnis als auch Einblick in die Bildungsweise von Euphemismen.<br />
Gerade aber diese Tatsache, dass Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um Euphemismen einordnen<br />
zu können, schien mir Anlass zur näheren Untersuchung zu sein, da gerade in der Politik<br />
die Möglichkeit auffällt, durch Euphemismen Einfluss zu nehmen. Die beiden Theorien von<br />
Crombach und Leinfellner habe ich gegenübergestellt, um den Ausgangspunkt eines Euphemismus<br />
und dessen Wirkung für meine Untersuchung zu klären. Ich schließe mich somit der<br />
Meinung Leinfellners an, weil für den Zweck meiner Arbeit nicht nur die Aufdeckung möglicher<br />
Tabus wichtig ist, sondern um die Feststellung, dass die Verwendung politischer Euphemismen<br />
der Manipulation dienen.<br />
Euphemismen in der Politik<br />
Politische Sprache setze ich für die Interessen dieser Arbeit nicht gleich mit der politischen<br />
Fachsprache, für die der Gebrauch eines bestimmten politischen Wortschatzes in stärkerem<br />
Maße signifikant ist. M.E. fällt die politische Sprache meistens mit der Sprache der Öffentlichkeit<br />
zusammen. Zunächst einige Überlegungen zum euphemistischen Gebrauch politischer<br />
Schlagwörter: Es gilt vor allem zu prüfen, inwieweit bestimmte politische Schlagwörter wie<br />
Freiheit oder Demokratie euphemistischen Charakter bereits usuell angenommen haben oder<br />
okkasionell erhalten können. Hierfür sei das Beispiel einer vom CNBC-Sender verwendete<br />
548<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />
Schlagzeile zum Irak-Krieg, nämlich Operation Freedom (22.03.2003, NBC-News, 17.30 Uhr).<br />
Durch die Verwendung des Wortes freedom im Zusammenhang mit einem Krieg ruft der Sprecher<br />
im Hörer positive Assoziationen hervor. Er verschleiert somit die negativen Aspekte eines<br />
Krieges.(In diesem Fall ist Sprecher, bzw. Kommunikator, die Regierung der USA).<br />
Euphemistisch gebrauchte Schlagwörter lassen sich allerdings nicht an einem eigentlichen<br />
Ausdruck messen, wie dies bei vielen Euphemismen anderer Bildungsart auch innerhalb der<br />
politischen Sprache möglich ist (vgl. Operation = Krieg). Es ist beim Schlagwort nur möglich, die<br />
konkrete Verwendung nach der Hörerwirkung und der Stellung im Kontext zu beurteilen, wobei<br />
euphemistischer Gebrauch oft durch einen hohen Grad an Allgemeinheit gekennzeichnet ist,<br />
der dem Hörer die Möglichkeit gibt, seine persönliche Vorstellung mit dem Schlagwort zu verbinden,<br />
ohne nachprüfen zu können, ob diese mit der vom Sprecher intendierten übereinstimmt.<br />
Als Beispiel dazu erwähne ich (ohne jedwelchen Kommentar) die von mir wahrgenommene<br />
positive Einstellung der rumänischen Bevölkerung zu dem zerstörerischen<br />
Militäreingriff der USA und Großbritanniens in den Irak im März-April 2003, der von den<br />
rumänischen Massenmedien, z.T. in Übernahme amerikanischer Termini, folgendermaßen<br />
beschrieben worden ist:<br />
- Opera]iunea “{oc [i Groaz`” – Realitatea TV, 21.03.2003, 22.30 Uhr<br />
- Furtun` în Irak - Antena 1, 21.03.2003, 22.30 Uhr<br />
- Strike on Iraq - CNN, 21.03.2003, 22.30 Uhr<br />
- Opera]iunea „Decapitarea“ - Realitatea TV, 22.03.2003, 9.00 Uhr<br />
- Operation „Iraq Freedom“ - NBC, 22.03.2003, 17.30 Uhr<br />
- Opera]iunea „Pas cu Pas“ – Realitatea TV, 26.03.2003, 20.00 Uhr<br />
- Operation „Iraq Freedom“ - NBC, 26.03.2003, 20.15 Uhr<br />
- Furtun` în Irak- Antena 1, 28.03.2003, 20.00 Uhr<br />
Wie sich diese Schlagzeilen ins Deutsche übersetzen lassen, ist ein anderes interessantes<br />
Thema, das aber an anderer Stelle ausführlicher behandelt sein wird. Hier nur ein Übersetzungsversuch,<br />
wobei ich die euphemistische Wirkung anhand der Substitution des<br />
Gemeinten (Operation = Krieg) durch ein Fremdwort wiederzugeben versuche:<br />
- Operation „Schock und Schrecken“<br />
- Sturm über dem Irak<br />
- Schlag gegen den Irak<br />
- Operation „Enthauptung“<br />
- Operation „Irakische Freiheit“<br />
- Operation „Schritt für Schritt“<br />
- Operation „Irakische Freiheit“<br />
- Sturm über dem Irak<br />
Das politische Schlagwort dient der Beeinflussung der öffentlichen Meinung im System der<br />
Meinungsbildung und Meinungsänderung (Propaganda) und ist der Meinungssprache (im Gegensatz<br />
zur Funktionssprache) zuzurechnen, der sie den emotiven Charakter verleiht, wie<br />
Schlagwörter überhaupt als Mittel emotiven Sprachgebrauchs gelten. Den Schlagwörtern<br />
kommt allerdings mehr zu als nur emotionale Reizwirkung, da die Wortmanipulationen des<br />
Meinungsbildners und Propagandisten zu einem grossen Teil die begrifflichen Inhalte betreffen.<br />
Emotionale und intellektuelle Beeinflussung hängen jedoch in den meisten Fällen eng zusammen.<br />
In vielen Euphemismus-Darstellungen werden politische Euphemismen als Regierungskunst<br />
bzw. Rücksicht auf die Gefühle der Hörer bezeichnet, wobei jedoch euphemsitische<br />
Verschleierung nicht nur der Führung, sondern auch der Verführung dienen kann, solange sie<br />
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als sprachliche Mittel der Herrschaftsausübung dient. Um diesen Ideen noch zusätzliche<br />
Deutungen zu verleihen, zitiere ich im Folgenden ein Martin-Walser-Zitat zum Thema Krieg:<br />
550<br />
Über Ausschwitz kann es doch gar nicht zwei Meinungen geben (über den Krieg m.E. auch nicht).<br />
Aber man kann eine Art, auf die Frage nach Ausschwitz zu antworten, so ritualisieren, dass jede andere<br />
Art zu antworten zur Blasphemie erklärt werden kann. Das ist das, was bei uns jetzt erreicht<br />
ist. Die Formalisierung, die Standardisierung der Sprache für das, was aus dem Gewissen stammt. 1<br />
Hiermit stellt Walser eine neue Kategorie auf für die sprachliche Realisation des Euphemismus,<br />
die die Einteilung von N. Zöllner vervollständigt, nämlich der Euphemismus durch Stadardisierung<br />
der Sprache.<br />
Ich schließe mich ganz der Meinung Sigrid Luchtenbergs (1975:71) an, derzufolge die Existenz<br />
von Euphemismen in der politischen Sprache und ihre bewusste Verwendung eine Gefahr<br />
sei, da die Möglichkeit ihrer Nachprüfung nicht immer gegeben ist, und außerdem an Sprachbewusstsein<br />
und politischem Wissensstand mehr vorausgesetzt wird, als der Realität entspricht.<br />
Euphemismen, meint Luchtenberg, sollen meist unbemerkt wirken, weil sie nicht als solche erkannt<br />
werden oder nicht ernst genommen werden. Es sei durchaus möglich, dass die Verharmlosung<br />
eines Ausdrucks erkannt wird, aber auch in diesem Falle könne die abgeschwächte<br />
Sprechweise langfristig zur Verharmlosung des Sachverhaltes führen.<br />
Weil die Intention des Kommunikators durch die Verwendung von Euphemismen oft nicht<br />
transparent ist, ist es notwendig, Wesen und Funktion des Euphemismus noch etwas differenzierter<br />
zu betrachten. Ich folge dazu den Ausführungen Sigrid Luchtenbergs (1975) die den<br />
verschiedenartigen Intentionen beschönigenden Sprechens mit der Unterscheidung zwischen<br />
verhüllenden und verschleiernden Euphemismen gerecht zu werden versucht. Mögen die als<br />
Kontrast gedachten Begriffe Verhüllung und Verschleierung auch auf den ersten Blick für eine<br />
klare Differenzierung nicht besonders geeignet erscheinen, weil sie weitgehend synonym sind,<br />
so gelingt es Luchtenberg doch, einige wesentliche unterschiedliche Charakteristika der beiden<br />
Euphemismentypen herauszuarbeiten, so dass sich eine für meine Untersuchung durchaus<br />
brauchbare Klassifizierung vornehmen lässt.<br />
Die Funktion des Verhüllens<br />
Ausgangspunkt für Luchtenbergs Klassifikationsvorschlag ist die Tatsache, dass sich Funktion<br />
oder Zweck jeder sprachlichen Handlung grundsätzlich nur mit Blick auf die Relation zwischen<br />
den Kommunikationspartnern beurteilen lässt. Diese doppelte Betrachtungsweise, die<br />
gleichzeitig auf die Intention des Sprechers und auf die beim Hörer hervorgerufene Wirkung<br />
gerichtet ist, hat sich bereits bei den oben angeführten Schlagzeilen zum Irak-Krieg, als äußerst<br />
praktikabel erwiesen. Verhüllend nennt Luchtenberg (1975: 361-368) eine<br />
i.a. gesellschaftlich bedingte Ausdrucksweise, die den als anstößig empfundenen Aspekt eines Wortes<br />
bzw. Begriffs entweder mildernd formuliert oder durch einen unbeanstandeten Aspekt benennt.<br />
Unter dem Gesichtspunkt der Hörer-Sprecher-Relation lässt sich diese Funktion aber noch<br />
präziser beschreiben: Nachdem es in den hier zu betrachtenden Kommunikationssituationen<br />
um Inhalte geht, die gesellschaftlichen „Zensurverboten“ unterliegen, – ergibt sich für den<br />
Sprecher/Kommunikator ein Interessenkonflikt: Er will einerseits die Kommunikation aufrecht<br />
erhalten und eine bestimmte Information an sein Gegenüber vermitteln, möchte andererseits<br />
aber nicht gegen die allgemeine Konvention verstoßen, die die Thematisierung unangenehmer<br />
Inhalte oder auch nur den Gebrauch bestimmter negativ konnotierter Ausdrücke verbietet.<br />
1 Martin Walser. Über freie und unfreie Rede, in: Der Spiegel, Nr. 45/1994.<br />
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“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />
Luchtenberg spricht (1975: 361-368) von mehr oder weniger verbindlichen Konventionen, welche<br />
sich auf<br />
Dinge, Vorgänge, Sachverhalte [beziehen], die zu meiden sind bzw. deren Erwähnung zu meiden gesellschaftlich<br />
verlangt wird.<br />
Die Lösung des Konflikts liegt im Ausweichen auf Ersatzformulierungen, die den Blick auf<br />
einen gesellschaftlich weniger gemiedenen Aspekt legen, wobei zugleich die Interessen beider<br />
Sprachteilnehmer berücksichtigt werden. Dem Sprecher gelingt es, seine Aussageabsicht zu<br />
verwirklichen, ohne dabei sozial bedingte Tabus zu brechen; gleichzeitig bleibt aber dem Hörer<br />
die Härte der direkten Aussage erspart, die verhüllende Formulierung nimmt Rücksicht auf seine<br />
Gefühle, was je nach Situation oft sogar als der Hauptzweck euphemistischer Rede anzusehen<br />
ist.<br />
Zusammenfassend können nun folgende Merkmale des verhüllenden Euphemismus im Sinne<br />
Luchtenbergs festgehalten werden: Verhüllende Euphemismen sind immer durch Normen und<br />
Konventionen sozialer, religiöser Art usw. bedingt. Ihre Aufgabe besteht deshalb darin, gesellschaftliche<br />
Tabus sprachlich zu umgehen, die Thematisierung unangenehmer Dinge also<br />
trotz der Tabus möglich zu machen. Mit der Beachtung und Einhaltung allgemein verbindlicher<br />
Konventionen verbindet sich immer auch die Rücksichtnahme auf die Gefühle beider<br />
Gesprächspartner: Vermeidung von Peinlichkeit als Interesse des Sprechers; Vermeidung starker<br />
negativer Gefühlsreaktionen im Interesse des Hörers.<br />
Die Funktion des Verschleierns<br />
Um den Unterschied zwischen verhüllender und verschleiernder Funktion im Sinne Luchtenbergs<br />
zu verdeutlichen, gilt es wieder, die Relation zwischen Sprecher und Hörer in den jeweiligen<br />
Kommunikationssituationen zu berücksichtigen. Als verschleiernd sieht Luchtenberg (1975<br />
: 368-380) nämlich solche Euphemismen an, die zum Ziel haben, beim Hörer eine vom Sprecher<br />
intendierte Wirkung hervorzurufen. Die Schonung des Hörers als mögliche Intention wird hier<br />
jedoch bewusst ausgeklammert. Dass die scharfe Abgrenzung beider Funktionen in der Praxis<br />
nur schwer möglich ist, gibt die Autorin zu (Luchtenberg 1975: 369):<br />
Die Trennung in verhüllende und verschleiernde Euphemismen kennt viele Übergänge, und in nicht<br />
wenigen Fällen erfüllt ein Euphemismus beide Funktionen.<br />
Trotz vieler Mischformen wird jedoch der grundsätzliche Unterschied zwischen verhüllender<br />
und verschleiernder Funktion anhand der Motive deutlich, die einen Sprecher/Kommunikator<br />
zum Gebrauch verschleiernder Formulierungen veranlassen. Es geht hier nämlich keineswegs<br />
um eine Beachtung sozialer Normen und Verbote, die sich (auch) im Bereich der Sprache manifestieren,<br />
sondern um ganz persönliche Interessen des Sprechers, zu deren Durchsetzung die<br />
Sprache als Mittel der Manipulation nutzbar gemacht wird: Machtausspruch, Gewinnstreben<br />
etc. Die sprachliche Realisation der verschleiernden Euphemsimen im Beispiel der Irak-Schlagzeilen<br />
geschieht durch Substitution des Gemeinten durch Untertreibung, Fremdwörtern, Standardisierung<br />
der Sprache (s.o.), ja sogar durch kontextunabhängige, auf den ersten Blick völlig<br />
unzusammenhängende Phraseme („{oc [i groaz`“, „Decapitarea“ – „Schock und Schrecken“,<br />
„Enthauptung“). Die äußeren Faktoren verschleiernder Kommunikation beschreibt Luchtenberg<br />
folgendermaßen (1975: 370):<br />
Ein Sprecher S verändert die von einem Hörer H erwartete Information I dahingehend, daß S nur für<br />
ihn und seine Absichten günstige Teile von I übermittelt, also eine Information äußert, die bewußt<br />
nicht dem zugrundeliegenden Realgeschehen R entspricht.<br />
Das Ziel der Verschleierung kann im Gegensatz zur Verhüllung jedoch nur dann als erreicht<br />
angesehen werden, wenn H etwa infolge mangelnder Kenntnisse über R oder aufgrund unzureichenden<br />
Sprachbewusstseins die Unangemessenheit von I nicht erkennt und die von S<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
551
552<br />
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />
verfälschte Information als Wahrheit akzeptiert. Anderenfalls muss die Absicht von S, H zu täuschen,<br />
als gescheitert gelten. Die bisher skizzierte Unterteilung euphemistischer Äußerungen<br />
ermöglicht es nun, die Frage, ob Euphemismen vom Hörer „missverstanden“ oder als solche<br />
erkannt und entschlüsselt werden sollen, zunächst für eine Teilgruppe solcher Sprechakte klar<br />
zu beantworten: Euphemismen, die ein Sprecher nicht dazu verwendet, um bestehende Tabus<br />
zu umgehen und/oder die Gefühle des Angesprochenen zu schonen, sondern um diesen über<br />
bestimmte Fakten und Ereignisse oder Entscheidungen im Unklaren zu lassen und aus diesem<br />
Unwissen persönliche Vorteile zu ziehen, können diese verschleiernde Funktion nur dann erfüllen,<br />
wenn sie vom Hörer unerkannt bleibt. Das Missverständnis liegt somit in der Absicht des<br />
Sprechers. Interessant ist nun, welchen Themenbereichen oder auch Gesprächskonstellationen<br />
sich dieser Typus des Euphemismus zuordnen lässt. Denn wenn es hier auch ausschließlich um<br />
die Interessen und Belange des Sprechers geht, so scheinen doch, wie Luchtenberg betont<br />
(1975: 371),<br />
persönliche, d.h. individuell – persönliche Interessen eine geringere Rolle zu spielen als die Interessen<br />
von Politik und Wirtschaft u.ä.<br />
Es lassen sich also Bereiche ausmachen, in denen die mit beschönigendem Reden intendierte<br />
Wirkung besonders häufig in der bewussten Fehlinformation oder gar Irreführung des<br />
Adressaten besteht, während die Achtung von Normen oder die Rücksicht auf Gefühle überhaupt<br />
keine Rolle spielt. Euphemismen erfüllen, wie sich an dieser Stelle resümieren lässt, zwei<br />
sehr unterschiedliche Funktionen in der sprachlichen Kommunikation:<br />
Tabubewältigung: : : Euphemismen vom Typ entschlafen gewähren die Möglichkeit der Verständigung<br />
über Dinge und Sachverhalte, die einem Tabu unterliegen. Wesentliches Ziel solcher<br />
Verhüllungen ist die Schonung des Angesprochenen.<br />
Manipulation: Verschleiernde Euphemismen vom Typ Operation Freedom (für Krieg im Irak)<br />
können zur Wirklichkeitsentstellung und -verfälschung benutzt werden und dienen damit allein<br />
dem Interesse des Sprechers. Sie bauen auf mangelnde Sachkenntnis und geringes Sprachbewusstsein<br />
des Hörers auf, können ihr Ziel – die Meinung des Adressaten in die gewünschte<br />
Richtung zu lenken – nur dann erreichen, wenn sie diesem nicht als Euphemismus bewusst<br />
werden.<br />
Der Euphemismus als partielle Lüge<br />
Da ich der Überzeugung bin, dass der Euphemismus in der politischen Sprache als verschleiernd<br />
und täuschend angesehen werden sollte, stellt sich für mich die Frage, inwieweit er<br />
somit den Tatbestand der Lüge erfüllt bzw. welche Kriterien erfüllt sein müssen, um eine Aussage<br />
als Lüge zu definieren.<br />
Mit Hilfe des Euphemismus wird ein präziserer Ausdruck umgangen. Dass diese Art der<br />
sprachlichen Manipulation gelingen kann, ist darauf zurückzuführen, dass Politiker eine Wahrscheinlichkeitslogik<br />
bzw. eine mehrwertige Logik benützen, wenn sie einen euphemistischen<br />
Satz formulieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob den Sprechern/Kommunikatoren bewusst ist,<br />
dass sie eine Wahrscheinlichkeitslogik anwenden, genauso wie ihnen nicht immer bewusst sein<br />
muss, dass sie einen Euphemismus verwenden. Die Hörer wiederum tendieren dazu, Sätze<br />
innerhalb einer zweiwertigen Logik zu interpretieren. Das heißt, ein Satz ist entweder wahr<br />
oder falsch. Diese Logik wird dadurch begünstigt, dass wahrscheinlich Sätze in der Umgangssprache<br />
meist durch Operatoren wie Ich glaube, dass usw. gekennzeichnet werden. Wird nun<br />
der Hörer mit einem Euphemismus in der politischen Sprache konfrontiert, geht er auch hier<br />
von einer zweiwertigen Logik aus. Er wird den Euphemismus in aller Regel mit dem faktisch<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />
wahren Satz verwechseln. Wenn er die Manipulation aber bemerkt, wird er dem Politiker<br />
generell misstrauen und dessen Euphemismus für faktisch falsche Sätze, also für Lügen halten.<br />
Hierzu folgendes Beispiel aus der deutschen politischen Szene. In einem Interview mit dem<br />
grünen Außenminister Joschka Fischer (Bündnis ´90/Die Grünen), zu den Themen Identitätskrise<br />
der grünen Partei und Reformmüdigkeit der Regierung, stellte der Reporter Fragen bzw. machte<br />
Behauptungen, die vom Politiker mit gegensätzlichen Aussagen beantwortet wurden (Der Spiegel<br />
34, 20.08.2001, S. 24-27):<br />
Spiegel: Spiegel: Genau das bleibt Ihr zentrales Problem in der Regierung – dass die Grünen als Partei Forderungen<br />
vertreten, die sie als Regierung nicht erfüllen können.<br />
Der Reporter vertritt die Meinung, dass die Grünen kein genaues Profil haben und sie folglich<br />
nicht regierungsfähig sind, dass sie immer wieder Kompromisse schließen müssen, um in<br />
der Regierungskoalition zu bleiben. Diese Meinung kann als faktische Wahrheit für mein Beispiel<br />
gelten. Darauf aber antwortet der Außenminister Joschka Fischer Folgendes:<br />
Fischer: Fischer: Aber nein, das Gegenteil ist der Fall. Vielleicht haben wir einen Fehler nicht in der Sache,<br />
sondern im Vorgehen gemacht. Wir stehen für strukturelle Reformen, und das braucht Zeit und<br />
Durchhaltevermögen, wir haben aber zu oft auf das `Sofort`gesetzt.<br />
Auf die Frage Welche Aussage ist richtig und welche ist falsch gibt es nur eine Antwort:<br />
BEIDE sind korrekt, und trotzdem gegensätzlich, weil jeder der beiden Sprecher etwas anderes<br />
anspricht, und Fischers Antwort eigentlich keine Re-Aktion auf die Reporter-Frage ist.<br />
Euphemismen in der Sozialpolitik<br />
Damit die Verständigung im Bereich der Sozialpolitik zwischen Kommunikator und dem<br />
Bürger via Massenmedien funktioniert, müssen die Gesprächspartner sich natürlich im Klaren<br />
darüber sein, was mit der euphemistischen Rede gemeint ist. Das ist normalerweise auch der<br />
Fall. Doch passiert es sehr oft, insbesondere im politischen Sprachgebrauch, dass die Sprecher<br />
versuchen, Sachverhalte zu verschleiern, insbesondere gegenüber Außenstehenden, die nicht<br />
über einschlägiges Wissen verfügen. Als Beispiel dazu möchte ich das am 1. August 2001 in<br />
Deutschland in Kraft getretene Lebenspartnerschaftsgesetz bzw. die dazu erschienenen Zeitungsartikel<br />
in der Süddeutschen Zeitung, der FAZ und dem Wochenmagazin Der Spiegel zitieren.<br />
Dass die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft oder Homo-Ehe auch nach dem neuen<br />
Gesetz mit der heterosexuellen Ehe nicht gleichgesetzt werden konnte, blieb vielen Bundesbürgern<br />
in den ersten Monaten nach Verabschieden des Gesetzes verborgen. Ob die Regierung<br />
aus politischer Überlegung die Wahrheit zu verschleiern versuchte oder lediglich selbst nocht<br />
nicht genau wusste, welches Ausmaß dieses Gesetz haben würde und könnte, sei dahingestellt.<br />
Dass es aber eine verschleiernde Ausdrucksweise gegeben hat bezüglich dieses Gesetzes, kann<br />
zumindest für die Monate August bis Oktober 2001 behauptet werden. Diese ist offensichtlich<br />
aus der Konfusion angesichts der inhaltlichen und sprachlichen Verwirrung, die nach den ersten<br />
verschleiernden Aussagen entstanden ist. Im Weiteren einen Auszug aus der Süddeutschen<br />
Zeitung Nr. 164, Do., 19. Juli 2001, Seite 7:<br />
Wie bei einer Eheschließung erscheinen die Partner (beispielsweise) vor dem Standesbeamten und<br />
erklären, miteinander eine Partnerschaft auf Lebenszeit eingehen zu wollen.( …) Im Normalfall werden<br />
die beiden Partner in der Ausgleichsgemeinschaft leben, die der ehelichen Zugewinngemeinschaft<br />
weitgehend entspricht.<br />
Auf den ersten Blick suggeriert dieser Passus, die standesamtliche Eintragung der Partnerschaft<br />
auf Lebenszeit sei der herkömmlichen Eheschließung mit all ihren Rechten und Pflichten<br />
gleichgestellt. Das ist aber nicht der Fall. Informiert sich der Leser anhand weiterer Zeitungs-<br />
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553
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />
artikel oder liest er gar den eigentlichen Gesetzestext, findet er heraus, dass die Eheschließung<br />
in einigen Bundesländern (z.B. Bayern) eigentlich nicht standesamtlich, sondern notariell eingetragen<br />
wird. Um des Weiteren die Verschleierungen des hier sozialpolitischen Sprachgebrauchs<br />
zu erkennen und verstehen, braucht der Leser einerseits einschlägiges Wissen über Regelungen<br />
einer heterosexuellen Eheschließung und andererseits Wissen über die neuen Regelungen<br />
des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Eingetragene gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften<br />
sollen den Partnern (laut Zeitungsartikel) mehr Sicherheit bieten und die rechtliche<br />
Gleichstellung mit den heterosexuellen Ehen (z.B. Steuerregelung, endgültiges Erbrecht). Die<br />
Gleichstellung ist jedoch am Anfang nicht erreicht und wird auch nicht explizit in den Medien<br />
zum Ausdruck gebracht. Durch das Weglassen äußerst wichtiger Informationen wird hier m.E.<br />
eine verschleiernd euphemistische Wirkung erzielt, um, ganz einfach, ein jahrhundertealtes<br />
Tabu, die Homosexualität, zu umschreiben, aber gleichzeitig den sozialen Notwendigkeiten des<br />
21. Jahrhunderts zu entsprechen. Ob den Politikern auch andere Gründe zum euphemistischen<br />
Verschleiern wichtig waren, muss Thema einer gesonderten Untersuchung bleiben.<br />
Schlussbemerkungen<br />
Anstelle einer wissenschaftlichen Schlussfolgerung, die mir an dieser Stelle verfrüht erscheint,<br />
möchte ich mit den Worten Luthers enden: das Wort und der Sprecher sind zwei verschiedene<br />
Personen. Um diese Aussage vor dem Hintergrund meiner hier präsentierten Recherche<br />
zu deuten, verweise ich auf die Tatsache, dass das Wort des Sprechers bzw. des Kommunikators<br />
als Euphemismus eigentlich ein Begriffsaustausch ist. In einer objektiv zutreffenden Aussage<br />
(gleichzusetzen mit dem Sprecher selbst) werden diejenigen Wörter, die negativ konnotiert<br />
sind und daher weder veschleiernd noch verhüllend wirken, durch neutrale, oft sogar<br />
positive Begriffe ersetzt, so dass die objektiven Tatsachen nicht mehr erkennbar sind. Hier<br />
drängt sich natürlich die Frage auf, ob es bei euphemistischer Rede (insbesondere bei der politischen<br />
Rede) nicht vielleicht beabsichtigt wird, die eigene Meinung zu verbergen und so bewusst<br />
ein falsches Verständnis aufzubauen? Nach beendeter Untersuchung scheint die Annahme<br />
begründet, dass es im politischen Sprachgebrauch beabsichtigte Verschleierungen gibt.<br />
Der Euphemismus erlangt eigenen Status, wird somit zur anderen Wahrheit, zur Wahrheit des<br />
Hörers, der sich der objektiven Wahrheit, die Wahrheit des Sprechers, gegenüberstellen lässt.<br />
Und, sobald die Mehrheit der Bürger, die Mehrheit der Wähler, diese andere (zweite) Wahrheit<br />
eines Politikers erkennt, erkennt sie auch die Dichotomie Sprecher – Wort. Wie Luther es so<br />
treffend sagte: zwei verschiedene Personen.<br />
Primärliteratur<br />
554<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. Frankfurter Allgemeine Zeitung (1. Juli – 30 September 2001)<br />
2. Süddeutsche Zeitung (1. Juli – 30 September 2001)<br />
3. Der Spiegel (1. Juli – 30 September 2001)<br />
4. www.faz.de<br />
5. www.sz.de<br />
6. www.spiegel.de<br />
7. Fernsehsender: Nachrichtensendungen bei Antena 1, Realitatea TV, România 1, NBC, CNN im Zeitraum März-April<br />
2003<br />
Sekundärliteratur<br />
1. BURKHARD, Armin (1988): Sprache in der Politik. Linguistische Begriffe und Methoden. IN: Englisch Amerikanische<br />
Studien 10. S.333-358.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />
2. BUSSMANN, Hadumod (1990): Lexikon der Sprachwissenschaft. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Alfred<br />
Kröner Verlag. Stuttgart.<br />
3. CROMBACH, Michael (2001): Euphemismus und Tabu. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der geisteswissenschaftlichen<br />
fakultät der Universität Salzburg.<br />
4. DANNINGER, Elisabeth (1982): Tabubereiche und Euphemismen. In: Welte, Werner (Hrsg.) (1982): Sprachtheorie<br />
und angewandte Linguistik. Festschrift für Alfred Wollmann. Gunter Narr Verlag. Tübingen. S.237-251.<br />
5. Die Bibel oder Die Ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der Übersetzung Martin Luthers.<br />
Deutsche Bibelstiftung Stuttgart.1978.<br />
6. FAULSEIT, Dieter & KÜHN, Gudrun (1975): Stilistische Mittel und Möglichkeiten der deutschen Sprache. 6., unveränderte<br />
Auflage. VEB Bibliographisches Institut Leipzig.<br />
7. FREUD, Sigmund (1991): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker.<br />
Fischer Taschenbuchverlag. Frankfurt a.M.<br />
8. GALLENKAMP, Elisabeth (1976): Die politische Rolle des Journalisten. Studieneinheit 8. IN: Einführung in die<br />
Kommunikationswissenschaft – Der Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung. Teil 1. Ein Kurs im<br />
Medienverbund. Erarbeitet von einer Projektgruppe am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität<br />
München. Verlag Dokumentation München.<br />
9. GIRNTH, Heiko (1996): Texte im politischen Diskurs. Ein Vorschlag zur diskursorientierten Beschreibung von Textsorten.<br />
In: Hoberg, Hölder, Otto, Pflug, Warner (Hrsg.) (1996): Muttersprache. Vierteljahresschrift für deutsche<br />
Sprache. S.66-79.<br />
10. HASUBECK, Peter & GÜNTHER, Wolfgang (1973): Sprache der Öffentlichkeit. Informierende Texte und informatorisches<br />
Lesen im Unterricht der Sekundarstufe. Pädagogischer verlag Schwann. Düsseldorf.<br />
11. HOLLY,Werner (1985): Politische Kultur und Sprachkultur. Wie sich der Bürger politische Äußerungen verständlich<br />
machen kann. IN: Wimmer, Reiner (Hrsg.) (1985): Sprachkultur. Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache.<br />
12. KLEIN, Josef (1999): Die politische Fachsprache als Institutionensprache. In: Hoffmann, Kalverkämper, Wiegand,<br />
Galinski (Hrsg.) (1999): Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft.<br />
„.Halbband. Walter de Gruyter. Berlin, New York.<br />
13. LEINFELLNER, Elisabeth (1971): Der Euphemismus in der politischen Sprache. Berlin.<br />
14. LUCHTENBERG, Sigrid (1975): Untersuchung zu Euphemismen in der deutschen Gegenwartssprache. Inaugural-<br />
Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-<br />
Universität zu Bonn.<br />
15. MÜLLER, Wolfgang (1973): Leicht verwechselbare Wörter. Bibliographisches Institut. Mannheim.<br />
16. SÖKELAND, Werner (1979): Ein Beitrag zur Theorie der indirekten Sprechakte. In: Vandeweghe, Van de Velde<br />
(Hrsg.) (1979): Bedeutung, Sprechakte und Texte. Akten des 13. Linguistischen Kolloquiums. Bd.2. max Niemeyer<br />
Verlag, Tübingen.<br />
17. STRASSNER, Erich (1992): Dementis, Lügen, Ehrenwörter. Zur Rhetorik politischer Skandale. In: Dyck, Jens, Ueding<br />
(Hrsg.) (1992): Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 11. Rhetorik und Politik. Max Niemeyer Verlag. Tübingen.<br />
18. STRASSNER, Erich (1994): Deutsche Presse und Pressesprache nach 1945. In: Löffler, Jakob, Kelle (Hrsg.) (1994):<br />
Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart.<br />
Festschrift für Hugo Steger zum 65. Geburtstag. Walter de Gruyter. S.225-260.<br />
19. STRAUSS, Gerhard (1986): Der politische Wortschatz. Zur Kommunikations- und Textsortenspezifik. Gunter narr<br />
Verlag. Tübingen.0<br />
20. YHU, Xiaoan (1992): „Wenn sich das Gras bewegt, dann muss auch der Wind blasen!“ Studien zur Metapher in der<br />
deutschen politischen Pressesprache – unter besonderer Berücksichtigung der China-Berichterstattung. Peter<br />
Lang. Frankfurt a.M.<br />
21. ZIMMERMANN, Hans-Dieter (1972): „Der allgemeine Barzel“. In: Rucktäschel (Hrsg.) (1972): Sprache und Gesellschaft.<br />
Wilhelm Fink Verlag. München. S.113.<br />
22. ZÖLLNER, Nicole(1997): Der Euphemismus im alltäglichen und politischen Sprachgebrauch des Englischen. Europäischer<br />
Verlag der Wissenschaften. Frankfurt a.M.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
555
DAS GESPRÄCHSBILD<br />
eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />
Doina Sandu / Doris Sava<br />
Folgende Ausführungen bieten eine Einsicht in Möglichkeiten und Regelhaftigkeiten des Umgangs<br />
mit Sprache und möchten wichtige Aspekte der Verwendung von vorgeprägten Ausdrucksmitteln,<br />
die auf die Erfordernisse der jeweiligen Kommunikationssituation abgestimmt<br />
sind, beleuchten. In der linguistischen Terminologielandschaft stoßen wir nicht selten auf ein<br />
Dickicht von Termini (Überlappungen, gleiche Bezeichnung verschiedener Begriffe, u.a.), was oft<br />
zu Missverständnissen führen kann. Deshalb halten wir eine kurze Terminologieklärung für<br />
notwendig, so wie sie in den aktuellen Nachschlagewerken vorzufinden ist:<br />
- Stereotyp Stereotypie [techn.] Verfahren zur Vervielfältigung von Hochdruckformen;<br />
Schriftsätze aus unbeweglich verbundenen Druckzeilen;<br />
- [ugs.] feststehend, unveränderlich, sinnentleert;<br />
- [soz.-psych.] „Bilder in unseren Köpfen“ – vorgeprägte Konzepte zur Wahrnehmung der<br />
Welt<br />
- Klischee (sprachliches) synonym zu Stereotyp überindividueller Gebrauch von vorgeprägten<br />
Wörtern/Wortgruppen, Formeln, Modewendungen<br />
Ausgangspunkt der Betrachtungen war die Tatsache, dass in der sprachlich-sozialen Interaktion<br />
kommunikative Intentionen auch anhand von “Fertigteilen” aktualisiert werden können.<br />
Der Sprecher kann, um sein kommunikatives Ziel zu erreichen, seine individuelle Formulierungsarbeit<br />
einschränken und sich auf das Reproduzieren vorgegebener Äußerungseinheiten<br />
beschränken. Welche Ziele in der Kommunikation mit der Verwendung dieser ’gebrauchsfertigen’<br />
Ausdrucksformen jeweils verfolgt werden, ist aus dem konkreten Zusammenhang zu<br />
erschließen.<br />
Der Begriff “verbale Stereotypie”, der auf vorgeprägte Wortverbindungen zu beziehen ist,<br />
kennzeichnet den Gebrauch von Ausdrucksmitteln, die als Formulierungsmuster etabliert sind<br />
und auf die die Kommunikationspartner entsprechend zurückgreifen können. (Gülich 1978 zit.<br />
nach Lüger 1989, 3). Diese verfestigten Kommunikationseinheiten zu erfassen und zu beschreiben,<br />
gehört zum Forschungsbereich der Phraseologie. Das Anliegen der hier vorgeführten<br />
Ausführungen besteht darin, anhand eines Ausschnitts aus der Gesamtheit des phraseologischen<br />
Bestandes, Aspekte ihres Gebrauchs vorzuführen, wobei ihre komplexe Beschaffenheit<br />
und die damit verknüpften Besonderheiten den allgemeinen Diskussionsrahmen darstellen.<br />
Die Eigenarten dieser sprachlichen Benennungsmittel lassen ihre speziellen Möglichkeiten im<br />
Text/in der Äußerung hervortreten und Fragestellungen hinsichtlich ihrer Leistung im Interaktionsablauf<br />
aufkommen. In der Behandlung dieses Sonderaspekts verbaler Kommunikation<br />
sollen nur manche Auffälligkeiten beleuchtet werden, um Sprache und ihrem Gebrauchswert<br />
Aufmerksamkeit zu schenken. Die Darstellung konzentriert sich auf die Leistungsbeschreibung<br />
fester, standardisierter Äußerungsmittel in Alltagsgesprächen. Formelhaftigkeit kann auf verschiedenen<br />
Ebenen beschrieben werden. Aus dem umfangreichen Spektrum der relevanten<br />
Stereotype seien hier als Beispiele vor allem (a) idiomatische Wendungen und (b) satzwertige<br />
Phraseologismen genannt.
Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />
Die Vielfalt gebundener Formen zeigt, dass der Gegenstandsbereich der Phraseologie uneinheitlich<br />
ist. Eine weit gefasste Phraseologie-Forschung geht über die Grenzen der<br />
traditionellen Phraseologie hinaus. Mit Gülich (1997, 170) ist Phraseologie in einem weiten<br />
Verständnis das Gebiet der Linguistik, in dem Formelhaftigkeit oder Vorgeformtheit in einem<br />
umfassenden Sinn untersucht wird. Gegenwärtig werden vor allem Aspekte der Verwendung<br />
phraseologischer Einheiten diskutiert. Auf die ständige Ausweitung des Gegenstandsbereichs<br />
der Phraseologie haben viele Linguisten hingewiesen. Gemäß einer weiten Auffassung von<br />
Phraseologie gehören in den Bereich der Phraseologie auch die sogenannten „Routineformeln“.<br />
Die Einbeziehung solcher Ausdrücke in die Idiomatik wurde von Burger (1973) vorgeschlagen.<br />
Coulmas führt Routineformeln neben Redewendungen, Sprichwörtern und Gemeinplätzen als<br />
„Arten verbaler Stereotype“ an und benutzt sie als Argument für eine „pragmatische<br />
Fundierung der Idiomatik“ (Coulmas 1981, zit. nach Gülich 1997, 144): „Routineformeln sind<br />
wie Sprichwörter oder auch Gemeinplätze Muster für die Konstituierung von Handlungen, und<br />
zwar von solchen Handlungen, die sich in der alltäglichen kommunikativen Praxis jeder Sprachgemeinschaft<br />
wiederholen. Sie sind an rekurrente Situationen des sozialen Verkehrs gebunden<br />
und sind als Resultat dieser Situationsstandardisierungen zu betrachten.“ „Phraseologismus“<br />
wäre demnach Oberbegriff für verschiedene Typen formelhafter Ausdrücke aufzufassen. Die<br />
Darlegungen zur Erfassung des Begriffs 'Phraseologismus' verzeichnen eine vielfältige, uneinheitliche<br />
terminologische Festlegung. Unabhängig zahlreicher Definierungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten<br />
werden die unter dem Oberbegriff 'Phraseologismus' subsumierten<br />
Erscheinungen in ihrer formalen und semantischen Eigenart von den übrigen Lexemen abgehoben.<br />
Auch Lüger (1989, 1998) greift das Problem der Erweiterung des Gegenstandsbereichs der<br />
Phraseologie auf, indem er in einem umfassenden Konzept von Stereotypie auch eine textuelle<br />
Ebene einbezogen haben will; folglich sei der Bereich der Phraseologie so auszudehnen, dass<br />
nicht allein satzgliedwertige Einheiten, sondern auch größere Einheiten einbezogen werden:<br />
Routineformeln, satzwertige Ausdrücke, Äußerungssequenzen oder ganze Texte, die als vorgeprägt<br />
oder musterhaft gelten. Der Forschungsbereich der Phraseologie müsse die Textdimension<br />
umfassen: “[…] man [wird] sich in Zukunft weiter den Peripherie- und Übergangsphänomenen<br />
zuwenden und die Phraseologie auch als Schnittstelle etwa zur<br />
Text(sorten)linguistik, zur Ritualforschung und zur Gesprochenen-Sprache-Forschung begreifen<br />
müssen”. (Stein 1994 zit. nach Lüger 1998, 44). Auch Gülich (1997) stellt die Frage zur Diskussion,<br />
ob man Textteile oder sogar ganze Texte als Phraseologismen beschreiben kann und<br />
damit auch die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Phraseologie, nach möglichen Erweiterungen<br />
oder Eingrenzungen. Ich berücksichtige die Formenvielfalt der ‘Fertigteile’, die uns<br />
die Sprache zur Verfügung stellt, und gehe bei den Betrachtungen von einem weiten Phraseologiebegriff<br />
aus, d.h. ich beschränke mich nicht nur auf den phraseologischen Kernbereich.<br />
Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen demnach einerseits diejenigen Erscheinungen, die<br />
als zentrale Gruppe innerhalb phraseologischer Einheiten mit Begriffen wie Idiom, Phraseolexem,<br />
Phrasem, Redensart, Redewendung, Wendung (mit Spezifizierungen wie 'idiomatisch',<br />
'sprichwörtlich', 'bildlich', 'fest' oder 'gebunden'), Wortgruppenlexem, fester Ausdruck, feste<br />
Formel, Stereotyp, phraseologische Einheit, feste Wortgruppe, phraseologische Wortfügung,<br />
feste Wortverbindung umschrieben wurden und die die Minimalstruktur einer Wortgruppe aufweisen.<br />
Unter dem Begriff 'phraseologische Einheiten' sind allgemein nicht satzwertige Wortgruppen<br />
mit unterschiedlicher syntaktischer Struktur und mehr oder weniger ausgeprägter Umdeutung<br />
der Komponenten zu verstehen. Im folgenden soll die Vielgestaltigkeit formelhafter<br />
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Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />
Kommunikationseinheiten verdeutlicht werden, indem das Augenmerk auch auf die Beschreibung<br />
von Satzphraseologismen gerichtet wird. Verbale Stereotype oder satzwertige<br />
Phraseologismen/Satzphraseologismen auch Satzidiome (in der Fachliteratur auch unter<br />
folgenden Termini angeführt: kommunikative Formeln, Routineformeln, kommunikative<br />
Phraseologismen, pragmatische Idiome, situationelle Redewendungen, situationsgebundene<br />
Stereotype)(Lüger 1998, Wotjak 1996; Wotjak./Richter 1993; Fleischer 1982; Sandu 1993;<br />
Heller 1980; Burger 1973; Hessky/Ettinger 1997, Lüger 1989) sind weitverbreitete standardisierte<br />
fest stehende Formeln, Bemerkungen, Ausrufe, mit oder ohne Satzstruktur, die uns<br />
die Sprache für bestimmte Situationen gebrauchsfertig zur Verfügung stellt und die als Signale<br />
in bestimmten pragmatischen Situationen fungieren. Sie sind nach Kühn (1992, 415) “funktionsbezogen”<br />
zu beschreiben und werden als ‘festgeprägte Sätze’ in verschiedenen Kommunikationssituationen<br />
geäußert. Das Definitionskriterium für diese Erscheinungen, das alle Autoren<br />
benutzen, ist ihre Bindung an einen bestimmten Typ von Situation. Es handelt sich folglich um<br />
komplexe Ausdrücke, die eine starke kontextuelle Bindung aufweisen und deren Gebrauch<br />
weitgehend aus den gegebenen Kommunikationsbedingungen erklärbar ist. Ebenfalls als vorgeprägte<br />
Einheiten der Kommunikation sind hier Konstruktionen anzuführen, die sich als<br />
Phraseoschablonen, Aphorismen, Sentenzen, Maximen, Sinn- und Sittensprüche, Zitate, geflügelte<br />
Worte, Sprichwörter, Sprüche, Gemeinplätze, Wellerismen bezeichnen lassen. Als intentional<br />
verwendbare Einheiten sind sie funktional vollständig. Das Kriterium der funktionalen<br />
Vollständigkeit ist nach Lüger (1989) bei der Klassifizierung der Erscheinung „Stereotypie“ relevant.<br />
Gesprächsanalytisch untersucht werden zunächst feste nichtsatzwertige Wortverbindungen,<br />
die das sprachliche Miteinander-Umgehen, das Sprachverhalten der Kommunikationsteilhaber<br />
thematisieren, auf Strategien der Gesprächsführung und der Rollenübernahme hinweisen, die<br />
darauf hindeuten, wie Gesprächspartner ihre verbalen Reaktionen gegenseitig interpretieren.<br />
Hier müssen z.B. die zahlreichen Phraseologismen mit den Komponenten sprechen/Sprechen,<br />
Sprache, reden/Rede/Gerede, sagen/Sagen, sowie Wort, Mund, Mundwerk, Maul, Maulwerk,<br />
Mühle/Mühlwerk, Schnabewel, Zunge, Lippe angeführt werden. Andererseits werden satzwertige<br />
Phraseologismen präsentiert, mit deren Verwendung unterschiedliche Handlungen vollziehbar<br />
sind. Allgemein betrachtet, handelt es sich um Beschreibungen der Vorgehensweisen der Gesprächsbeteiligten<br />
bei der Gesprächssteuerung und -gestaltung. Dabei kann der Aussagewert<br />
von Phraseologismen festgelegt werden, ihre Wirkung im Sprachgebrauch.<br />
Der Sprachgebrauch stellt den Sprachteilhabern eine Anzahl von variablen Ausdrucksmöglichkeiten<br />
zur Verfügung. Gemäß der Absicht des Sprechers werden durch die Sprache<br />
Inhalte vermittelt mit dem Ziel, etwas zu bewirken, zu verändern, zu erreichen, zu veranlassen.<br />
Dieselbe sprachliche Mitteilung lässt sich auf verschiedene Weise in Worte kleiden. Sprechen<br />
als soziales Handeln erfolgt in einem sozialen Kontext und impliziert eine Reihe von Faktoren.<br />
Im Verlauf des Gesprächs wechseln die Beteiligten ihre Rolle untereinander, d.h. die Initiative in<br />
der Entwicklung und im Verlauf eines Gesprächs geht von einem Kommunikationspartner zum<br />
anderen über. Die wechselnde Rollenübernahme ist Teil der Gesprächsdynamik. Auf einen<br />
Initiativenwechsel/-austausch und damit auf die Rederechtübernahme weisen u. a. folgende<br />
Phraseologismen hin: jmdm. das Wort geben/erteilen, sich zu Wort melden, jmdm. das Wort aus<br />
dem Mund(e) nehmen, jmdm. ins Wort/in die Rede fallen, jmdm. das Wort entziehen/verbieten,<br />
jmdm. das Wort abschneiden, um das Wort bitten, das Sagen haben, den Takt angeben. Der<br />
Rollenwechsel im Gespräch wird von unterschiedlichen Faktoren mitbestimmt. Er geht auch<br />
davon aus, je nachdem ob die Kommunikationsteilnehmer gleichberechtigt, sozial gleichgestellt<br />
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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />
sind oder nicht. Der Sprecher muss auch seinem Kommunikationspartner den Status als Gesprächspartner<br />
anerkennen, Bereitschaft zur Kommunikation haben. Partnerunterstützende<br />
phraseologische Einheiten sind z.B.: für jmdn. Partei ergreifen/nehmen, an einem/am<br />
gleichen/am selben Strang ziehen, sich etw. nicht zweimal sagen lassen, jmdm. das Rückgrat<br />
stärken, jmdm. den Rücken stärken/steifen, ein gutes Wort für jmdn. einlegen.<br />
Zur Verwirklichung seiner kommunikativen Absichten wird ein Gesprächsteilnehmer versuchen,<br />
je nach Kommunikationssituation geeignete Strategien bezüglich der Hörerreaktion<br />
anzuwenden. Das Einreden auf den Dialogpartner, die Veranlassung einer Handlung oder zur<br />
Auslösung einer Reaktion beim Gesprächspartner können phraseologische Einheiten eingesetzt<br />
werden, die sich z. B. unter die Begriffe ‘auf jmdn. ununterbrochen einreden’/’jmdn. fragen/ausfragen’<br />
gruppieren lassen: jmdm. ins Gewissen reden, sich den Mund fransig/fusselig reden,<br />
jmdm. in den Ohren liegen, bitten und betteln, jmdm. ein Loch/Löcher in den Bauch/Arsch<br />
reden/fragen, reden wie ein Wasserfall/Buch, jmds. Mund geht wie ein Mühlwerk, ohne Punkt<br />
und Komma reden, jmdn. mit Fragen überschütten/bombardieren. Zur Auslösung einer Reaktion<br />
beim Gesprächspartner können aber auch Einheiten eingesetzt werden, die eine Einschätzung<br />
des Informationswertes einer Aussage durch den Adressaten ausdrücken: etw./das ist (alles)<br />
kalter Kaffee, etw. ist Schnee vom vergangenen Jahr/ von gestern, etw. ist ein alter Hut, etw. ist<br />
eine alte Weste, etw. ist aufgewärmter Kohl, etw. ist schon in tausend Zungen gepredigt worden,<br />
etw. ist das alte Lied/die alte Leier, (das ist) dasselbe in Grün, (es ist) immer dieselbe/die<br />
gleiche/die alte Platte, Blech reden, dummes Zeug reden, Unsinn/Makulatur reden, Mist reden,<br />
hellen Unsinn reden, albernes Gerede. Beim Vollziehen kommunikativer Handlungen muss sich<br />
der Handelnde an den Reaktionen des anderen orientieren. Die Reaktionen des Empfängers –<br />
die sowohl sprachlich als auch nichtsprachlich ausfallen können – sind das Ergebnis des Dekodierungsprozesses<br />
und können – vorausgesetzt, dass sie den Sender erreichen – zu neuen<br />
Gesprächsbeiträgen führen. Viele Phraseologismen bringen die Reaktionen des Angesprochenen<br />
auf den Punkt. Als explizite Zeichen der Zuwendung auffassbar, werden die Meldungen des<br />
Hörerverhaltens – die intendiert sind - als Rückmeldungen/Rückmeldungsverhalten bezeichnet.<br />
Das Rückmeldungsverhalten deutet darauf hin, dass der Hörer den Formulierungsprozess mitverfolgt.<br />
Andererseits signalisieren die Meldungen des Dialogpartners, dass dieser die Übernahme<br />
der Sprecherrolle plant. Das Verhalten des Hörers, das fast gleichzeitig zum Verlauf des<br />
Specherbeitrags läuft, beeinflusst den weiteren Ablauf und den Weitergang der<br />
Kommunikation. In der Beschreibung verbaler Kommunikation wird dem Hörer eine besonders<br />
wichtige Rolle zugeschrieben. Er hat den entscheidenden Anteil an der Verwirklichung der Kooperation,<br />
die als Grundvoraussetzung einer Interaktion gilt. Die Hörerbeteiligung kann aktiv<br />
oder passiv erfolgen, auf jeden Fall wird der Angesprochene ein bestimmtes Verhalten zeigen.<br />
Hinsichtlich des Rückmeldungsverhaltens lassen sich Phraseologismen sowohl dem sprachlich<br />
formulierten Hörerverhalten als auch den nichtsprachlichen Reaktionsmöglichkeiten zuschreiben.<br />
Auf ein bestimmtes Verhalten des Adressaten weisen Phraseologismen hin, deren<br />
Bedeutung sich mit ‘aufmerksam zuhören’ vs. ‘nicht zuhören/ignorieren’ umschreiben lässt: an<br />
jmds. Lippen hängen, ganz (Auge und) Ohr sein, Augen und Ohren offenhalten/aufhalten, die<br />
Augen aufmachen/aufsper-ren/auftun, die Ohren aufmachen/aufsperren, die Ohren/die Löffel<br />
spitzen, ganz Ohr sein, lange/spitze Ohren machen, jmd. hört wie elektrisiert mit, jmd. ist gespannt<br />
wie ein alter Regenschirm, jmd. macht lange Ohren, jmd. spitzt die Löffel/die Lauscher wie<br />
ein Feldhase in der Jagdsaison, jmd. hat seine Augen vorn und hinten, jmd. passt auf wie ein<br />
Schiesshund, bei jmdm. ein offenes/williges Ohr finden, ein offenes Ohr für jmdn. haben, jmdm.<br />
Gehör schenken, mit halbem Ohr zuhören/hinhören, tauben Ohren predigen, etw. geht zu einem<br />
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Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />
Ohr hinein/rein und zum anderen wieder hinaus/raus, auf den/seinen Ohren sitzen, bei jmdm.<br />
kein Gehör finden, etw. in den Wind schlagen, in den Wind reden, gegen die/eine Wand reden,<br />
zum Fenster hinaus reden, jmdn. mit dem Rücken ansehen, jmdm./etw. den Rücken<br />
kehren/wenden/zudrehen, für etw. blind sein, über etw. hinwegsehen, sich einen Dreck um nichts<br />
kümmern, jmdn. wie Luft behandeln, Luft für jmdn. sein, jmdn. keines Blickes würdigen,<br />
jmdn./etw. links liegen lassen. Weitere das Verhalten des Dialogpartners beschreibende<br />
Phraseologismen sind: jmdm. aufs Maul schauen, reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist,<br />
reden, wie jeder es versteht, fluchen wie ein Bierkutscher, jmd. gibt (überall) seinen Senf dazu,<br />
[vor jmdm.](seine) schmutzige Wäsche waschen. Manche Phraseologismen weisen auf<br />
Strategien hin, die dem Sprecher den Kommunikationserfolg sichern sollen: jmdm. geht/fliesst<br />
etw. leicht/glatt von den Lippen/von der Zunge, alles/jedes Wort auf die Goldwaage legen, Stein<br />
und Bein (auf etw.) schwören, aus einer Mücke einen Elefanten machen, etw. grau in grau<br />
sehen/… , etw. schwarz in schwarz malen/darstellen/schildern, etw. in den schwärzesten Farben<br />
malen/darstellen/schildern, das Pro und Contra abwägen, Gründe und Gegengründe geben, jmd.<br />
hängt einer Sache ein Mäntelchen um, jmd. macht aus teigigen Birnen böhmische Feigen, reden<br />
wie ein Buch, reden wie aufgezogen, reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, reden, wie<br />
jeder es versteht, seine Zunge im Zaum halten/zügeln, sich auf die Zunge beissen (müssen). Die<br />
Hörerbeteiligung kann sowohl sprachlich als auch nichtsprachlich erfolgen. Der Angesprochene<br />
reagiert auf das Gesagte/Gehörte und das, was er gerade wahrgenommen hat, kann er<br />
akzeptieren oder ablehnen. Die nichtsprachlichen Reaktionen der Dialogpartner halten folgende<br />
Phraseologismen fest: etw. steht jmdm. im Gesicht geschrieben, ein Gesicht machen wie<br />
drei/sieben Tage Regenwetter, ein langes Gesicht machen/ziehen, jmdn. keines Blickes würdigen,<br />
keine Miene verziehen, ohne mit der Wimper zu zucken, jmdm. die kalte Schulter zeigen, jmdn.<br />
über die Schulter ansehen, jmdn. über die Achsel ansehen, die (mit den) Achseln zucken, den<br />
Mund/Mund und Augen/Mund und Nase aufsperren/aufreißen, Stielaugen machen/bekommen<br />
/kriegen, die Augen aufreißen, jmdn. mit den Augen verschlingen/verzehren, die Hände überm<br />
Kopf zusammenschlagen, die Stirn in Falten legen, mit der Faust auf den Tisch schlagen,<br />
jmdm./etw. den Rücken kehren/wenden/zudrehen, von einem Ohr zum anderen strahlen/<br />
grinsen/lachen, zu Tode betrübt sein, auf-/hochfahren wie von der Tarantel gestochen, aussehen<br />
wie eine gebadete Maus, dastehen wie die Kuh vorm neuen Tor, dastehen/aussehen wie versteinert,<br />
zittern wie Espenlaub. Darüber hinaus weisen zahlreiche Phraseologismen darauf hin,<br />
dass sich mit ihrem Einsatz Konsequenzen für den Weiterlauf des Gesprächs ergeben. Es geht<br />
hier um Fügungen, die sich unter den Leitbegriffen ‚sich irren/falsch liegen/sich täuschen/fehl<br />
einschätzen‘, und ‚unverständlich sein‘ vs. ‚nichtssagend/oberflächlich‘ gruppieren lassen: etw.<br />
in den falschen/verkehrten Hals bekommen/kriegen, im falschen Laden/im falschen Film/auf der<br />
falschen Fährte sein, im falschen Zug/im falschen Boot sitzen, auf dem falschen Dampfer<br />
sein/sitzen, an der falschen/verkehrten Adresse sein, falsche Schlüsse ziehen, auf dem Holzweg<br />
sein/sich befinden. Auf die Unverständlichkeit einer Aussage/Handlung beziehen sich: in Rätseln<br />
sprechen/reden, sich keinen/einen Vers auf etw. machen können, etw. kommt jmdm. spanisch<br />
vor, Bahnhof verstehen, etw. ist chinesisch für jmdn.<br />
Die Teilnehmer an einem Gespräch müssen ihre Äußerungen spezifisch auf den jeweiligen<br />
Äußerungsadressaten und dessen Vorwissen zuschneiden. Die Formulierungstätigkeit fällt je<br />
nach Zeit-/Raumfaktor, Beziehung der Kommunikationspartner zueinander, Befindlichkeit der<br />
Kommunikationspartner usw. unterschiedlich aus. Zahlreiche Phraseologismen weisen auf die<br />
Formulierungstätigkeit (‚jmdm. direkt‘ vs. ‚indirekt etwas mitteilen‘) hin: (sich) kein Blatt vor den<br />
Mund nehmen, mit der Tür ins Haus fallen, mit etw. nicht hinterm Zaun halten, jmdm. etw. unter<br />
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Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />
die Nase reiben, jmdm. etw. auf den Kopf zusagen, mit jmdm. Klartext sprechen/reden, das Herz<br />
auf der Zunge tragen/halten, frisch/frei von der Leber weg erzählen/reden/sprechen, jmd. lässt<br />
sich keine Spinne übers Maul wachsen, mit der Sprache herausrücken, das Kind bei Namen und<br />
Vornamen, etw./das Kind beim (rechten/richtigen) Namen nennen, eine deutliche Sprache mit<br />
jmdm. sprechen, den Nagel auf den Kopf treffen, etw. auf den Punkt bringen, ins Schwarze<br />
treffen, kurz und bündig, offen und ehrlich, kurz und schmerzlos; vs. um den (heissen) Brei<br />
herumreden, wie die Katze um den heißen Brei um etw. herumgehen/herumschleichen, durch die<br />
Blume sprechen, [jmdm.] etw. durch die Blume sagen.<br />
Zu den Faktoren, die eine Gesprächssituation mitprägen, gehört auch die Vorstellung der<br />
Gesprächspartner voneinander, das Image eines jeden Teilhaber am Gespräch in den Augen<br />
der/des anderen, oder in seiner eigenen Einschätzung. Wie sich die Kommunikation entwickelt,<br />
hängt auch von dem Bild ab, das die Gesprächsteilnehmer in der Interaktion von sich selbst<br />
schaffen. Die am Gespräch Beteiligten sind darum bemüht ihr Image zu pflegen. Die von den<br />
Teilnehmern verwendeten Strategien dienen nicht nur der Vermittlung von Informationen, sondern<br />
weisen darauf hin, dass die Agierenden sich bemühen, sich ihren Gesprächspartnern gegenüber<br />
in einem günstigen Licht zu präsentieren. Bei der Diskussion um die Gestaltung des<br />
Images spielt die Tatsache eine Rolle, dass Phraseologismen gegenüber den nichtphraseologischen<br />
Entsprechungen ein “Bündel evaluativer Handlungen, Einstellungen, Imagebezeugungen”<br />
ausdrücken können. (Kühn 1994, 420) Aus der Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten,<br />
sein Image zu pflegen bzw. zu gestalten sollen hier nur einige Möglichkeiten vorgestellt<br />
werden. Es geht einerseits um die Begriffe ‘schmeicheln/loben/heucheln’: jmdm. Honig/Pappe/<br />
Brei um den Bart/ums Maul/ um den Mund schmieren/streichen, sich bei jmdm. lieb Kind<br />
machen, jmdn./etw. über den grünen Klee loben, jmdm. Zucker in den Hintern/Arsch blasen,<br />
jmdn. in den Himmel heben, Süßholz raspeln, jmdm. in den Hintern kriechen und den Eingang<br />
verteidigen, sich bei jmdm. eine braune Zunge abverdienen, jmdm. ums Maul streichen, jmdm.<br />
Pappe ums Maul schmieren, jmdm. die Ohren melken, es jmdm. honigsüß einträufeln, jmdm. um<br />
den Bart gehen, sich wie Katzen verhalten – vorne lecken und hinten kratzen, in den süßesten<br />
Tönen flöten, jmd. hat eine glatte Zunge, jmd. möchte dem lieben Gott die Füße küssen, mit dem<br />
Schwanz wedeln und mit den Zähnen beißen, Zucker klopfen, jmd. hat Zucker im Mund. Andererseits<br />
um ‚angeben/prahlen/aufbauschen/schwülstig sprechen‘: Hefe in den Schuhen haben,<br />
angeben wie ein Wald voll Affen, angeben wie ein nackter Affe/ zehn nackte Affen, mit Jägerlatein<br />
um sich werfen, ein Maul so groß wie ein Scheunentor haben, daherkommen wie ein aufgeblasener<br />
Frosch, jmd. hat eine Schnauze wie ein Kanaldeckel, angeben wie ein Sack voll<br />
Mücken/wie ein Tüte voll Wanzen/wie zehn nackte Neger/ein Sack Flöhe, den Mund/das Maul<br />
(zu) voll nehmen/aufreißen, einen großen Mund haben/führen, die Klappe aufreißen, die große<br />
Klappe schwingen, das Maul sperrangelweit aufreißen, die große Posaune blasen, viel Wind<br />
machen, auf die Pauke hauen, jmdm. einen blauen Dunst vormachen, hohe Noten pusten, den<br />
Rachen weit aufreißen, sich spreizen wie ein Pfau, große Bogen spucken, sich aufplustern wie<br />
eine Henne auf ihrem Nest, sich aufplustern wie die älteste Glucke auf der Stange, daherkommen<br />
wie der gestiefelte Kater, große (dicke) Töne reden (schwingen)(spucken), hohe Töne schwingen,<br />
vom großen Christoph reden, dick auftragen, angeben wie eine Tüte Bienen.<br />
Manche Gesprächssituationen entwickeln sich in eine nicht immer voraussehbare Richtung,<br />
das Gleichgewicht kann durch eine Äußerung und/oder Handlung gestört sein. Auf ‘Ablehnung/Abweisung’<br />
ausgerichtet sind: jmdm. die Tür vor der Nase zuschlagen, jmdm. einen Korb<br />
geben, jmdn. mit rauchenden Ohren abblitzen lassen, jmdm. den Rücken zuwenden, jmdn. mit<br />
eisiger Miene empfangen, jmdm. die kalte Schulter zeigen, jmdm. einen Korb geben, sich einen<br />
Korb holen, einen Korb bekommen/erhalten/kriegen, auf Distanz zu jmdm. gehen, jmdn. nicht<br />
riechen können, einen Pik auf jmdn. haben, jmdn. abblitzen lassen, jmdm. eine Abfuhr erteilen,<br />
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jmdm. den Buckel herunterrutschen, jmdm. den Rücken wenden/kehren, jmdn. in die Pfanne<br />
hauen. Auf das Konfliktsituationen und damit auf Image-Verletzung/-Zerstörung beziehen sich:<br />
sich in den Haaren liegen, sich um des Kaisers Bart streiten, einen Streit vom Zaun(e) brechen,<br />
das Kriegsbeil ausgraben/begraben, Öl ins Feuer gießen. Hierher gehören auch Phraseologismen,<br />
deren Bedeutung mit ‚beschimpfen/beleidigen/zurechtweisen‘, ‚ausschimpfen/schimpfen/tadeln/Meinung<br />
sagen, Vorwürfe machen/züchtigen/bösartige Bemerkungen machen’ beschrieben<br />
werden kann: jmd. hat eine scharfe/spitze/freche/spöttische/lose/böse/ boshafte Zunge, über<br />
jmdn./etw. das Maul zerreißen, Haare auf den Zähnen haben, jmdm. auf den Schwanz/auf die<br />
Zehen treten, jmdm. mit dem nackten Hintern ins Gesicht springen, jmdn. vor den Kopf stossen,<br />
jmdn. bis ins Mark treffen, jmdm. einen verbalen Leberhaken verpassen, jmdn. zur Sau/zur<br />
Schnecke machen, jmdm. übers Maul fahren, jmdn. aus den Lumpen schütteln, jmdn. ins Gebet<br />
nehmen, jmdm. das Oberstübchen fegen, etw. stallfrisch sagen, etw. unter die Nase reiben, sich<br />
jmdn. vorknöpfen, den Knüppel aus dem Sack lassen, den richtigen Ton anschlagen, das Kind<br />
beim (rechten) Namen nennen, jmdm. auf den Sack niesen/husten, jmdm. auf die Beine/auf die<br />
Zehen/auf die Hühneraugen treten, jmdn. in seine Schranken weisen/zeigen, was eine Harke ist,<br />
jmdm. aufs Dach steigen/auf die Finger/Pfoten klopfen/die Flötentöne beibringen/auf den Deckel<br />
spucken, jmdm. eine Lektion/die Leviten//die Epistel/die Kapitel/den Text lesen, jmdn. mit<br />
scharfer Lauge taufen, mit jmdn. hart/scharf/streng ins Gericht gehen, kein gutes Haar (Härchen)<br />
an jmdm./etw. lassen, auf jmdm. herumreiten/herumhacken, jmdn. fix und fertig machen, jmdm.<br />
eine Standpauke halten, mit jmdm. Fraktur reden, jmdm. das Halleluja singen, jmdm. die Grillen<br />
austreiben, jmdm. die gelbe Karte zeigen, jmdm. die Haare schneiden, jmdm. etw. flüstern, jmdn.<br />
das Vaterunser lehren, jmdm. die Zähne ziehen, mit jmdm. Klartext sprechen, jmdm. die Hühneraugen<br />
operieren, jmdm. etw. auf die Mütze geben, jmdm. etw. um die Ohren hauen, jmdn. bei den<br />
Ohren nehmen, jmdm. die Löffel lang ziehen, jmdn. kalt rasieren, mit jmdm. Karussell fahren,<br />
jmdm. den Marsch blasen, jmdm. etw. aufs Butterbrot schmieren/streichen, jmdm. eins auf den<br />
Deckel geben, jmdm. auf die Finger klopfen, eins/etw. auf die Finger bekommen/kriegen, eins auf<br />
den Kopf bekommen, jmdn. ins Gebet nehmen, jmdm. den Kopf waschen, jmdm. eine Lektion erteilen,<br />
jmdm. die Leviten lesen, jmdm. (gehörig) den Marsch blasen, jmdm. die Ohren lang ziehen,<br />
jmdn. zur Schnecke machen, ein Haar in der Suppe finden, etw./jmdn. in der Luft zerreißen, jmdn.<br />
in die Pfanne hauen, jmdn. in Grund und Boden kritisieren jmdn. fix und fertig machen jmdm.<br />
eine Gardinenpredigt halten, jmdm. etw. unter die Weste jubeln.<br />
Jeder Gesprächsschritt wird als Reaktion auf den vorhergehenden Gesprächsbeitrag des<br />
Partners verstanden. Jeder Sprecher beachtet bei der Gestaltung seines Eingriffs auch das von<br />
beiden Seiten vorher Gesagte. Je nach Bearbeitung bereits produzierter kommunikativer Handlungen,<br />
kann der Umfang der Fortsetzungsmöglichkeiten im Gespräch unterschiedlich ausfallen;<br />
im Gegenzug des Partners ein Ergänzen, Modifizieren, Abwandeln, ein Akzeptieren oder<br />
sogar eine Zurückweisung des bereits Geäußerten erfolgen. In authentischen Gesprächen sind<br />
zahlreiche Zusätze vorzufinden, redeorganisierende Sprechakte, metakommunikative Einschübe,<br />
Schweigephasen, Äußerungsüberlappungen, Einschubsequenzen. Schweigen ist als Ausdrucksmöglichkeit<br />
in das Gespräch miteinzubeziehen. Das Ausbleiben einer sprachlichen Reaktion<br />
kann als Überzeugtsein, Rückzug in diplomatischer Zurückhaltung, Zustimmung, Überraschtheit,<br />
als Ausdruck der Ablehnung, als Hinweis auf die psychische Verfassung des Dialogpartners<br />
usw. gedeutet werden. Während des Schweigens kann der Kommunikationsteilhaber aber auch<br />
überlegen, über das eben Gesagte nachdenken, es kritisch abwägen oder einen Kommunikationsfortgang<br />
planen, vielleicht auch an die Eröffnung anderer Gespräche denken. Der Angesprochene<br />
kann zwischen Reagieren und Nichtreagieren wählen und sich beispielsweise für<br />
die Unterlassung des reaktiven Gesprächsschrittes entscheiden. Das kann zu Störungen in der<br />
562<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />
Kommunikation führen, die sich negativ auf den weiteren Kommunikationsablauf, auf die weitere<br />
Gestaltung der Sprecher-Hörer-Beziehung auswirken, zu einer Änderung der Gesprächsrichtung.<br />
Die Akzeptierung oder Nichtakzeptierung der kommunikativen Intention bringt der<br />
Hörer durch einen Sprechakt oder durch eine nichtsprachliche Handlung zum Ausdruck. An der<br />
Stelle des Sprechakts kann auch Schweigen treten. Eine ausbleibende verbale Reaktion, die als<br />
sprecherinitiiert oder hörerdeterminiert eingestuft werden kann, ist für die Weiterentwicklung<br />
der Kommunikation ausschlaggebend. Die Suche nach dem richtigen Wort/das (plötzliche)<br />
Schweigen/die psychische Verfassung des Kommunikationsteilhabers verdeutlichen folgende<br />
Phraseologismen: nach/um Worte ringen, das Wort schwebt/liegt jmdm. auf der Zunge/auf den<br />
Lippen, den Mund nicht aufbekommen/aufkriegen, jmdm. fehlen die Worte, jmdm. die Sprache<br />
rauben/verschlagen/nehmen, jmdm. bleibt die Sprache weg, jmdm. den Mund/das Maul stopfen,<br />
das Maul/die Klappe halten, kein Wort (mehr) über etw. verlieren, seine Zunge hüten/zügeln/im<br />
Zaum halten/beherrschen können, in sieben Sprachen schweigen, tot schweigen, sich in<br />
Schweigen hüllen, verschwiegen wie ein Grab sein, die Kiemen nicht auseinanderkriegen, keinen<br />
Ton von sich geben, keinen Mucks machen, die Angst bindet jmdm. die Zunge, keinen Laut von<br />
sich geben, kein Wort fallen lassen.<br />
Der Sender produziert unter Berücksichtigung der Kommunikationssituation und seiner Auffassung<br />
von dem Empfänger einen Kommunikationsakt mit Hilfe seiner pragmatischen<br />
Kompetenz und realisiert ihn mit mit Hilfe seiner sprachlichen Kompetenz. Der Empfänger dekodiert<br />
den entstandenen Text mit Hilfe der entsprechenden Kompetenzen unter Berücksichtigung<br />
der situationellen Faktoren und seiner Kenntnisse von dem Sender. Die<br />
Kommunikation als eine soziale Handlung ist dann gelungen, wenn die Intention des Sprechers<br />
richtig dekodiert wird, d.h. der Inhalt der Äußerung intentionsmässig angekommen ist. Für das<br />
Gelingen einer sprachlichen Handlung sind situationsspezifische, gesellschaftsspezifische,<br />
sprecher- und hörerspezifische Regeln verantwortlich. Die Sprach- und Kommunikationsteilhaber<br />
kommunizieren miteinander indem sie als Träger von Sprache und Kultur, von<br />
Kontextwissen Äußerungen produzieren und rezipieren. Dabei ist offensichtlich, dass die Ausdrucksmöglichkeiten<br />
mit der Bedeutung „schweigen“ weniger zahlreich im phraseologischen<br />
Bestand der deutschen Sprache vertreten sind im Unterschied zu denen, deren Bedeutung<br />
„sprechen“ ist.<br />
Der Umgang mit formelhaften Kommunikationseinheiten gehört zum Sprach- und Alltagswissen<br />
der Mitglieder einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Die Agierenden konzentrieren<br />
sich auf die Verfolgung ihrer kommunikativen Ziele in der Entfaltung des Gesprächsthemas,<br />
sind aber in der Wahl ihrer Vorgehensweise und der Ausdrucksform frei. In der Sprachpraxis<br />
ist der Rückgriff auf Vorgeprägtes und das Vorkommen fester Wortverbindungen keine<br />
Sondererscheinung, die Verwendung von Phraseologismen kann in der Kommunikation verschiedenen<br />
Zielen dienen. Mit dem Einsatz satzwertiger Phraseologismen können bestimmte<br />
Kommunikationsabsichten- und –ziele abgesichert werden. Phraseologismen sind zu denjenigen<br />
Ausdrucksmitteln zu zählen, mit denen man Handlungen zum Aussagegehalt sprachlicher<br />
Äußerungen (Referenz- und Prädikationshandlungen) durchführen kann. Anhand von<br />
phraseologischen Einheiten können die Sprachteilhaber und Dialogpartner werten, vereinfachen,<br />
verallgemeinern, veranschaulichen, verschleiern, verstärken. Phraseologismen als<br />
semantisch und pragmatisch komplexe Mehrwortlexeme sind satzsemantisch wichtig, weil<br />
“manche Handlungen […] ohne Phraseologismen nicht oder nur sehr umständlich durchführbar”<br />
wären. (Kühn 1992, 418) Es geht folglich um komplexe Ausdrucksmittel, die für ver-<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
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564<br />
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />
schiedene kommunikative Aufgaben herangezogen werden können. Ihre Leistung kann u.a. auf<br />
der Ebene der Imagegestaltung, der Darstellung interpersonaler Beziehungen, der Aufmerksamkeitssteuerung<br />
dargestellt werden. Darüber hinaus verdeutlicht der Gebrauch von Satzidiomen<br />
in einer bestimmten Gesprächssituation die Handlungsabsicht der Sprechers gegenüber den<br />
Gesprächspartnern. Gebrauchsfertige Formulierungshilfen können u.a. zum Ausdruck bringen:<br />
Empörung/Entrüstung/Protest: Da hört doch alles auf! Da könnte ich mich schwarz ärgern. Das<br />
kann doch nicht wahr sein. Das ist doch nicht zu fassen! Das ist nun wirklich zu viel. Was zu viel<br />
ist, ist zu viel; Um Gottes willen! Das ist eine Frechheit! Das ist unverantwortlich! Enttäuschung/Resignation:<br />
Na dann gute Nacht! Aus der Traum! Traurig, aber wahr! Das bringt<br />
nichts; das wird und wird nicht; das klappt und klappt nicht. Zurückweisung: Das fehlte gerade<br />
noch! Das liegt mir nicht! Nicht, dass ich wüsste! Verwunderung/Bestürzung/Überraschung: Mir<br />
fehlen die Worte! Ach, du meine/liebe Güte! Das kann ja heiter/lustig werden. Ablehnung/Abwehr:<br />
Was erlaubst du dir! Was fällt dir ein! Ich will nichts mehr davon wissen/hören!<br />
Das ist bei uns kein Thema. Das kannst du dir abschminken. Lass das! Um Gottes willen! Abstand/ironischer<br />
Zweifel: Der und dein Freund? Die und zuverlässig? Ich fresse einen Besen, wenn<br />
… Dass ich nicht lache! Wer’s glaubt, wird selig! Das wäre ja noch schöner! Das ist ja schön! Das<br />
würde/könnte dir so passen! Drohung/Ermahnung: Dir werde ich gleich helfen! Das lasse ich mir<br />
nicht gefallen! Nun schlägt’s aber dreizehn! Wie du mir, so ich dir. Bis hierher und nicht weiter!<br />
Na warte! Hab dich nicht so! Tu (doch) nicht so! Mach keine Umstände! Stell dich nicht so an!<br />
Zier dich nicht so! Dem/der hab‘ ich es aber gesagt! Verärgerung/Verwunderung: Das fehlte<br />
gerade noch! Das kann ja heiter werden! Das ist (doch) der Gipfel! Unwillen/Ungeduld: Halt’ die<br />
Klappe! Das fehlte gerade noch! Nun mach aber einen Punkt! Heraus mit der Sprache! X hin, X<br />
her… Beruhigung: Das hat nichts zu sagen! (Das) macht nichts! Abwarten, Tee trinken! Das wird<br />
sich regeln/klären. Bekräftigung/Zustimmung: Ganz meinerseits! Versicherung: Hand drauf!<br />
Hand aufs Herz!Das macht mir nichts aus! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer! Darauf kannst<br />
du Gift nehmen. Feststellung/Warnung: Das ist leichter gesagt als getan. Die Zeiten sind vorbei!<br />
Lass dir das gesagt sein! Schluss jetzt! Vorwurf: Es gibt ein Donnerwetter! versprochen ist versprochen.<br />
Unerwartetes/Unangenehmes: Da haben wir die Bescherung! Da haben wir den Salat!<br />
Anerkennung/Ermunterung: Hut ab! Alle Achtung! Toi, Toi, Toi! Kopf hoch! Hals- und Beinbruch!<br />
Weigerung/Widerspruch: Das lasse ich mir nicht gefallen! Mir reicht‘s! Das fällt mir doch nicht<br />
im Traume ein!<br />
Viele phraseologische Einheiten sind sprechaktgebunden. Mit dem Einsatz formelhafter<br />
Kommunikationseinheiten können mehrere und unterschiedliche Handlungen gleichzeitig ausgeführt<br />
werden. Für Satzphraseologismen kann man folgende Funktionsbereiche annehmen<br />
(vgl. Lüger 1989, 1998): Satzphraseologismen sind als Mittel zur Erleichterung der Formulierungsarbeit<br />
auffaßbar. Kommunikationsaufgaben, die feste Bestandteile der sozialen Interaktion<br />
sind, werden routiniert mit Hilfe vorgefertigter sprachlicher Ausdrücke bewältigt. In der<br />
Kommunikationspraxis helfen Vorformulierungen bei der Formulierungsarbeit. Satzwertige<br />
Phraseologismen werden in der Kommunikation häufig für Zwecke der Textorganisation eingesetzt<br />
(textgliedernde und -steuernde Funktion). . Gülich (1997, 170) möchte den Rückgriff auf<br />
Formelhaftigkeit als Formulierungsverfahren verstehen und demzufolge das Formulieren mithilfe<br />
von Formelhaftem in Beziehung zu anderen Formulierungsverfahren setzen. Wenn der<br />
Gesprächsteilnehmer in bestimmten Kommunikationssituationen für häufig auftretende Formulierungsaufgaben<br />
auf Formelhaftes zurückgreift, kann er damit auch eine mit der voraufgehenden<br />
Äußerung vollzogene Handlung unterstützen (Satzphraseologismen als Mittel der<br />
Handlungsunterstützung und -verstärkung). Gleichzeitig mit der Unterstützung einer Sprach-<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />
handlung können aber auch Bewertungshandlungen vollzogen werden, Sprechereinstellungen<br />
zu einer Sprachhandlung, zum Sachverhalt, zum angesprochenen Thema insgesamt ausgedrückt<br />
werden um damit wiederum als Verstärkung/Unterstützung für Sprachhandlungen zu gelten.<br />
Satzphraseologismen kommt eine wichtige Funktion als Bewertungs- und Einstellungsindikatoren<br />
zu. Darüber hinaus wird mit der betreffenden Äußerung noch eine Imageaufwertung<br />
oder -bestätigung bezweckt. Diese Fertigteile sind eine bequeme und einfache<br />
Möglichkeit, sein Image wunschgemäß zu gestalten und zu wahren, das Image des anderen<br />
nicht zu verletzen um damit auch Imagearbeit zu leisten, sich durch den Rekurs auf Formelhaftes<br />
positiv darzustellen. Vorgeprägtem kann folglich eine imageorientierte Wirkung zugeschrieben<br />
werden. Damit kann die kommunikativen Distanz zwischen den Beteiligten abgebaut<br />
werden, kann die Schaffung eines bestimmten Gesprächsklimas erreicht werden. Mit<br />
der Funktion der Imagepflege eng verbunden ist eine weitere in Beziehung zu setzen, nämlich<br />
die Möglichkeit das Gesprächsklima zu beeinflussen, zu steuern. Die Art und Weise des Miteinander-Redens<br />
wirkt sich auf die Gestaltung der Beziehung zwischen den Dialogpartnern aus.<br />
Satzphraseologismen müssen als Mittel der Beziehungsgestaltung in der Interaktion berücksichtigt<br />
werden. In der Funktionsbeschreibung verfestigter Formulierungsmuster ist auf ihre<br />
Relevanz für die soziale Interaktion hingewiesen worden u.a. als Mittel zur Symbolisierung der<br />
eigenen sozialen Identität und der der Adressaten. Die pragmatische Funktion von Phraseologismen<br />
sieht Fleischer (1982, 221) darin, dass sie als Indikatoren sozialer Verhältnisse<br />
fungieren. Ein Sprecher/Schreiber erweist sich durch den Gebrauch bestimmter Formeln als<br />
Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft. Phraseologische Ausdrücke können die Aufmerksamkeit<br />
auf einen bestimmten Gesprächsschritt lenken und der Äußerung besonderes Gewicht<br />
verleihen. Die Wirkungsverstärkung einer bestimmten Sprachhandlung und die Aufmerksamkeitssteuerung<br />
sollen der Kommunikationsverbesserung dienen. Als kompakte Einheiten sind<br />
Phraseologismen für die Raffung des Mitteilungsgehaltes geeignet. Andererseits erlaubt die<br />
Vagheit ihres Mitteilungsgehaltes dem Gesprächspartner Rückzugsmöglichkeiten. Man kann<br />
dadurch sein Image auch schützen, ein bestimmten Gesprächsklima schaffen, kommunikative<br />
Distanz abbauen. Damit wird ein Beitrag zur Konfliktentschärfung und Verstehenssicherung<br />
geleistet. Vorgeprägtem wird allgemein eine Entlastungsfunktion zugeschrieben. Fleischer<br />
(1982) geht noch einen Schritt weiter und spricht den Phraseologismen insgesamt die Funktion<br />
der Kommunikationserleichterung zu. Die Verhaltensunsicherheit nimmt aber zu wenn man die<br />
richtigen Formeln nicht beherrscht, sie situationell, sozio-kulturell nicht adäquat in den<br />
Kontext einbaut. Den sozio-kulturell verankerten Komponenten des komplexen sprachlichen<br />
Kommunikationsverhaltens muss gebührende Beachtung geschenkt werden, vor allem weil<br />
Fragen des Miteinanderredens in den Vordergrund geraten, besonders wenn es um interkulturelle<br />
Kommunikation geht (kulturspezifische Züge des Sprachgebrauchs und des Verhaltens<br />
im Gespräch, kulturspezifische Gesprächsregeln, kulturbedingte Kommunikationsgepflogenheiten).<br />
Ein weiteres Kennzeichen der angesprochenen Einheiten ist die Vermittlung<br />
kulturspezifischer Inhalte. Phraseologismen als “Kulturzeichen” (Lüger 1998, 43) sind Träger<br />
landeskundlicher, gesellschaftsspezifischer Erfahrungen; sie geben in komprimierter Form<br />
kulturspezifischen Einstellungen, Erfahrungen, Normen, Urteile und Vorurteile, Werte einer<br />
Sprachgemeinschaft wieder. In der Kommunikation kommt solchen Ausdrücken eine erhöhte<br />
Bedeutung zu. Interagierende müssen auch mit Missverständnissen, Unklarheiten, Vermutungen<br />
u.v.m. rechnen, mit dem Nicht-Verstehen einer Äußerung als Formulierungsmuster. Als Verstehenshilfen<br />
können metakommunikative Mittel eingesetzt werden. Vorformuliertes erscheint<br />
häufig von metasprachlichen Signalen begleitet. Metakommunikative Mittel sind Dekodierungshilfen<br />
für Sprachzeichen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit als besonderes und<br />
komplexes Sprachmaterial aufzufassen sind. Metakommunikatives dient nicht nur der Ver-<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
565
566<br />
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />
stehens- und Wirkungssicherung, es signalisiert gleichzeitig aber auch die Kooperationsbereitschaft<br />
des Senders und eine deutliche Zuwendung zum Partner: im wahrsten Sinn(e) des<br />
Wortes, im wahrsten Sinne, buchstäblich, wahrhaft, förmlich, im wörtlichen Sinn(e), wörtlich<br />
genommen, wie man so schön sagt, wie es so schön hei t, (wie schon) der Volksmund sagt, es<br />
gibt ein deutsches Sprichwort, wie man sich auszudrücken pflegt, bildlich ausgedrückt, im<br />
redensartlichen Sinne, sprichwörtlich, im sprichwörtlichen Sinne, wie es im Sprichwort heißt,<br />
salopp gesagt.<br />
Ausgangspunkt der Betrachtungen war der spezielle Bereich sprachlicher Erscheinungen,<br />
die das Sprachsystem als „Fertigteile“ den Sprachteilhabern zur Verfügung stellt und die im<br />
Äußerungsprozess als Gesamtkomplex übernommen und reproduziert werden. Das vorgeformte<br />
Sprachgut als spezieller Bereich des Sprachbestandes ist heterogen und umfasst unterschiedlich<br />
gestaltete Einheiten. Aus der Fülle des phraseologischen Bestandes wurden Einheiten herausgegriffen<br />
und beschrieben, die über den sie kennzeichnenden semantischen und pragmatischen<br />
Mehrwert hinaus, diese als besonderes Sprachmaterial ausweisen.<br />
Die Ausführungen sollten einen Überblick über die Möglichkeiten, Sprache in der Kommunikation<br />
zu verwenden, bieten; das Sprachverhalten der Kommunikationsteilhaber, ihr Handeln<br />
mit der Sprache darstellen. Folglich sollte ein wichtiger Aspekt der tatsächlichen Verwendung<br />
von Phraseologismen beleuchtet werden. Die angesprochenen Erscheinungen müssen aufgrund<br />
ihrer Beschaffenheit in ihrer 'Andersartigkeit' erkannt und als komplex interpretiert werden, mit<br />
denen die Sprach- und Gesprächsteilhaber Personen, Vorgänge, Handlungen, Verhaltensweisen<br />
bewerten oder ihre Einstellungen, Gefühle und Bewertungen ausdrücken. Da sie durch Expressivität<br />
und Bildhaftigkeit gekennzeichnet sind, ist ihr angemessener Gebrauch kontextabhängig.<br />
Sie werden in privaten, halböffentlichen und öffentlichen Sprech- und Schreibsituationen<br />
verwendet, müssen aber als besondere Sprachzeichen interpretiert werden. Vorgefertigte<br />
Ausdrucksmöglichkeiten können eine Kommunikationserleichterung darstellen, wobei<br />
ihre Gebrauchsrestriktionen, ihre Bindung an den Kontext berücksichtigt werden müssen.<br />
Mit der Darstellung dieses Sonderaspekts verbaler Kommunikation – die Realisierung kommunikativer<br />
Absichten durch den Rückgriff auf ‘Fertigteile’ - sollte folgendes geleistet werden:<br />
(a) im kooperativen Geschehen “miteinander umgehen” lernen im Sinne einer verbesserten<br />
Adressatenorientiertheit. Hierfür ist die Kenntnis und der Anwendungszusammenhang verfestigter<br />
Äußerungsmuster unerlässlich;<br />
(b) über den alltäglichen Sprachgebrauch, über Interaktionsabläufe nachzudenken, um souverän<br />
über vorgeprägte Einheiten verfügen zu können;<br />
(c) die Leistung formelhafter Kommunikationseinheiten im Interaktionsablauf darzustellen;<br />
(d) den Reichtum des phraseologischen Wortschatzes zu erschließen;<br />
(e) nicht zuletzt daran zu erinnern, dass “man mit Redensarten so manches ausdrücken<br />
[kann], was man mit eigenen Worten nicht sagen möchte oder auch einfach nicht sagen<br />
kann.” (Röhrich 1994, 33).<br />
L L ii i i t t e e rr r r a a t t u u r r r :<br />
:<br />
1. AGRICOLA, E. (Hrsg.)( 13 1988): Wörter und Wendungen. Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch. (Unter<br />
Mitwirkung von H.Görner u. R. Küfner), Leipzig.<br />
2. BRINKER, K./SAGER, K. (1989): Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung. Berlin.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />
3. BRUGGER, H. P. (1993): Der treffende Vergleich: eine Sammlung treffsicherer Vergleiche und bildhafter Formu-<br />
lierungen. Ott.<br />
4. BURGER, H. (1973): Idiomatik des Deutschen (= Germanistische Arbeitshefte, 16)(Unter Mitarbeit von H. Jaksche),<br />
Tübingen.<br />
5. DUDEN (1992): Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Mann-<br />
heim, Leipzig, Wien, Zürich, Bd. 11.<br />
6. DOBROVOL'SKIJ, D./LJUBIMOVA, N. (1993): "Wie man so schön sagt, kommt das gar nicht in die Tüte" – Zur me-<br />
takommunikativen Umrahmung von Idiomen. In: Info DaF 30, S. 151-156.<br />
7. FLEISCHER, W. (1982): Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig.<br />
8. FRANKE, W. (1990): Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion.Tübingen<br />
9. FRIEDERICH, W. ( 2 1976): Moderne deutsche Idiomatik. Alphabetisches Wörterbuch mit Definitionen und Bei-<br />
spielen. München.<br />
10. FRITZ, G. (1982): Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kommunikationsanalyse. Tübingen.<br />
11. FRITZ, G./H<strong>UND</strong>SNURSCHER, F. (Hrsg.)(1994): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen.<br />
12. GREWENDORF, G. ( 2 1980): Sprechakttheorie. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E. Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germa-<br />
nistischen Linguistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 287-293.<br />
13. GRIESBACH, H./UHLIG, G.(1993): Mit anderen Worten. Deutsche Idiomatik. Redensarten und Redeweisen. Mün-<br />
chen.<br />
14. GÜLICH, E. (1997): Routineformeln und Formulierungsroutinen. Ein Beitrag zur Beschreibung ‚formelhafter Texte‘.<br />
In: R. Wimmer, F.–J. Berens (Hrsg): Wortbildung und Phraseologie, Tübingen, S. 131 - 175.<br />
15. HELLER, D. ( 2 1980): Idiomatik. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E. Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Lin-<br />
guistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 180-186.<br />
16. HESSKY, R./ETTINGER, St. (1997): Deutsche Redewendungen. Ein Wörter- und bungsbuch für Fortgeschrittene.<br />
Tübingen.<br />
17. KOLLER, W. (1977): Redensarten. Linguistische Aspekte, Vorkommensanalysen, Sprachspiel. Tübingen (= Reihe<br />
Germanistische Linguistik, 5).<br />
18. KÜHN, P. (1994): Pragmatische Phraseologie: Konsequenzen für die Phraseographie und Phraseodidaktik. In: B.<br />
Sandig (Hrsg.): EUROPHRAS 92. Tendenzen der Phraseologieforschung, Bochum (= Studien zur Phraseologie und<br />
Parömiologie, 1), S. 413-428.<br />
19. KÜHN, P. (1996): Redewendungen – nur im Kontext! Kritische Anmerkungen zu Redewendungen in Lehrwerken.<br />
In: FD 15, S. 10-16.<br />
20. LÜGER, H.H. (1989): Stereotypie und Konversationsstil. Zu einigen Funktionen satzwertiger Phraseologismen im<br />
literarischen Dialog. In: DS, 1/1989, S. 3 – 25.<br />
21. LÜGER, H. H. (1998): Satzwertige Phraseologismen im Text. Elemente eines Mehrebenenmodels, In: G. Gu]u, S.<br />
St`nescu (Hrsg.)(Unter Mitarbeit von D. Sandu): “Die Sprache ist das Haus des Seins. Sprachwissenschaftliche<br />
Aufsätze”, Bukarest, Bd.3 , (= GGR-Beiträge zur Germanistik), S. 43-66.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
567
Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />
22. PALM, Ch. ( 2 1997): Phraseologie. Eine Einführung. Tübingen.<br />
23. RÖHRICH, L. (1994): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Freiburg,Basel, Wien.<br />
24. SANDU, D. (1993): Einführung in die Lexikologie der deutschen Sprache. Bukarest, Bd. I.<br />
25. SANDU, D.: Gespräche. Forschungsbild und Sprachwirklichkeit.(unveröffentlichtes Manuskript).<br />
26. SCHANK, G./SCHWITALLA, J. ( 2 1980): Gesprochene Sprache und Gesprächsanalyse. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E.<br />
568<br />
Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 313-322.<br />
27. SCHEMANN, H. (1992): Synonymwörterbuch der deutschen Redensarten. Stuttgart, Dresden.<br />
28. SCHEMANN, H. (1993): Deutsche Idiomatik. Die deutschen Redewendungen im Kontext. Stuttgart, Dresden.<br />
29. SCHULZ, D./GRIESBACH, H. ( 8 1990): 1000 deutsche Redensarten. Mit Erklärungen und Anwendungsbeispielen.<br />
Berlin.<br />
30. WOTJAK, B. (1992): Verbale Phraseolexeme in System und Text. Tübingen.<br />
31. WOTJAK, B. (1994): Fuchs, die hast du ganz gestohlen: Zur auffälligen Vernetzung von Phraseologismen in der<br />
Textsorte Anekdote. In: B. Sandig (Hrsg.): EUROPHRAS 92. Tendenzen der Phraseologieforschung, Bochum (= Stu-<br />
dien zur Phraseologie und Parömiologie, 1), S. 619-648.<br />
32. WOTJAK, B. (1996): Redewendungen und Sprichwörter. Ein Buch mit sieben Siegeln? Einführung in den Themen-<br />
schwerpunkt. In: FD 15, S. 4-9.<br />
33. WOTJAK, B./RICHTER, M. ( 2 1993): sage und schreibe. Deutsche Phraseologismen in Theorie und Praxis. Leipzig,<br />
München.ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS<br />
Info Daf = Informationen Deutsch als Fremdsprache<br />
FD = Fremdsprache Deutsch<br />
DS = Deutsche Sprache<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
TRADUTTORE…<br />
DER FUNKTIONALE ANSATZ<br />
Zur theoretischen Diskussion über kulturell-soziale Zielsetzung<br />
und literaturhistorische Textvorlage<br />
Mihai Draganovici<br />
1. Einleitung<br />
Funktionale translationstheoretische Ansätze erheben die Forderung, der Translationsprozess<br />
solle sich an die zielkulturelle Situation anpassen, damit das aus diesem Prozess<br />
resultierende Translat – das heißt die jeweilige Übersetzung oder Verdolmetschung – in dieser<br />
Situation, für die es ja produziert wird, die gewünschte Funktion erfüllen kann.<br />
Diese Forderung beruht auf zwei nicht immer explizit formulierten Prämissen: die erste<br />
wäre die kulturell-soziale Gegebenheit und die zielkulturelle Gemeinschaft und die zweite die<br />
Praxis des professionellen Dolmetschens und Übersetzens und die in diesem Sinne verstandene<br />
Translation. Die letzte Forderung steht im Gegensatz zu der anderen traditionsreichen Form des<br />
Übersetzens, die allgemein als „philologisches Übersetzen“ bezeichnet wird. Dieses findet im<br />
Fremdsprachenunterricht in den philologischen Fakultäten der Universitäten statt und dient<br />
dort verschiedenen, nicht Praxis orientierten Zwecken: der Kontrolle des Textverständnisses<br />
oder der Beherrschung fremdsprachlichen Strukturen und Ausdrucksformen. Diese könnte man<br />
als metakommunikativ bezeichnen, weil sie die Voraussetzungen und Vollzugsformen der<br />
Kommunikation und nicht ihren Inhalt proritär in den Blick nehmen.<br />
Der Anfangspunkt einer Übersetzung wird sich immer im Ausgangstext befinden. Dieser (der<br />
AT) stellt eine dynamische Verbindung her zwischen Intention, sprachlichen Äußerungen, soziokulturellem<br />
Kontext, Bedeutung und Wirkung und so wie dieser. So schafft auch die Übersetzung<br />
eine neue dynamische Verbindung, die die kulturspezifische Konstellation von<br />
Wirkungsabsicht, Sprach- und Textformen, Inhalt und Sinn verarbeitet.<br />
2. Die ausgangskulturelle literar-historische Vorlage<br />
Der Mensch lebt in der Welt des Alltags, der Gedanken, Traditionen, Konventionen, in realen<br />
und fiktiven Welten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und mit einer<br />
gewissen Absicht verfasst jemand (mündlich oder schriftlich) einen Text. Den Verfasser könnte<br />
man als Produzenten des Textes bezeichnen 1 . Der Text bildet die wichtigste Einheit, die man im<br />
Fall einer Translation in Betracht ziehen muss, denn es sind nicht die Wörter oder die Sätze, die<br />
man übersetzt, sondern den Text als Ganzes. Ein Text muss also als eine ganze Gestalteinheit<br />
verstanden, bei der das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist und die Bezugnahme auf den<br />
Gesamthorizont von Situation und Kontext wichtig ist.<br />
1 vgl. Reiß/Vermeer 1991:18
Mihai Draganovici<br />
Die intendierte Absicht des produzierten Textes kann aber nicht in Erfüllung gehen ohne<br />
den fast genauso wichtigen anderen Teil, nämlich denjenigen für den der Text bestimmt ist.<br />
Dieser Rezipient 2 nimmt den Text wahr und je nach seinen Reaktionen kann man nachher sagen,<br />
ob der Text und das, was man kommunizieren wollte, gelungen sind. In diesem Fall findet<br />
eine Interaktion zwischen dem Empfänger und dem Verfasser statt und diese Interaktion kann<br />
als geglückt gelten, wenn es ein positives feed-back, das heißt im Sinne der Intention des Autors,<br />
gibt.<br />
Die Funktion eines Textes wird also nicht nur vom Produzenten bestimmt, sie kommt durch<br />
den tatsächlichen Empfänger zustande 3 . Nord nennt auch mehrere Faktoren, die die möglichen<br />
Textfunktionen beeinflussen können, wie z.B.: die situativen Bedingungen, aber auch die individuellen<br />
kommunikativen Bedingungen des Empfängers, die ihn zum Beispiel veranlassen, bei<br />
einem Text, der nicht als informativ gedacht war, vor allem die informativen Teile zu berücksichtigen.<br />
Wenn bislang von einzelnen Personen die Rede war, muss auch die Möglichkeit in<br />
Erwägung gezogen werden, dass ein Text nicht nur eine Funktion bekommt, sondern, je nach<br />
der persönlichen Einstellung, mehrere Funktionen übernehmen kann.<br />
Der funktionale translationstheoretische Ansatz fordert prinzipiell eine Funktionsgleichheit<br />
zwischen den ausgangs- und zielkulturellen Gegebenheiten, wobei gesagt werden sollte, dass<br />
eine Übersetzung auch eine geänderte Funktion übernehmen könnte, falls deren Ziel solcherart<br />
angegeben ist, dass eine solche Änderung erfolgen muss.<br />
570<br />
3. Die Übersetzung als zielkulturelles Ergebnis<br />
In vielen Arbeiten, die sich mit der theoretischen Auseinandersetzung im Bereich der Übersetzungstheorie<br />
befassen, treffen wir verschiedene Definitionen einer Übersetzung. Wenn man<br />
jenige von Wills in Betracht zieht 4 , ergeben sich folgende Bestimmungsmerkmale:<br />
➧ Beteiligt sind zwei Sprachen<br />
➧ Ausgangspunkt und Resultat des translatorischen Handelns sind Texte<br />
➧ zwischen Zieltext und Ausgangstext besteht eine Äquivalenzbeziehung.<br />
In diesem Fall werden aber nicht die kulturellen Hintergründe berücksichtigt. Die funktionale<br />
Translationstheorie ist der Ansicht, dass Sprache und Kultur eng miteinander verbunden<br />
sind. Der produzierte Text ist von inneren und äußeren Umständen abhängig, folglich kann man<br />
nicht überall x-beliebiges sagen 5 . Der Produzent, der Rezipient sind in dem Kontext einer Kultur<br />
eingebettet.<br />
Übersetzungen zeichnen sich also durch eine doppelte Bindung aus. Einerseits gibt es die<br />
Bindung an den Ausgangstext. Wenn man sie zu stark berücksichtigt, dann entsteht die Gefahr,<br />
dass der Zieltext für den Rezipienten unleserlich und unverständlich wird, also dass eine Wortfür-Wort<br />
Übersetzung entsteht. Andererseits gibt es eine Bindung an den Zieltext. Wenn man<br />
diese Bindung verabsolutiert, dann kann die Autonomie des Originaltextes verletzt werden und<br />
die Zieltexte stehen zum Ausgangstext nur noch in entfernter Beziehung.<br />
2 Der Rezipient ist in erster Linie der Übersetzer, der mit dem Ausgangstext unvermittelt in kontakt kommt. Nur in<br />
zweiter Linie wird die Rolle des Rezipientes von dem Leser (der Übersetzung) übernommen.<br />
3 vgl. Nord 1998:145.<br />
4 zit. aus Koller 1992:191.<br />
5 vgl. Stolze 1994:157.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Der funktionale Ansatz. Zielsetzung und literarhistorische Textvorlage<br />
Diese doppelte Bindung einer Übersetzung wird aber von der in 1978 von Vermeer gegründeten<br />
Skopostheorie erweitert. Er gründetete eine allgemeine Theorie der Translation, die<br />
durch einen funktionsorientierten Ansatz die Grundlage für ein neues Paradigma in der Translationswissenschaft<br />
bildet. Der Schwerpunkt wird auf das Ziel des translatorischen Handelns 6<br />
(Begriff, der von Holz-Mänttäri in 1984 festgelegt wurde) und auf den Translator als Experten,<br />
der für ein optimales Erreichen dieses Ziels verantwortlich ist, verlagert<br />
Wie jedes Handeln folgt auch das translatorische Handeln einem Ziel. Dieses Ziel, das man<br />
im Fall einer Übersetzung als Untersorte des translatorischen Handelns als Skopos bezeichnen<br />
kann 7 , wird als oberstes Primat der Translation betrachtet. (Man muss hier noch erwähnen, dass<br />
Skopos synonim mit den Ausdrücken Zweck, Ziel oder Funktion verwendet wird.) In diesem Fall<br />
stellt man sich nicht die Frage ob man handeln (übersetzen/dolmetschen), sondern wie und mit<br />
welchem Ziel man das tun soll.<br />
Wenn wir die Übersetzung als eine Aktion betrachten, können wir im Sinne der Skopostheorie<br />
auch über das „Glücken“ der Handlung und über den „Protest“ gegen sie sprechen 8 .<br />
Reiß und Vermeer (1991:108) sprechen von geglückter Aktion wenn kein Protest erfolgt gegen:<br />
➧ die Übermittlung (als Ereignis) und gegen die Art der Übermittlung<br />
➧ den gemeinten Sachverhalt als Informationsangebot<br />
➧ die Interpretation (d.h. Protest seitens des Produzenten gegen die Reaktion des Rezipienten)<br />
Interessant ist dabei, dass sich der Protest nicht nur gegen das Translat richten kann, sondern<br />
auch gegen das ausgangssprachliche Informationsangebot. Wenn man die obengenannten<br />
Fälle aus der Hinsicht der Skopostheorie analysiert, dann kann man im ersten Fall<br />
bemerken, dass der Protest nicht nur gegen den Übersetzer gerichtet werden kann, sondern<br />
auch gegen den Auftraggeber. Der letzte trifft z.B. die Entscheidung, ob die Übersetzung der AK<br />
oder ZK angepasst sein wird. Nur nachher wird der Übersetzer unter die Lupe genommen,<br />
wenn man die Übermittlungsart des Auftrags überprüft. Jetzt sprechen wir über den exklusiven<br />
Bereich des Fachmanns, in dem er gemäß Auftrag die, seiner Meinung nach, richtigen Mittel<br />
und Verfahren für das Glücken der Übersetzung ausgewählt hat. Der Protest gegen das<br />
Informationsangebot (der AT an sich) kann aber sowohl gegen den Übersetzer als auch gegen<br />
den Auftraggeber gerichtet sein. Man kann Kritik am ausgangssprachlichen Informationsangebot<br />
üben oder an der Art und Weise wie es erfolgt. Die letzte Art von Protest könnten wir als<br />
„inversen Protest“ bezeichnen. Das heißt, dass im Gegensatz zu den anderen Protesttypen, die<br />
vom Rezipient zum Auftraggeber oder Produzent erfolgten, ist diese Art eine, die sich gegen<br />
den Rezipienten richtet seitens des Produzenten. In diesem Falle ist es möglich, dass die Reaktion<br />
des Lesers nicht den ursprünglichen Absichten des Übersetzers entspricht.<br />
Falls kein Protest erfolgt, dann kann man eine Übersetzung als geglückt betrachten. Im<br />
Rahmen der Skopostheorie kann man schlussfolgern, dass das Ziel, der Skopos der Translation<br />
erreicht wurde.<br />
6 Über die Handlung sprechen Reiß/Vermeer in ihrer “Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie”, 1991:95:<br />
“Eine Handlung bezweckt die Erreichung eines Zieles und damit die Änderung eines bestehenden Zustandes. Die Motivation<br />
für eine Handlung besteht darin, dass das angesterbte Ziel höher eingeschetzt wird als der bestehende Zustand.”<br />
7 vgl. Vermeer 1992:82.<br />
8 vgl. Reiß/Vermeer 1991:106.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
571
572<br />
Mihai Draganovici<br />
Am Ende dieses Kapitels möchte ich noch ein für die Skopostheorie grundsätzliches Problem<br />
erwähnen und zwar den Skopos an sich. Viele bringen die funktionalen Translationstheorien<br />
und damit auch die Skopostheorie mit der Zielsprache oder Zielkultur in Verbindung, was<br />
grundsätzlich falsch ist. So wie Vermeer bemerkt, eine<br />
skoposadäquate Translation bedeutet nicht, dass an die Gepflogenheit einer Zielkultur adaptierend<br />
übersetzt werden muss (sie bedeutet wohl, dass unter gegebenen Umständen skoposgemäs adaptierend<br />
übersetzt werden kann). 9<br />
Dieses Ziel ist immer in einer Übersetzung anwesend und man muss nach ihm konsequent<br />
übersetzen. Es spielt keine Rolle ob man eine Ausgangstext getreue Übersetzung macht oder ob<br />
man adaptierend, sich an die Zielkultur anpassend, übersetzt (was meistens auch der Fall ist<br />
aber es ist nicht eine Regel). Die einzige wichtige Sache ist, dass man die richtige Übersetzung<br />
für den Ausgangstext findet, dem Ziel entsprechend<br />
Der erste, der dem Protest ausgesetzt werden kann, - seitens derjenigen, die die Übersetzung<br />
für misslungen halten - und derjenige der meistens für das Gelingen einer Übersetzung<br />
verantwortlich ist, ist der Übersetzer. Er ist nicht nur der Sender der Botschaft des AT, sondern<br />
produziert einen Text in der ZK, also schafft ein zilekulturelles Kommunikationsinstrument einer<br />
ausgangskulturellen Kommunikation. 10<br />
4. Der Translator als Kulturübermittler<br />
Voraussetzung für eine Translation ist in der Regel der Bedarf an interkultureller Kommunikation.<br />
Die Person, die das veranlasst ist der Auftraggeber, der dem Übersetzer die Aufgabe<br />
erteilt, die gewünschte Kommunikation zu ermöglichen. Im Sinne des funktionalen Ansatzes<br />
hat der Auftraggeber bestimmte Vorstellungen über die Funktion, die das Translat erfüllen soll,<br />
das heißt er legt den Skopos fest. Der Translator bekommt einen ausgangssprachlichen Text als<br />
Vorlage und wird Rezipient dieses Textes der Ausgangskultur 11 . Um ein genaues Verständnis zu<br />
erreichen, muss er ein sehr guter Kenner der Ausgangskultur sein. In der zweiten Etappe seines<br />
translatorischen Handelns muss er im Rahmen der Zielkultur einen funktionsadäquaten Text<br />
herstellen, mit Brücksichtigung des Zieles, das ihm vorgeschlagen wurde. Deshalb muss ein<br />
Translator ein guter Kenner beider Kulturen sein, er muss sogar, wenn möglich, bi-kulturell sein.<br />
Ursprünglich sprach man über einen puren linguistischen Transfer und Catford suchte noch<br />
„nach einem austauschbaren Sprachmaterial in einer Vergleichbaren Situation“ 12 . Später war<br />
man der Ansicht, dass eine Übersetzung vielmehr ein kultureller Transfer wäre. Damit ändert<br />
sich auch die Übersetzungsfunktion, denn ein Text wird jeweils in einer anderen Situation<br />
rezipiert und interpretiert.<br />
Es ist nicht möglich, Translation als Transkodierung toute simple der/einer Bedeutung eines Textes<br />
zu verstehen. Translation setzt Verstehen eines Textes, damit Interpretation des Gegenstandes<br />
„Text“ in einer Situation voraus. Damit ist Translation nicht nur an Bedeutung, sondern an Sinn/Gemeintes,<br />
also an Textsinn-in-Situation, gebunden. 13<br />
9<br />
vgl. Vermeer 1992:102<br />
10<br />
vgl. Nord 1991:13<br />
11<br />
vgl. Vermeer 1992:55<br />
12<br />
siehe Stolze 1994:160<br />
13<br />
siehe Reiß/Vermeer 1991:58<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Der funktionale Ansatz. Zielsetzung und literarhistorische Textvorlage<br />
Der als „Situation“ obengenannte Begriff bezeichnet den kulturellen Hintergrund, der von<br />
der Ausgangs-und Zielkultur dargestellt wird. Koller 14 macht eine konkrete Einteilung der Übersetzungsmöglichkeit<br />
bzw. -unmöglichkeit nach dem Kriterium der Übersetzbarkeit. Seiner<br />
Meinung nach hängt diese nicht von den Sprachen ab, sondern nur von den kulturellen Hintergründen.<br />
Zur Veranschaulichung seiner Theorie stellt er mehrere Schemata auf. Im ersten Extremfall,<br />
dort wo sich die AK mit der ZK deckt, ist eine Übersetzung zwischen zwei verschiedenen<br />
Sprachen durchaus möglich. Im anderen Extremfall, also wenn die AK von der ZK<br />
ganz verschieden ist, kann keine Übersetzung zustande kommen. Wie in jedem Extremfall, kann<br />
eine Verabsolutierung nicht der Wahrheit entsprechen und die Praxis hat bewiesen, dass z.B.<br />
eine Übersetzung auch im Fall der kulturellen Verschiedenheit möglich ist. Die Schemata sind<br />
aber bezeichnend für die Wichtigkeit, die dem jeweiligen kulturellen Hintergrund eingeräumt<br />
wird. Somit muss man die Kompetenz des professionellen Übersetzers innerhalb seines komplexen<br />
Handlungsrahmens, in dem er sich bewegt, festhalten: er soll anhand eines Ausgangstextes<br />
mit anderen sprachlichen Mitteln einen neuen Text verfassen, der für andere Rezipienten bestimmt<br />
ist und unter anderen kulturellen Gegebenheiten funktionieren soll als der Ausgangstext.<br />
Auf Grundlage dieser Kompetenz trägt der Translator die Veranrwortung für ein funktionsadäquates<br />
Handeln. Er ist in der Lage, auf Kultur-, Adressaten- und Situationsspezifik einzugehen,<br />
sich den Erwartungen der Zielkultur gemäß zu verhalten oder auch gegen sie zu verstoßen.<br />
5. Schlussfolgerung<br />
Der funktionale Ansatz und die praxisorientierte Betrachtung der Translation führen zur<br />
Einsicht, dass ein und derselbe Ausgangstext je nach Anforderungen der Zielsituation und der<br />
darin eingeschlossenen Rezipienten durchaus unterschiedlich zu übersetzen ist. Damit wird der<br />
Status des Ausgangstextes als des einzigen Maßstabs für die Qualität oder Adäquatheit der<br />
Übersetzung gebrochen. Der Ausgangstext bleibt zwar der erste Ring im Übersetzungsprozess,<br />
aber er wird entthront und die zielkulturelle Situation, für die eine Übersetzung zu produzieren<br />
ist, und die intendierte Funktion des Translats wird an seiner Stelle zur wichtigsten Leitlinie für<br />
den Translator. Der professionelle Übersetzer muss somit seine Fähigkeiten beweisen, wodurch<br />
er sich als ein guter Kenner sowohl der Ausgangskultur als auch der Zielkultur behaupten kann,<br />
und die Absicht des AT-Authors durchschaut, um sie – auch wenn vielleicht nicht immer gelungen<br />
- korrekt im ZT wiedergeben zu können. Diese Voraussetzungen erfüllt, so ist es<br />
möglich das Gelingen dieser komplexen Arbeit zu sichern.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
L i t e r a t u r :<br />
1. KOLLER, Werner ( 4 1992): Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Quelle&Meyer Verlag, Heidelberg-Wiesbaden<br />
2. NORD, Christiane (1991 2 ): Textanalyse und Übersetzen: theoretische Grundlagen, Julius Groos Verlag, Heidelberg<br />
3. REISS, Katharina/VERMEER, Hans ( 2 1991): Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Niemeyer Verlag,<br />
Tübingen<br />
4. SNELL-HORNBY, Mary u.a. (Hrsg.) (1998): Handbuch Translation, Stauffenburg Verlag, Tübingen<br />
5. STOLZE, Radegundis, (1994): Übersetzungstheorien – eine Einführung, Gunter Narr Verlag, Tübingen<br />
6. VERMEER, Hans J. ( 3 1992): Skopos und Translationsauftrag – Aufsätze, Verlag für interkulturelle Kommunikation,<br />
Frankfurt/Main<br />
14 vgl. Koller 1992:165<br />
573
WÖRTLICHE ODER FREIE ÜBERSETZUNG?<br />
Zum Streit über das “richtige” Übersetzen<br />
Gundula-Ulrike Fleischer<br />
Bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Äußerungen zum Übersetzen von -<br />
hauptsächlich - literarischen Texten, stößt man immer auf ein Problem, daß sich durch die ganze<br />
Geschichte der Übersetzungswissenschaft verfolgen läßt: Es handelt sich um das<br />
Spannungsfeld zwischen wörtlicher und freier Übersetzung. Benedetto Croce behauptete,<br />
zwischen den beiden Polen "Belle Infedeli" und "Brutte Fedeli" finde die Geschichte der Übersetzung<br />
statt. [STACKELBERG 1988, 16]<br />
In seiner Rede auf Wieland (Zu brüderlichem Andenken Wielands) am 18. Februar 1813<br />
stellte Goethe fest:<br />
Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns<br />
herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen<br />
macht uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände,<br />
seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen. [nach SDUN 1967, 54]<br />
Und bloß Monate später sieht auch Schleiermacher in seiner am 24. Juni 1813 gehaltenen<br />
Rede Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens zwei mögliche Vorgangsweisen für den<br />
Übersetzer:<br />
Entweder der Übersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen;<br />
oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.<br />
[SCHLEIERMACHER 1838, 218]<br />
Schleiermacher war Anhänger der erstgenannten Methode. Die Ursachen seiner Überzeugung<br />
sind in der Übersetzungsauffassung der deutschen Romantiker zu suchen, die<br />
ausgehend von dem Anspruch des Dichters, ein Schöpfer von Welten in seinem Werk sein zu<br />
dürfen, gegenüber dem Original als “Schöpfungs”-akt eine ganz andere Haltung einnehmen als<br />
die klassizistischen Vertreter der “Belles Infidèles”. Sie sind Anhänger der betont treuen<br />
Übersetzung, die sich in Deutschland so sehr einbürgerte, daß es wohl nicht falsch ist, mit<br />
Jürgen von Stackelberg zu behaupten, daß die Originaltreue “immer schon eine typischdeutsche<br />
Übersetzungsforderung war” [STACKELBERG 1988, 24].<br />
Schleiermacher spricht von zwei Übersetzungsarten, die er als Paraphrase und Nachbildung<br />
bezeichnet. Nachdem er diese beiden Grundpositionen definiert, "der Paraphrast verfährt mit<br />
den Elementen beider Sprachen, als ob sie mathematische Zeichen wären" und: "Die Nachbildung<br />
dagegen beugt sich unter der Irrationalität der Sprachen; sie gesteht, man könne von<br />
einem Kunstwerk der Rede kein Abbild in einer anderen Sprache hervorbringen, das in seinen<br />
einzelnen Teilen den einzelnen Teilen des Urbildes genau entspräche" [SCHLEIERMACHER 1838,<br />
217], weist er als erster auf ihre hermeneutische Natur hin, die sich negativ auf die Übersetzungsleistung<br />
auswirkt, und empfiehlt als Alternative eine Übertragung, die - soweit es die<br />
Zielsprache nur erlaubt - dem Original treu bleibt:<br />
Ein unerläßliches Erfordernis dieser Methode des Übersetzens ist eine Haltung der Sprache, die<br />
nicht nur alltäglich ist, sondern auch ahnden läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu<br />
einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen ist. [SCHLEIERMACHER 1838, 227]
Wörtliche oder freie Übersetzung? - Zum Streit über das “richtige” Übersetzen<br />
Aber auch Walter Benjamin und Ortega y Gasset [ORTEGA Y GASSET 1957] teilen diesen<br />
Standpunkt. Ihrer Meinung nach darf die Übersetzung keineswegs für ein Original gehalten<br />
werden, der Ausgangstext als Zeugnis einer fremden Sprache und Kultur muß beständig durchscheinen,<br />
auch wenn der Übersetzer dies nur erreicht, indem er seiner Muttersprache (Zielsprache)<br />
Gewalt antut, wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers<br />
fordert:<br />
Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax, und gerade sie erweist das Wort,<br />
nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des<br />
Originals, Wörtlichkeit die Arkade. [nach STÖRIG 1969, 166]<br />
Ortega geht noch weiter, indem er der Übersetzung jeden Anspruch auf Schönheit abspricht,<br />
denn sie soll kein Kunstwerk, sondern bloß ein Hilfsmittel zu Erkenntniszwecken sein.<br />
Zu einer ähnlichen Überzeugung gelangt auch Antoine Berman in seinem Essay La traduction<br />
et la lettre:<br />
Dans son domaine, le traducteur est possédé de l'esprit de fidélité et d'exactitude. C'est là sa passion,<br />
et c'est une passion étique, non pas littéraire ou esthétique. [BERMAN 1985, 87]<br />
Die entgegengesetzte Ansicht vertrat der Bibelübersetzer Martin Luther, der es sich leistete,<br />
mit dem "heiligen Wort" frei umzuspringen, dem Leitspruch "rem tene, verba sequuntur" folgend.<br />
Das wohl bekannteste Beispiel, mit dessen Hilfe er seine Entscheidung für die freie Übersetzung<br />
im Sendbrief vom Dolmetschen aus dem Jahre 1530 rechtfertigt, ist die Übertragung<br />
von "Ex abundántia cordis os lóquitur" [Matth. 12, 34] nicht mit dem wörtlichen "Aus dem<br />
Überfluß des Herzens redet der Mund", sondern mit dem deutsch klingenden "Wes das Herz voll<br />
ist, des gehet der Mund über", denn "so redet die Mutter im Haus und der gemeine Mann"<br />
[nach STÖRIG 1969, 21-22], für die seine Übersetzung gedacht ist.<br />
Es ist dies wohl das bekannteste Beispiel einer zielsprachlich orientierten Übertragung in<br />
die deutsche Sprache und ist besonders auffällig, weil die Bibelübersetzer bis dahin sich noch<br />
am strengsten an den Wortlaut hielten, nach dem Ausspruch Hieronymus’, des Autors der als<br />
Vulgata bekannten Bibelübertragung: “verborum ordo mysterium est”.<br />
Solch kategorische Standpunkte sind heutzutage die Ausnahme, der literarische Übersetzer<br />
ist meist darum bemüht, einen goldenen Mittelweg zu finden, der trotz zahlreicher Theoretisierungen<br />
auf diesem Gebiet, wegen der Mannigfaltigkeit der an ihn herantretenden Probleme<br />
doch oft ein persönlicher Entscheidungsprozeß bleibt, wie Ellen Elias-Bursac so treffend formuliert:<br />
Translation is a continual balancing act, an ongoing compromise between the voice of the original<br />
author and the voice of the translator, between the cultural framework of the original work and the<br />
translator's audience. [ELIAS-BURSAC 1988, 97]<br />
Im weiteren weist die Autorin auf die Gefahren sowohl der wörtlichen Übersetzung ("lack of<br />
spontaneity"), als auch auf jene einer zu freien Übersetzung hin ("it strays so far from the original<br />
that it can no longer be attributed to its author").<br />
Allgemein kann für die literarische Übersetzung die von Newmark stammende Maxime gelten:<br />
"Translate as Literally as Possible and as Freely as Necessary" [NEWMARK 1982], die leider<br />
durch ihre vage Formulierung die Entscheidung darüber, was nun möglich, bzw. notwendig ist,<br />
dem Gutdünken des Einzelnen überläßt.<br />
Konkretere Hinweise darüber, wie wörtlich oder wie frei übersetzt werden sollte, bietet Katharina<br />
Reiß. In ihrem Bestreben, erstmals objektive Kriterien zu einer Übersetzungskritik zu<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
575
Gundula-Ulrike Fleischer<br />
erstellen, unterscheidet sie auf der Skala ausgangstextorientierte - zieltextorientierte literarische<br />
Übersetzung unterschiedlichen Zwecken dienende Kategorien, wie Rohübersetzungen,<br />
Schul- und Studienausgaben, die "gelehrte" Übersetzung usw., wovon jede ihren Zielsetzungen<br />
entsprechenden Anforderungen zu genügen hat, die dann auch von der Übersetzungskritik in<br />
betracht gezogen werden müssen. [REISS 1986]<br />
Die Berücksichtigung des Zwecks, dem die Übersetzung dienen soll, bei der Wahl der Übersetzerposition,<br />
bzw. bei der Bewertung einer Übersetzung, wie sie heutzutage die Skopostheorie<br />
fordert, ist so neu nicht. Bereits Goethe verwendete die Zweckentsprechung als Kriterium seines<br />
Systematisierungsversuchs der Übertragungen:<br />
Es gibt dreierlei Arten Übersetzung. Die erste macht uns in unserem eigenen Sinne mit dem Auslande<br />
bekannt; eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste.[...] Eine zweite Epoche folgt hierauf, wo<br />
man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich<br />
anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich mit reinstem<br />
Wortverstand die parodistische nennen.[...] Weil man aber weder im Vollkommenen noch Unvollkommenen<br />
lange verharren kann, sondern eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen<br />
muß, so erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige<br />
nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt<br />
des andern, sondern an der Stelle des andern gelten soll. Diese Art erlitt anfangs den größten Widerstand;<br />
denn der Übersetzer, der sich fest an sein Original anschließt, gibt mehr oder weniger die<br />
Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst<br />
heranbilden muß. [GOETHE II, 255-256]<br />
Für die erste Art der Übertragung steht Luthers Bibelübersetzung, für die zweite die von<br />
Wieland oder den Franzosen gepflegte, freie Übersetzung, für die dritte hingegen Voß und die<br />
treuen Übersetzer Ariosts, Tassos, Shakespeares und Calderons, die Goethe durch seine Hierarchisierung<br />
zu weiteren treuen Übertragungen aus der Weltliteratur ermutigt. Es stellt sich die<br />
Frage, inwieweit der Begriff der treuen Übersetzung sich wirklich mit jenem der wörtlichen<br />
deckt und das insbesondere auf dem Gebiet der literarischen Übersetzung, wo das Wort nicht<br />
bloßer Informationsträger ist, sondern die dem Kunstwerk eigene Realität schafft, die der Übersetzer<br />
in die Zielsprache und -kultur herüberholen muß.<br />
576<br />
In einem Aufsatz über die westeuropäische Übersetzungstradition stellt José Lambert fest:<br />
Recent theories demonstrate that the opposition literal/free is rather naïve, and that every translation<br />
has to combine norms and models from the source and from the target system, perhaps even<br />
from still other surrounding systems. [LAMBERT 1988, 129]<br />
Auch Otto Kade erkennt, daß die Alternative wörtlich-frei zu einem künstlichen Gegensatz<br />
zwischen Inhalt und Form führt, weshalb er statt dessen eine organische Vision dieser beiden<br />
empfiehlt. [KADE 1968] Indem er sich zur Veranschaulichung unter anderem einer Ballade von<br />
François Villon, einer Interlinearversion und fünf deutscher Übersetzungen bedient, plädiert<br />
Rainer Kirsch, selbst Lyriker und Nachdichter, in seinem der Lyrik-Übersetzung gewidmeten<br />
Buch Das Wort und sein Schatten für die "funktionale Nachdichtung" als die angemessene Form<br />
der Übertragung von Poesie. Das bedeutet im Klartext:<br />
Ein Verfahren kann das andere ersetzen, wenn es für die poetische Mitteilung annähernd das gleiche<br />
leistet wie das originale, die Funktion eines Verfahrens kann in der Übertragung von anderen<br />
Bauteilen des Gedichts übernommen werden. [KIRSCH 1976, 84]<br />
Die hier zitierten Einstellungen der Übersetzer und Übersetzungstheoretiker aus ganz verschiedenen<br />
Jahrhunderten zeigen, daß es bisnoch zu keiner Einigung gekommen ist, was die<br />
Übersetzerposition betrifft. Die heutige Übersetzungsforschung ist darum bemüht, den Über-<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Wörtliche oder freie Übersetzung? - Zum Streit über das “richtige” Übersetzen<br />
setzungsvorgang wissenschaftlich zu fundieren und aus unterschiedlichen Perspektiven etwas<br />
zur Lösung des schon immerwährenden Streites beizutragen. Allgemeingültige Regeln konnten<br />
nicht aufgestellt werden, aber jede der zahlreichen Orientierungen in der zeitgenössischen<br />
Übersetzungswissenschaft hat ihren Beitrag zur Klärung dieses so umstrittenen Phänomens<br />
geleistet.<br />
Der Leipziger Schule [KADE 1968] liegt der materialistische Glaube an die unbestrittene<br />
Existenz von Entsprechungen für alle Begriffe einer Sprache in einer anderen zugrunde und die<br />
der maschinellen Übersetzung entliehene Behandlung der Übertragung als mechanischen<br />
Transfer. Eine solche Haltung erweist ihre schwachen Seiten im Falle der Übertragung von Literatur<br />
und der stark kulturell geprägten Texte.<br />
Konkrete Hinweise für die Übersetzung aus einer Sprache in die andere versuchen die Vertreter<br />
der Stylistique comparée [VINAY\DARBELNET 1958], der Autor der "translation rules"<br />
[NEWMARK 1988] und jener der "translation shifts" [CATFORD 1965] auf sprachvergleichender<br />
Basis zu erarbeiten. Doch auch hier sind dem Verfahren Grenzen gesetzt: nicht alle Situationen,<br />
die sich während einer konkreten Übersetzung ergeben, lassen sich voraussehen und insbesondere<br />
bei literarischen Übertragungen müssen oft extralinguale Faktoren berücksichtigt<br />
werden, wobei es vom Feingefühl des Übersetzers abhängt, ob er vertretbare Entsprechungen in<br />
der Zielsprache findet, da ihm starre Regeln nicht weiterhelfen können.<br />
Immer wieder rückt das Problem der Äquivalenz ins Blickfeld. Um bloß einige Nuancierungen<br />
zu nennen: "equivalent textual material" [CATFORD 1965], "closest natural equivalent" mit<br />
der Unterscheidung von "formal" und "dynamic equivalence" [NIDA 1964], "kommunikative<br />
Äquivalenz" [JÄGER 1975], "möglichst äquivalenter zielsprachlicher Text" [WILSS 1988] oder<br />
aber die Abschattierungen "denotative, konnotative, textnormative, pragmatische und formale<br />
Äquivalenz" [KOLLER 1979]. Diese Orientierung innerhalb der Übersetzungswissenschaft ist der<br />
Übersetzungsrealität bedeutend näher, weil sie auf einzelne Nuancen Wert legt und den Übersetzungsvorgang<br />
in seiner Dynamik und Kontextgebundenheit zu erfassen sucht.<br />
Um die Bestimmung spezifischer Kriterien zur Anfertigung und Bewertung von Übersetzungen<br />
geht es den Vertretern der textsortenorientierten Theorien [REISS 1986; KOLLER<br />
1992]. Sie sind auf einen textlinguistischen Ansatz zurückzuführen und eröffnen der Forschung<br />
Wege, die praxisorientierte Tendenz haben, da sie auf die Unterschiede einzelner zu übertragenden<br />
Texte eingehen. Diese Theorien können bei der Ausbildung von Berufsübersetzern<br />
große Dienste leisten.<br />
Andere Theorien verlagern den Forschungsschwerpunkt auf den kulturellen Austausch, der<br />
durch die Übersetzung stattfindet [REISS\VERMEER 1984], eine Orientierung die hauptsächlich<br />
bei der Übertragung literarischer Texte hilfreich ist.<br />
Funktional-pragmatischen Charakter hat die sogenannte "Skopostheorie", die alle Anforderungen<br />
dem durch die Übersetzung zu erfüllenden Zweck unterordnet [REISS\VERMEER<br />
1984] und auf dieser Grundlage einerseits dem Übersetzer die Wahl seines Standorts gegenüber<br />
dem Originaltext erleichtert, andrerseits aber auch objektive Wertungskriterien für die Übersetzung<br />
schafft.<br />
Nicht zuletzt wächst zunehmend das Interesse für die Erforschung des Anteils kognitiver<br />
Prozesse einerseits und intuitiver andrerseits im Rahmen des Übertragungsprozeßes, was zu<br />
einem psycholinguistischen Blickwinkel führt [WILSS 1988], der bei einer tieferen Erforschung<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
577
578<br />
Gundula-Ulrike Fleischer<br />
der Phänomene dem Übersetzer Aspekte bewußt macht, die er vorhin bloß intuitiv erfassen<br />
konnte. Dies ist ein vielversprechender Weg zur Verbesserung der Übersetzerleistung.<br />
Die hier geäußerten Gedanken zu einer Debatte, deren Ende bisher nicht vorauszusehen ist,<br />
und die angeführten Tendenzen der zeitgenössischen Übersetzungswissenschaft mit ihren Perspektiven<br />
unterstreichen noch einmal den äußerst komplexen Charakter der Übersetzung, der<br />
bei der gängigen Einstufung in wörtliche, beziehungsweise freie Übersetzung leider nur zu oft<br />
übersehen wird.<br />
L L i i t t e e r r a a t t u u r r :<br />
:<br />
1. BERMAN, Antoine, La traduction et la lettre, in: les tours de babel, Mauvezin: Trans-Europ-Repress, 1985<br />
2. CATFORD, J. C., A Linguistic Theory of Translation, London, 1965<br />
3. ELIAS-BURSAC, Ellen, Translation and Creativity: The Importance of Writing for the Translator, in: Hg. Paul Nekeman,<br />
Translation, our future, Maastricht: Euroterm, 1988<br />
4. GOETHE, Johann Wolfgang, Werke, Hamburger Ausgabe, Hg. E. Trunz, Hamburg, 1959f., II<br />
5. JÄGER, G., Translation und Translationslinguistik, Halle (Saale), 1975<br />
6. KADE, Otto, Zufall und Gesetzmäßigkeit in der Übersetzung, Leipzig, 1968<br />
7. KIRSCH, Rainer, Das Wort und seine Strahlung, Berlin und Weimar: Aufbau, 1976<br />
8. KOLLER, Werner, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Heidelberg, 1979<br />
9. KOLLER, Werner, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Heidelberg/Wiesbaden, 1992<br />
10. LAMBERT, José, West-European Traditions in Translational Policy: A Report on Research in Progress in: Hg. Paul<br />
Nekeman, Translation, our future, Maastricht: Euroterm, 1988<br />
11. NEWMARK, Peter, Approaches to Translation, Oxford: Pergamon, 1982<br />
12. NEWMARK, Peter, A Textbook of Translation, London, 1988<br />
13. NIDA, Eugene A., Toward a Science of Translating. With Special Reference to Principles and Procedures Involved in<br />
Bible Translating, Leiden, 1964<br />
14. ORTEGA Y GASSET, José, Miseria y Esplendor de la Traducción. Elend und Glanz der Übersetzung, München: Langewiesche-Brandt,<br />
1957<br />
15. REISS, Katharina, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, München: Max Hueber, 1986<br />
16. REISS, Katharina/VERMEER, Hans J., Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen: Niemeyer,<br />
1984<br />
17. SCHLEIERMACHER, Friedrich Ernst, Sämtliche Werke, Berlin, 1838, II<br />
18. SDUN, Winfried, Probleme und Theorien des Übersetzens, München: Max Hueber, 1967<br />
19. STACKELBERG, Jürgen von, Blüte und Niedergang der "Belles Infidèles", in: Hg. Harald Kittel, Die literarische<br />
Übersetzung. Stand und Perspektiven ihrer Erforschung, Berlin: Erich Schmidt, 1988<br />
20. STÖRIG, Hans Joachim, Das Problem des Übersetzens, Darmstadt, 1969<br />
21. VINAY, J. P./DARBELNET, J., Stylistique comparée du français et de l'anglais. Méthode de traduction, Paris, 1958<br />
22. WILSS, Wolfram, Kognition und Übersetzen. Zu Theorie und Praxis der menschlichen und maschinellen Übersetzung,<br />
Tübingen: Niemeyer, 1988<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
MALTRÄTIEREN DER ZIEL<strong>SPRACHE</strong>:<br />
Kreativität in der Übersetzung relativer Aausgangssprachkenntnisse<br />
(L. N. Tolstoi, Die Kindheit)<br />
Petru Forna / Misiriantu Sanda<br />
„Kreativität” in der Übersetzung ist, obwohl von einigen Autoren verwendet, ein fremdes<br />
Wort in der Übersetzungswissenschaft. Derart fremd, daß das Stichwort „Kreativität” in der<br />
Arbeitsbibliographie Übersetzen (D. LEHMANN 1982) fehlt. Aber auch heute noch gilt dieser<br />
Begriff als „terra incognita”, so wie die Stichwörter „Problemlösung”, „Entscheidungsprozeß”<br />
und „Intuition” (W. WILSS 1988). GUILFORD, der als Begründer der Kreativitätsforschung gilt<br />
(1950), hat darauf aufmerksam gemacht (1968), daß die Kreativitätsforschung noch immer ein<br />
problematisches Gebiet der Psychologie mit einer Vielzahl verschiedener Forschungsmethoden,<br />
Forschungsperspektiven und Forschungsziele sei. Inzwischen hat sich an dieser Situation nichts<br />
Entscheidendes geändert. Kreativität ist noch immer ein smoke-screen-Begriff; dies hängt u.a.<br />
auch damit zusammen, daß klare begriffliche und definitorische Unterscheidungen zwischen<br />
Kreativität, Produktivität, Originalität und Imagination fehlen (SCHOTTLAENDER 1972; McFAR-<br />
LAND 1985). W. WILSS (1988), führt in diesem Zusammenhang aus:<br />
1. Wenn wir unser gegenwätiges Wissen über Kreativität zusammenfassen, können wir, vereinfacht<br />
formuliert, folgende Feststellungen treffen: Kreativität hat etwas mit Intelligenz zu<br />
tun, aber daraus die Gleichung „höherer Intelligenzquotient = höherer Kreativitäts-Quotient“<br />
abzuleiten ist nach den Erkenntnissen der Kreativitätsforschung falsch.<br />
2. Eine „creatio ex nihilo“ gibt es nicht; Kreativität ist, wie Intuition, immer wissens- und<br />
erfahrungsbasiert; sie setzt ein bestimmtes Maß an Problemverständnis voraus und artikuliert<br />
sich im Entwurf und in der Durchführung von Verhaltensplänen. Augenfällig ist die Wissens-<br />
und Erfahrungsbasiertheit kreativer Handlungsweisen in sog. „brain storming“-Diskussionen.<br />
3. Kreativität ist immer zielgerichtet und wertorientiert; Kreativität ist also nicht identisch<br />
mit einer ziellosen, wertindiffernten Originalität. Kreativität ist so etwas wie eine irrationelle,<br />
nicht mechanisierbare Form der Rationalität. Aber sie ist nicht identisch mit einem „ungesteuerten<br />
Luxurieren“ der Phantasie.<br />
4. Es gibt ganz unterschiedliche Manifestationen der Kreativität, z.B. künstlerische, wissenschaftliche,<br />
technische, organisatorische, didaktische, theoretische und praktische Kreativität.<br />
Ein „kreativitätsübergreifendes“ Merkmal ist die Fähigkeit zur „innovatorischen“, „nichtbehavioristischen“<br />
Kombination von bislang unverbundenen Ideen und Sachverhalten. Nicht<br />
einmal Chomsky ist es geglückt, einen kohärenten, überzeugenden Begriff sprachlicher<br />
Kreativität zu entwickeln. Es ist deshalb kein Zufall, daß er Kreativität einmal „a mysterious<br />
ability“ genannt hat.
Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />
Übersetzungskreativität ist noch weiterhin eine „terra incognita“. Das läßt sich u.a. an der<br />
Tatsache ablesen, daß in der schon erwähnten „Arbeitsbibliographie Übersetzen“ das Stichwort<br />
„Kreativität“ fehlt.<br />
Man muß aber noch die folgende weitverbreitete Vorstellung von den Voraussetzungen und<br />
Bedingungen des Übersetzens vor Augen halten, um die Abstinenz der ÜW auf diesem Gebiet<br />
verstehen zu können: Die Übersetzungsfähigkeit gehört, wie die Fähigkeit zum Erlernen einer<br />
oder mehreren Fremdsprachen, zur mentalen “Grundausstattung“ des Menschen. Sie kann von<br />
ihm im Rahmen eines mehr oder minder systematischen Trainings zu einer interlingualen<br />
Sprachtechnik ausgebaut werden.<br />
Hier und da gibt es zwar in der Fachliteratur Hinweise darauf, daß Übersetzen ein kreativitätsbestimmter<br />
Vorgang ist, aber diese Bemerkungen sind nicht ausschlaggebend, wenn man<br />
wissen möchte, was denn das Charakteristikum der Übersetzungskreativität ist. Sie lassen nicht<br />
erkennen, ob mit Übersetzungskreativität eine Art interlingualer Disponibilität oder eine vage<br />
Umschreibung der im konkreten Übersetzungsvorgang wirksamen übersetzerischen „black box“<br />
ist. Wenn Versuche zur Definition des Begriffs der Übersetzungskreativität gemacht werden,<br />
wird dessen Komplexität durch die Inanspruchsnahme informationstheoretischer Begriffe überspielt.<br />
Die Unsicherheit bei der Bestimmung des Begriffs der Übersetzungskreativität hat mehrere<br />
Ursachen (WILSS 1988):<br />
Erstens: Übersetzen ist eine spezifische Form der Verbindung von Verstehen und Erfinden.<br />
Im Übersetzungsprozeß manifestiert sich eine spezifische Form sprachlicher Kreativität - hier<br />
im individualpsychologischen, nicht im generativen Sinn verstanden. Übersetzungskreativität ist<br />
ein schillender Begriff. Man kann sie weder begrifflich packen noch exakt messen, gewichten<br />
oder beschreiben. Welcher unserer geistigen Kräfte wollen wir sie zuordnen? Kreativität ist<br />
offenbar ein mentales Superdatum, in welchem Vernunft, Verstand, Intuition und Phantasie<br />
integrativ zusammenwirken. Kreativität im allgemeinen und Übersetzungskreativität im besonderen<br />
lassen sich nicht vorherbestimmen. Man kann so gut wie nicht vorhersagen, was wir<br />
als Übersetzer morgen an kreativen Einfällen haben werden und ob wir mit unserem Kreativitätespotential<br />
dem zu übersetzenden Text gerecht werden oder nicht.<br />
Zweitens: Man kann die Meinung vertreten, daß Kreativität im Widerspruch zum Wesen des<br />
Übersetzungsprozesses steht. Sein Ziel ist die Nachbildung eines Ausgangstextes in einer ZS.<br />
Aber ein Übersetzer muß seine eigenen mentalen Kreativitätsressourcen aktivieren, um in einer<br />
spezifischen Übersetzungssituation in semantischer, funktionaler und pragmatischer Hinsicht<br />
ein Ebenbild des Ausgangstextes zu erreichen. Übersetzen ist eine „transformative“ Tätigkeit.<br />
Sie steht also prinzipiell im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Re-Kreativität.<br />
Drittens: Übersetzungskreativität ist weder auf induktivem noch auf deduktivem Weg voll<br />
objektivierbar; es läßt sich kein theoretisch fundierter und empirisch eindeutig überprüfbarer<br />
übersetzungskreativer Beschreibungs- und Erklärungszusammenhang entwickeln. Für die Volatilität<br />
des Begriffs der Übersetzungskreativität spricht auch, daß bis heute nicht entschieden<br />
ist, ob Übersetzen eine Kunst, eine Fertigkeit oder ein wissenschaftliches Unterfangen im Sinne<br />
einer sachverhalt- und text(typ)bezogenen Methodologie ist (NIDA 1976).<br />
Viertens: Es gibt offenbar keinen homogenen Begriff von Übersetzungskreativität. Man muß<br />
in der Übersetzungspraxis verschiedene Kreativitätsebenen, Kreativitätsbereiche und Kreativitätsmanifestationen<br />
ansetzen (SASTRI 1973). Die Relativität des Begriffs der Übersetzungs-<br />
580<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />
kreativität ist ungefähr so vage wie die Relativität der Zuordnung eines zu übersetzenden Textes<br />
zu einem bestimmten Schwierigkeitsgrad (WILSS 1988).<br />
Die Relativität des Kreativirätsbegriffs wird deutlicher, wenn man den diesen texttypspezifisch<br />
differenziert. Denn der Übersetzer sieht nicht alle übersetzungsrelevanten Texte durch<br />
dasselbe Fadenkreuz der Kreativität. In literarischen Texten ist das Sender/Empfänger-Verhältnis<br />
asymmetrisch, d.h., der Übersetzer als Empfänger eines literarischen Textes reagiert auf<br />
einen solchen Text nicht, jedenfalls nicht immer, auf vorhersagbare Weise. Das gilt vor allem<br />
für lyrische Texte, die MAYER als „Momentaufnahmen des sozialen Geschehens“ (1980) bezeichnet.<br />
Das unterschiedliche Reaktionsverhalten läßt sich anhand verschiedener Übersetzungen ein<br />
und desselben literarischen Werkes gut dokumentieren. Ein literarischer Text steht nicht einem<br />
beiden Kommunikationspartnern, dem Ausgangs-Autor und dem Übersetzer, gleichermaßen<br />
bewußten und bekannten Erwartungshorizont zur Verfügung; das Einverständnis über eine<br />
literarische Übersetzungssituation wird erst über „Irritation“ und auf dem Weg hermeneutischer<br />
Textbewältigung hergestellt (WILSS 1988).<br />
Literarische Texte sind u.U. extrem „rücksichtslos“. Sie verkünden keine verordneten Meinungen.<br />
Sie können durchaus so beschaffen sein, daß der Übersetzer ins Leere läuft, daß er<br />
leere Stellen ausfüllen, Ungesagtes, nur Angedeutetes ergänzen, einen Text gleichsam „gegen<br />
den Strich“ lesen muß (WILSS 1988). Voraussetzung dafür ist, daß der Übersetzer eines literarischen<br />
Textes bereit ist, sein alltagssprachliches Textverständnis, seine eigene Erfahrungswelt<br />
in Frage zu stellen und sich in die vom Autor des Ausgangstextes intendierten Sinnzusammenhänge<br />
hineinzudenken. Literarische Texte stehen außerhalb der Wahr/Falsch-Dichotomie. Johann<br />
Wolfgang von Goethes Ausspruch „das Gedichtete behauptet sein Recht wie das Geschehene“<br />
erweist literarische Texte als komplizierte Ereignisse, denen mit einer<br />
übersetzerischen Standardmethode nicht beizukommen ist (REICHERT 1967).<br />
Es ist also einleuchtend, daß die wörtliche Übersetzung unter übersetzungskreativem<br />
Aspekt weniger aufwendig ist als die nichtwörtliche Übersetzung. Es muß auch dem Umstand<br />
Rechnung getragen werden, daß der Übersetzer, vor allem der Anfänger, auch dort wörtlich<br />
übersetzt, wo er nur mit einer nichtwörtlichen Übersetzung interferenzfrei sein Ziel erreichen<br />
könnte. Denn wörtliche Übersetzungsprozeduren können nur dort praktiziert werden, wo zwischen<br />
AS und ZS ein struktureller (syntaktischer) Gleichgewichtszustand herrscht.<br />
Bei wörtlichen Übersetzungen reduziert sich der Transferaufwand auf die Aktualisierung<br />
von Verhaltensschemata. Wo wörtlich übersetzt wird, tritt die Unidirektionalität des Übersetzungsprozesses<br />
außer Kraft. Der Übersetzer braucht im Grunde nicht mehr zu leisten, als das<br />
betreffende Textsegment substitutiv auf die ZS zu projizieren. Dies läßt den Schluß zu, daß das<br />
zahlenmäßige Verhältnis von wörtlichen Übersetzungsprozeduren und ZS zwingend vorgeschriebenen<br />
nichtwörtlichen Übersetzungsprozeduren ein wichtiges Kriterium für den<br />
Schwierigkeitsgrad eines Textes sein kann. Die nichtwörtlichen Übersetzungsprozeduren<br />
resultieren aus interlingualen Konfliktsituationen. Die AS und ZS Segmente sind syntaktisch,<br />
lexikalisch, idiomatisch oder soziokulturell divergent.<br />
Wie wörtliche Übersetzungsprozeduren, so sind auch nichtwörtliche Übersetzuungsprozeduren<br />
erklärbar. D.h., der Übersetzer kann in der Regel Auskunft darüber geben (oder sollte<br />
zumindest Auskunft darüber geben können), warum er zur Erreichung eines akzeptablen Übersetzungsergebnisses<br />
auf eine nichtwörtliche Übersetzungsprozedur zurückgegriffen hat. Dies ist<br />
immer dann der Fall, wenn aus sprachsystematischen oder gebrauchsnormativen Gründen eine<br />
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Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />
Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen AS und ZS fehlt und eine wörtliche Übersetzung einen<br />
eindeutigen Verstoß gegen die syntaktischen, lexikalischen, idiomatischen und soziokulturellen<br />
Regelapparate der ZS zur Folge hätte.<br />
Während wörtliche Übersetzungsprozeduren dem Übersetzer leichter von der Hand gehen,<br />
weil er AS Textsegmente auf die ZS direkt abbilden kann und im Rahmen der ZS Textkonzeptionalisierung<br />
nur einen minimalen Transferaufwand investieren muß, erfordern nichtwörtliche<br />
Übersetzungsprozeduren oft ein verlhältnismäßig hohes Maß an kreativer Energie und intertextueller<br />
Sprachhandlungskompetenz.<br />
Ein kreativitätsrelevantes Problem ist eben der Umstand, daß man bei der Übersetzung ein<br />
und desselben Textes durch verschiedene Übersetzer mit einem u.U. breiten Spektrum formal<br />
verschiedener, qualitativ aber (ungefähr) gleichrangiger ZS-Versionen rechnen muß. Aber der<br />
Bezugspunkt für interlinguale Kommunikation ist nicht eine wie immer motivierte authentische<br />
Mitteilungsabsicht, sondern ein as vorformulierter Text, der für den Übersetzer Handlungsanweisungscharakter<br />
besitzt.<br />
Der Ausgangstext steuert das Verhalten des Überstzers. Gäbe es keinen Originaltext, gäbe es<br />
keine Übersetzung. Die Aufgabe des Übersetzers beasteht darin, unter übersetzungssituationsbezogener<br />
Aktivierung seiner kreativer Möglichkeiten auf dem Weg über einen u.U. höchst<br />
komplizierten intertextuellen Balanceakt ein funktionelles Gleichgewicht zwischen Ausgangs-<br />
und Zieltext herzustellen.<br />
Der Übersetzer gewährleistet dadurch die Voraussetzungen für ein Informations-kontinuum<br />
zwischen zwei ihm oft unbekannten Kommunikationspartnern. Dabei verläßt sich der Überstzer<br />
in seinem Handeln vorwiegend oder ausschließlich auf seinem übersetzerischen Erfahrungsbereich;<br />
er lernt im Laufe der Zeit abzuschätzen, wieviel Kreativität er in die sachgerechte<br />
Lösung eines Übersetzungsauftrags investieren muß und in welchem Umfang er interlinguale<br />
Zuordungsstereotypen aktivieren kann (WILSS 1988).<br />
Doch sind im Gegensatz zu Übersetzungsmethoden die Übersetzungstechniken durch Routinertheit<br />
und Wiederholbarkeit geprägte übersetzerische Verhaltensweisen, in denen abstrakte<br />
Gedächnisinhalte in konkreten Handlungszusammenhängen automatisch aktiviert werden.<br />
Übersetzerisches Routinenverhalten ist das Gegenteil einen übersetzerischen Konfliktlösungsproblems;<br />
es beruht auf dem Prinzip, daß unter gleichen oder zumindest vergleichbaren übersetzerischen<br />
Bedingungen bei ökonomischem übersetzerischen Mittelansatz situationsunabhängig<br />
ein gleiches oder zumindest vergeichbares Ergebnis erzielt werden kann. Übersetzungstechniken<br />
setzen eine „allmähliche Sedimentierung eingeübter Praxisvollzüge“ ((BUBNER 1984)<br />
voraus, die auf Selbstregulierungsmechanismen beruhen, in denen „ursprünglich bewußtseinspflichtige<br />
Bestandteile der psychischen Struktur aus dem Bewußtsein zurücktreten (HACKER<br />
1978). Übersetzungstechniken repräsentieren eine spezifische Form standarsdisierter Informationsverarbeitung,<br />
Sie ermöglichen eine invariante, auf jeden fall nur begrenzt variable Zuordnung<br />
von Input und Output und verlangen eine Relativierung der Festsellung, daß „in einem<br />
Wissenschafsbereich (wie dem der Übersetzungswissenschaft) wissenschaftliche Kriterien wie<br />
Objektivität und Wiederholbarkeit nicht sinnvoll angewandt werden können (MUDERSBACH<br />
1987). Übersetzungstechniken sind das Ergebnis von Lernprozessen (WILSS 1988). Sie beruhen<br />
auf Erinnerungsfaktoren.<br />
Der Übersetzer vergegenwärtigt sich in seinem Langzeitgedächtnis verfestigte Handlungsschemata<br />
und setzt diese bei der Erreichung seines Handlungszieles ein. Dadurch daß Übersetzungstechniken<br />
weithin regelhafter Natur sind, werden sie in bestimmtem Umfang vorhersagbar.<br />
Diese Vorhersagbarkeit übt eine Entlastungsfunktion aus. Der Übersetzer kann von<br />
vorgegebenen Handlungsmustern Gebrauch machen, oder er kann von ihm für geeignet und<br />
582<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />
unverwechselbar gehaltene Textbausteine zu neuen überstzerischen Handlungsmustern<br />
zusammnesetzen (DANIEL 1981). Zu beachten ist allerdings, daß eine solche Verhaltensweise<br />
nicht dispositionell gesteuert, sondern sprach- und text(typ)determiniert ist.<br />
Übersetzungstechniken sind zu Gewohnheitstätigkeiten (habits) verfertigte Transfermechanismen<br />
(WILSS 1988), die allerdings nur dann praktiziert werden können, wenn der<br />
Übersetzer über eine ausgeprägte interlinguale „Framekomptenz“ (WEGNER 1984) verfügt.<br />
Diese – bewußt oder unbewußt aktivierte - „Framekompetenz“ baut sich allmählich durch<br />
induktive Sammlung vereinzelter Beobachtungen zu einem verläßlichen Spurensystem auf und<br />
wird so nach dem Prinzip der „increasing-strength hypothesis“ (WICKELGREN 1979) Teil eines<br />
übersetzerischen Handlungskalküls, das prototypisches Denken und Formulieren ermöglicht.<br />
Es setzt voraus, daß es zwischen as und zs Ausdrucksinventaren strukturhafte oder strukturierbare<br />
Äquivalenzbeziehungen gibt, die der Übersetzer text(typ)spezifisch mehr oder minder<br />
unreflektiert aus seinem Gedächtnis abzurufen imsande ist (TOMMOLA 1085). Diese Überlegungen<br />
verweisen auf COSERIUs (1970) (an ARISTOTELES anknüpfende) Unterscheidung zwischen<br />
nichtkreativen Handlungen, die eine schon gegebene Dynamis bloß anwenden, und der<br />
schöpferischen Tätigkeit, die der Dynamis vorausgeht. WILSS(1988) glaubt, daß COSERIU unter<br />
der Anwendung einer schon vorgegebenen Dynamik die Entwicklung und die Konsolidierung<br />
von standardisierbaren lexikalischen, idiomatischen und syntaktischen Übersetzungsprozessen<br />
zu Übersetzungstechniken versteht, und unter kreativen Handlungen, die der Dynamik vorausgehen,<br />
eine originalitätsbestimmte Übersetzungstätigkeit, wie sie sich, vereinfacht formuliert,<br />
in allen „nichtformatierten“ Texten manifestiert. Es ist aber zu bezweifeln, daß die Anwendung<br />
einer schon vorgegebenen Dynamik als nichtkreativ zu bezeichnen wäre. Man könnte umgekehrt<br />
argumentieren und das Wissen um die vorgegebene Dynamik geradezu als<br />
Vorbedingung für eine bestimmte (sekundäre) Art übersetzerischer Kreativität betrachten, für<br />
die ALLEN (1982) den Begriff „ostinatio“ (das Erwartbare) im Gegensatz zu „capriccio“ (das<br />
Nichterwartbare) geprägt hat.<br />
Also: In übersetzerischen Handlungszusammenhängen ist die Übersetzungskreativität auf<br />
zweierlei Weise virulent: sie bringt einerseits Ordnung und Stabilität in übersetzerisches Verhalten.<br />
Das entscheidende Merlkmal dieser Art von Übersetzungskreativität ist ihre Kraft, „Regelmäßigkeit<br />
im Handeln zu stiften. Diese Kraft ist in der Gemeinschaft verankert. . . Wo diese<br />
gemeinschaftliche Verankerung fehlt, ist auch nicht mit einer sicheren Geregeltheit des Handelns<br />
durch Normen zu rechnen“ (MÜNCH 1984).<br />
Übersetzungskreativität setzt andererseits Kräfte frei, durch die sie die Dynamik des Übersetzers<br />
außerhalb einer soziotechnischen Verhaltenspragmatik mit einer kollektivistischen<br />
übersetzerischen Grundhaltung verwirklichen kann. Stabilität und Inovation widersprechen sich<br />
nicht. Sie sind komplementäre Manifestationen eines sich an den Gegebenheiten des jeweiligen<br />
Übersetzungsauftrags orientierenden Übersetzerverhaltens. Übersetzerische Routine wird ergänzt<br />
durch einen übersetzerischen „Möglichkeitssinn“, der die beklemmende Vision einer total<br />
durchrationalisierten übersetzerischen Praxis mit durchgängig praktizierten festen Denk- und<br />
Ausdrucksschemata als gegenstandslos erweist (WILSS 1988). Man kann den übersetzerischen<br />
Produktionsprozeß nicht vollumfänglich dem Prinzip der Maschinenlogik unterwerfen. Neben<br />
vorhersagbaren, typisierbaren Übersetzungsprozessen gibt es auch nicht vorhersagbare, nicht<br />
„generierbare“, gleichsam „unbefestigte“ Übersetzungsprozesse außerhalb eines „instituierten“<br />
Sprachgebrauchs mit geregeltem Erwartungshorizont (WILSS 1988). Für Übersetzen gibt es<br />
keinen operativen Blankoschek. Der Übersetzer hält sich viele Wegrichtungen offen. Sein Erfindungsreichtum<br />
ist, jedenfalls in literarischen Texten, fast unauslotbar.<br />
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Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />
Auch deswegen ist es sinnwidrig, immer und überall zu allgemeinen Regeln übersetzerischen<br />
Geschehens vorstoßen zu wollen. Praktisch kommt es darauf an, die jeweilige<br />
übersetzerische Gesamtsituation in all ihren Eigentümlichkeiten möglichst präzise zu erfassen<br />
und in der ZS durch Aktivierung aller kreativen Resourcen möglichst konturscharf und<br />
unverfälscht wiederzugeben. Die sprachlichen Rollen sind uns verordnet. Übersetzen ist eine Art<br />
sprachliches Rollenspiel. Aber gerade im Bewußtsein dieses Rollenspiels eröffnen sich dem<br />
Übersetzer Möglichkeiten und Perspektiven eines kreativen Verhaltens.<br />
*<br />
* * *<br />
*<br />
Graf Leo Tolstoi (1828-1910) ist das größte epische Naturgenie des 19. Jahrhunderts, Inbegriff<br />
russischen Wesens bis in den ungelösten Zwiespalt von Welt und Gott. Aus russischem<br />
Hochadel - auch von der Mutter her, einer Prinzessin Wolkonski - stammend, verlebte er glückliche<br />
Kinderjahre, die er so wunderbar in seiner Kindheit beschreibt. Er beherrschte die deutsche<br />
Sprache wie ein Muttersprachler, da er von klein auf diese Sprache gebrauchte. Und weil das in<br />
den adligen Familien Rußlands normal war. Auch seine Eltern waren der deutschen Sprache<br />
derart mächtig, daß sie den Geschwistern Tolstoi manchmal „verdächtig“ wurden, insbesondere<br />
wenn sie im Anlaut statt „G“ „J“gebrauchten. Das hing aber vom Erzieher ab. Graf Tolstoi und<br />
seine Geschwister sprachen aber ein „Standard-Deutsch“, weil ihr Erzieher aus einer Gegend<br />
Deutschlands kam, die die Normen der Schriftsprache durchsetzte. Alles was von Graf Tolstoi in<br />
deutscher Sprache geschrieben wurde, ist einwandfrei. Hier ein paar Beispiele aus seiner Kindheit,<br />
die das beweisen sollen:<br />
Auf, Kinder, auf. . . s'ist Zeit!<br />
Sind Sie bald fertig?<br />
Von allen Leidenschaften die grausamste ist die Undankbarkeit.<br />
Das Unglück verfolgte mich schon im Schosse meiner Mutter.<br />
In meinen Adern fliesst das edle Blut der Grafen von Sommerblat.<br />
Ich war ein Fremder in meiner eigenen Familie.<br />
Trachte nur ein ehrlicher Deutscher zu werden, sagte sie, und der liebe Gott wird dich nicht verlassen.<br />
Ich hatte einen einzigen Sohn und von diesem muß ich mich trennen.<br />
Du bist ein braver Bursche, sagte mein Vater und küsste mich.<br />
Und wir verteidigten unser Vaterland bis auf den letzten Tropfen Blut.<br />
Ich sprang ins Wasser, kletterte auf die andere Seite und machte mich aus dem Staube.<br />
Ich dankte dem Allmächtigen Gott für Seine Barmherzigkeit und mit beruhigtem Gefühl schlief ich ein.<br />
Ich nahm meinen Mantelsack und Beutel und sprang zum Fenster hinaus.<br />
Die deutsche Sprache verdankt er seinem Erzieher Karl Ivanitsch Mauer, den er liebte, wie<br />
wenige Personen in seinem weltlichen Dasein. Er nennt ihn bald „Erzieher“, bald „Djatka“, bald<br />
„Lehrer“. Und auch wenn manchmal eine quasi-herablassende Haltung Karl Ivanitsch gegenüber<br />
zu spüren ist – normal für den Sprößling einer solchen Familie - ist die Liebe für ihn echt<br />
und die Dankbarkeit fraglos. Sätze, wie die oben erwähnten, machten den Übersetzern überhaupt<br />
keine Schwierigkeiten, höchstens diejenigen, die bei einer Translation üblich sind. Also in<br />
Fußnhoten eine ziemlich getreue Wiedergabe zu geben. Aber Karl Ivanitsch Mauer spricht auch<br />
Russisch. Natürlich nicht besonders gut, was verständlich ist. Er macht Fehler, die „normal“ für<br />
einen Nichtmuttersprachler sind.<br />
Eben diese Fehler beschäftigen uns. Denn sie sind charakteristisch für einen, der nicht sehr<br />
gut Russisch spricht und können nur „kreativ“ in eine andere Sprache übersetzt werden. Der<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />
Leser des betereffenden Textes soll verstehen, daß dort jemand spricht, der die Sprache, in die<br />
die Übersetzung gemacht worden ist, nicht vollständig beherrscht. Was Karl Ivanitsch im Russischen<br />
sagt, ist eine „Malträtierung“ der russischen Sprache. Er macht Fehler, die bald anerkennen<br />
lassen, daß der Betreffende der russischen Sprache nur relativ mächtig ist. Diese<br />
Fehler haben eine spezifische Natur, die nur für diejenigen, die das Russische einwandfrei beherrschen,<br />
zu verstehen sind. Es ist sinnlos hier zu erklären, worin sie bestehen.<br />
Aber wie übersetzt man solche Aussagen? Soll man die Charakterika der betreffenden Fehler<br />
aus der Ausgangssprache bewahren? Oder sollte man sie derart übersetzen, daß der Leser<br />
den Einduck hat, daß dort jemand spricht, der die Sprache nicht gut beherrscht? Sind die Fehler,<br />
die ein Deutscher im Russischen und im Rumänischen macht derselben Natur? Natürlich<br />
nicht, auch wenn sie manchmal übereinstimmen können, da beide indo-germanische Sprachen<br />
sind. Die beiden Übersetzer mußten das Russische von Karl Mauer so übersetzen, daß jeder<br />
rumänische Leser verstände, daß dort jemand eine Sprache verwendet, die er nicht sehr gut<br />
beherrscht, die er aber „verständlich“ gebrauchen will.<br />
Es sind in diesem Zusammenhang noch zwei Aspekte zu erwähnen:<br />
Der eine wäre, daß in verschiedenen Provinzen Rumäniens deutsche Minderheiten lebten,<br />
die aber derart einwandfrei Rumänisch sprachen, daß man bloß nach dem Hören des Namens<br />
sich Rechenschaft gegeben hat, mit einem Deutschen gesprochen zu haben. Also hatten die<br />
Übersetzer kein Muster für eine rumänische Sprache der Deutschen aus Rumänien.<br />
Der andere bestünde darin, daß die Menschen verschiedener Nationalitäten insbesondere in<br />
Siebenbürgen gewohnt sind, auch andere Sprachen zu sprechen. Und obwohl sie sich dessen<br />
bewußt sind, daß das nicht immer sehr gut „funktioniert“, liegt die Hauptsache darin, sich<br />
verständlich zu machen. Also malträtiert man brüderlich eine andere Sprache, aber die Malträtierung<br />
führt zu einem guten Ende.<br />
Nun haben wir den Eindruck, daß die Übersetzer des Werks von Graf Leo Tolostoi keine Ahnung<br />
von solchen philologischen Spekulationen gehabt haben. Sie haben aber etwas Außerordentliches<br />
geleistet. Und eben das ist die Frage nach Kreativität. Ist man sich ihrer bewußt?<br />
Ist sie erlernbar? Hätten die Übersetzer es besser übersetzt, wenn sie gründliche theoretische<br />
Kenntnisse in diesem Bereich gehabt hätten? Es folgen ein paar Beispiele, aus denen jeder<br />
rumänische Leser verstehen kann, daß dort ein Deutscher spricht, der das Rumänische nur<br />
relativ beherrscht:<br />
«Doua undi]a pentru copil, [aptezeci copeica.»<br />
«Hârtie colorat, margine aurit, clei [i stinghie de la cutiu]a, pentru cadouri, [ase ruble [i<br />
cincizeci[icinci copeica.»<br />
«Carte [i arc, cadou la copii, opt ruble [aisprezece copeica.»<br />
«Pantaloni la Nicolai, patru ruble.»<br />
«Ceas de aur, f`g`duit de Piotr Alexandrovici la Mocov, în 18. . . cost o sut` patruzeci<br />
ruble.»<br />
«Eu fost nefericit inca in pântec la mama al meu.»<br />
«Eu fugit.»<br />
«Când v`zut, ea spus la mine.»<br />
«Tumnezeu fede tot [i [tie tot [i în tot este sfânta lui foie, numai de voi copii pare la<br />
mine r`u.»<br />
«Comedia de p`pu[i.»<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
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586<br />
Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />
«B`iat neastâmp`rat`.»<br />
«Musculi]` plicticos.»<br />
«Eu s`rit în apa, c`]`rat pe cel`lalt parte [i rupt fuga.»<br />
«Când v`zut, ea spus la mine. . .»<br />
«Aminte[te de mine aproape când sunt,<br />
Aminte[te departe când merg pe p`mânt,<br />
Aminte[te întruna,<br />
Amninte[te de mine tu, totdeauna,<br />
{i la mormânt<br />
S` fii credincios cum eu sunt.»<br />
Das letzte angeführte Beispiel, eben das von Karl Mauer für Gräfin Tolstoja geschriebene<br />
„Liebesgedicht“, beweist aus philologischem Sichtpunkt mehrere Sachen:<br />
➧ es ist nicht unbedingt notwedig, über eine dichterische Sprache zu verfügen, um echten<br />
Gefühlen Ausdruck zu geben;<br />
➧ die Sprache ist in erster Linie Kommunikationsmittel. Das Dichterische und das Korrekte<br />
sind (und waren) Luxusartikel;<br />
➧ das Übersetzen ist nicht erlernbar, obwohl Studium im Bereich behilflich sein könnte;<br />
➧ Kreativität ist eine angeborene Sache;<br />
➧ Übersetzen ist etwas, was bleibt. Auch wenn man den Namen des Übersetzers vergißt<br />
oder nicht kennt, werden noch lange Zeit die Menschen ihn brauchen. Denn er leistet<br />
das, was keine wissenschaftliche philologische Arbeit leisten kann. Verständnis, Kennenlernen,<br />
Toleranz und Liebe unter Menschen.<br />
L L i i t t e e r r a a t t u u r r :<br />
:<br />
1. S. Allen (1982), Text Processing as a Theme. The Capriccio and Ostinato of Texts. In: S. Allen (ed.) (1982), Textprocessing,<br />
Text Analysis and Generation, Text Typology and Attribution, Proceedings of NOBEL SYMPOSIUM 51,<br />
Stockholm, 15-22<br />
2. R. Bubner (1960/1969), Rationalität, Lebensform und Geschichte. In: H. Schnädelbach (Hg.) (1984), Rationalität.<br />
Philosophische Beiträge. Frankfurt a.M. 198-217<br />
3. E. Coseriu (1970) in U. Petersen, Sprache, Strukturen und Funktionen. XII Aufsätze zur Allgemeinen und Romanischen<br />
Sprachwissenschaft. Tübingen<br />
4. C. Daniel (1981); Theorien der Subjektivität. Einführung in die Soziologie des Individuums. Frankfurt a.M./New York<br />
5. J. P. Guilford (1968), Intelligence, Creativity and Their Educational Implications. San Diego, Cal.<br />
6. W. Hacker (1978), Allgemeine Arbeits- und Ingenieurpsychologie. Psychische Struktur und Regulation von Arbeitstätigkeiten.<br />
Bern/ Stuttgart/ Wien<br />
7. D. Lehmann (1982), Arbeitsbibliographie Übersetzen: Interdisziplinäre Aspekte der Sprach- und Übersetzungswissenschaft<br />
sowie der Übersetzungspraxis. L.A.U.T. Series B. Paper No. 83. Trier<br />
8. G. Mayer (1980), Zum kulturwissenschaftlichen Erkenntniswert literarischer Texte. In: A. Wierlacher / D. Eggers /<br />
U. Engel / H.-J. Krumm / R. Picht / K.-F. Bohrer (Hrsg.), Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Band 6. Heidelberg, 8-<br />
16<br />
9. T. McFarland (1985), Originality and Imagination. Baltimore/ London<br />
10. K. Mudersbach (1987), Eine Methode des wissenschaftlichen Übersetzens mit Computer-Unterstützung. Einleitung<br />
zum Vortrag bei der GAL-Konferenz, 1.10.87<br />
11. R. Münch (1984), Die Sprache der Moderne. Grundmuster und differntielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus<br />
der modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />
12. E. A. Nida (1976), A Framework for the Analysis and Evaluation of Theories of Translation. In: R.W. Brislin (Hg.)<br />
(1976), Translation, Applications and Research, New-York<br />
13. K. Reichert (1967), Zur Technik des Übersetzens amerikanischer Gedichte. In: Sprache im technischen Zeitalter 21<br />
14. M. I. Sastri (1973), Degrees of Creativity. In: Language Sciences 27<br />
15. R. Schottlaender (1972), Paradoxien der “Kreativität”. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 26<br />
16. L. N. Tolstoi (1953), Opere în paisprezece volume, Volumul 1. Copil`ria,Adolescen]a, Tinere]ea. Traducere de Ticu<br />
Arhip [i Maria Vlad. Editura A.R.L.U.S. “Cartea Rus`” 1953<br />
17. J. Tommola (1985), Approaches to Research on Translation. In: J.Tommola/T. Virtanen (Hg.) (1985), Working<br />
Papers in English Studies, Turku<br />
18. I. Wegner(1984), Die Frame-Theorie, eine neue Theorie konzeptueller Makrostrukturen für die Lexikographie. In:<br />
Der Deutschunterricht 5<br />
19. W. Wilss (1988), Kognition und Übersetzen, Tübingen<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
587
DIE ÜBERSETZUNG ALS PROZESS DES KULTURTRANSFERS<br />
Einige Überlegungen zu Victor Klemperers<br />
LTI. Notizbuch eines Philologen<br />
La Laura La Gabriela Gabriela Laza<br />
Laza<br />
Kultur läßt sich durch vieles vermitteln, durch Bräuche, Sitten, Gesänge, Trachten, Essensgerichte,<br />
wohl aber am besten durch Sprache. Und das nicht nur im Sinne des Lernens einer<br />
Fremdsprache, um die Kultur derjenigen Sprachgemeinschaft besser zu verstehen. Die Sprache<br />
kann auch für sich selbst sprechen. Viele Wörter sind spezifisch für eine Kulturgemeinschaft ,<br />
weil sie Phänomene beschreiben, die es nur in der Kultur gibt. 1947 veröffentlicht Victor Klemperer<br />
in Berlin sein LTI. Notizbuch eines Philologen 1 , ein Buch, das Anlass gibt, nicht nur über<br />
die Sprache des Dritten Reiches nachzudenken, sondern auch über ein sozial-historisches<br />
Phänomen, den Nationalsozialismus.<br />
„Le style c’est l’homme“- nach diesem Motto möchte Klemperer Sprache und Ideologie zusammenbringen,<br />
und implizite auch Kultur. Für einen Übersetzer ist es sicherlich eine Herausforderung<br />
sich mit der LTI (Sprache des Dritten Reiches) auseinanderzusetzen. Indem wir versucht<br />
haben, einige Begriffe daraus zu übersetzen, stießen wir auf das vieldiskutierte Problem<br />
der Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit. Hierzu schien uns ein Artikel von Eugen Coseriu<br />
„Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie“ 2 von besonderer Wichtigkeit.<br />
Mit Hilfe der Termini, die er hier aufführt, als auch des hier aufgestellten Modells, das im Zusammenhang<br />
mit seinem linguistischen System zu verstehen ist, sind wir an den Text von<br />
Klemperer näher herangegangen, und haben versucht, Begriffe, die uns repräsentativ schienen,<br />
zu analysieren. Besser gesagt, es wird der Versuch gemacht, ähnliche Bedeutungen für dieselben<br />
Bezeichnungen in der eigenen Sprache - hier Zielsprache, zu finden. Übersetzen hat<br />
sicherlich nicht nur mit Sprache zu tun, sondern auch mit Kultur, und da sind sich die meisten<br />
Sprach- und Literaturwisseschaftler einig. Beim Übersetzen aus der Ausgangssprache - hier<br />
Deutsch in die Zielsprache - hier Rumänisch mußten wir mehr als nur sprachwissenschaftliche<br />
Phänomene beachten. Zwei Kulturen trafen aufeinander. In der Zielsprache sind wir auf zwei<br />
der LTI ähnliche Phänomene gestoßen. Am 24. Juni 1927 wird auch in Rumänien eine nationalistische<br />
Organisation gegründet, zum einen nach dem deutschen Muster, da ihre Führer in<br />
Jena und Berlin studiert hatten und vom deutschen Nationalsozialismus stark begeistert waren,<br />
zum anderen basierte der rumänische Nationalismus auf einer hohen Form der Religiosität. Der<br />
Antisemitismus und die „Rettung des rumänischen Volkes“ 3 waren auch hier leitende Gedanken,<br />
aber der Glaube an Gott, und an die orthodoxe Religion standen über alles. Später, 1930 ließ<br />
sich die Organisation umbenennen und so entstand die Eiserne Garde, eine politische Partei, die<br />
unter dem Marschall Antonescu eine Zeit lang auch regiert hat. Einige Wörter der LTI können<br />
1<br />
Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen, Aufbau-Verlag, Berlin 1947.<br />
2<br />
Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie, in: Wills, Wolfram (Hrsg.): Übersetzungswissenschaft,<br />
Darmstadt 1981.<br />
3<br />
Siehe Zelea Codreanu, Corneliu: Pentru legionari, Bucure[ti 1940.
Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI<br />
auch in den Reden der rumänischen Rechtsextremisten um 1935 wiederentdeckt werden. Viele<br />
Wörter wurden aber nicht einfach übersetzt, sondern es wurden neue mit eigenen sprachlichen<br />
Mitteln geschaffen, denn diese Sprache, obwohl sie auch einer nationalistischen Ideologie<br />
diente, war eine eigene spezifische Kulturerscheinung. LTI wurde zu einer Tabu-Sprache zu<br />
DDR-Zeiten, man hat nicht nur im Bezug auf Literatur, sondern auch im Bezug auf die Sprache<br />
von einem Nullpunkt geredet. Dieses Phänomen ist auch in Rumänien nach 50 Jahren kommunistischer<br />
Herrschaft zu beobachten. Wörter, die im damaligen sprachlichen Alltag unvermeidlich<br />
waren, werden heute kaum noch ausgesprochen, wie z. B. tovar`[ oder gospodar. 4 Es entsteht<br />
also beim Versuch der Übersetzung der Sprache des Dritten Reiches ein interkultureller<br />
Dialog.<br />
Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers und als Form der interkulturellen<br />
Kommunikation.<br />
Über die Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit eines Textes waren sich die Übersetzungswissenschaftler<br />
nie einig. Nach Coserius Ansicht, müßte erstens einen Unterschied<br />
zwischen Übersetzung als rein technischer Tätigkeit, auch Übertragung genannt und dem Übersetzen<br />
als Prozess, gemacht werden 5 . Die Übersetzung ist die Technik der Feststellung von<br />
„Entsprechungen“, d. h. von Äquivalenzen in der Bezeichnung; das „Übersetzen“ hingegen ist<br />
eine komplexe Tätigkeit, die bei weitem nicht nur aus Übertragung besteht. Coseriu führt also<br />
diese Termini ein: Übersetzung und Übersetzen, wobei Übersetzen eine gelungene Übersetzung<br />
darstellt, die den kulturellen Aspekt dieses Vorgangs beachtet. Das, was grundsätzlich nicht<br />
„übersetzt“ werden kann, wird beim Übersetzen auch nicht übertragen, im Sinne des Begriffes.<br />
Der Autor behauptet, die Übersetzung stöße leicht an ihre Grenzen und darum müßte man vom<br />
Übersetzen reden, eine Tätigkeit, die keine rationalen, sondern nur empirischen Grenzen erfährt.<br />
Die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Übersetzung und Übersetzen wurde schon<br />
von den ältesten Übersetzungswissenschaftlern angesehen, behauptet E. Coseriu. Im lutherischen<br />
„Sendbrief vom Dolmetschen“ zum Beispiel, wird das Problem vom Gesichtspunkt eines<br />
Übersetzungsideals dargestellt; implizite hat Luther aber doch die Differenzierung im Sinne,<br />
und zwar je nach den Adressanten, denen man „auf das Maul sehen“ müsse.<br />
Als Textlinguist sieht Coseriu die Übersetzungstheorie als Teil der Textlinguistik, so behauptet<br />
er, das Übersetzen habe nichts mit einzelnen sprachlichen Einheiten zu tun. Übersetzen<br />
macht nur im textuellen Kontext einen Sinn. Der Autor erkennt vier falsche Fragestellungen in<br />
der Übersetzungstheorie:<br />
1. Die Problematik der Übersetzung und des Übersetzens wird wie eine Problematik, welche<br />
die Einzelsprachen betrifft, eingegangen.<br />
2. Es wird von den Übersetzungen wenigstens implizite erwartet, dass sie alles in den Originaltexten<br />
Gemeinte und durch diese Texte als gemeint Verstandene mit den Mitteln<br />
der Zielsprache wiedergeben; sie können dies aber nicht, und deshalb seien sie schon<br />
ihrem Wesen nach „unvollkommen“, wenn auch praktisch notwendig.<br />
4 Hier verwechselt die Verfasserin die kommunikativ-situative, epochenbedingte Konnotation eines Wortes mit einem<br />
Wort des rumänischen Grundwortschatzes, welches sonst auch heute noch in anderen semantischen Feldern voll im<br />
Gebrauch ist: tovar`[ de drum, tovar`[ de suferin]` etc. Von gospodar kann die Behauptung der Verfasserin aus ähnlichem<br />
Grunde nicht so gelten. (Anm. der Redaktion der ZGR.)<br />
5 Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie, in Wills, Wolfram (Hrsg). : Überset-<br />
zungswissenschaft, Darmstadt 1981, S. 27 ff.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
589
Laura Gabriela Laza<br />
3. Die Übersetzung als rein einzelsprachlich bezogene Technik wird dem Übersetzen<br />
gleichgesetzt. Dies führt u. a. zu dem Paradoxon, dass die Übersetzung zwar theoretisch<br />
unmöglich, empirisch jedoch eine Realität ist.<br />
4. Es wird eine abstrakte optimale Invariante für die Übersetzung überhaupt angenommen.<br />
6<br />
Die Problematik der Übersetzung taucht in Bezug auf das Verhältnis Ausgangssprache -<br />
Zielsprache auf. Es wird falscher Weise angenommen, dass die Inhalte zweier verschiedenen<br />
Sprachen - abgesehen vom terminologischen Wortschatz - im Verhältnis 1:1 stehen müssten,<br />
so Coseriu. Aber das Verhältnis sei eigentlich „irrationaler“ Natur, so dass gewisse Inhalte der<br />
Sprache A nur gewissen Inhalten der Sprache B entsprechen, die wiederum anderen Inhalten<br />
der Sprache A entsprechen und so weiter. Sehr viele Inhalte zweier Sprachen seien „inkommensurabel“<br />
behauptet E. Coseriu. Man müsse beachten, dass eine der falschen Problemstellungen<br />
der Übersetzungstheorie daraus entsteht, dass man einzelne „Wörter“ nicht übersetzen<br />
kann, man spricht von „unübersetzbaren Wörtern“. Nur Texte können aber übersetzt<br />
werden, sprachliche Einheiten, die nicht nur mit sprachlichen Mitteln allein, sondern im verschiedenen<br />
Maß auch mit Hilfe außersprachlichen Mitteln erzeugt werden. Dies ist, nach<br />
Coserius Ansicht, das Grundprinzip der Übersetzungstheorie. Man müsse also nicht Wörter ,<br />
sondern Inhalte übersetzen, und dazu führt er drei wichtige Begriffe ein :<br />
1. Die Bedeutung, die jeweils einzelsprachlich ist- bezieht sich auf den gegebenen Inhalt.<br />
2. Die Bezeichnung, der Bezug auf den „außersprachlichen Sachverhalt“ oder „Tatbestand“.<br />
3. Der Sinn, der besondere Inhalt eines Textes oder einer Texteinheit (z. B. Aufruf, Frage). 7<br />
Die Aufgabe des Übersetzens sei nun, in sprachlicher Hinsicht nicht die gleiche Bedeutung,<br />
sondern die gleiche Bezeichnung und den gleichen Sinn, durch sprachliche und außersprachliche<br />
Mittel einer Zielsprache wiederzugeben. Eugen Coseriu macht eine sehr interessante Bemerkung,<br />
was die falsche Fragestellung der Übersetzungsproblematik angeht: man frage sich<br />
falscher Weise “ Wie übersetzt man diese oder jene Bedeutung dieser Sprache?“, die richtige<br />
Frage müsste aber heißen: „ Wie nennt man den gleichen Sachverhalt bzw. Tatbestand in einer<br />
anderen Sprache in der gleichen Situation?“ 8 Bedeutungen können und müssen nicht übersetzt<br />
werden, da sie einzelsprachlich sind. Es geht darum die gleiche Bedeutung in der Zielsprache zu<br />
finden, die das gleiche bezeichnen will:<br />
Bedeutung 1 Bedeutung 2<br />
Bezeichnung 9<br />
Man spricht mittels der Bedeutung, man teilt nicht Bedeutung mit. Der mitgeteilte Textinhalt<br />
bestehe ausschließlich aus Bezeichnung und Sinn, behauptet Coseriu. Es ginge folglich<br />
um Äquivalenz in der Bezeichnung. Man müsse auch zwischen Bedeutung und Verwendung der<br />
6 siehe dazu Ebd., S. 28-29<br />
7 Ebd., S. 32-33.<br />
8 Ebd., S. 33.<br />
9 Ebd., S. 34.<br />
590<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI<br />
Bedeutung unterscheiden. Z. B. auf Deutsch sagt man „keine Ursache!“ aber im Französischen<br />
sagt man nicht „aucune cause!“ , sondern die Entsprechung dem Sinn und der Bezeichnung<br />
nach heißt: „Pas de quoi!“; oder „Schade!“ heißt auf Portugiesisch „che pena!“ also ungefähr<br />
„was für ein Schmerz!“ 10 .<br />
Diese Verschiedenheit der einzelsprachlichen Bedeutungen, d. h. die verschiedene Gestaltung<br />
der Wirklichkeit durch die Einzelsprachen, ist nicht, wie man oft meint, das Problem<br />
par excellence der Übersetzung, sondern viel mehr ihre Voraussetzung, die Bedingung ihrer<br />
Existenz: gerade deshalb gibt es Übersetzen und nicht nur bloße Ersetzung auf der Ausdrucksebene.<br />
Also heißt Übersetzen soviel wie: gleiche Bezeichnung mittels grundsätzlich verschiedener<br />
Bedeutung. Es gibt aber auch spezielle Situationen, wo bestimmte Sprachen eine bestimmte<br />
Bezeichnung einer Bedeutung nicht kennen, da spricht man von „Lehnübersetzungen“: schaffen<br />
von neuen Ausdrücken und Bedeutungen mit einheimischen Mitteln. Hier führt Coseriu das<br />
berühmte Beispiel des Wortes „Schnee“ ein. Bestimmte Sprachgemeinschaften kennen nämlich<br />
dieses Phänomen nicht.<br />
Die Sprache kann aber nicht nur als Zeichensystem, sondern auch als „Realität“ verwendet<br />
werden. In der Übersetzung können auch Konflikte zwischen Bezeichnung und Sinn entstehen.<br />
Z. B. die Farben weiß und schwarz rufen verschiedene Gefühle hervor, bei den jeweiligen Gemeinschaften,<br />
einmal Frieden und einmal Tod, und umgekehrt. Oder der Mond und die Sonne<br />
werden als eine männliche bzw. als eine weibliche Gestalt, im deutschsprachigen Raum gesehen.<br />
In den romanischen Sprachen dagegen, ist der Mond vom Genus her weiblich, und die<br />
Sonne männlich, also genau umgekehrt. In solchen Fällen kann sich der Übersetzer entweder<br />
für den Sinn, oder für die Bezeichnung entscheiden. Sicherlich teilt das Gesagte einer Sprache<br />
auch bestimmte Gefühle mit, oder ruft sie hervor, Gefühle die nur in der jeweiligen Sprachgemeinschaft<br />
nachzuvollziehen sind. Diese kann man auch nicht übersetzen, höchstens angeben,<br />
als Bemerkung. Da stößt das Übersetzen an seine Grenzen. Die Übersetzung als rein<br />
sprachliche Technik betrifft nur das Sprachliche, also das Gesagte und nicht das Gemeinte. „Die<br />
eigentliche rationale Grenze der Übersetzung ist also nicht durch die Verschiedenheit der<br />
Sprachen, durch die Sprachen als Bezeichnungssysteme gegeben, sondern durch die in den<br />
Texten verwendete Realität (einschließlich der Sprache als Realität).“ 11<br />
Die ideologische Sprache des Nationalsozialismus. Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines<br />
Philologen – ein Übersetzungsversuch<br />
1947 veröffentlicht der Dresdener Romanist Victor Klemperer im Aufbau-Verlag, Berlin sein<br />
„schwierigstes“ Buch, wie er es selbst bezeichnete: LTI. Notizbuch eines Philologen. Mehrere<br />
Auflagen des Buches sind danach erschienen in Leipzig 1947, 1957 und 1993. Es ist auch unter<br />
dem Titel: Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. LTI - 1966 bekannt.<br />
Das Buch soll eine kritische Analyse der Sprache des Dritten Reiches darstellen. Nach der<br />
Machtübernamme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 und bis Ende des II. Weltkrieges<br />
macht sich Klemperer Notizen, denn er möchte „Zeugnis ablegen bis zum letzten“, eine Aussage,<br />
die später sogar als Titel für seine Tagebücher vom Verleger übernommen wurde. Wie<br />
schon der Untertitel des Buches verrät, erhebt V. Klemperer keine hohen sprachwissenschaftlichen<br />
Ansprüche für sich, es soll nicht eine sprachwissenschaftliche Analyse sein, sondern nur<br />
10 Ebd.<br />
11 Ebd., S. 42.<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />
591
592<br />
Laura Gabriela Laza<br />
Gedanken, Notizen. Was LTI eigentlich darstellen soll, erklärt er selbst im ersten Kapitel seines<br />
Werkes: „LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches... man könnte das metaphorisch<br />
nehmen. Denn ebenso wie es üblich ist, vom Gesicht einer Zeit, eines Landes zu reden, genauso<br />
wird der Ausdruck der Epoche als ihre Sprache bezeichnet. Das Dritte Reich spricht mit einer<br />
schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus<br />
der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten,<br />
der SA- und SS- Männer, die es als Idealgestalten auf immer gleichen Plakate fixierte, aus seinen<br />
Autobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des Dritten Reiches, und von alledem<br />
ist natürlich auch in diesen Blättern die Rede“ 12 .<br />
Die LTI ist kein Jargon der natürlichen Sprache, wie man glauben könnte, sondern die natürliche<br />
Sprache wurde einfach in ihrer Funktion umgewandelt. Denselben Worten werden andere<br />
Bezeichnungen zuerteilt. LTI ist eine Sprache, die ständig der Zensur unterliegt, dadurch ist sie<br />
keine ehrliche oder freie Sprache. Sie ist auch arm, denn sie basiert auf einigen Begriffen, die<br />
sie ständig wiederholt, um sie einzuprägen. Sie ist zugleich eine öffentliche Sprache, sie hat<br />
kein persönliches Register, nach dem Motto : „du bist nichts, dein Volk ist alles“. Damit sie die<br />
Massen erreicht, ist sie zugleich eine sehr einfache Sprache. Deshalb aber nicht weniger überzeugungsfähig,<br />
und deswegen bedient sie sich mehrerer Klischees. Zum einen verneint sie das<br />
Christentum, dabei verwendet sie genau dieselben Schemata (neutestamentarischer Diskurs),<br />
zum anderen verneint sie jegliche fremdsprachlichen Einflüsse, dabei will sie modern sein, und<br />
bedient sich der Fremdwörter. Sie möchte aber ein neues Kapitel in der Sprachgeschichte für<br />
sich aufschlagen, und das gelingt ihr, nicht etwa indem sie eine sehr innovative Sprache gewesen<br />
ist, sondern gerade indem sie eine „reine Sprache“ vergiftet hat 13 .<br />
Das Wort der LTI par excellence war und bleibt: Führer. Hitler nannte sich zuerst auch<br />
Reichskanzler und Führer, um dann auf die erste Bezeichnung ganz zu verzichten, und nur noch<br />
Führer genannt zu werden. Das Wort wurde in vielen anderen Bereichen benutzt, jedoch nur in<br />
Komposita. Man sagte Betriebsführer aber auf keinen Fall Führer des Betriebes. Führer war nur<br />
einer, und daher bekam diese Bezeichnung in ihrer Verwendung schon Funktionen, die der biblischen<br />
Sprache ähnelten. Die Deutschen sollen nicht mehr geführt werden, sondern selbst<br />
führen, und dabei einen Führer haben, der seinen Führerwillen, wie ein Gottesgesetz durchsetzt<br />
- dies war der Sinn. Diesem Kultus des Führers begegneten die Kommunisten in der DDR durch<br />
Tabuisierung des Wortes. So sagte man Fahrererlaubnis statt Führerschein 14 . Man behauptet,<br />
das Wort sei die deutsche Entsprechung des faschistischen italienischen il Duce, was einigen<br />
Wörterbüchern zufolge auch stimmt. Man muss aber aus kultureller und ideologischer Sicht<br />
einen Unterschied zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus<br />
machen, und daher auch zwischen Führer und il Duce. Beim Versuch des Übersetzens<br />
dieses Begriffes ins Rumänische haben manche Übersetzer das Wort einfach so übernommen,<br />
ohne es wenigstens an den phonetischen, graphemischen oder morphologischen<br />
Normen der rumänischen Sprache anzupassen: Führer. Das Wort wird im rumänischen Fremdwörterbuch<br />
folgendermaßen definiert: der Name, der Hitler nach der Machtergreifung zugelegt<br />
wurde, oder führende Person einer germanischen Menschengruppe 15 . Zwei andere Übersetzungen<br />
kämen in Frage, und zwar das Wort conduc`tor, also der Führer einer Gruppe von<br />
12<br />
Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 20.<br />
13<br />
siehe dazu Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 26-27.<br />
14<br />
Schlosser, Dieter: Lexikon der Unwörter. Berlin 2000, S. 101.<br />
15<br />
Marcu, Florin und Mânec`, Constant (Hrsg.): Dic]ionar de neologisme, 3. Auflage, Bucure[ti 1978 , S. 475.<br />
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Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI<br />
Personen, oder das Wort capitan – der Führer einer Militärgruppe. So wurde der<br />
nationalistische Führer der Eisernen Garde genannt. Wie das Wort Führer wurde dem<br />
rumänischen Wort c`pitan eine fast magische Bedeutung mit religiösen Anleihen zugeschrieben.<br />
Anhand dieses Beispiels kann man veranschaulichen, dass dieselbe politische Ideologie,<br />
nämlich die nationalistische, drei verschiedene Formen in derselben Zeitspanne angenommen<br />
hat, drei verschiedenen Kulturen entsprechend - der Italienischen, der Rumänischen<br />
und der Deutschen. Welche Form des Wortes würde man jedoch bei einer Übersetzung aus dem<br />
Deutschen ins Rumänische bevorzugen? Wir plädieren für das Übernehmen des ausgangssprachlichen<br />
Wortes, da wir so auch in der Zielsprache der Bezeichnung und dem Sinn treu<br />
bleiben. Die kulturspezifische Erscheinung der Ausgangssprache wird in der Zielsprache beibehalten.<br />
Fanatismus - fanatisch sind Wörter die an ein utopisches Weltbild anknüpfen - die totale<br />
Hingabe zu Gott, das Stadium einer religiösen Verzückung. Seitdem Rousseau zum ersten Mal<br />
Fanatismus im Zusammenhang mit der französischen Aufklärung benutzt hatte, wurde dem<br />
Wort eine pejorative Konnotation zugeschrieben. Die LTI dagegen erteilte dem Wort einen positiven<br />
Sinn. Fanatismus wurde zu einer Tugend, die irrationale Begeisterung wurde zu einer<br />
positiven Kerntugend gemacht 16 . In dieser Form findet man die Bezeichnung nicht in der rumänischen<br />
Sprache. Das aus dem Lateinischen stammende Wort fanatism, adj. fanatic (aus lat.<br />
fanum) hatte und hat eine pejorative Konnotation. Die Definition des Wortes fanatism lautet:<br />
eine außerordentliche Verbundenheit zu einer Idee oder Person, die sich durch Intoleranz gegenüber<br />
Personen anderer Gesinnungen charakterisiert 17 . In der LTI wurde nur die außerordentliche<br />
Verbundenheit zu einer Person gesehen, und die Intoleranz gegenüber anderen nicht negativ<br />
bewertet.<br />
Anstelle Wörter deutscher Herkunft wie Begeisterung, abgeleitet vom mhd., ahd. geist 18<br />
oder Heldentum aus dem altgerm. Substantiv „haliÞ-“ 19 bedeutend „freier Mann“, tauchen in<br />
der LTI Neologismen wie: Enthusiasmus und Heroismus auf, aus dem gr. enthousiasmos und aus<br />
dem gr. hērōs 20 auf . Dafür gibt es im Rumänischen Wörter gleicher griechischer Abstammung<br />
über die französische Sprache in die rumänische gekommen: entuziasm , aus dem fr.<br />
enthousiasme 21 , und eroism aus dem fr. héroïsm 22 abstammend aus dem lat. heroicus. Die Bedeutung<br />
aus der Ausgangssprache wird in der Zielsprache genau wiedergegeben, denn es<br />
handelt sich hierbei um dieselbe Bezeichnung. Sie beschreiben ein Stadium der Begeisterung<br />
bzw. ein heldenhaftes Benehmen. Der exzessive Gebrauch solcher Wörter veranschaulicht am<br />
besten, dass die LTI eine Sprache der Superlative war.<br />
Ein gelungenes Beispiel einer Lehnübersetzung ins Rumänische stellt, unserer Meinung<br />
nach, der Begriff cel de-al treilea Reich dar. Der Begriff geht auf eine alte geschichtstheologische<br />
Theorie zurück, wonach die Geschichte nach den „Reichen“ Gottvaters und Gottsohnes<br />
in das dritte Reich des Heiligen Geistes als Vollendung münden sollte. Diese ist eine der zahlreichen<br />
Religionsanleihen einer in sich atheistischen Weltanschauung. Das Dritte Reich war ein<br />
16<br />
siehe Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 77-83.<br />
17<br />
Dictionarul explicativ al limbii romane, 2. Auflage, Bukarest 1996, S. 366.<br />
18<br />
Drosdowski, Günther (Hrsg.): Duden. Ethymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 2. Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich<br />
1989, S. 226.<br />
19<br />
Ebd., S. 278.<br />
20<br />
Ebd., S. 281.<br />
21<br />
Dictionarul explicativ al limbii romane, 2. Auflage, Bukarest 1996, S. 343.<br />
22 Ebd., S. 342.<br />
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593
594<br />
Laura Gabriela Laza<br />
Ziel bis 1933, so sprach Hitler danach vom Großdeutschen Reich oder Tausendjährigen Reich.<br />
Vor allem nach dem Anschluss von Österreich, 1938 hat man den Namen Großdeutsches Reich<br />
als offiziellen Saatsnamen verwendet. In einer Rede, 1943 sprach er auch vom Germanischen<br />
Staat deutscher Nation in Anlehnung an das Heilige Römische Reich deutscher Nation. 23 Im<br />
Rumänischen hat man eine Teilübersetzung vorgenommen. Den ersten Teil hat man übersetzt<br />
und den zweiten übernommen. Wieso aber, da es im Rumänischen durchaus eine „Entsprechung“<br />
des deutschen Wortes Reich gibt, nämlich imp`r`]ie oder imperiu. Das bis 1806<br />
existierende Heilige Römische Reich deutscher Nation heißt in rumänischer Überseztung<br />
Imperiul Roman de Na]iune German`, wobei das Wort Reich hier nicht mehr so belassen, sondern<br />
übersezt wurde. Das Dritte Reich ist aber nicht mehr Al treilea Imperiu sondern Al treilea Reich. Das<br />
Wort wird also nicht separat vom Kontext übersetzt, sondern hier berücksichtigt man ein geschichtliches<br />
und implizite in der Ausgangssprache auch kulturbezogenes Phänomen.<br />
Die sogenannte ethnische Säuberung als Prozess hat sich mehrerer, immer wieder auftauchender<br />
Begriffe bedient, z. B. Arier - arisch - Arisierung, Rasse - Rassenschande - niederrassig<br />
oder rein.<br />
Arier: Angehöriger einer östlichen, indogerm. Völkergruppe; aus dem sanskritischen ârje<br />
bedeutend ein Mann eines iranischen oder indischen Stammes; falscher Weise nicht semitisch<br />
24 . Im Rumänischen arian, ein Wort, das zwei verschiedene Bedeutungen und Abstammungen<br />
hat, das Wortlaut aber das gleiche ist. Zum einen aus dem fr. arien 25 wird es als<br />
der Name eines Anhängers der Arianismus erklärt, eine früh christliche Ideologie , deren zufolge<br />
die göttliche Natur von Jesus Christus negiert wird, und dessen Gründer der Erzbischof Arie aus<br />
Alexandria war. Das zweite Wort, mit dem gleichen Wortlaut aber aus dem fr. aryen 26 abstammend,<br />
steht für den alten Namen der Völker, die eine indo-europäische Sprache sprechen.<br />
Später bezeichnete der Begriff die Angehörigkeit zu einem germanischen Volk. Im 19. Jh. verengten<br />
sich die Bedetungen des Begriffes, und er bezeichnete die Zugehörigkeit zur „weißen<br />
Rasse“ oder die Ahnen des deutschen Volkes 27 . Die LTI übernahm das Wort, und machte aus ihm<br />
mehr als die Bezeichnung einer Zugehörigkeit, es wurde zu einer Lebensprämisse. Im<br />
Rumänischen wird das zweite Wort mit dem Bezug auf die NS-Ideologie verwendet und gibt<br />
die Bezeichnung der ausgangssprachlichen Kultur treu wieder.<br />
Das Wort Rasse aus dem fr. race, seinerseits aus dem it. razza, ein naturwissenschaftliches<br />
Ordnungsbegriff zur Bezeichnung einer Gruppe von Individuen innerhalb einer Art, die in typischen<br />
Merkmalen übereinstimmen 28 , erfuhr innerhalb der LTI eine andere Bezeichnung. Dem<br />
Wort wird einen Spezialsinn erteilt. Es bezeichnet nicht mehr eine harmlose Realität aus der<br />
naturwissenschaftlichen Welt, sondern die Angehörigkeit zu einer oder anderen Rasse wird zu<br />
einer Lebensbedingung gemacht. Die nachkriegszeit Sprache tratt diesem Wort durch Tabuisierung<br />
entgegen. Die rumänischen Legionäre bezeichneten den Nationalsozialismus als die<br />
Rassenlehre 29 , während sie ihre Lehre auf den Glauben an Gott stützten, daher bezeichnet das<br />
rum. Wort ras` mit gleicher Abstammung aus dem fr. race, it. razza 30 die simple Angehörigkeit<br />
zu einer bestimmten Gruppe von Menschen oder Tieren. Die Übersetzung durch ein anderes<br />
Wort würde aber auch nicht zutreffen. Es gibt aber im Rumänischen das vom Wort ras` ab-<br />
23<br />
Schlosser, Dieter: Lexikon der Unwörter, Berlin 2000, S. 70 und S. 100.<br />
24<br />
Neues Deutsches Wörterbuch, Köln o. J., S. 65<br />
25<br />
Dic]ionarul explicativ al limbii române, 2. Auflage, Bucure[ti 1996, S. 59.<br />
26<br />
Ebd.<br />
27<br />
Ebd., S. 59.<br />
28<br />
Drosdowski, Günther (Hrsg.): Duden. Ethymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache“, 2. Völlig neu bearbeitete<br />
und erweiterte Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1989, S. 572.<br />
29<br />
Siehe dazu: Sima, Horia: Doctrina legionar`. Bucure[ti 1998.<br />
30<br />
Marcu, Florin und Maneca, Constant (Hrsg.): Dic]ionar de neologisme. 3. Auflage. Bucure[ti 1978, S. 903<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI<br />
geleitete Wort rasism, das einen sozial-politischen Glauben beschreibt, nachdem es zwischen<br />
Angehöriger verschiedenen Menschenrassen, biologische und intelektuelle Unterschiede gibt 31 .<br />
Als Rassenschande galt gemäß dem NS-„Blutschutzgesetz“ von 1935 der außer-eheliche Verkehr<br />
von anderen nicht-arischen Menschen, in erster Linie Juden mit Staatsangehörigen<br />
„deutschen oder artverwandten Blutes“ 32 . Die nicht-jüdische Ehefrau eines Juden wurde als<br />
Rassenschänderin beleidigt. In der Form kann man auf Rumänisch keine Entsprechung derselben<br />
Bezeichnung finden. Eine Übersetzung ohne zusätzliche Erklärung seitens des Übersetzers<br />
würde sicherlich mißverstanden werden. Mit Berücksichtigung des kulturellen und<br />
kontextuellen Aspekts würden wir folgende Übersetzungen vorschlagen: necinstirea rasei,<br />
pâng`rirea rasei oder profanarea rasei, Begriffe, die einen fast kirchlichen Klang haben.<br />
Wir möchten mit einem Wort altgerm. Ursprungs enden: rein < ahd. [h]reini, got. hrains,<br />
schwed. ren das auf einer alten Prinzipialbildung zu der Wurzelform [s]kr i „schneiden, sichten,<br />
sieben“ 33 beruht. In der Zielsprache - hier Rumänisch könnte dieser Inhalt durch das Wort pur<br />
(
Laura Gabriela Laza<br />
3. Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie. in: Wilss, Wolfram (Hrsg.): Übersetzungswissenschaft.<br />
Darmstadt 1981<br />
4. Coseriu, Eugen: Limbaj [i politic`. In: Revista de lingvistic` [i [tiin]a literar` a Institutului de lingvistic` [i istorie<br />
al Academiei de [tiin]e din Moldova. Nr. 5/1996.<br />
5. Dic]ionar explicativ al limbii române. Bucure[ti 1996<br />
6. Dic]ionar român-german. Bucure[ti 1958<br />
7. Draganovici, Mihai: Die literarische Übersetzung als sprachlicher und kultureller Transfer. Einige Überlegungen. In:<br />
Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 7. Jahrgang, Heft 1-2 (13-14), Bukarest 1998, S. 284-286<br />
8. Drosdovski, Günther (Hrsg.) : Duden Ethymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 2. Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich<br />
1989<br />
9. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975<br />
10. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Auflage. Berlin 1998<br />
11. Kupsch-Losereit, Sigrid: Übersetzen als transkultureller Verstehens- und Kommunikationsvorgang: andere Kulturen,<br />
andere Äußerungen. Auf: www.fask.uni-mainz.de<br />
12. Marcu, Florin; Mânec`, Constant: Dic]ionar de neologisme. 3. Auflage. Bucure[ti 1978<br />
13. Reiß, Katharina. Vermeer, Hans J.: Grundlagen einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen 1991<br />
14. Neues Deutsches Wörterbuch, Naumann & Göbel Verlag, Köln o. J.<br />
15. Schlosser, H. Dieter: Lexikon der Unwörter. Berlin 2000<br />
16. Siehr, Karl-Heinz (Hrsg.): Victor Klemperers Werk. Berlin 2001<br />
17. Sima, Horia: Doctrina legionar`. Bucure[ti 1998<br />
18. Sima, Horia: Menirea na]ionalismului. Bucure[ti 1993<br />
19. Stolze, Radegundis: Übersetzungstheorien. Eine Einführung. Tübingen 1994<br />
20. 100 Wörter des Jahrhunderts. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999<br />
21. Witte, Heidrun: Die Kulturkompetenz des Translators. Begriffliche Grundlegung und Didaktisierung, Tübingen<br />
2000<br />
22. Zelea-Codreanu, Corneliu: Pentru legionari. Sibiu 1936<br />
23. Zelea-Codreanu, Corneliu: Pentru legionari. Sibiu 1940<br />
596<br />
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003