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NATION UND SPRACHE

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<strong>NATION</strong> <strong>UND</strong> <strong>SPRACHE</strong><br />

Elisabeth Simon<br />

"Nation und Sprache" 1 nennt de Gardt das von ihm herausgegebene Buch, das 1. die historische<br />

Dimension des Deutschen, 2. das Deutsche in der Gegenwart und 3. die Sprachen Europas<br />

und der Welt diskutiert. Sprache ist nicht nur ein Gegenstand der Germanistik und Literaturwissenschaft<br />

sondern auch der Geschichte, Linguistik, Theologie und zunehmend der Medizin<br />

und Biochemie. Seitdem man weiß, daß unser Sprachvermögen nicht in einem Zentrum im<br />

Gehirn angesiedelt ist - so die Meinung viele Jahre lang -, sondern sich auf das gesamte Gehirn<br />

verteilt, hat die Neurologie neue Räume der Forschung erschlossen. Man weiß heute auch, daß<br />

die Sprache wie die Musik von emotionalen Verbindungen lebt. Dies bescheinigt der modernen,<br />

intellektuell bestimmten, abstrakten Musik der 60er und 70er Jahre z.B. keine guten Aussichten<br />

auf die Liebe ihrer Zuhörer. Damit erhält auch der Aufsatz von Heinrich von Kleist: "Über die<br />

allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" eine ganz neue Aktualität. 2<br />

Diese Linie ließ sich fortsetzen von Luther bis zu Heidegger und dem Philosophen George<br />

Steiner, der sich mit den philosophischen und psychologischen Räumen der Sprache in unserem<br />

Dasein auseinandersetzt. 3 Dieses könnte uns hier Tage beschäftigen, soll aber nicht der Gegenstand<br />

dieser kurzen Ausführungen sein, die die Aufmerksamkeit auf das Jahr der Sprachen lenken<br />

soll, das die EU in diesem Jahr ausgerufen hat und das auch neue Formen der Sprachvermittlung<br />

für ein zukünftiges Europa in den Raum stellt.<br />

l. Sprache als Instrument nationaler Identifikation<br />

„Nation“ soll uns ebenfalls nur am Rande beschäftigen, obwohl dieses Thema - auch durch<br />

die Entwicklung in Mittel und Osteuropa, ganz besonders in Südosteuropa wie in Rumänien -<br />

heute von großer Wichtigkeit und Aktualität ist, da Traditionen und kulturelle Entwürfe von<br />

langer Dauer sichtbar werden und das zukünftige politische Bild Europas bestimmen könnten.<br />

Dieses könnte die Entwicklung eines Europas bedingen, das sich wesentlich von dem Bild unterscheidet,<br />

was heute für diesen Kontinent in Zukunft entworfen wird. 4<br />

Nationalismus ist vor allem ein historisches Prinzip, das besagt, das politische und nationale Einheiten<br />

deckungsgleich sein sollten. Nationalismus als Empfindung - oder Bewegung - läßt sich am<br />

besten mit Hilfe dieses Prinzips definieren. Das Nationalgefühl ist die Empfindung von Zorn über die<br />

1<br />

Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Von Andreas Gardt. Berlin,<br />

New York, 2000. 924 S.<br />

2<br />

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band. Kunst und Weltbetrachtung Hrsg. Von Helmut Sembdner,<br />

München 1952, S. 321-327.<br />

3<br />

George Steiner: Langage et science.<br />

4<br />

Heinz Schilling: Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Nationale und kulturelle Identität.<br />

Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Giesen, Frankfurt a.M.<br />

1991, 577 S. Er weist nach, daß die säkulare Definition moderner Gesellschaften, die darauf achtet, daß politische und<br />

soziale Strukturen möglichst autonom bleiben, durch die Ereignisse in Polen, einigen Sowjetrepubliken und ansatzweise<br />

in Rumänien in Frage gestellt wird. Kirchen und Glaube können politische Instanzen sein, die wesentlich dazu<br />

beitragen, ganze Völker zu gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Handeln zusammenzuführen.


Nation und Sprache<br />

Verletzung des Prinzips oder von Befriedigung angesichts seiner Erfüllung, eine nationalistische Bewegung<br />

wird durch eine derartige Empfindung angetrieben. 5<br />

Wenn also Karl dem IV., dem Luxenburger und späteren Kaiser des Heiligen Römischen Reiches<br />

deutscher Nation von den deutschen Kurfürsten die Stimme in ihrem Gremium wegen<br />

mangelnder Deutschkenntnisse versagt wurde, so mögen die wahren politischen Gründe für<br />

diese Ablehnung der anderen Fürsten vielleicht andere Beweggründe gehabt haben, die uns<br />

heute nicht bekannt sind. Es kann aber sein, daß diese nationale Begründung für die Charakterisierung<br />

dieses beliebten böhmischen Königs im nachhinein gefunden wurde. Es ist nämlich<br />

vielmehr wahrscheinlich, daß die Umgebung des Kaisers als „Umgangssprache“ auch zu dieser<br />

Zeit noch Latein sprach. Die Beherrschung der tschechischen Sprache durch diesen Herrscher<br />

mag aber ein weiterer Aspekt in der Skala der Beliebtheit dieses Kaisers und böhmischen Königs<br />

sein, dessen nationaler Mythos als Errichter der Hungermauer heute noch lebendig ist. 6 Aber<br />

auch die Gründung der Universität von Prag mag die Definition als Sprachnation gefördert haben,<br />

da hier - wie auch an der neu gegründeten Universität von Padua – die Universitätskörperschaften<br />

als Sprachnationen definiert wurden. 7<br />

Diese Beobachtung um den Kaiser Karl IV. soll aber andeuten, daß Sprache zunehmend zur<br />

nationalen Identifikation beitrug. So waren die Deutschen seit dem Ende des 11. Jahrhunderts<br />

eine prinzipiell durch ihre Sprache definierte Nation 8 mit beträchtlichen regionalen Unterschieden,<br />

wie man heute noch weiß. Diese deutsche Nation war als politische Größe nur<br />

indirekt begreifbar und berief sich auf ein Imperium, das eschatologische Züge aufwies und daß<br />

nicht nur die deutschen Lande sondern auch die spanischen Stände Karls V umfaßte. Von dort<br />

führt die Linie zu den Reden von Johann Gottlieb Fichte 9 und der Definition der „Kulturnation“.<br />

Das Aufkommen eines patriotisch motivierten Nationalsprachenbewußtseins findet seine ersten<br />

Gründe in den veränderten sprachkulturellen Rahmenbedingungen. Im Zuge der frühneuzeitlichen<br />

Territorialisierung entstehen neue politische Ordnung- und Gemeinschaftsvorstellungen. Der Sinn<br />

für den Staat als Gebietskörperschaft ist endgültig erwacht. Staatliche Einheiten sind jetzt im politischen<br />

Bewußtsein stärker als territoriale Manifestationen mit allen ihren Begleitkomponenten repräsentiert<br />

als feudalrechtliche personale Lehnsverbände. 10<br />

Wir können hier nur einige generelle Beobachtungen aufzeigen, ohne auf dieses komplexe<br />

Gebilde wie Territorialisierung und Herausbildung des frühneuzeitlichen Staates, der dann zu<br />

der Konstitution der Nationalstaaten führte, einzugehen. Wenn aber die Sprache als Identität<br />

stiftendes Element einer Kulturnation anzusehen ist, so führten die Bildung der Nationalstaaten<br />

und die kulturellen Wurzeln der jeweiligen „Regionalstaaten“ in fast allen Ländern Europas zu<br />

Konflikten, die heute noch sichtbar und nicht überwunden sind. Diese Konflikte beeinflussen<br />

das kulturelle und soziale Leben besonders, wenn sich eine Sprachgruppe auch sozial von der<br />

anderen absetzt, Belgien und auch Kanada sind gute Beispiele dafür.<br />

5<br />

Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Hamburg 1995, S. 8.<br />

6<br />

Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Hrsg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen<br />

Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmuth Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20.<br />

März 1998 bis 9. Juni 1998. Emmanuel Dité, Der Bau der Hungermauer zur Zeit Karls IV. vor 1891, S. 393.<br />

7<br />

Heinz Thomas: Sprache und Nation, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 91.<br />

8<br />

Heinz Tomas: Sprache und Nation, a.a.O., S. 95.<br />

9<br />

Johann Gottlieb Fichte: Reden an die Deutsche Nation. Mit einer Einleitung von Reinhard Lauth. 5. durchgesehene<br />

Auflage. Hamburg 1978, XLI, 268 S.<br />

10<br />

Joachim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation. In: Nation und Sprache, a.a.O., S. 113.<br />

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Elisabeth Simon<br />

2. Muttersprache – Fremdsprache – Sprachen in Europa<br />

Es gab keinen Nationalstaat in Europa, in dem sich Landesgrenzen mit denen der Sprache<br />

decken und diese Konflikte haben sich mit der zunehmenden Herausbildung eines gemeinsamen<br />

Europas nicht verringert, besonders dort nicht, wo die „fremdsprachige<br />

Bevölkerungsgrupe“ die Herrschaft ausübte, wie zum Beispiel in Großbritannien. Die Muttersprache<br />

muß also nicht die Landessprache sein, wie zum Beispiel in Frankreich und Spanien. Die<br />

Staatssprache kann aber auch eine Fremdsprache sein, wie jahrelang in Moldawien, in dem<br />

Russisch die Staatssprache war, bis es nach dem Fall der kommunistischen Mauer durch<br />

Rumänisch abgelöst wurde. Die Muttersprache mag wohl ein Instrument nationaler Identifikation<br />

sein, ist aber in diesen Fällen nicht deckungsgleich mit der Sprache des Vaterlandes. 11<br />

Dieses auf Sprache gegründete Nationalgefühl war den europäischen Völkern bis 1500<br />

weitgehend fremd. 12 Mit der Ausbildung des Territorialstaats wurde die Sprache aber zur kulturellen<br />

Identifikation des sich im 18. Jahrhundert ausbildenden Nationalstaates und damit zu<br />

einem politischen Konfliktpotential bis zur Moderne und in unsere Zeit. Man muß sich vor Augen<br />

halten, daß die Waliser trotz gegenteiliger Gesetzgebung und starker sozialer und politischer<br />

Benachteiligung ihre Sprache bewahrten, wobei zu untersuchen wäre, wieweit das durch<br />

die Bindung der Sprache mit dem religiösen Bereich bedingt war. Obwohl in den letzten Jahren<br />

ein Wechsel zum Englischen beobachtet werden kann, ist das Walisische als Merkmal einer<br />

nationalen Identität nicht ersetzbar. So kommt es zu der merkwürdigen Situation, daß das Nationalgefühl<br />

der Waliser sehr stark durch eine Sprache bestimmt wird, die aber nur 18% der<br />

Bevölkerung beherrschen 13 . Ähnlich verhält es sich mit dem Schottischen, das in den letzten<br />

Jahren, bedingt durch die stärkere Hinwendung zur schottischen Geschichte und Kultur, ein<br />

Revival erlebt. Schottland hat (wie wir es auch im Falle von Walisisch gesehen haben) eine dominierende<br />

Sprache: Englisch. Damit ist eine einheimische zweisprachige Basis mit Statusproblemen<br />

entstatanden. Es gibt auch etablierte Sprachen, die von den Einwanderern gesprochen<br />

werden. Bei allen diesen Sprachen treten angesichts der gegenwärtigen Phase der<br />

legalen und politischen Veränderungen Probleme auf, die die Stellung und Präsenz betreffen.<br />

Für Schottland begann am 6. Mai 1999 mit der Loslösung der parlamentarischen Aufgaben vom<br />

Westminster Parlament in London und der Einrichtung eines schottischen Parlaments in<br />

Edinburgh in Holyrood eine neue Ära. 14<br />

Nornisch, Kornisch, Manisch und Gälisch sind andere Sprachen Großbritanniens, die zum<br />

Teil heute wiederbelebt werden, aber keinen Platz mehr als gesprochene Muttersprachen haben.<br />

Der Erhalt dieser Sprachen und ihrer Texte, ihre Übersetzungen und Überlieferungen gehören<br />

zu den großen ungelösten Fragen der „europäischen Kultur“. Diese Probleme erfordern<br />

eine neue und intensive Zusammenarbeit zwischen Forschung und Lehre, Archiv, Verlag und<br />

Bibliothek. Mit einem Aufsehen erregenden Buch hat Karl Markus Gauß auf die „sterbenden<br />

Europäer“ aufmerksam gemacht. Seine Reisen zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen,<br />

Arbereshen und Sepharden von Sarajevo lehren uns das Staunen über den Reichtum<br />

11<br />

Vergleiche dazu: Gotthard Lerchner: Nation und Sprache im Spannungsfeld zwischen Sprachwissenschaft und Politik<br />

in der Bundesrepublik und der DDR bis 1989, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 297.<br />

12<br />

Manfred Görlach: Nation und Sprache: Das Englische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 614.<br />

13<br />

Manfred Görlach, a.a.O., S. 617.<br />

14<br />

Wendy Axford: Die englischen und die schottischen Sprachen im Kontext der Sprachen von Großbritannien. In: Literatur<br />

und Sprache. Ausländische Literatur und Spracherwerb durch Bibliotheken. Literature and Language. Foreign<br />

Literature and Language Skills by and with Libraries. Proceedings des internationalen Seminars 1999 /of the international<br />

seminar 1999., deutsch/englisch, S. 53-75.<br />

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Nation und Sprache<br />

Europas. Diesen Reichtum können wir uns erhalten - vergessene Stämme und Kulturen, die bei<br />

der Bildung der Nationalstaaten an den Rand gedrängt wurden. 15<br />

Ein anderes Beispiel: Sprachen in Spanien zeigen eine Entwicklung, die im Vergleich mit<br />

Großbritannien in eine andere Richtung läuft. Spanien ist ein mehrsprachiges Land, in dem sich<br />

im Laufe der Zeit das Kastilische als Staatssprache durchgesetzt hat. Das Katalanische war dem<br />

gegenüber genau so weit verbreitet, erstreckte sich aber über zwei Staaten: Spanien und Frankreich<br />

(Süden). Das Verhältnis von Sprache und Nation ist heute ein ungelöstes Problem in<br />

Spanien, was teilweise die Attentate der ETA deutlich machen. Das Spanische (Kastilische) ist<br />

nur als Amts- und Staatssprache statuiert, wobei eine gewisse Distanz allen denjenigen Spaniern<br />

erlaubt ist, die andere Muttersprachen sprechen. Tatsächlich erklärt das Autonomiestatut<br />

(Generalitat de Catalunya, 1979) das Katalanische zur „eigenen“ und zur „offiziellen“ Sprache,<br />

das wiederum „Kastilisch“ genannte Spanisch nur zur kooffiziellen Sprache der Autonomen<br />

Gemeinschaft. Es entstehen die geradezu paradoxe Situation, daß die staatlich unabhängige<br />

Nation über eine Sprache verfügt, welche ihre Angehörigen nur kennen aber nicht sprechen<br />

müssen, während die nur autonome Nationalität eine ihr eigene Sprache besitzt. Insofern stehen<br />

heute in Spanien Nationalität und Sprache in einem weit engeren Zusammenhang als Nation<br />

und Sprache. 16 Wir finden also in Spanien die Situation, daß in einem gesamtstaatlichen<br />

Zusammenhang die Vertreter der verschiedenen Regionen in ihrer Muttersprache sprachen:<br />

Katalanisch, Galizisch und Baskisch, wobei zu erwähnen ist, daß Baskisch nicht zu den indogermanischen<br />

Sprachen gehört.<br />

Wie schon kurz angedeutet, verbinden sich die Unterdrückung einer Sprache, mag das nun<br />

politisch gewollt sein oder sich aus den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ergeben,<br />

mit nationalen und oft sozialen Ressentiments. Dieses war in Walisien der Fall, als den Kindern<br />

untersagt wurde, walisisch zu sprechen und das Land nicht die gewünschte Zweisprachigkeit<br />

erhielt. Der soziale und politische Machtfaktor verbindet sich dann mit der Landessprache 17 , die<br />

nicht die Muttersprache ist und damit für zusätzlichen Konfliktstoff sorgt. Das vorliegende<br />

Buch „Nation und Sprache“ von de Gruyter führt hierzu als Beispiel aus Mitteleuropa das<br />

Tschechische und Slovakische an. Es ist bezeichnend, daß für alle Staaten, in denen der Nationalismus<br />

eine besondere Schubkraft in den letzten Jahren entwickelte, generell gilt, daß die<br />

Muttersprache durch die vorherrschende Landes- oder Staatssprache – sehr oft das Russische –<br />

überdeckt wurde: nämlich Moldawien, die Ukraine und Weißrußland. Die slovakische Republik<br />

hat sich in vielerlei Hinsicht durch den tschechischen Bruder unterdrückt gefühlt, was nach<br />

1989 zur Betonung der eigenen Sprache führte. Dieses ist ein besonders krasser Fall einer nationalen<br />

Überhöhung des Sprachgebrauchs, weil beide Sprachen sich wirklich sehr ähneln, so<br />

daß Vertreter beider Sprachen miteinander kommunizieren können.<br />

Wenn wir Europa verlassen, so sei hier Kasachstan genannt, dessen nationale Erweckung zu<br />

einer besonders rigiden Anwendung der „Muttersprache“ Kasachisch führte, die - darin dem<br />

Walisischen vergleichbar - nur von einem Bruchteil der Bevölkerung korrekt gesprochen wird,<br />

was große Probleme für die Erziehung und Ausbildung mit sich brachte. 18 Nun mag man mei-<br />

15<br />

Karl Markus Gauß: Die sterbenden Europäer. Unterwegs zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arbereshen<br />

und den Sepharden von Zarajevo. Wien 2001, 240 S.<br />

16<br />

Franz Lebsanft: Nation und Sprache: Das Spanische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 636.<br />

17<br />

Tilmann Berger: Nation und Sprache: das Tschechische und das Slovakische, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 825-<br />

864.<br />

18<br />

Die Bibliothekarische Auslandsstelle am Deutschen Bibliotheksinstitut führte im Jahr 1997 ein Seminar zum Thema<br />

Bibliotheksmanagement durch. Der Entschluß, dieses Seminar in Russisch zu halten, basierte auf praktischen Überlegungen,<br />

das Seminar nicht durch zusätzliche Sprachprobleme zu belasten. Trotzdem welchselte die Direktorin der Na-<br />

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Elisabeth Simon<br />

nen, daß die Länder außerhalb Europas bei dieser Diskussion nur mittelbar beteiligt sind. Dies<br />

ist ein Irrtum, denn sowohl innerhalb Europas durch die laufende Einwanderung, die die europäischen<br />

Staaten zu multikulturellen umwandeln wird, als auch außerhalb Europas durch die<br />

zunehmende Internationalisierung und Gobalisierung werden Anwendung und Beherrschung<br />

von Fremdsprachen auch das Gesicht von Europa bestimmen.<br />

3. Sprachunterricht – Sprache als Kommunikationsmittel – Ausländische Literatur.<br />

Konzepte des Lebenslangen Lernens und die Rolle von Bibliotheken<br />

Das Erlernen der Muttersprache geht einher mit dem Erwerb der Fähigkeit, sprachliche Äußerungen<br />

zu verstehen und situationsgerecht anzuwenden […] dem Erwerb eines Systems von Benennungen<br />

und Begriffen, die die Umwelt erfassen und gliedern […] Dieses steht mit der kognitiven Entwicklung<br />

in enger Wechselbeziehung. 19<br />

Hier kann auch nicht weiter auf die schichtenspezifischen Unterschiede des Spracherwerbs<br />

eingegangen werden, die der generellen Forderung nach Dreisprachigkeit des zukünftigen europäischen<br />

Bürgers mindestens ein Fragezeichen entgegen setzen. Der Spracherwerb und die<br />

Sprachbarrieren determinieren heute nicht nur den Umgang mit der sogenannten information<br />

literacy 20 , sondern sie bestimmen auch weitgehend den Erfolg oder Mißerfolg beim Erlernen<br />

von Fremdsprachen.<br />

Im Humanismus waren die beiden Sprachen funktional verschieden: Der Laie sprach<br />

Deutsch, der Gelehrte Lateinisch und in den meisten Fällen nicht nur dies, sondern auch Griechisch<br />

und Hebräisch. Dieser internationale Sprachenkanon garantierte auch die internationale<br />

Verständigung mit dem europäischen Wissenstausch und Briefwechsel, der uns heute noch<br />

erstaunt. Diese zwei Sprachkulturen, z.B. der lateinischen und der deutschen Sprache, bilden<br />

auch schichtenspezifische Sprachenrollen, soziale Strukturen und mit dem ständischen Gefälle<br />

verbundene immanente Sprach- und Bildungsbarrieren. 21<br />

Wie stark der Spracherweb in der Kindheit und damit auch das Erlernen von Fremdsprachen<br />

von dem sozialen Gefüge der Umwelt determiniert ist, möge jene hübsche Geschichte von dem<br />

Pharao unterstreichen, der einem Hirten zwei Kinder zur Aufzucht gab. Diese sollten in einem<br />

Raum mit nur Ziegen zu ihrer Nahrung aufwachsen. Keiner durfte mit ihnen sprechen, weil der<br />

Pharao wissen wollte, was für ein Wort die Kinder wohl zuerst aussprechen würden, wenn sie<br />

das Alter des Lallens hinter sich hätten. Nachdem man das ins Werk gesetzt hatte, öffnete man<br />

die Tür, wobei die Kinder ihnen das Wort bekos (ähnliche dem Meckern der Ziegen) entgegen<br />

riefen und die Hände entgegen streckten. Nachdem der Pharao erforscht hatte, daß dieses Wort<br />

tionalbibliothek in ihrer Begrüßung vom Russischen ins Kasachische. Glücklicherweise war die ausgezeichnete Übersetzerin<br />

diesem Sprachwechsel gewachsen. So verständlich der Einsatz für die Muttersprache und für die sich neu<br />

konstituierende Nation ist, so bedauerlich ist es, wenn dieser zu Status- und Machtdemonstrationen mißbraucht wird.<br />

19 Theodor Lewandowski: Linguistisches Wörterbuch, Bd. 3, Heidelberg 1976, S. 699f: Spracherwerb.<br />

20 Myoung Wilson: In Daten ertrunken und durstig nach Wissen. Wie „information literacy“ gelehrt wird. Die Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft, in: Informationsversorgung Politik und Strategie/Information Provision, Politics and<br />

Strategy. Proceedings des internationalen Seminars /of the international seminar 1998 der Bibliothekarischen Auslandsstelle<br />

am Deutschen Bibliotheksinstitut 1998, S. 414-445.<br />

21 Jochim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation, in: Nation und Sprache, a.a.O., S. 107.<br />

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Nation und Sprache<br />

Brot bei den Phrygern bedeutete, räumte man den Phrygern den ersten Platz als ältestes Volk<br />

ein. 22 Man wußte damals noch nicht, daß die ersten Sprachübungen der Kinder auf Nachahmung<br />

beruhen und das beginnend mit den ersten Lebenswochen.<br />

Spracherwerb und Sprachbarrieren bestimmen weitgehend das intellektuelle und soziale<br />

Schicksal jedes Einzelnen, wie es heute mit der wieder aufgenommenen Diskussion um Integration<br />

und Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit auch als Problem in der öffentlichen Diskussion<br />

neu thematisiert wird. In fast allen Staaten ist der Erwerb der Staatsangehörigkeit mit<br />

dem Erlernen der Landessprache verknüpft (so müssen z.B. Deutsche, die in die Schweiz einwandern<br />

eine Prüfung in Schweizerdeutsch machen). Leider sind in der Bundesrepublik bis jetzt<br />

keine bindenden Standards erarbeitet worden. Die Beherrschung der Landessprache ist aber<br />

notwendig, will man keine Unterklasse schaffen, die von dem sozialen und kulturellen Leben<br />

eines Staates ausgeschlossen ist. 23<br />

In Europa erfolgte die Identifizierung mit der eigenen Nationalsprache über die Ablösung<br />

des Lateinischen und Französischen, vor allem in öffentlichen und wissenschaftlichen Texten. 24<br />

Heute läßt sich gerade bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte wiederum eine Veränderung<br />

beobachten. Diese erscheinen meist in Englisch. Deutsche Wissenschaftler veröffentlichen<br />

50-30% ihrer Texte generell in Englisch, vorherrschend auf den Gebieten der Naturwissenschaft<br />

und Wirtschaft. Aber auch in den Geisteswissenschaften wird das Englische zur<br />

vorherrschenden Wissenschaftssprache. Das mag viele Gründe haben, einer liegt bestimmt in<br />

dem Fortschritt der Informationstechnologie in den USA, so daß die Präsenz in weltweit angebotenen<br />

Datenbanken und auch im Netz sehr oft einen Text in Englisch oder Amerikanisch<br />

erfordert. 25<br />

Im 19. Jahrhundert gab es keinen Zweifel darüber, daß die Sprache der Briten ein Herrschaftsinstrument<br />

weltweit wurde, ob sie nun durch Kaufleute, Missionare, Verwalter oder die<br />

Armee vertreten wurde. 26 Das Englische breitete sich durch die Kolonialmacht Großbritanniens<br />

und die Politik des Dominiums weltweit aus, so daß sie auch außerhalb des angelsächsischen<br />

Raumes - USA, Australien Kanada - zur Staatssprache wurde, so z.B. in Singapur oder zur vorherrschenden<br />

Sprache der Oberschicht, der Kaufleute, der Wirtschaft und der Banken wurde.<br />

Englisch ist heute die Lingua Franca vieler Länder und Gebiete. Der Vergleich der Sprachen auf<br />

Grund einer hohen Anzahl von Menschen, die diese Sprache sprechen, verstellt den Blick. Sowohl<br />

Chinesisch als auch Spanisch werden von einer größeren Anzahl von Menschen gesprochen<br />

als Englisch. Deutsch ist die auf dem europäischen Kontinent am meisten verbreitete<br />

Sprache. Trotzdem erreichen diese Sprachen keine dem Englischen vergleichbare kulturelle und<br />

wirtschaftliche Stellung.<br />

22<br />

Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu hrsg. und erl. von H. W. Haussig mit<br />

einer Einl. von W. F. Otto. 3. Aufl. Stuttgart 1963, S. 99f.<br />

23<br />

Großbritannien und die angelsächsischen Länder haben zu diesem Problem ein entspanntes Verhältnis. Das zeigt sich<br />

zum Beispiel auch daran, daß der British Concil alle offiziellen Besucher, die auf Grund des Kulturabkommens nach<br />

England eingeladen wurden, einer informellen Sprachüberprüfung unterzogen wurden.<br />

24<br />

Manfred Görlach, a.a.O., S. 615.<br />

25<br />

Die erste Veröffentlichung meiner Tochter Ruth Simon erfolgte in den USA im Rahmen einer renommierten historischen<br />

Zeitschrift der University of Virginia, die mit Hilfe eines von der Bundesregierung geförderten Projekts elektronisch<br />

angeboten wird.<br />

26<br />

Vgl. dazu Görlach, a.a.O., S. 616.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

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Elisabeth Simon<br />

4. Die Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission. Projekte und<br />

Möglichkeiten<br />

Europa hat zur Zeit noch keine Identitätskraft für seine Bewohner entwickelt. Die Sprache<br />

als Identitätsfaktor, wie er mit allen Problemen in den Staaten und Regionen Europas wirksam<br />

wurde, ist für Europa insgesamt nicht anwendbar. Desto wichtiger ist es, die Möglichkeiten der<br />

Kommunikation über die Sprache zwischen den Völkern zu stärken, denn über die Sprache finden<br />

die einzelnen Nationen einen stärkeren Zugang zu dem Nachbarn, so daß die Kommunikation<br />

zwischen den Ländern Europas den Dialog und zwar nicht nur sprachlich sondern auch<br />

kulturell fördert. Dadurch könnte es möglich sein, daß dem Wirtschaftsraum Europa der Staatenbund<br />

Europa folgt. Aus diesem Grund wurde das von der EU organisierte Jahr der Sprachen<br />

einhellig begrüßt. 27<br />

Das Vorhaben versucht, nicht nur bestimmte Projekte anzustoßen, sondern auch jedermann<br />

anzusprechen: “Jeder kann Sprachen lernen, ohne Rücksicht auf Alter Herkunft oder Beruf und<br />

jeder kann von den Vorteilen profitieren. Mit modernen Methoden macht das Lernen sogar<br />

Spaß.“ Europäische Kommission und Europarat haben dazu einen Leitfaden herausgegeben,<br />

„Sprachenlernen für alle“, und ein Logo entwickelt, eine Art Eidechse. Diese Hinwendung zu<br />

einem allgemeinen Publikum wird ausdrücklich in dem Informationstext betont. Die zentrale<br />

Botschaft lautet wir folgt: „Fremdsprachen lernen öffnet die Türen und jeder kann es“. Das ist<br />

sehr nützlich und gut, fragt sich nur, wie viele Menschen damit wirklich erreicht werden, denn<br />

diese Texte sind alle nur durch das Internet abrufbar. Den ersten Ausschreibungstext hatte ich<br />

während eines Seminars in Cluj zum Anlaß genommen, mit Studenten ein europäisches Projekt<br />

ansatzweise zu entwickeln. 28<br />

Diese Initiative umfaßte nur Länder der EU, so daß sich z.B. die Untersuchungen auf die<br />

westlichen Sprachen konzentrieren. Auch der Leitfaden für die Antragsstellung zeigt dies ganz<br />

deutlich. Antragsstellung und Information laufen über nationale Koordinierungsstellen und<br />

diese sind nur in den Ländern der EU eingerichtet. Trotz dieser Enttäuschung – hätte man sich<br />

angesichts der sich entwickelnden Europäischen Gemeinschaft mit der Osterweiterung doch die<br />

Einbeziehung zumindest einiger Länder Mittel- und Osteuropas gewünscht – ist der veröffentlichte<br />

Eurobarometer Report 54 für unser Thema wichtig. Neben Informationen, die wir schon<br />

kennen, daß z.B. die Muttersprache oft nicht identisch mit der Nationalsprache ist, daß man als<br />

dritte Fremdsprache der EU-Bürger das Deutsche betrachtet – sind besonders die Befragungen<br />

zum Thema Fremdsprachenerwerb wichtig und interessant.<br />

Bevor einige Vergleichsdaten zum Spracherwerb in europäischen Ländern aufgeführt werden,<br />

sind zwei Beobachtungen für zukünftiges Handeln wichtig: Die erste betrifft Deutschland.<br />

Der Prozentsatz derjenigen, die Spracherwerb nicht für wichtig halten, ist in den neuen<br />

Bundesländern besonders hoch, nämlich 39% – im Vergleich dazu, halten generell 74 % der<br />

Befragten Fremdsprachenerwerb für sehr wichtig. Auf der anderen Seite glaubt der überwiegende<br />

Teil der Bevölkerung in Ostdeutschland, daß Spracherwerb für die berufliche Ausbildung<br />

und das berufliche Auskommen der Jugendlichen wichtig sind, nämlich 100% aller<br />

Eltern. Dieses diffuse Bild könnte nicht so sehr viel über die Einschätzung des Fremdsprachenerwerbes<br />

aussagen als vielmehr der Ausdruck einer allgemeinen negativen depressiven Haltung<br />

27 http://europa.eu.int/comm/education/languages/actions/year2001htm<br />

28 siehe Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft vom 8.4.2000.<br />

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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Nation und Sprache<br />

der Menschen in den neuen Bundesländern Deutschlands gegenüber der gegenwärtigen<br />

Situation sein.<br />

Das Ergebnis der Befragung, wann und wie man Sprachen lernt, ist für die zukünftige Entwicklung<br />

der Didaktik besonders wichtig. Ein großer Teil der Befragten gab an, daß die Zeit zum<br />

Erlernen einer Sprache fehlt. Das ist realistisch und legt offen dar, daß die Anstrengung und die<br />

Zeit zum Erwerb einer Fremdsprache sehr oft falsch eingeschätzt werden. Das mag auch erklären,<br />

warum nach 3 bis 6 Monaten die meisten Sprachenschüler die Fremdsprachenschule<br />

verlassen. Es bleiben in den Kursen meist nicht mehr als 10 % der Studenten übrig, die sich am<br />

Anfang angemeldet hatten.<br />

Weniger häufig wurde angegeben, daß es an Gelegenheiten fehlte, was darauf schließen<br />

läßt, daß das Angebot zum Erwerb einer Fremdsprache recht gut ist. Die meisten Befragten<br />

gaben an, daß sie die Sprache bei einem Aufenthalt im Lande erlernen wollten. Die bessere<br />

Verständigung für Ferien im Lande wurde häufig als Grund für den Erwerb einer Fremdsprache<br />

angegeben – ein Beweis dafür, daß der viel gescholtene Tourismus sehr positive kulturelle Auswirkungen<br />

haben kann. Dieses Ergebnis gibt den Veranstaltern von Sprachreisen Recht. 29 So<br />

bietet z.B. die Carl Duisberg Gesellschaft 30 Sprachreisen für ältere Menschen an (ab 50 Jahren).<br />

Dies führt uns aber zum dritten Hindernis beim Erlernen einer Sprache - die Kosten. Dies trifft<br />

auch auf das erwähnte Angebot der Carl Duisberg Gesesllschaft zu.<br />

Generell läßt sich sagen, daß der Wunsch zum Spracherwerb eine Schule zu besuchen bei<br />

der Allgemeinheit weniger stark ausgeprägt ist als angenommen. Die Gründe sind, zusammengefaßt:<br />

Mangel an Zeit und Geld und ein fehlendes, auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittenes<br />

Programm. 31 Die bis zum 9. Januar dieses Jahres ausgewählten Projekte der EU<br />

zum Jahr der Sprachen unterstützen finanziell mehr Sprachfestivals und dienen dem<br />

„Marketing“, als daß sie ihre Aufmerksamkeit auf Strategien richten, wie der Spracherwerb in<br />

der EU langfristig zu fördern ist. 32<br />

Der aufgezeigte Trend zum Spracherwerb zusammen mit der Forderung, daß alle Sprachen<br />

in der EU vertreten sind und daß jeder Bürger der EU neben der Muttersprache und der zweiten<br />

perfekt beherrschten Fremdsprache eine dritte sprechen soll, erfordert neue Wege und neue<br />

Möglichkeiten der Sprachvermittlung und des Spracherwerbs in einer engen Zusasmmenarbeit<br />

zwischen verschiedenen Institutionen: Schule, Universität, Sprachenschulen und Bibliotheken,<br />

die sich verstärkt in das System des Lebenslangen Lernens einbringen müssten. Von dem Ausspruch:<br />

“As for actions in the field of youth, sport and civil society they will enhance social<br />

cohesion in Europe and bring citizens to the forefront of encouraging active citizenship among<br />

Europeans. And promoting awareness of Europe‘s rich culture heritage will help to foster a<br />

29 In Berlin und anderen Städten findet alle zwei Jahre eine Messe von Pro Lingua statt, in der Sprachreisen und<br />

Sprachschulen ihre Produkte anbieten. Neben dieser Messe findet auch ein Kulturprogramm statt mit Vorträgen und<br />

Diskussionen, an denen sich die Botschaften und Konsulate wie auch die ausländischen Kulturinstitutionen beteiligen.<br />

30 Adresse: 50676 Köln, Weyerstr. 79-83.<br />

31 INRA – International Research Associates. Eurobarometer 54. Special. Les Européens et les langues. Rapport redigé<br />

par INRA (Europe) European Coordination Office S.A. pour la Direction Générale de l’Education de la Culture, geré et<br />

organisé par la Direction Générale de L’Education et de la Culture Unité Centre pour le citoyen. Analyse de l’opinion<br />

publique, Fev. 2001, 55 S. mit Anhang. http://europa.eu.int/comm/education/lanugues/call/call/htm<br />

32 European Year of Languages 2001, list of Projects selected for Co-Financing under Call for Proposayls Nr. DG EAC<br />

66/00 publsihed on 8 September 2000 /these are the first group of Proejcts to be selected. Projects may be sumbitted<br />

for the second and final deadline until 15 febr.) Project organiser: Gillian McLaughlin Tel. 00322296 1172 Olga Snoeks<br />

003222996642.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

453


454<br />

Elisabeth Simon<br />

truly European identity" 33 sind wir noch sehr weit entfernt. Das Jahr der Sprachen hat aber<br />

gezeigt, daß die mangelnde europäische Identität und Kohäsion Sprengstoff für die Europäische<br />

Gemeinschaft werden können. Dies wird um so gravierender, wenn nicht die reichen Kulturen<br />

Mitteleuropas in den europäischen Dialog einbezogen werden. Dies kann heute geschehen. Die<br />

Digitalisierung des kulturellen Erbes 34 der einzelnen Länder und der Einsatz des e-Learning 35 in<br />

das System des Lebenslangen Lernens sind dafür. Dies erfordert eine Vernetzung der „Anbieter“.<br />

Spracherwerb wird - in den neuen Berufs- und Lebenswelten - zu einem zunehmend individualisierten<br />

Prozeß. Es müssen Schnittstellen neu definiert und Partnerschaften gefunden werden,<br />

damit Spracherwerb in Europa zu besserer Kommunikation, Öffnung der Nationen und<br />

schließlich zu einer Köhäsion der Bürger dieses Kontinents führen kann.<br />

*<br />

* *<br />

L L i i t t e e r r a a t t u u r r :<br />

:<br />

1. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen<br />

(Imagined Communities) von Benedikt Burkard und Christoph Münz. Erweiterte Ausgabe. Berlin: Ullstein 1996.<br />

252 S.<br />

2. Boeckenfoerde, Ernst-Wolfgang: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie.<br />

1. Aufl. Frankfurt a.M. Suhrkamp 1999. 290 S. (Suhrkamp Taschenbuch – Wissenschaft. 1419).<br />

3. Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort. Aus dem Franz. (Choses dites) übers. von Bernd Schwibs. l. Aufl. Frankfurt<br />

a.M.: Suhrkamp 1992. 236 S.<br />

4. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. (Aus dem Franz.: Le sens practique) übersetzt<br />

von Günter Seib. 3. Aufl. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1999. 503 S.<br />

5. Foucault, Michel: les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966. 398 S.<br />

6. Gauger, Jörg Dieter und Justin Stagl: Staatsrepräsentation. Berlin: Dietrich Reimer 1992. 251 S. (Schriften zur<br />

Kultursoziologie. Hrsg. von Justin Stagl. Bd. 12).<br />

7. Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne. Aus dem Englischen (Nations and Nationalism) von Meino Büning. l.<br />

Aufl. Hamburg: rotbuch Verlag 1995. 214 S.<br />

8. Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu hrsg. und erl.von H.We. Haussig.<br />

Mit e. Einf. von W.F. Otto 3. Auflage mit 4 Tafeln und 2 Ktn. Stuttgart: Kröner 1963. XXVIII, 792 S.<br />

9. Informationsversorgung. Politik und Strategie. Information Provision- Politics and Strategy. Proceedings des internationalen<br />

Seminars 1998. Deutsch/Englisch. Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1998. 445 S.<br />

10. Konersmann, Ralf: Kulturphilosophie. 2. Aufl. Leipzig: Reclam 1998. 376 S.<br />

11. Lewandowski, Theodor: Linguistisches Wörterbuch. Bd 1-3. 2. durchgesehene und erw. Aufl. Heidelberg: Quelle &<br />

Meyer 1976. 973 S. (Uni Taschenbücher 200, 201, 300).<br />

12. Literatur und Spracher. Ausländische Literatur und Spracherwerb durch Bibliotheken. Literature and Language.<br />

Foreign Literature and Language Skills by and with libraries. Proceedings des internationalen Seminars 1999.<br />

Deutsch/Englisch Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1999. 307 S.<br />

33<br />

Europea “Ecuation and Culture at a glance“ published bi-monthly by the Directorate for Edu-cation and Culture of<br />

tghe European Community.<br />

http.//europa.euint/comm/d...n_culture/publ/news/01/newsletter_en.htm<br />

34<br />

e-culture. A newsletter on cultural content and digital heritage.<br />

http://www.cordis.lu/ist/ka3/digicult/ennewsletter.htm<br />

35 eLearning. What’s New in eLearning. May 2001<br />

http://europa.eu.int/comm/education/elearning/what.htm<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Nation und Sprache<br />

13. Metzlers Lexikon der Sprache. Hrsg. von Helmut Glück. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. XX, 710 S.<br />

14. Mythen der Nationen. Ein Europäisches Panorama. hrsg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen<br />

Historischen Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Begleitband zur Ausstellung<br />

vom 20. März 1998 bis<br />

15. 9. Juni 1998. Bonn: DHM – Deutsches Historisches Museum. 600 S.<br />

16. Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Andreas Gardt.<br />

Berlin, New York: de Gruyter 2000. 924 S.<br />

17. Nationale und kultruelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von<br />

Bernhard Giese. 2. Aufl.Frankfurt a.M. Suhrkamp. 1991, 577 S. Suhrkamp Taschenbuch – Wissenschaft. 940.<br />

18. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer umheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg:<br />

rowohlts enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag. 2000. 679 S.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

455


AKZENT <strong>UND</strong> RHYTHMUS IM DEUTSCHEN <strong>UND</strong> RUMÄNISCHEN<br />

Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />

Maria Ileana Moise<br />

1. Allgemeines<br />

Akzent und Rhythmus sind für die suprasegmentalen Charakteristika einer Sprache determinant.<br />

Der sprachliche Rhythmus ist ein systemübergreifendes Phänomen, er vereint mehrere<br />

Sprachebenen und bringt sie zum Ausdruck. Er konstituiert den typischen Klang einer Sprache<br />

und gilt als Hauptdeterminante des „fremden Akzents“. Der Rhythmus basiert auf Akzenten,<br />

Pausen, Tempovariationen und auf dem Tonhöhenverlauf. Der Akzent ist als Basiskomponente<br />

des Rhythmus zu betrachten und wird im Folgenden näher analysiert. In der Fachliteratur werden<br />

in den meisten Fällen Sprach 1 - und Sprechrhythmus 2 zusammen behandelt, was eine Simplifizierung<br />

des Phänomens zur Folge hat. Die Erklärung liegt hauptsächlich darin, dass beim<br />

heutigen Stand der Forschung der Rhythmus nicht eindeutig definiert werden konnte.<br />

2. Der Akzent im Deutschen und Rumänischen<br />

Die Gegenüberstellung des Akzents im Deutschen und Rumänischen lässt die Schlussfolgerung<br />

zu, dass sich die beiden Sprachen unter diesem Aspekt wesentlich unterscheiden. Die<br />

Unterschiede betreffen alle Ebenen, d. h. den Wort-, Wortgruppen- und Satzakzent. Für die<br />

Konfrontation der beiden Sprachen werden im Folgenden: a. die Relevanz der Funktionen, b. die<br />

Mittel der Akzentuierung, c. die Akzentplatzierungsregeln berücksichtigt.<br />

2. 1 Unterschiede in der Wortakzentuierung<br />

Hinsichtlich der Funktionen des Wortakzents kann behauptet werden, dass in beiden Sprachen<br />

die universal gültigen Leistungen desselben wirksam sind. Ihre Relevanz und Ausprägung<br />

ergibt aber zwischen den beiden Sprachen wesentliche Unterschiede:<br />

a. die integrierende, gruppenbildende Funktion ist im Deutschen infolge des stark zentralisierenden<br />

Charakters des Akzents bedeutend stärker ausgeprägt als im Rumänischen. Un-<br />

1 Damit bezeichne ich in Anlehnung an METZLER (2000), STOCK (1996), PU{CARIU (1994), GLR (1963) den geregelten<br />

Wechsel von betonten und unbetonten Silben/Wörtern, die Wiederkehr der rhythmischen Einheiten in zeitlich ungefähr<br />

gleichen Intervallen. Der Sprachrhythmus basiert auf dem jeweiligen System, auf der “langue” und ist ein typologisches<br />

Merkmal. Die Einteilung der natürlichen Sprachen (PIKE 1945; ABERCROMBIE 1967) in akzent-, silben- und<br />

morenzähende wird in der Rhythmologie auch heute verwendet.<br />

2 Damit bezeichne ich in Anlehnung an STOCK/VELIČKOVA (2002) die zeitliche Organisation des Sprechens, die annähernd<br />

symmetrische Anordnung der rhythmischen Einheiten im Sprechfluss, die Umsetzung der sprachspezifischen<br />

mentalen Musterhierarchien in Wirklichkeit, die “parole”. Bei der rhythmischen Gliederung werden Silbenfolgen und<br />

Wörter zu Gruppen zusammengefasst, zu Takten, Akzentgruppen, rhythmischen Gruppen, zum Satz, usw. Diese Einheiten<br />

sind als ähnlich zu betrachten, wenn sich ihre Silbenzahl geringfügig unterscheidet oder wenn ihre Aufeinanderfolge<br />

auf Grund von Tempovariationen und der damit verbundenen segmentalen Reduktionen/Elisionen in ungefähr<br />

gleichen Zeitintervallen stattfindet. Außer sprachspezifischen, grammatischen (syntaktischen), semantischen und<br />

intonatorischen Aspekten spielen auch Redeweise und Expressivität des Sprechers, sowie Alliteration, Assonanz und<br />

Reim eine Rhythmus prägende Rolle.


Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />

betonte Vor- und Nachakzentsilben werden punktförmig an die Akzentsilbe gebunden, die<br />

phonetisch sehr stark signalisiert wird. Im Rumänischen ist wegen des vergleichsweise geringen<br />

Kontrasts zwischen betonten und unbetonten Silben die Bindung der inhaltlich und grammatisch<br />

zusammengehörenden Wörter loser.<br />

b. Die bedeutungsdifferenzierende Funktion ist im Rumänischen stärker wirksam. Der Akzent<br />

ist lexikalisch und grammatisch distinktiv, er unterscheidet Wortpaare wie ´copii vs. co´pii,<br />

Wortarten, wie ´barem vs. ba´rem, àcele vs. a´cele oder Tempora, z. B. ´plou` vs. plou´`. Im<br />

Deutschen ist diese Leistung nur marginal relevant, Wortpaare wie ´Perfekt vs. per´fekt,<br />

´wiederholen vs. wieder´holen sind nur im beschränkten Maße vorhanden.<br />

Was die intonatorische Realisierung des Wortakzents anbelangt, sind Unterschiede bezüglich<br />

des Beitrags der phonetischen Mittel Lautheit, Tonhöhe, Dauer und Klangfarbe zu erkennen.<br />

a. Während im Deutschen an der Akzentrealisierung alle intonatorischen Parameter gleich<br />

stark beteiligt sind und zusätzlich auch die Spannung der Muskulatur von Relevanz ist, die<br />

Akzentsilbe deutlicher signalisiert wird, wird im Rumänischen der Akzent primär auf Grund der<br />

Intensität realisiert, Tonhöhe und Dauer wirken eher kompensatorisch. Der Kontrast ist i. d. R.<br />

nur apparativ feststellbar.<br />

b. Wesentliche Unterschiede betreffen auch den Charakter der Betonung, im Deutschen ist<br />

er zentralisierend, im Rumänischen dezentralisierend.<br />

Die Unterschiede in der Wortakzentplatzierung betreffen:<br />

a. den Einheitscharakter des Wortschatzes.<br />

Im Deutschen ist beim jetzigen Stand der Forschung eine Differenzierung zwischen Erb-<br />

und Fremdwörtern erforderlich. Für die erste Kategorie gilt eine kapochrone Betonung, die<br />

Akzentstelle wird morphologisch bestimmt, es ist zwischen betonbaren und unbetonbaren<br />

Präfixen zu differenzieren. Die nicht-nativen Wörter werden kodachron betont, dabei das Silbengewicht<br />

beachtet; der Akzent liegt auf der letzten, vorletzten oder vorvorletzten Silbe. Die<br />

Versuche, einheitliche Regeln für den gesamten Wortschatz zu formulieren, z. B. GIEGERICHs<br />

(1983; 1985) das Silbengewicht berücksichtigende metrische Theorie, EISENBERGs (1991)<br />

rhythmische Theorie und VENNEMANNs (1991) mehrere phonologische Aspekte in Betracht<br />

ziehenden Prinzipien und Normalitätsbeziehungen haben beim jetzigen Stand explorativen<br />

Charakter und bedürfen einer Ergänzung und Revision. Nach ihrer Vollendung könnten sie aber<br />

für die Konfrontation des Deutschen und Rumänischen als Ausgangsbasis dienen, weil sie den<br />

Akzent vom Wortende her bestimmen, und EISENBERG zusätzlich Regularitäten des Wortrhythmus<br />

formuliert und mit Beispielen belegt. Im Rumänischen ist der Unterschied zwischen<br />

nativen und nicht-nativen Wörtern infolge der kodachronen Betonung vergleichsweise gering.<br />

Hier bestehen aber Akzentdubletten, z. B. ´tempo vs. tem´po, ohne bedeutungsdifferenzierenden<br />

Charakter, je nach den Regularitäten der jeweiligen Ausgangssprache.<br />

b. Unterschiede liegen auch bezüglich der Stabilität der Akzentstelle vor. Während der<br />

Wortakzent im Deutschen in der Mehrzahl der Wörter fest ist, hat er im Rumänischen einen<br />

freien Charakter, bei Verben der 1. Konjugation auch einen beweglichen, z. B. ‘cânt` vs. cân’t`.<br />

Die stabile Akzentstelle im Deutschen führt in Simplizia zu einem Trochäus oder Daktylus, der<br />

freie und bewegliche Akzent im Rumänischen zu einer größeren Differenziertheit, einem Jambus,<br />

Trochäus, Daktylus, Amphibrachys oder einem Peon.<br />

c. Unterschiedlich ist auch die Anwendbarkeit der universalen Akzentprinzipien von W.<br />

WURZEL (1980). Während im Deutschen alle sechs Prinzipipien: das segmental-phonologische,<br />

morphologische, syntaktische, semantische, kommunikative und rhythmische zur Geltung<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

457


Maria Ileana Moise<br />

kommen, sind im Rumänischen nur das rhythmische, z. T. das segmental-phonologische in<br />

Fremdwörtern, das semantische und das kommunikative Prinzip anwendbar.<br />

d. Hinsichtlich der Akzentplatzierung in Derivata fungieren in den beiden Sprachen entgegengesetzte<br />

Regeln. Während im Deutschen die Präfixe betont und unbetont auftreten und<br />

auch eine doppelte Präfigierung möglich ist, die Suffixe i. d. R. unbetont sind, z. B. ´anfangen,<br />

be´obachten, ´aufbewahren, be´mitleiden, die ´Fertigkeit, werden im Rumänischen die Präfixe i.<br />

d. R. nicht betont, die Suffixe hingegen betont, wobei auch eine doppelte Suffigierung möglich<br />

ist, z. B. a des´face, c`´lu], slu´garnic.<br />

e. Auch bezüglich der Akzentstelle in Komposita wirken in den beiden Sprachen entgegengesetzte<br />

Regeln. Im Deutschen liegt der Hauptakzent initial, der Nebenakzent auf der 2. oder 3.<br />

Komponente, bei Idiomatisierungen fungieren Sonderregeln, z. B. ´Straßenbahn,haltestelle oder<br />

Alt´weiberfastnacht, Lieb´frauenmilch; im Rumänischen liegt der Hauptakzent final, der Nebenakzent<br />

initial, z. B. ,supra´vie]uire.<br />

f. Unterschiedlich ist auch der Charakter des Nebenakzents. Im Deutschen ist er etymologisch<br />

bedingt und fest, hat morphologisch und semantisch distinktiven Charakter, z. B.<br />

´Sandstein,kunsthalle vs. ´Sandsteinkunst,halle oder ‘wiederholen vs. wieder’holen, im Rumänischen<br />

ist er mobil und hat eher rhythmischen Charakter. Außerdem ist die Anzahl der Komposita<br />

vergleichsweise zum Deutschen geringer.<br />

2.2 Unterschiede in der Wortgruppen- und Satzakzentuierung<br />

Da die Ausmaße der Wortgruppe stark sprechsituativ bedingt sind und der Wortgruppenakzent<br />

ein potenzieller Satzakzent ist, wird der Akzent auf diesen zwei Ebenen zusammen behandelt.<br />

Die Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen betreffen auch auf<br />

dieser Ebene: a. die Relevanz der Funktionen, b. die Mittel der Akzentuierung und den Beitrag<br />

der Konstituenten, c. die Akzentuierungsregeln.<br />

Die Relevanz der Funktionen steht mit der Betonungsart in Verbindung:<br />

a. Der zentralisierende Charakter des Akzents im Deutschen offenbart sich auf dieser Ebene<br />

durch die starke Bindung der unbetonten und deakzentuierten Silben/Wörter an den Akzent. Im<br />

Rumänischen ist infolge des dezentralisierenden Charakters des Akzents die Verbindung zwischen<br />

den Wörtern innerhalb der Wortgruppe loser, was zu mehr Pausen führt.<br />

b. Damit im Zusammenhang steht auch die kulminative oder gipfelbildende Leis-tung des<br />

Akzents. Im Deutschen ist sie sehr stark ausgeprägt, der Kontrast zwischen betonter und unbetonter<br />

Silbe extrem. Im Rumänischen ist der Kontrast gering.<br />

c. Die charakteristische Betonungsart führt im Deutschen zu einer perzeptiv prägnanteren<br />

Gliederung, während im Rumänischen bei gepflegter reproduzierender Sprache, infolge der<br />

loseren Bindung der Wörter, die Tendenz zu kürzeren Wortgruppen besteht.<br />

Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich der Akzentuierungsmittel und des Beitrages der<br />

Konstituenten:<br />

a. In beiden Sprachen sind die universal gültigen Komponenten (Akzent, Pausen, Tonhöhenverlauf,<br />

Tempo) bei der Konstituierung der Wortgruppen wirksam. Die Unterschiede betreffen<br />

aber die Wirkung derselben, besonders diejenige der Tempovariationen. Im Deutschen ergeben<br />

sie extreme Unterschiede zwischen Relaxation und Akzeleration, präakzentuell ist das Sprechtempo<br />

schneller, postakzentuell deutlich verlangsamt. Die finale Dehnung ist im Deutschen<br />

perzeptiv deutlicher als im Rumänischen. Zwar werden auch im Rumänischen wichtige<br />

Informationen langsamer gesprochen, der Kontrast zu den weniger wichtigen ist aber geringer,<br />

der Charakter der Pro- und Enklise loser, die segmentale Abschwächung vergleichsweise gerin-<br />

458<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />

ger, der Kontrast zwischen dem prä- und postakzentuellen Teil der Wortgruppe weniger auffällig<br />

als im Deutschen. Zwar treten im Rumänischen in der ungepflegten Sprache phonetische<br />

Wörter auf, z. B. du-su-mi-s-a, usw., wo die Selbständigkeit der einzelnen Formative vom lautlichen<br />

Gesichtspunkt aufgegeben wird und die Formativ- und Silbengrenzen verwischt werden,<br />

die schwachen Formen im Deutschen, z. B. im (in dem), usw. sind aber auch in der Standardsprache<br />

gestattet.<br />

b. Die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen betreffen weiterhin den Einsatz der<br />

phonetischen Mittel. Während im Deutschen, wie im Falle des Wortakzents, bei der Konstituierung<br />

des Wortgruppen- und Satzakzents alle Mittel beteiligt sind, kommen im Rumänischen<br />

primär die Intensitäts- und Tonhöhenmodifikationen in Frage. Der Akzent ist auch auf dieser<br />

Ebene dezentralisierend, während im Deutschen der zentralisierende Charakter stark ausgeprägt<br />

ist.<br />

c. Unterschiedlich ist auch der Tonhöhenverlauf am Wortgruppen- und Satzende. Zwar bestehen<br />

in beiden Sprachen progrediente, terminale und interrogative Verläufe, im Rumänischen<br />

ist aber die Amplitüde geringer, was einen tieferen Höhepunkt, bzw. höheren Tiefpunkt des<br />

Tonhöhenverlaufs zur Folge hat. Im Deutschen ist das Steigerungs- und Gefälleintervall größer,<br />

ADRIAENS (1984) zufolge von zehn Halbtönen. Im Rumänischen erreicht die Melodie am Satzende<br />

nicht die Lösungstiefe, was im Deutschen eine Fortsetzung und kein Ende der Äußerung<br />

signalisiert.<br />

Die Kontraste zwischen den beiden Sprachen betreffen auch die Akzentplatzierungsregeln:<br />

a. In beiden Sprachen gilt das Prinzip des Fortschreitens der Information vom Bekannten<br />

zum Unbekannten. Unterschiede ergeben sich aber infolge der systembedingten Wortfolge in<br />

der jeweiligen Sprache. Während im Rumänischen keine Verbalklammer vorhanden ist und in<br />

der sachlich-neutralen Rede das am weitesten rechts befindliche Inhaltswort betont wird (z. B.<br />

Attribute, Umstandsbestimmungen, Objekte), liegt im Deutschen der Wortgruppen- und Satzakzent<br />

nicht immer final, sondern kann eine leichte Linkstendenz aufweisen, das finite Verb<br />

erhält einen Nebenakzent, z. B.<br />

Martin Luther wurde im Jahre 1483 in Eisleben als Sohn eines BERGmanns geboren.<br />

Martin Luther s-a n`scut în anul 1483 în Eisleben ca fiu de minER.<br />

b. Unterschiede ergeben sich auch bezüglich der Regeln zur Betonbarkeit der Formwörter.<br />

Prinzipiell gilt für beide Sprachen die Akzentlosigkeit derselben. Die Situationen aber im Rumänischen,<br />

wo ein Kontrastakzent gesetzt wird, sind sehr häufig. Außerdem haben die Einsilber<br />

einen variablen Status, sie treten mal betont, mal unbetont auf (vgl. SFÎRLEA 1970: 193), z. B.<br />

Dac` tu socote[ti c` sunt vinovat`?<br />

Dar în ce situa]ie ai pus-o?<br />

c. In beiden Sprachen tritt ein rhythmischer Akzent auf, der auf einer Alternation von betonten<br />

und unbetonten Silben/Einheiten basiert. Wegen des mobilen Wortakzents, der Akzentdubletten<br />

ohne bedeutungsdifferenzierenden Charakter ist aber der rhythmische Akzent im<br />

Rumänischen häufiger als im Deutschen, wo er hauptsächlich in Sätzen mit geringem Informationsgehalt<br />

auftritt, in denen keine Fokusalternative zur Debatte steht. Untersuchungen von<br />

LÖTSCHER (1983: 52) geben für das Deutsche als präferierte Stellen den Satzanfang, den thematischen<br />

Teil an, oder das Mittelfeld nach stark hervorgehobenem Element im Vorfeld.<br />

Die angeführten systembedingten Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen<br />

führen zu potenziellen Fehlern bei rumänischen Deutschlernenden, denen im DaF-Unterricht<br />

aus Rumänien Rechnung getragen werden muss.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

459


Maria Ileana Moise<br />

2.3 Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in der Akzentuierung im Deutschen und Rumänischen<br />

Trotz zahlreicher Unterschiede in der Akzentuierung bestehen zwischen den beiden Sprachen<br />

auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten. Sie betreffen:<br />

a. das Vorhandensein des Akzents auf der Wort-, Wortgruppen- und Satzebene<br />

b. die Hierarchie der Akzente (Wortakzent, potenzieller Wortgruppen- und Satzakzent)<br />

c. die Wirksamkeit der meisten Funktionen des Akzents (kulminative, bedeutungsdifferenzierende,<br />

usw.)<br />

d. die Komplexität der Akzentuierungsregeln<br />

e. die Existenz des rhythmischen Akzents<br />

f. die Wirksamkeit der Thema-Rhema-Gliederung<br />

g. die prinzipielle Unbetonbarkeit der Funktionswörter<br />

h. die Akzentrealisierung als Komplexerscheinung<br />

i. die schwächere intonatorische Realisierung der Nebenakzente<br />

3. Der Rhythmus im Deutschen und Rumänischen<br />

3.1 Unterschiede im Sprachrhythmus<br />

Für die Bestimmung des Rhythmustyps einer Sprache wurden in der Fachliteratur (AU-<br />

ER/UHMANN 1988; VÖLTZ 1994; DAUER 1987; DUFTER 1997; KALTENBACHER 1998; 1999)<br />

mehrere Kriterien und prototypische Merkmale formuliert 3 . Die einzelnen Autoren berücksichtigen<br />

aber dieselben nur selektiv. Bei der Analyse des Rhythmus des Deutschen und<br />

Rumänischen habe ich alle Kriterien in Betracht gezogen, dieselben wurden sogar mit<br />

phonetisch-intonatorischen erweitert. Es handelt sich um die phonetischen Merkmale des<br />

Akzents, die Betonungsart und um charakteristische Phänomene der rhythmischen Euphonie.<br />

Berücksichtigt wurde auch die distinktive Funktion des Akzents auf grammatischer Ebene.<br />

Meine Absicht war, für den silbenzählenden Charakter des Rumänischen ausführliche<br />

theoretisch fundierte Belege bringen zu können. Bezüglich der rumänischen Forschung in<br />

diesem Bereich ist festzustellen, dass CHI}ORAN (1970; 1977), POPA/PÂRLOG (1973) und<br />

PÂRLOG (1997), die einzigen rumänischen Wissenschaftler, die sich mit dem sprachlichen<br />

Rhythmus in unpoetischer Sprache beschäftigt haben, den Rhythmus des Rumänischen als<br />

silbenzählend definieren. Die Argumente von POPA/PÂRLOG (1973) basieren aber nur auf Ergebnissen<br />

der Fehleranalyse von Äußerungen rumänischer Englischlernenden, ohne genügend<br />

fundierte Belege, im Sinne von systembedingten Charakteristika für das Rumänische zu<br />

bringen, welche diese Zuordnung untermauern.<br />

Für die Konfrontation des Sprachrhythmus in den beiden Sprachen werden im Folgenden: a.<br />

die Isochronie herstellenden rhythmischen Grundeinheiten, b. die Silbenstruktur und die sie<br />

beeinflussenden Faktoren, c. der sprachspezifische Akzent als Fixpunkt der rhythmischen Ein-<br />

3 A. die perzeptive Isochronie der rhythmischen Einheiten<br />

B. die Reduktionsprozesse<br />

C. die Silbenstruktur und die Klarheit der Silbengrenzen<br />

D. die Beziehungen zwischen Silbenstruktur und Akzentposition<br />

E. die Position des Wortakzents<br />

F. die distinktive Funktion des Akzents<br />

G. Phänomene der rhythmischen Euphonie<br />

460<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />

heit analysiert. Diese Kriterien betrachte ich als eine Zusammenfassung der oben angeführten<br />

Charakteristika.<br />

a. Die Isochronie herstellende rhythmische Grundeinheit bildet den ersten wesentlichen<br />

Unterschied zwischen dem Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Im Deutschen ist es<br />

theoretisch der Takt, in der gesprochenen Sprache die Akzentgruppe, im Rumänischen die Silbe,<br />

betonte oder unbetonte. Diese Einheiten kehren in zeitlich ungefähr gleichen Intervallen wieder.<br />

Für die Isochronie der rhythmischen Einheiten finden im Deutschen Reduktionen der unbetonten<br />

Silben und Wörter statt, die einen Dauerausgleich zwischen den Akzenten zur Folge<br />

haben. Auch im Rumänischen treten Ausgleichprozesse ein, sie betreffen aber nur die Silbe. Die<br />

höheren rhythmischen Einheiten entsprechen also hier der Länge der enthaltenen Segmente.<br />

Dieser Umstand führt im Deutschen zu einem akzentzählenden, im Rumänischen zu einem<br />

silbenzählenden Rhythmus.<br />

b. Die Analyse der Silbenstruktur und der sie beeinflussenden Faktoren ergibt zwischen den<br />

beiden Sprachen weitere Kontraste.<br />

- Obwohl auf den ersten Blick bezüglich der Silbenstruktur in den beiden Sprachen keine<br />

wesentlichen Unterschiede vorzuliegen scheinen, da in beiden Sprachen komplexe Konsonantensequenzen<br />

im on- und offset möglich sind, ergibt die Analyse der Häufigkeitsrate der<br />

Konsonantencluster in der Koda im Deutschen mehr Konsonantenanhäufungen (32 CCC-<br />

Verbindungen) als im Rumänischen (16 Konsonantencluster). Im Deutschen treten außerdem<br />

in flektierter Form infolge der Tempobeschleunigung auch 4 bis 5 Konsonanten auf, z. B. du<br />

strolchst, des Herbsts. In dieser Hinsicht kann behauptet werden, dass die Silbenstruktur im<br />

Deutschen komplexer ist. Immerhin weicht das Rumänische unter diesem Aspekt von den<br />

prototypischen silbenzählenden Merkmalen eindeutig ab.<br />

- Wird der Silbentyp in den beiden Sprachen verglichen, so sind laut Angaben von MEIN-<br />

HOLD/STOCK (1982: 204f.), ESSER (1960) im Deutschen die meisten Silben geschlossen,<br />

während im Rumänischen nach ROSETTI (1967: 82) die Mehrzahl offen ist.<br />

- Wird das Kriterium Erhaltung der Silbengrenze herangezogen, z. B. die Geminaten und ihre<br />

Konstanz, so treten andere Kontraste auf. Während im Deutschen ihre Zahl sehr groß ist und<br />

an der Silbengrenze eine Reduktion derselben stattfindet, sind im Rumänischen in der Hochsprache<br />

Doppelkonsonanten untypisch. In dieser Hinsicht weist das Rumänische intakte Silbengrenzen<br />

auf, während diese im Deutschen verwischt sind. Werden auch andere grenzsignalisierende<br />

Faktoren in Betracht gezogen, wie z. B. der Knacklaut, die Aspiration der an-<br />

und auslautenden Klusile oder die Auslautverhärtung im Deutschen, so fungieren sie als deutliche<br />

Signale für die Silbengrenze. Diese Grenzsymbole sind für das Rumänische uncharakteristisch,<br />

stimmhafte Verschlusslaute, z. B. glob, globului, bleiben ungeachtet ihrer<br />

Position immer stimmhaft. Für das Deutsche kann also sowohl von klaren als auch von verwischten<br />

Silbengrenzen gesprochen werden, besonders bei beschleunigtem Tempo, während<br />

sie im Rumänischen dominant intakt bleiben und deutlich zu erkennen sind.<br />

- Werden die auf der segmentalen Ebene stattfindenden koartikulatorischen Prozesse verglichen,<br />

die den Charakter des Rhythmus in den beiden Sprachen determinieren, so treten<br />

sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen Assimilationen, Reduktionen, Elisionen auf.<br />

Wird hingegen der Charakter dieser Prozesse berücksichtigt, so ergeben sich wesentliche Unterschiede.<br />

So z. B. sind für den Rhythmus im Deutschen die quantitativen und qualitativen<br />

Modifikationen der Vokale in den unbetonten Silben von besonderer Relevanz, z. B. Kürzung<br />

und Entspannung der langen Vokale, Öffnung der geschlossenen, Reduktion oder Elision der<br />

E-Laute in Endungen, Zentralisierung der Endung -er. Die Akzentvokale heben sich durch Gespanntheit<br />

der Muskulatur und deutliche Artikulation ab. Wenn die den Silbenkern betreffenden<br />

phonetischen Prozesse im Rumänischen berücksichtigt werden, so können keine<br />

qualitativen oder quantitativen Veränderungen beobachtet werden. Im Rumänischen haben<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

461


Maria Ileana Moise<br />

die Vokale, ob betont oder unbetont, nur einen Wert, eine mittlere Länge. Auch die Hiatusauflösung<br />

durch Hinzufügung der unsilbischen Vokale [i] oder [u], z. B. mitralier`, elogiat,<br />

sowie die für die Bildung von phonetischen Wörtern stattfindenden Elisionen, z. B. [I acum -<br />

> [-acum, se opre[te -> s-opre[te, usw. beeinflussen den Akzentvokal auf keine Weise. Sie<br />

können zwar auf der Silbenebene eine komplexere Struktur bewirken, tragen aber zum Ausgleich<br />

der einzelnen Silbendauern bei. Während die Modifikationen im konsonantischen Bereich<br />

im Deutschen (Auslautverhärtung) den Eindruck von Härte verstärken (vgl.<br />

MEINHOLD/STOCK 1982: 208; GREGOR-CHIRI}Ă 1991: 75), so unterstützt die regressive<br />

Assimilation (Stimmhaftwerden der Konsonanten) im Rumänischen den weichen, fließenden<br />

Klang der Sprache.<br />

- Wird das Merkmal Vokalharmonie in den beiden Sprachen verglichen, so kann für das<br />

Deutsche von einer annähernden Vokalharmonie gesprochen werden, da allein für den<br />

Schwa-Laut in der Akzentsilbe eine totale Restriktion besteht. Im Rumänischen betrifft die<br />

Einschränkung nur das entstimmte [i] im Plural einiger Substantive, für die Phoneme /`/ und<br />

/î, â/ kann die Akzentverlagerung z. B. in l`u’d`, l`u’da, usw. nicht als Beweis für eine eindeutige<br />

Restriktion für diese Vokale in der Akzentsilbe angenommen werden, diese Phoneme<br />

treten sowohl in betonter als auch in unbetonter Position auf. Wird die Häufigkeitsrate des<br />

Schwa-Lautes im Deutschen und des entstimmten “i” im Rumänischen verglichen, so tritt das<br />

letztere seltener auf. Für das Deutsche kann also von einer partiellen Vokalharmonie, für das<br />

Rumänische von einer fast totalen ausgegangen werden.<br />

c. Unterschiede betreffen auch die Akzentstelle als Fixpunkt für die rhythmische Einheit:<br />

- Bezüglich dieses Kriteriums sind die Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen<br />

beim heutigen Stand der Forschung des Wortakzents sehr groß. Im Deutschen werden<br />

Erbwörter kapochron betont, Fremdwörtern kodachron, im Rumänischen besteht generell<br />

eine kodachrone Akzentuierung.<br />

- Auf höheren Ebenen sind infolge der wirksamen Thema-Rhema-Gliederung in der sachlichneutralen<br />

Rede die Unterschiede geringer. Während aber im Rumänischen eine deutliche<br />

Rechtstendenz mit Finalbetonung besteht, so kann im Deutschen infolge der spezifischen<br />

Wortfolge eine leichte Linkstendenz festgestellt werden, z. B.<br />

Drei Jahre später/ im Jahre fünfzehnhundertzwölf/ wurde er zum Doktor theologiae/<br />

und Professor für Bibelerklärung/ in Wittenberg ernannt/<br />

Trei ani mai târziu/ în anul/ o mie cinci sute doisprezece/ a fost numit doctor în<br />

teologie/ [i profesor în interpretarea bibliei/ la Wittenberg/<br />

Hinzu kommen Unterschiede bezüglich des Status der Nebenakzente, als Rhythmus<br />

konstituierende Elemente. Im Rumänischen werden die Nebenakzente in geringerem Maße<br />

abgeschwächt als im Deutschen und sind i. d. R. als Rhythmus konstituierend wirksam. Im<br />

Deutschen ist wegen der Tempovariationen die Tendenz zur Deakzentuierung derselben<br />

stärker. Infolgedessen entstehen längere rhythmische Einheiten, während im Rumänischen<br />

wegen der Realisierung aller potenziellen Akzente die höheren rhythmischen Einheiten<br />

kürzer sind, z. B.<br />

Martin Luther // wurde im Jahre 1483 // in Eisleben // als Sohn // eines BERGmanns geboren.//<br />

1 2 3 4 5<br />

Martin Luther // s-a n`scut // în anul 1483// în Eisleben // ca fiu // de minER.//<br />

1 2 3 4 5 6<br />

462<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />

3.2 Unterschiede im Sprechrhythmus<br />

Für die Gegenüberstellung des Sprechrhythmus werden:<br />

a. Pausen und Sprechtempo als Rhythmus optimierende Faktoren<br />

b. die Länge der Interstressintervalle und die Position der rhythmischen Schwere<br />

c. die rhythmische Euphonie berücksichtigt.<br />

a. In beiden Sprachen sind Pause und Tempo Rhythmus konstituierende Faktoren, zugleich<br />

optimieren sie auch denselben. Der Einsatz der Pausen ist allerdings in der reproduzierten Sprache<br />

strenger geregelt, in der frei produzierten Sprache ist z. B. die Zahl der Häsitationspausen<br />

größer; sie haben oft rhythmischen Charakter und können den Akzent ersetzen, oder die Taktdauer<br />

regulieren.<br />

Wegen der laxen Bindung zwischen den Wörtern innerhalb der rhythmischen Gruppe ist die<br />

Zahl der Pausen im Rumänischen vergleichsweise zum Deutschen größer. Dadurch entstehen<br />

mehrere kürzere Akzentgruppen. Im Deutschen hingegen sind infolge der Reduktionsprozesse<br />

die Akzentgruppen länger, Atempausen sind nicht notwendig.<br />

Zwar treten in beiden Sprachen vom Textinhalt abhängig Tempovariationen auf, ihre Auswirkungen<br />

sind aber unterschiedlich. Im Deutschen begünstigen und produzieren sie Vokal- und<br />

Konsonantenreduktionen und –elisionen, die Isochronie der höheren rhythmischen Einheiten.<br />

Die Anzahl der von den rhythmischen Einheiten enthaltenen Wörter spielt keine besondere<br />

Rolle, da durch Reduktionen/Elisionen perzeptiv eine zeitlich ungefähr gleiche Aufeinanderfolge<br />

der Akzente gesichert werden kann, ohne dass die Dauer der rhythmischen Einheit wesentlich<br />

vergrößert wird. Im Rumänischen bewirken die mit den Tempovariationen verbundenen koartikulatorischen<br />

Prozesse eine Optimierung der Silbenränder und der Silbenlänge und nicht der<br />

höheren rhythmischen Einheiten. Die Verbindung zwischen den Wörtern bleibt vergleichsweise<br />

zum Deutschen loser.<br />

b. Auch bezüglich des zweiten Kriteriums, der Länge der Interstressintervalle und der Position<br />

der rhythmischen Schwere bestehen zwischen den beiden Sprachen Unterschiede:<br />

- Während im Deutschen durch die Tempovariationen die Interstressintervalle ausgeglichen,<br />

d. h. gekürzt oder gedehnt werden, so entspricht im Rumänischen die Länge der höheren<br />

rhythmischen Einheit der Dauer der enthaltenen Silben. Während die Interstressintervalle<br />

im Deutschen infolge der Deakzentuierungen größer sind, betragen sie im Rumänischen<br />

nach SFÎRLEA (1970: 191f.) 1 – 3 unbetonte Silben, z. B.<br />

Martin Luther // wurde im Jahre vierzehnhundertdreiundachtzig // in Eisleben // als Sohn //<br />

2 10 4 3<br />

eines Bergmanns geboren.//<br />

2<br />

Martin Luther // s-a n`scut // în anul o mie patru sute optzeci [i trei // în Eisleben // ca fiu //<br />

1 1 2 1 2 1 1 2 1 1 3<br />

de miner.//<br />

2<br />

c. Während im Deutschen die Hauptakzentposition in höheren rhythmischen Einheiten eine<br />

relative Mobilität (vorletzte, vorvorletzte, viertletzte Silbe oder eine weiter mediale Position)<br />

aufweist, liegt im Rumänischen in der sachlich-neutralen Rede der Hauptakzent in den meisten<br />

Fällen final, d. h. auf der letzten oder vorletzten Silbe.<br />

d. Die rhythmische Euphonie bezieht sich auf die Anwendung von Wohlgeformtheitsregeln<br />

wie Schlaghinzufügung, d. h. Konstituierung eines neuen Akzents, Schlagbewegung, Akzentverlagerung,<br />

Schlageliminierung, Akzentverlagerung oder Deakzentuierung. Der Rhythmus basiert<br />

in beiden Sprachen auf den Haupt- und Nebenakzenten. Der Unterschied in der Herstellung der<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

463


Maria Ileana Moise<br />

rhythmischen Euphonie zwischen dem Deutschen und Rumänischen fußt auf: a. der Regelhaftigkeit<br />

des Akzents (fest – mobil, Akzentdubletten), b. der Häufigkeit der Verwendung des<br />

rhythmischen Akzents und c. der mehr oder weniger strengen Erhaltung der rhythmischen<br />

Wohlgeformtheit.<br />

M. E. wird im Rumänischen der rhythmische Akzent häufiger verwendet.<br />

a. Auf Grund der relativ vielen Akzentdubletten besteht im Rumänischen die Möglichkeit, zu<br />

rhythmischen Zwecken Akzente zu versetzen, ohne eine Bedeutungsänderung zu verursachen,<br />

ein Phänomen, das im Deutschen fremd ist.<br />

b. Die Einsilber haben einen variablen Status, sie treten mal betont, mal unbetont auf. Auch<br />

die Rolle der Formwörter ist weniger streng geregelt, als im Deutschen, sie werden oft betont.<br />

c. Infolge des schwachen Kontrasts zwischen betonten und unbetonten Silben tritt der Kontrastakzent<br />

häufiger auf.<br />

d. Im Rumänischen wird die rhythmische Euphonie durch den geringen Kontrast zwischen Haupt- und<br />

Nebenakzent unterstützt, d. h. die letzteren werden i. d. R. realisiert, nicht deakzentuiert.<br />

e. SFÎRLEA (1970: 192f.) zufolge ist die Alternanz zwischen betonten und unbetonten Silben<br />

obligatorisch.<br />

f. Im Deutschen werden die Interstressintervalle durch Tempovariationen und segmentale<br />

Reduktionen / Elisionen reguliert. Nebenakzente tragende Wörter werden oft deakzentuiert.<br />

Zusätzliche Akzente sind demzufolge für die Optimierung der Interstressintervalle<br />

selten nötig, was allerdings tempoabhängig ist.<br />

Die weiter oben beschriebenen Unterschiede ergeben in den beiden Sprachen verschiedene<br />

Rhythmustypen, im Deutschen einen hämmernden, stoßenden staccato-Rhythmus, im Rumänischen<br />

einen weichen, gleitenden, fließenden legato-Rhythmus, obwohl die beiden Sprachen<br />

die prototypischen Merkmale nicht in idealer Weise erfüllen. Das Deutsche zeigt z. B. beim<br />

langsamen Sprechen silbenzählende Merkmale auf, sein akzentzählender Charakter ist auch<br />

schwächer ausgeprägt als derjenige des Englischen. Wenn die prototypischen Merkmale der<br />

akzentzählenden Sprachen in Betracht gezogen werden, so besteht im Deutschen eine Restriktion<br />

inder Akzentsilbe nur für den Schwa-Laut, im Englischen jedoch sind gesonderte Vokalreihen<br />

vorhanden, die Silbengrenzen sind sowohl intakt als auch verwischt, die bedeutungsdifferenzierende<br />

Funktion des Akzents ist nur marginal wirksam, usw. Untersuchungen für das<br />

Deutsche belegen auch Unterschiede zwischen Dialekt und Hochsprache, der Wiener Dialekt<br />

soll silbenzählender sein als das österreichische Hochdeutsch. Sprachhistorische Untersuchungen<br />

von KALTENBERG (1999: 217) verweisen im AHD und frühen MHD auf deutliche<br />

silbenzählende Merkmale. Wenn im Rumänischen die Silbenstruktur, die Relevanz der<br />

lexikalisch und grammatisch distinktiven Funktion des Akzents, die Mobilität der Akzentstelle,<br />

die Komplexität der Wortakzentuierungsregeln berücksichtigt werden, nähert es sich den<br />

Charakteristika der akzentzählenden Sprachen. Auch für das Rumänische ist anzunehmen, dass<br />

zwischen Dialekt und Hochsprache Unterschiede bestehen, dass in den verschiedenen Entwicklungsetappen,<br />

infolge der Aufnahme von Fremdwörtern aus verschiedenen Sprachen,<br />

andere Charakteristika galten als heute.<br />

3.3 Ähnlichkeiten in der Rhythmisierung im Deutschen und Rumänischen<br />

Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen dem Rhythmus in den beiden Sprachen kann auch<br />

von Ähnlichkeiten gesprochen werden. Die betreffen:<br />

a. Die Silbe als Grundeinheit des Rhythmus, als Baustein für die Konstituierung der höheren<br />

rhythmischen Einheiten;<br />

b. Die Akzente (Hauptakzente) sind Fixpunkte für die Rhythmisierung;<br />

464<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />

c. Sprachspezifische koartikulatorische Prozesse dienen zur Optimierung, Angleichung der<br />

Silbenstruktur und -länge;<br />

d. In beiden Sprachen kann von einer Rechtstendenz der Akzentstelle in höheren rhythmischen<br />

Einheiten ausgegangen werden;<br />

e. Sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen existiert ein rhythmischer Akzent;<br />

f. Pause und Sprechtempo haben eine Rhythmus konstituierende und optimierende Rolle.<br />

4. Potenzielle Fehler rumänischer Deutschlernenden bei der Akzentuierung und Rhythmisierung<br />

im Deutschen<br />

a. Die angeführten Unterschiede führen zu potenziellen Fehlern bei rumänischen Deutschlernenden,<br />

die auch für andere Ausgangssprachen mit silbenzählendem Charakter Gültigkeit<br />

haben. Sie beziehen sich hauptsächlich auf: a. die Konstituierung, Konservierung und Optimierung<br />

der rhythmischen Einheiten, das Segment und Suprasegment betreffende Prozesse, b. die<br />

Akzentplatzierung und -realisierung:<br />

b. Die potenziellen Fehler in der Realisierung des Wortrhythmus betreffen die Initialbetonung<br />

im Deutschen und die Verteilung der Akzente in Derivata und Komposita.<br />

c. Zahlreiche Fehler sind bei der Akzentplatzierung auf der Akzentgruppenebene zu erwarten,<br />

da im Rumänischen die Tendenz besteht, den Akzent final zu setzen, im Deutschen aber<br />

derselbe infolge der unterschiedlichen Wortfolge eine leichte Linkstendenz aufweisen kann. Der<br />

rumänische Lernende wird voraussichtlich auf Grund des negativen Transfers aus der Muttersprache<br />

in den rhythmischen Einheiten den Akzent final setzen.<br />

e. Weil im Rumänischen alle Silben (betonte und unbetonte) intonatorisch wenig differenziert<br />

werden, tendiert der rumänische Deutschlernende auch im Deutschen die Silben alle<br />

gleich lang auszusprechen und die unbetonten Silben zu stark zu gewichten. Der Fehler gilt für<br />

Lernende mit silbenzählender MS als charakteristisch.<br />

d. Damit im Zusammenhang stehen potenzielle Fehler bei der Reduktion der unbetonten<br />

Silben, besonders des Schwa-Lautes in Endungen und bei der Realisierung des vokalisierten “r”,<br />

die für den Rhythmus des Deutschen von besonderer Relevanz sind und für den Erwerb des<br />

Deutschen vielleicht die größte Schwierigkeit bedeuten (vgl. VÖLTZ 1994: 102). Es ist anzunehmen,<br />

dass der rumänische Deutschlernende die Endungen voll realisiert, was zur Längung<br />

der Akzentgruppe, zur Unisochronie der rhythmischen Einheiten führt. Auch dieser Fehler gilt<br />

für Lernende mit einer silbenzählenden MS als charakteristisch. Der Reduktionsprozess des “e”<br />

im Stammauslaut und in Flexionsmorphemen ist bei rumänischen Deutschlernenden besonders<br />

schwer zu beheben, da es im Rumänischen einen ähnlichen Vokal mit Phonemstatus gibt, das<br />

, das dem deutschen Schwa zwar in gewisser Hinsicht ähnlich ist, (zentral gebildeter Vokal),<br />

jedoch auf keinen Fall mit ihm identifiziert werden darf.<br />

e. Zu erwarten sind auch Koartikulationsprozesse, die im Deutschen normwidrig sind, z. B.<br />

regressive Assimilationen, Palatalisierungserscheinungen oder die stimmhafte Realisierung der<br />

Konsonanten im Silben- und Wortauslaut.<br />

f. Potenzielle Fehler betreffen auch die Realisierung der Knacklaute am Silben- und Wortanfang<br />

bei anlautendem Vokal, die im Rumänischen fremd sind und sich letztendlich auf die<br />

charakteristische deutsche Rhythmisierung negativ auswirken.<br />

g. Da im Rumänischen die Anzahl der unbetonten Silben zwischen den Akzenten im Vergleich<br />

zum Deutschen geringer ist, werden die rumänischen Sprecher innerhalb der Akzentgruppe<br />

und der rhythmischen Gruppe voraussichtlich zu mehreren Akzenten tendieren. Dadurch<br />

wird die rhythmische Struktur der Einheiten zerstört. Auch dieser Fehler ist für Lernende mit<br />

silbenzählender MS kennzeichnend.<br />

h. Ebenfalls als potenzielle Fehlerquelle gelten auch die in der gesprochenen Sprache sehr<br />

häufigen “schwachen Formen”, da das Phänomen im Rumänischen nicht als solches vorhanden<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

465


Maria Ileana Moise<br />

ist. Zu erwarten ist, dass der rumänische Deutschlernende die Funktionswörter in ihrer starken<br />

Form realisiert. Diese Fehlleistung wirkt sich auf die rhythmische Strukturierung im Deutschen<br />

im Sinne der Beeinträchtigung der Dauer der rhythmischen Einheiten negativ aus.<br />

i. Eine weitere Fehlerquelle für die rhythmische Strukturierung der Äußerung bildet die Realisierung<br />

des rhythmischen Akzents. Es ist anzunehmen, dass der Deutschlernende die Lokalisierung<br />

der Nebenakzente, deren Platzierung im Rumänischen hauptsächlich vom Prinzip der<br />

rhythmischen Alternation bestimmt wird, im Deutschen verfehlt.<br />

j. Potenzielle Fehler sind auch in der Pausensetzung zu erwarten. Infolge der komplexen<br />

Komposita und der unterschiedlichen Wortfolge im Deutschen, besonders aber der längeren<br />

rhythmischen Gruppen könnte der Lerner zu einer stärkeren Untergliederung der Äußerungen<br />

im Deutschen tendieren. Andererseits könnten auf Grund des Transfers der Akzentplatzierung<br />

im Rumänischen auch fehlerhafte rhythmische Pausen gesetzt werden.<br />

k. Wegen der unterschiedlichen Funktion der Tempovariationen in den beiden Sprachen ist<br />

anzunehmen, dass der rumänische Lerner dieselben nicht oder in ungenügendem Maße für die<br />

Raffung und Reduktion der unbetonten Silben, für die Konstituierung von Gruppen um das<br />

Zentrum einsetzen wird, was ebenfalls zu einer Unisochronie führt.<br />

Schlussfolgernd kann behauptet werden, dass Wahrnehmen und Erwerb des Rhythmus und<br />

seiner konstituierenden Komponenten im Deutschen von außerordentlicher Bedeutsamkeit für<br />

den FU sind. Der Rhythmus bildet den charakteristischen Klang der Sprache und vereint alle<br />

sprachlichen Strukturen und Merkmale, angefangen von der Artikulation und bis zum zusammenhängenden<br />

Sprechen. In diesem Sinne muss VÖLTZ (1994: 100) darin zugestimmt<br />

werden, dass gravierende Fehler in der Rhythmisierung eine Barriere für das normgemäße,<br />

flüssige Sprechen sind, gleichzeitig ein Hindernis für die normal und unaufwändig ablaufende<br />

Sprachwahrnehmung und Verarbeitung in der Kommunikation mit den native-speakers.<br />

466<br />

L i t e r a t u r :<br />

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Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten<br />

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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

467


THEMENBEREICHE DER GEGENWÄRTIGEN SEMIOTIK<br />

Mit Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

Jan Kajfosz<br />

Die Bezeichnung Semiotik, abgeleitet vom griechischen ‘semeion’ (Zeichen) steht für die<br />

Lehre von den Zeichen und Zeichenprozessen. Die Semiotik, die in der Vergangenheit eine Teildisziplin<br />

der Philosophie war, hat sich zu einer äußerst transgressiven, also grenzüberschreitenden<br />

Wissenschaft entwickelt, die heutzutage innerhalb vielerlei Fächer betrieben wird,<br />

darunter im Rahmen der Philosophie, Logik, Ästhetik, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft<br />

und in anderen Fächern.<br />

Der Gegenstand der Semiotik ist das Zeichen, also etwas, was für etwas anderes steht und<br />

sogleich zu etwas steht, hauptsächlich zu dem wahrnehmenden Menschen. Anders gesagt: das<br />

Zeichen ist das, was etwas anderes repräsentiert, und zwar im Bezug auf ein wahrnehmendes<br />

Subjekt (Oehler 2000: 18). Das grüne Licht an der Ampel ist ein Zeichen zumindest in dem Sinne,<br />

dass es im Kontext des Straßenverkehrs die Erlaubnis zur Fortbewegung repräsentiert (es steht<br />

für etwas), und zwar im Bezug auf den Autofahrer, der an der Straßenampel vorbeifährt, oder<br />

auf den Fußgänger, der die Straße überquert (es steht zu etwas). Im gleichen Sinne gilt als Zeichen<br />

das rote Licht, das in demselben Kontext das Verbot der Fortbewegung vermittelt. Am angeführten<br />

Beispiel sind zwei Tatsachen zu beachten: Erstens, das Zeichensein des Zeichens besteht<br />

bloß in der kontextgebundenen Relation zwischen dem Zeichen (grünes Licht / rotes Licht)<br />

und seiner Bedeutung (Erlaubnis / Verbot): nicht jedes grüne Licht repräsentiert die Erlaubnis<br />

und nicht jedes rote Licht repräsentiert das Verbot (vgl. grüne und rote Lichter am Tannenbaum).<br />

Diese Relation hat dabei konventionellen, und dadurch arbiträren Charakter: die Bedeutung der<br />

Farben könnte auch umgekehrt sein, oder sie könnten durch andere Farben ersetzt werden,<br />

wenn sich an dieser Änderung die ganze Sprach- und Kulturgemeinschaft einigen würde.<br />

Zweitens, die Repräsentation der Bedeutung durch das Zeichen gilt nicht an sich, sondern, wie<br />

gesagt, nur im Bezug auf jemanden, z.B. auf den Autofahrer, der sie zu verstehen weiß — sie gilt<br />

etwa nicht für einen Hund, der an der Ampel vorbeiläuft.<br />

1. Verstecktheit der Zeichen<br />

Innerhalb der Lebenswelt, die sich dem Menschen meistens als nicht thematisierter, selbstverständlicher<br />

Horizont seines Handelns, Wahrnehmens, Erkennens und Verstehens (oder Mißverstehens)<br />

darbietet, sind überall Zeichen vorzufinden, auch da, wo man sie gar nicht vermutet<br />

hätte. Außer offenkundigen Zeichen, die als solche erkannt werden (z.B. Lichter an Ampeln,<br />

Straßenzeichen, Firmenmarken usw.) gibt es überall "versteckte" Zeichen, also Zeichen, die sich<br />

an Gestaltung der Lebenswelt beteiligen, ohne dass sich der Mensch dessen unbedingt bewusst<br />

sein müsste. Das wesentlichste Zeichensystem, das sich an unserem Wahrnehmen und Handeln<br />

beteiligt und uns somit die Welt vermittelt, ist die Sprache. Wenn an allem menschlichen Wahrnehmen<br />

und Handeln irgendwelche Zeichensysteme teilhaben, lässt es sich sagen, dass wir in<br />

der Welt der Zeichen leben. Der menschliche Weltbezug hat einen Zeichencharakter zumindest<br />

in dem Sinne, dass er davon abhängt, welche Zeichensysteme an ihm beteiligt sind. Das heißt<br />

wiederum, dass es kaum einen Bereich der menschlichen Erfahrung gibt, der sich der semiotischen<br />

Analyse entziehen könnte. Jeder menschliche Weltbezug ist unter dem Gesichtspunkt der<br />

Zeichensysteme, die sich an ihm beteiligen, analysierbar.


Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

Die Annahme, die Welt werde uns durch Zeichensysteme vermittelt — so, dass die von uns<br />

wahrgenommenen Sachverhalte von vornherein mit Zeichen "verschmolzen" sind — bringt mit<br />

sich die Frage, ob und inwieweit die von uns wahrgenommenen Sachverhalte können durch die<br />

Eigenart des an ihm beteiligten Zeichensystems beeinflusst werden. Da das bedeutendste (oder<br />

primäre) natürliche Zeichensystem die Sprache ist, spricht man in diesem Zusammenhang vom<br />

Weltbild einer Sprache. Wilhelm von Humboldt (1765-1835), deutscher Gelehrter, der im<br />

Kontext der europäischen Sprachwissenschaft die Entdeckung gemacht hat, dass unser Weltbild<br />

von der von uns gebrauchten Sprache abhängig sein kann, machte in seiner Abhandlung "Über<br />

das vergleichende Sprachstudium" von 1820 folgende Bemerkung: "Durch die gegenseitige Abhängigkeit<br />

des Gedankens und des Wortes voneinander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen<br />

nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die<br />

vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen,<br />

sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst" (Apel 1991: 106). Anders ausgedrückt<br />

heißt es, in ihrer Gesamtheit bestimmen die Wörter einer Sprache in ihrer Gliederung und in<br />

ihren Beziehungen zueinander die Möglichkeiten der Setzung, also das, was von der Wirklichkeit<br />

erfasst werden kann und wie es erfasst werden kann (Porzig 1950: 366). Dies ist im Kontext der<br />

Semiotik nichts anderes als Anerkennung der Rolle des Zeichens (darunter Wortes) und des Zeichensystems<br />

(darunter der Sprache) in der menschlichen Wahrnehmung und seiner Fähigkeit das<br />

von dem Menschen Wahrgenommene mitzubestimmen und mitzugestalten.<br />

Man sieht also, dass es sich hier ein direkter Übergang zwischen der Semiotik und der Theorie<br />

des sprachlichen Relativismus ebnet, die im Überprüfen besteht, wie und inwieweit die von<br />

dem Menschen wahrgenommenen Sachverhalte von der von ihm gebrauchten Sprache — als<br />

Zeichensystem verstanden — abhängig sein können. Die wichtigsten Verfechter dieses Ansatzes<br />

auf dem amerikanischen Kontinent waren Edward Sapir (1884-1936) und Benjamin Lee Whorf<br />

(1897-1941), in Europa war es der oben erwähnte Wilhelm von Humboldt und alle seine Nachfolger,<br />

unter ihnen der Begründer der sog. inhaltbezogenen Sprachwissenschaft, Leo Weisgerber.<br />

Ähnliches geschah in der zweiten Hälfte des 20. Jhs auf dem Gebiet der Kulturtheorie, vor allem<br />

in Frankreich, wo sich der konstruktivistische Ansatz entwickelte, inspiriert durch das Werk von<br />

Ferdinand de Saussure (1857-1913). Im Rahmen dieses Ansatzes wurden vielerlei aufschlussreiche<br />

Versuche unternommen, die Welt als Kulturgebilde zu thematisieren, d.h. die Rolle der<br />

Kultur als Zeichensystems in der menschlichen Weltauffassung zu erforschen (C. L. Strauss, M.<br />

Foucault, R. Barthes, J. Derrida u.a.) 1 . Auf die Relation zwischen Sprache und Kultur, die die gegenwärtige<br />

Semiotik als innerlich verschmolzene Zeichensysteme auffasst, kommen wir noch zu<br />

sprechen.<br />

Der Zugang zu der Frage nach der Beteiligung der Zeichen an der menschlichen Wahrnehmung<br />

ist durch die Tatsache erschwert, dass sich dem Menschen seine Lebenswelt als Reich<br />

der an sich gebenden Sachverhalte (Dingen und Vorgängen) hergibt und ihn nur selten dazu<br />

veranlasst, sie hinsichtlich der Zeichen, die sich an ihrer Setzung beteiligen, zu hinterfragen. —<br />

"Wahrnehmen" heißt ja eben, etwas "für wahr zu nehmen". Die innere Sicherheit, man nimmt<br />

die Sachverhalte in der Welt unbeteiligt — also "objektiv", so, wie sie in der Tat sind, und wie sie<br />

jeder vernünftige Mensch sehen müsste — nennt man Sprachrealismus (vgl. Weisgerber 1929:<br />

53). Da die Gestalt der von dem Menschen wahrgenommenen Tatsachen neben der Sprache<br />

noch von anderen Zeichensystemen mitbestimmt wird, wie etwa von der Kultur, wäre es angebracht,<br />

vom semiotischen Realismus zu sprechen 2 .<br />

1 Eine elementare Einführung in diese Problematik bieten z.B. G. Deleuze 1993 und J. Culler 1993 an.<br />

2 Im mittelalterlichen Denken taucht Realismus als semiotische Konzeption auf, die auf die Ideenlehre Platos zurückzuführen<br />

ist. Dieser Begriff darf mit dem gegenwärtigen Begriff Realismus (darunter Sprachrealismus) nicht verwechselt<br />

werden, da er im gewissen Sinne seinen Gegensatz bedeutet.<br />

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469


Jan Kajfosz<br />

Die Frage nach der Rolle des Zeichens im menschlichen Wahrnehmen, und daher im menschlichen<br />

Weltverstehen, kann erst da auftauchen, wo der semiotische Realismus, der in der unreflektierten<br />

Einstellung zur Welt gründet, seine Selbstverständlichkeit verliert. Das Zeichen als<br />

Gegenstand der Semiotik wird erst da sichtbar, wo die "naive" Ansicht, die Rolle unserer Sprache<br />

bestehe bloß im Aufkleben von Etiketten auf die vorgegebenen Gegenstände, überwunden wird<br />

(Weisgerber 1971: s. 33-39). Daraus ergibt sich, dass das Zeichen als Gegenstand der Semiotik<br />

— und dadurch die Semiotik als solche — können erst bestimmte Metoden "entstehen" lassen,<br />

und zwar diejenigen, die im reflexiven Hinterfragen der menschlichen Wahrnehmung, des<br />

menschlichen Denkens und Handelns hinsichtlich ihres Zeichencharakters bestehen. Anders gesagt:<br />

erst unter Anwendung gewisser Sehens- und Denkungsart kommt man zur Einsicht, die<br />

menschliche Lebenswelt ist nicht die Wirklichkeit der Dinge, wie sie "an sich" sind, sondern dass<br />

sie uns durch Zeichen vermittelt wird, durch die sie erschlossen und gedeutet, verstellt oder<br />

entstellt, in jedem Fall geprägt wird (Oehler 2000: 13).<br />

Nehmen wir an, wir spazieren in der Stadt und auf einmal erblicken wir einen laufenden<br />

Hund. Man hat dabei den Anschein, man beobachtet einen unmittelbar gegebenen Sachverhalt.<br />

Wenn man jedoch sein eigenes Sehen des Hundes zum Thema macht, sieht man ein, dass die<br />

einfache Erklärung, der laufende Hund sei die Ursache des von uns beobachteten Geschehens,<br />

ungenügend ist. Bevor wir nämlich den laufenden Hund zur Ursache des von uns beobachteten<br />

Geschehens erklären konnten, mussten wir ihn eben als H<strong>UND</strong> erkannt haben. Wir mussten erkannt<br />

haben, dass da vorne ETWAS läuft, und dass es LÄUFT (und nicht etwa KRIECHT oder<br />

SPRINGT), und dass dieses etwas H<strong>UND</strong> ist (Weisgerber 1929: 29, 51-52, Apel 1991: 82).<br />

An jedem Wahrnehmungsurteil — also an jedem erkannten, gesehenen, gehörten oder gespürten<br />

Sachverhalt — beteiligt sich sowohl die postulierte vorbegriffliche Wirklichkeit, die unsere<br />

Sinnen affiziert, als auch die Begriffe unserer Sprache (Eco 2000: 76-98, Roesler 2000:<br />

117-118). Man sieht zwar einen singulären laufenden Hund, nun, mit dem Begriff H<strong>UND</strong> wird<br />

eine Reihe von anderen Objekten und mit dem Begriff LAUFEN eine Reihe von anderen Geschehen<br />

oder Geschehnissen gestellt 3 . Begriffe, die sich an unserer Wahrnehmung beteiligen,<br />

sind somit das Allgemeine, das im Konkreten present ist. Der laufende Hund ist in dem Sinne als<br />

eine Synthese des Konkreten und des Allgemeinen (oder: Kategorialen) anzusehen, was u.a.<br />

heißt, dass an der konkreten "Ursache unserer Wahrnehmung" das Allgemeine, Kategoriale oder<br />

Begriffliche, das im Sprachzeichen seinen Ausdruck findet, von vornherein present ist 4 . Die Anwesenheit<br />

des Abstakten (oder: Kategorialen) im wahrgenommenen Konkreten wird in der<br />

gegenwärtigen Sprachwissenschaft als Problem der Kategorisierung aufgenommen 5 .<br />

Der Mensch hat tatsächlich kein Vermögen, ohne Mitwirkung der Sprache als eines grundlegenden<br />

Zeichensystems irgend etwas wahrzunehmen, so dass es sich sagen lässt: Welt ist nur,<br />

sofern sie semiotisch, darunter sprachlich, vermittelt ist (Heintel 1991: 162). Das gilt auch für<br />

Sachverhalte, die sozusagen "unmittelbar sinnlich" wahrgenommen werden, wie etwa Kopfschmerzen.<br />

Sobald wir Kopfschmerzen in dem Sinne verspüren, dass wir den SCHMERZ in un-<br />

3 Einer der grundlegenden Argumente, an denen sich die Theorie des sprachlichen Relativismus seit ihren Anfängen<br />

stützt, ist die Entdeckung, dass dem Menschen ein Sachverhalt eher als ein Ding oder eher als ein Geschehnis erscheinen<br />

mag, je nach der Sprache, durch die sein Weltbild gestaltet wird. B.L. Whorf kam als erster mit der These,<br />

dass da, wo die Europäer eine klare Trennlinie zwischen Dingen und Geschehnissen sehen, die Indianer Hopi in einigen<br />

Fällen nicht unterscheiden können, und dass Sachverhalte, die den Europäern eher als Dinge vorkommen, von<br />

den Hopi eher als Geschehnisse angesehen werden (vgl. Whorf 1956).<br />

4 vgl. "Das Verhalten des sprachtüchtigen Menschen und die Art seiner sprachlichen Benennung beruht darauf, daß er<br />

die Erscheinungen nicht konkret-vereinzelt sieht, sondern kategorial, in begrifflicher Verarbeitung auffaßt (Weisgerber<br />

1929: 18).<br />

5 vgl. Lakoff 1987, Jackendoff 1983.<br />

470<br />

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Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

serem KOPF lokalisieren können, geschieht es unter Mitwirkung der sprachlich verankerten Begriffswelt.<br />

Gleiches gilt für das Denken: unsere Gedanken müssten in nichts zerflattern, wenn<br />

nicht die Begriffe den festen Punkt darstellen würden, um die sie sich kristallisieren könnten.<br />

Ohne Sprache wäre unser Denken kaum vorstellbar (Weisgerber 1964: 180). Sprachzeichen haben<br />

integrierende Funktion auch im anderen Sinne — sie vermögen die Mannigfaltigkeit der<br />

Sinneseindrücke zur Einheit zu bringen (Roesler 2000: 117): wenn wir einem Hund begegnen,<br />

sehen wir, wie er aussieht; wir hören, wie er uns anbellt oder anwinselt; wir tasten sein Fell,<br />

wenn wir ihn streichen; wir spüren vielleicht auch seinen Geruch. Alle Eigenschaften des Hundes<br />

erleben wir dabei als integrative Teile einer einzigen wahrgenommenen Entität. Obgleich wir<br />

Informationen aus unserer Umgebung über viele verschiedene Sinneskanäle aufnehmen, werden<br />

die vielfältigen Sinneseindrücke kohärent zu einer Erlebniswelt zusammengefügt, an deren Gestaltung<br />

Begriffe — also Sprachzeichen — teilnehmen (vgl. Schwarz 1992: 92-93).<br />

2. Kontextualität der durch Zeichen erschlossenen Welt<br />

Obschon die Wahrnehmungsurteile sprachlichen Charakter haben, heißt es noch nicht, dass<br />

sie auch sprachlichen Ausdruck haben müssen. Sie finden ihren Ausdruck hauptsächlich im angewöhnten<br />

Handeln: man braucht sich nicht jederzeit, wenn man einem Hund begegnet, vor<br />

Augen zu führen, dass er uns keine Auskunft über die neueste Wettervorhersage geben kann;<br />

einem geht auch nie durch den Kopf, man könnte von ihm einen Strafzettel bekommen, wenn<br />

man falsch geparkt hat. Wenn auf uns auf der Straße ein Hund zukommt, merken wir es in der<br />

Regel nur so nebenbei, es sei denn wir schrecken zurück vor Angst, dass er uns beißen könnte,<br />

oder wir sprechen ihn freundlich an und streichen ihn. Immerhin weiß man von vornherein, wie<br />

man mit so einem "Objekt" umgeht und was von ihm zu erwarten ist. An diesem Beispiel kann<br />

man Zweierlei bemerken: erstens, unsere Wahrnehmungsurteile sind kontextbezogen und haben<br />

einen direkten Bezug auf unser Handeln, zweitens, über die Beschaffenheit der angetroffenen<br />

"Objekte" urteilt man meistens spontan und aus Gewohnheit (van Dijk 2001, 1987). Man urteilt,<br />

ohne sich dessen bewusst zu sein. Die angetroffenen Dinge stellen nur selten Gegenstände der<br />

gezielten oder theoretischen Betrachtung dar (Roesler 2000: 119). Die meisten Dinge werden<br />

dabei mittels ihrer Funktionen wahrgenommen: der H<strong>UND</strong> dient zum HÜTEN, das AUTO zum<br />

FAHREN, der FUSSWEG zum GEHEN, das HAUS zum WOHNEN, die SONNE zum SCHEINEN —<br />

diese Funktionen sind von vornherein anwesend, obwohl über sie gezielt gar nicht nachgedacht<br />

wird. Wir sehen also, dass unsere Lebenswelt mit unserem Begriffsuniversum untrennbar verbunden<br />

ist. Sie stellt sich als Reich des angewöhnten, handlungsbezogenen und nur selten<br />

reflektierten Sinnes dar. Die Lebenswelt gibt sich uns als selbstverständliche — "von Anfang an"<br />

und "von sich selbst" geltende — Ordnung, sie gibt sich uns als das, was die alten Griechen<br />

Kosmos nannten, der für sie den Gegensatz von Chaos bedeutete 6 . Diese Ordnung ist immer als<br />

Synthese des Vorsprachlichen und Sprachlichen, des Vorkulturellen und Kulturelen — also des<br />

Vorsemiotischen und Semiotischen — zu verstehen, so dass sie weder auf "reine", an sich<br />

seiende Natur (Tatsachenwahrheit), noch auf die Sprache und alle anderen semiotischen<br />

Systeme, die dem Menschen die Natur vermitteln, zurückgeführt werden kann 7 .<br />

6 Die Lebenswelt als vortheoretisch gegebene Welt, die intentionalen (subjektbezogenen) Charakter hat, wurde zum<br />

Thema in der Phänomenologie Edmund Husserls. Sein tschechischer Schüler Jan Patočka versuchte diese Auffassung<br />

mit der Erkenntnis über aktive Rolle der Sprache in der Wahrnehmung in Einklang zu bringen (vgl. Patočka J.: Přirozený<br />

svět jako filosofický problém, Praha 1992; deutsch: Die natürliche Welt als philosophisches Problem, Stuttgart<br />

1990)<br />

7 vgl. "Die Namen sind ein Mittel, durch das sich die Gemeinschaft mit ihrer Umwelt auseinandersetzt, sie gliedert und<br />

deutet. Dabei ist sie abhängig sowohl von der Beschaffenheit des menschlichen Seelenlebens und seinen Antworten<br />

auf die Eindrücke der Welt als auch von der geistigen und kulturellen Lage, in der sie sich jeweils befindet." (Porzig<br />

W.: Das Wunder der Sprache, Bern 1950, S. 44-45)<br />

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Jan Kajfosz<br />

Im Zusammenhang mit der Kontextualität, Handlungsbezogenheit und verhältnismäßiger<br />

Unbewusstheit der Wahrnehmungsurteile ist auch ihr axiologischer Aspekt zu erwähnen. Der<br />

Mensch ist ständig im Reich der vortheoretisch gegebenen und reflexiv wenig bewussten Werte<br />

eingebettet, die ebenso von seiner Begriffswelt nicht wegzudenken sind. Man beachte erneut<br />

das Beispiel mit dem laufenden Hund: sobald wir einen H<strong>UND</strong> bemerken, erkennen wir ihn als<br />

unseren FRE<strong>UND</strong>, der sich uns gegenüber freundlich verhält; oder vielleicht als einen herrenlosen<br />

PENNER, der HUNGER hat, so dass einem durch den Kopf geht, mann sollte ihm zu essen<br />

geben (= Zuneigung); oder wir erkennen ihn als eine BLUTIGE BESTIE (= Abneigung), die uns<br />

bestimmt BEISST, sie kann an TOLLWUT leiden, man wird also zum ARZT müssen, wo einem<br />

SPRITZEN drohen usw. Jeder von uns wahrgenommene Sachverhalt gibt sich uns in einem Motivationskontext<br />

her, der mehr oder weniger axiologisch geprägt ist (vgl. van Dijk: 2001, 1987).<br />

Die konkrete Gestalt der wertenden Prägung kann dabei durch unsere frühere unmittelbare oder<br />

vermittelte Erfahrungen gegeben werden, die unter Mitwirkung des Begriffsystems unserer<br />

Sprache entstanden sind, darunter unter Mitwirkung der Stereotype.<br />

Unter Stereotypen versteht man Begriffe oder Begriffststrukturen, die mit erstarrten, vereinfachten,<br />

kollektiv bedingten und gepflegten Wirklichkeitsbildern verbunden sind, die eine eindeutige<br />

wertende Prägung haben. Sie können sich beziehen auf Sachen, Tiere, Menschen und<br />

Menschengemeinschaften, Institutionen usw. Da nicht nur Stereotype, sondern auch alle<br />

anderen Begriffe mehr oder weniger mit erstarrten und vereinfachten Wirklichkeitsbildern verbunden<br />

sind, ist die Trennlinie zwischen "gewöhnlichen" Begriffen und Stereotypen gar nicht<br />

scharf. Aus den vorangegangenen Erwägungen über die Angewöhntheit und Kontextbezogenheit<br />

der Sprachzeichen lässt sich schliessen, dass jedes Wort, das etwas bedeutet, mehr oder weniger<br />

stereotyp sein muss. Das Leben der Stereotype — wie das Leben aller anderen Begriffe — erfolgt<br />

im Rahmen der Zusammenwirkung zwischen der unmittelbaren Erfahrung des einzelnen<br />

Menschen und Erfahrungen Anderer, die durch das Erzählte oder im Sprachsystem Niedergeschlagene<br />

an ihn vermittelt werden. Die Stereotype — samt aller Begriffe und<br />

Begriffstrukturen der Sprache — prägen unsere Erwartungen (z.B.: PITBULLS SIND BLUTIGE<br />

BESTIEN), unsere Erwartungen wirken wieder in unsere Erfahrungen hinein (jeder PITBULL jagt<br />

uns Angst ein), die Erfahrungen stärken wiederum die mit ensprechenden Stereotypen verbundenen<br />

Erwartungen usw. Die Spirale des sich steigenden Einklangs zwischen Begriff, Vorstellung<br />

und Erwartung auf der einen Seite und Erfahrung und Handeln auf der anderen kann<br />

jederzeit durch eine zufällige Erfahrung durchbrochen werden (DIESER PITBULL IST HARMLOS),<br />

sowie durch allerlei andere Anstöße, die die Fähigkeit zum Unterscheiden zwischen dem Allgemeinen<br />

und dem Konkreten herbeiführen können. Die Möglichkeiten solcher semiotischen<br />

Sprach- und Kulturkritik sind oft selbst sprachlich und kulturell bedingt 8 . Fassen wir zusammen:<br />

der Mensch ist immer schon eingespannt in ein System von Überzeugungen, von<br />

Fürwahrhaltungen (‘beliefs’), an denen er so lange festhält, wie ein widerstandsloser Umgang<br />

mit seinen Umständen ihm dies ratsam erscheinen lässt (Oehler 2000: 16). Anders gesagt: jede<br />

faktische Begegnung des Menschen mit "reinen" Tatsachen findet schon im Lichte eines<br />

semiotisch — darunter sprachlich — vorgreifenden Bedeutungskontextes oder Weltverständnisses<br />

statt, gleichwohl kann solche Begegnung in einem gewissen Sinne "unvoreingenommen" und<br />

"ursprünglich" sein (ES GIBT HARMLOSE PITBULLS) (vgl. Apel 1991: 117-119).<br />

8 Je nach dem wie stark und erstarrt die Begriffsstrukturen sind, je nach der Haltbarkeit ihrer Vebindung mit entsprechenden<br />

Verhaltensmustern und je nach dem, wie die Verhaltensmuster der Sachlage nach biegsam sind, wird zwischen<br />

paradygmatischen und relationalen Kulturtypen unterschieden. (vgl. Fleischer, M.: Die polnische Diskurslandschaft.<br />

Über paradigmatische und relationale Kulturtypen in: Cultural Semiotics: Facts and Facets, hrsg. von Peter<br />

Grzybek, Bochum 1991, S. 137-159)<br />

472<br />

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Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

3. Indexikalität von Zeichenprozessen<br />

Oben wurde bemerkt, dass sich die Semiotik sowohl mit Zeichen, als auch mit Zeichenprozessen<br />

beschäftigt. Der Zeichenprozess wird in der Semiotik Semiose genannt. Unter Semiose<br />

versteht man das Funktionieren eines Zeichens. Zeichen und Semiose sind dabei zwei Aspekte<br />

desselben: es gibt keine Zeichen ohne Semiose und keine Semiose ohne Zeichen. Das Wesen des<br />

Zeichens besteht bloß in seiner Funktionalität, also in seiner Fähigkeit etwas anderes zu<br />

repräsentieren. Wenn das Zeichensein des Zeichens in keiner von vornherein gegebenen<br />

‘Substanz’ besteht, sondern in seiner kontextgebundenen Funktion, die je nach Umständen<br />

wechseln kann, heißt das, dass Zeichen prozesuellen Charakter haben, und zwar in dem Sinne,<br />

dass es außerhalb der Semiose keine Zeichen gibt. Alles kann Zeichen sein: sobald etwas etwas<br />

anderes zu repräsentieren beginnt, haben wir mit einer Zeichenfunktion zu tun. Die Zeichenfunktion<br />

können dabei sowohl Concreta, als auch Abstracta haben: sowohl ein gesehenes rotes<br />

Licht, als auch ein erdachtes rotes Licht können in unserem Bewusstsein einen Gedanken an das<br />

Fahrverbot hervorrufen. Anders ausgedrückt: das Fahrverbot kann sowohl durch ein gesehenes<br />

rotes Licht repräsentiert werden, als auch durch ein rotes Licht, das es nur in unseren Gedanken<br />

gibt. Noch einmal zusammengefasst: mit der Semiose haben wir überall zu tun, wo für<br />

jemanden ein Zeichen (= ein Bezeichnendes) etwas (= ein Bezeichnetes) vermittelt, egal ob man<br />

sich dessen Vermittelns bewusst ist. Wie wir oben gesehen haben, ist nicht jede Semiose<br />

unmittellbar einsehbar.<br />

Jede Semiose besteht im Urteilen aus Zeichen (Oehler 2000: 35, Eco 2000: 76-80) — daher<br />

Wahrnehmnungsurteile (siehe oben). Sie kann mehr oder weniger angewöhnt ("automatisch")<br />

und dementsprechend weniger oder mehr anstrengend, und dadurch auch bewusst sein. Es gibt<br />

sowohl Erfahrungsbereiche, wo man sich seines Urteilens äußerst bewusst ist, z.B. vor Angst,<br />

man könnte etwas falsch interpretieren, als auch Erfahrungsbereiche, wo man aus etwas auf<br />

etwas schließt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn die Straße mit Pfützen bedeckt ist,<br />

wissen wir gleichsam, dass es kurz zuvor regnen musste. Die Pfützen stellen im Bezug auf den<br />

Regen das Bezeichnende, der Regen wiederum das Bezeichnete dar. Die Gedankenverbindung<br />

zwischen den Pfützen und dem Regen ist so selbstverständlich, dass man gar nicht merkt, man<br />

schließt aus dem einen auf das andere, und zwar so, dass man einem Zeichen (die Pfütze) eine<br />

Bedeutung (der Regen) zuordnet. Solche Zuordnung erfolgt immer innerhalb eines Interpretationsrahmen,<br />

der u.a. aus unseren Denkgewohnheiten und früheren Erfahrungen besteht 9 .<br />

Diesen Interpretationsrahmen kann man als Vorrat von Regeln verstehen, nach denen die<br />

Semiose erfolgt. Diese Regeln werden in der Semiotik Kode genannt. Da jedes Wahrnehmen<br />

nach irgendwelchen Regeln erfolgt, die in unseren früheren Erfahrungen und in mit ihnen zusammenhängenden<br />

Zeichensystemen (darunter in der Sprache) ihren Ursprung haben, heißt es,<br />

die Semiose beginnt nie "von Anfang an" 10 . Jedes Schließen von etwas auf etwas setzt nämlich<br />

einen Kode voraus — es setzt voraus, dass man sich inmitten seiner Lebenswelt befindet, die als<br />

Horizont (Bedeutungskontext) unseres Wahrnehmens und Interpretierens von vornherein anwesend<br />

ist, selbst wenn man mit einem unbekannten Sachverhalt konfrontiert ist, den man zu<br />

interpretieren versucht. Jedes Unbekannte, an das wir antreffen, gibt sich uns somit immer im<br />

Rahmen des Bekannten und Vertrauten, das den Grund darstellt, aus dem alle Versuche, dieses<br />

9 Wir erinnern daran, dass selbst dieser Interpretationsrahmen einen Zeichencharakter hat, und zwar in dem Sinne,<br />

dass unsere Erfahrungen und Gewohnheiten in Begriffen und Begriffstrukturen unserer Muttersprache eingebettet<br />

sind (vgl. Weisgerber 1964).<br />

10 vgl. "Wir erlernen die meißten ‘Wortinhalte’ nicht bewußt, erst recht nicht kraft einer Definition; vielmehr ist gerade<br />

das die wunderbare Leistung der Sprache, daß unter ihrem Einfluß dieses Wissen unbewußt heranwächst; daß sie es<br />

dem Menschen ermöglicht, alle seine Erfahrungen zu einem Weltbild zu vereinigen, und ihn darüber vergessen läßt,<br />

wie er früher, vor der Spracherlernung, den Erscheinungen gegenüberstand." (Weisgerber 1929, S. 29-30)<br />

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Unbekannte zu erfassen, unternommen werden. Jeder Sachverhalt wird immer im Bezug auf<br />

einen anderen Sachverhalt verstanden, dieser wieder auf einen anderen usw. Mit anderen<br />

Worten: die Semiose setzt eine andere (frühere) Semiose voraus, die wieder eine andere usw. bis<br />

ins Unendliche (Buczyńska-Garewicz 1978: 3-15). Dies ist nichts anderes als Feststellung der<br />

Tatsache, das unser Wahrnehmen, Verstehen und Interpretieren immer kontextgebunden ist, d.h.<br />

dass es immer durch etwas mitbestimmt ist.<br />

Es wurde schon erwähnt, dass das Urteilen aus Zeichen entweder mehr aus Gewohnheit erfolgt,<br />

so dass es eher "automatischen" Verlauf haben kann, oder dass es mehr Anstrengung in<br />

Anspruch nimmt. Anders gesagt: die Beziehung zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung<br />

kann entweder mehr eindeutig und selbstverständlich sein, oder auch weniger eindeutig, so dass<br />

sie von uns gewisse Erfindungskraft fordert. Je nach dem wie eindeutig die Beziehung zwischen<br />

dem Zeichen und seiner Bedeutung ist, unterscheidet man zwischen bloßem Wahrnehmen und<br />

dem Interpretieren. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass sowohl dem einen, als auch<br />

dem anderen Urteilen zu Grunde liegt, so dass es zwischen Wahrnehmen und Interpretieren<br />

keinen prinzipiellen Unterschied gibt (vgl. Eco 2000: 76-77).<br />

Wie oben gezeigt wurde, auch bloßes Bemerken eines laufenden Hundes, das im Herstellen<br />

der Beziehung zwischen dem, was unsere Sinnen affiziert, und Begriffen unserer Sprache besteht,<br />

Urteilen voraussetzt 11 : ich sehe, in der Ferne BEWEGT SICH ETWAS, und weiter erkenne<br />

ich, dass es sich um einen H<strong>UND</strong> handelt, der LÄUFT. Jeder beobachtete Sachverhalt wird als<br />

solcher immer an etwas erkannt. Sofern lässt sich sagen, dass jedes Erkennen von etwas als<br />

etwas gewisse Relation zwischen dem Erkannten (repräsentiertes Objekt) und dem, woran das<br />

Erkannte erkannt worden ist (repräsentierendes Zeichen), voraussetzt. Jedes Erkennen von einem<br />

Sachverhalt beruht also auf Schließen aus etwas auf etwas. Anders gesagt: es beruht auf<br />

Schließen aus einem Bezeichnenden auf sein Bezeichnetes.<br />

Erst da, wo für den Menschen das Urteilen aus Zeichen mehr Anstrengung und Erfindungskraft<br />

fordert, wird das Urteilen als solches erst ausdrücklich bewusst. Liest man eine Zeitung,<br />

hat man gar nicht das Gefühl, unser Lesen beruht auf Urteilen. Handelt es sich um einen fremdsprachigen<br />

Text, wobei wir die Sprache, in der er aufgeschrieben ist, nur teilweise beherrschen,<br />

nimmt die Entzifferung des Textes mehr Anstrengung und Erfindungskraft in Anspruch. Je<br />

weniger wir die Regeln (den Kode) beherrschen, nach denen dem Zeichen seine Bedeutung zugeordnet<br />

wird und je weniger eindeutig diese Regeln sind, desto mehr wird unser Wahrnehmen<br />

zum Interpretieren. Die feinste Interpretationskunst kennen wir aus Kriminalromanen, in denen<br />

Detektive seltsame Regeln (Kodes) je nach Bedarf herausfinden müssen, nach denen anscheinend<br />

unbedeutenden — und deswegen gar unbemerkbaren — Merkmalen oder Anzeichen<br />

bestimmte Bedeutungen zugeordnet werden, was zum Entschlüsseln der Umstände eines Verbrechens<br />

und zur Erklärung dieses Verbrechens führt. Hier erscheint uns das Urteilen aus Zeichen<br />

(z.B. aus am Tatort hinterlassenen Spuren) auf Umstände eines Verbrechens als feinste,<br />

höchstkomplizierte Interpretation. Sherlock Holmes sieht interpretierbare Anzeichen — also<br />

Zeichen — auch da, wo es für andere gar keine gibt, und zwar deshalb, weil sein Interpretieren<br />

alle herkömmlichen Interpretationskriterien (Kodes) übertrifft (vgl. Sebeok 2000: S. 92-93). Ch.S.<br />

Peirce, Schöpfer der gegenwärtigen Semiotik, nannte das Urteilen von etwas auf etwas Abduktion<br />

(Eco 1984: 39-43, Eco 2000: 59-98, Wirth 2000: 137-139). Unter diesem Begriff verstand<br />

er Erfindung von Hypothesen, die ermöglichen, eine Relation zwischen einem Zeichen und<br />

seiner Bedeutung herzustellen, die, wenn sie einmal erfahrungsgemäß verifiziert ist, zu anderen<br />

11 I. Kant spricht in diesem Zusammenhang von Wahrnehmungsurteilen. Die Beziehung zwischen dem Begriff und<br />

dem, was unsere Sinnen afiziert, ist nur unvollkommen nachvollziehbar: alles, was wir wahrnehmen, stellt von vornherein<br />

eine Synthese des Begrifflichen und des Vorbegrifflichen dar (vgl. Eco 2000, S. 66-98).<br />

474<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

Hypothesen führt oder andere Hypothesen verifiziert. Wie wir oben erwähnt haben, kann die<br />

Abduktion unsere Erfindungskraft weniger oder mehr in Anspruch nehmen: wenn wir bemerken,<br />

dass jemand ständig SCHNEUZT (das Bezeichnende oder Repräsentierende), wissen wir gleich,<br />

dass er SCHNUPFEN hat (das Bezeichnete oder Repräsentierte), ohne etwas bewusst interpretiert<br />

zu haben — wir "sehen" es einfach. Wenn ein Arzt aufgrund anstrengender Deutung<br />

einiger schwer bemerkbaren Symptome eine Erkrankung feststellt, die dann durch spätere<br />

Untersuchungen bestätigt wird, handelt es sich um Abduktion "im stärkeren Sinne".<br />

4. Künstliches und natürliches Zeichensystem<br />

Oben haben wir angeführt, dass in der Semiotik alle Regeln, nach denen einem Zeichen seine<br />

Bedeutung zugeordnet wird (z.B. einem Symptom entsprechende Erkrankung), Kodes genannt<br />

werden. Je nachdem, wie eindeutig diese Regeln sind, unterscheiden wir zwischen "harten" und<br />

"weichen" Koden (Eco 1984: 36-39, Giraud 1974: 31-33). Als "harter" Kode ist jede exakte,<br />

künstliche Sprache — also Computersprache oder die Sprache der Logik — zu betrachten, die in<br />

Folge des eindeutigen Definierens entstanden ist. "Harte" Kodes sind grundsätzlich kontextlos.<br />

Einmal festgesetzte Regeln sind in allen Kontexten und unter allen Umständen dieselben. In<br />

dem Sinne sind künstliche Sprachen von ihren Schöpfern völlig "kontrollierbar". Der "harte"<br />

Kode kann sich nur dann ändern, wenn man ihn erneut definiert, wenn man also die Regeln der<br />

Zuordnung von Zeichen und ihren Bedeutungen neu festsetzt.<br />

Keine völlig exakte Sprache (z.B. Computersprache), die aus endlichen Mengen von Zeichen<br />

und Regeln ihrer Anwendung besteht, ist vollständig in dem Sinne, dass sie durch sich selbst<br />

definiert werden kann. So eine Sprache ist von einer Sprache höherer Ordnung abhängig, mittels<br />

sie sie definiert wird. Anders gesagt: jede künstliche Sprache ist durch ihre Metasprache<br />

definiert, von der sie jedoch muss getrennt sein. Jede Kontamination zwischen der Sprache und<br />

ihrer Metasprache würde zu Kontradiktionen und dadurch zu Fehlern führen. Der Grund, weshalb<br />

keine exakte Sprache sich selbst definieren kann, ist folgender: "kein Satz kann etwas über<br />

sich selbst aussagen, weil das Satzzeichen nicht in sich selbst enthalten sein kann" (Wittgenstein<br />

1993: 3.332). Dies könnte man demonstrieren am seit der Antike bekannten Fall von Kreter,<br />

der sagt, alle Kreter seien Lügner. Für die Logik gilt es, dass man keine Bedingungen finden<br />

kann, unter denen man entscheiden könnte, ob er die Wahrheit sagt oder ob er lügt. Ludwig<br />

Wittgenstein (1889-1951), einer der bedeutendsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts,<br />

der in seinem Frühwerk zwischen der exakten Sprache der Logik und der natürlichen Sprache<br />

keinen Unterschied sieht, behauptet, man kann über seine eigene Sprache mit derselben Sprache<br />

gar nicht sprechen, weil es unsinnig wäre (Wittgenstein 1993: 6.54). Wenn es zwischen der<br />

Sprache der Logik ("harter" Kode) und der natürlichen Sprache keinen Unterschied gäbe, hätte er<br />

sicherlich Recht gehabt.<br />

Im Gegensatz zu "harten" (also völlig definierten) Koden ist die natürliche Sprache — also<br />

jede Muttersprache — als "weicher" Kode zu verstehen. Sie ist dem Menschen apriorisch gegeben<br />

in dem Sinne, dass jedes Definieren innerhalb der natürlichen Sprache durch nicht<br />

definierte Bedeutungen bedingt ist (Wittgenstein 1989: § 87) 12 . Die natürliche Sprache ist von<br />

dem Menschen nur teilweise "kontrollierbar", weil sie von ihm als Ganzes gar nicht eingesehen<br />

werden kann (Wittgenstein 1989: § 29). Das Kind, das seine Muttersprache lernt, lernt die<br />

12 vgl.: "Die Wissenschaft entsteht in einer Form der Betrachtung, die, bevor sie einsetzen und sich durchsetzen kann,<br />

überall gezwungen ist, an jene ersten Verbindungen und Trennungen des Denkens anzuknüpfen, die in der Sprache<br />

und in den sprachlichen Allgemeinbegriffen ihren ersten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben" (E. Cassirer:<br />

Philosophie der symbolischen Formen, I. Die Sprache, II. Das mythische Denken, Berlin 1923-25, S. 13)<br />

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Jan Kajfosz<br />

Regeln, nach denen Sprachzeichen ihre Bedeutungen zugeordnet werden, nie explizit 13 . Sie sind<br />

ihm zugänglich bloß innerhalb des jeweiligen Sprachgebrauchs, sie werden ihm in der Regel<br />

nicht erklärt, sie werden von ihm eher erraten (Wittgenstein 1989: § 32) und eingeübt<br />

(Wittgenstein 1989: § 5). Da wir in natürlichen Sprachen mit grundlegender Mehrdeutigkeit zu<br />

tun haben, wäre es unmöglich, alle Regeln explizit zu machen, nach denen Sprachzeichen auf<br />

bestimmte Bedeutungen verweisen 14 . Der Mensch beherrscht oft die Regeln der Zuordnung von<br />

Sprachzeichen zu ihren Bedeutungen, ohne sie jemals thematisiert (also: explizit gemacht) zu<br />

haben. Dazu kommt noch die Tatsache, dass sich die Regeln im Sprachgebrauch "von sich selbst"<br />

verändern können. In diesem Sinne sind sie nie definitiv festgesetzt (Wittgenstein 1989: § 83).<br />

Dass die natürliche Sprache ein semiotisches System ist, das in seiner Ganzheit von seinem<br />

Träger, dem Menschen, nie völlig eingesehen — damit auch definiert — werden kann, ergibt sich<br />

daraus, dass sie grundsätzlich analogisch ist. Die natürliche Sprache ist — wie schon Aristoteles<br />

behauptet — analogisch, weil "die Worte und die Menge der Reden (der Zahl nach) begrenzt<br />

sind, die Dinge aber sind der Zahl nach unbegrenzt. Es ist also notwendig, dass eine Rede und<br />

(das ein Wort) vieles bedeute" (Aristoteles, Soph. El. 1, 165a 2-13) 15 . Wenn ein Wort auf vieles<br />

verweist (z.B. das Wort "Hund" auf vielerlei Hünde), heißt das u.a., dass unsere Aussagen nie<br />

eindeutig, sondern bloß analogisch sein können. Die analogische Mehrdeutigkeit des Wortes<br />

kommt auch daher, dass es unmöglich ist, dass ein Wort als Sprachzeichen zweimal in demselben<br />

syntaktischen, semantischen und pragmatischen Kontext erscheint. Dies findet einen<br />

radikalen Ausdruck in der Definition der Wortbedeutung im Spätwerk von Ludwig Wittgenstein,<br />

wo es heisst, dass Bedeutung des Wortes sein Gebrauch im Text ist (Wittgenstein 1989: § 43).<br />

Die Mehrdeutigkeit der Zeichen ist Voraussetzung für die Fähigkeit der natürlichen Sprache,<br />

sich selbst zu thematisieren, sich zu sich selbst beziehen, über sich selbst auszusagen 16 . Ohne<br />

diese Fähigkeit wäre u.a. Linguistik kaum denkbar. Innerhalb der natürlichen Sprache kann ein<br />

Zeichen auf sich selbst verweisen, weil es mit sich selbst nie völlig identisch ist. Selbst Zeichen,<br />

die man für identisch hält, sind in gewissen Aspekten unterschiedlich, schon deshalb, weil sie<br />

nie in demselbem Kontext zweimal erscheinen können. Der analogische Gebrauch des Zeichens<br />

macht möglich, dass man mit der natürlichen Sprache über sie selbst sprechen kann. Weil das<br />

Zeichen als Bestandteil der natürlichen Sprache immer mehrdeutig ist (was heißt, dass es paradoxerweise<br />

mit sich selbst identisch und zugleich nicht identisch ist 17 ), bildet die Metasprache<br />

ein Bestandteil der natürlichen Sprache (vgl. Geert 1991: S. 598-590).<br />

Man beachte noch einmal das Beispiel der logisch unsinnigen Selbstreferenz des Kreters:<br />

was sich im Bezug auf eine Maschine, die nichts von einer kontexthaften Lebenswelt weiß, als<br />

kontadiktorisch und fehlerhaft erweist, kann für einen Menschen verständlich sein (Weisgerber<br />

1973). Die natürliche Sprache ist vom Menschen und seinen verschiedenen Lebenssituationen —<br />

13<br />

"Wir erlernen die meissten ‘Wortinhalte’ nicht bewusst, erst recht nicht kraft einer Definition; vielmehr ist gerade<br />

das die wunderbare Leistung der Sprache, dass unter ihrem Einfluss dieses Wissen unbewusst heranwächst (...)".<br />

(Weisgerber 1929: 29-30)<br />

14<br />

Wie oben gezeigt wurde, ist die Situation dadurch kompliziert, dass es diese Bedeutungen ohne Zeichen, die auf sie<br />

verweisen, gar nicht gibt. Sie sind mit Zeichen von vornherein synthetisch verbunden ("verschmolzen"), so dass man<br />

sagen kann, dass die Zeichen die Bedeutungen, auf die sie verweisen, überhaupt entstehen lassen.<br />

15<br />

Zitat nach Bocheński, J.M.: Formale Logik, Freiburg — München 1956, S. 64f.<br />

16<br />

Roman Jakobson nennt diese Fähigkeit metasprachliche Funktion der Sprache (Jakobson 1971).<br />

17<br />

Dies hat vor allem in der französischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jhs zu sehr aufschlussreichen Ansätzen<br />

geführt (J. Derrida, G. Deleuze u.a.), was kann im Text, der sich grundsätzlich auf sprachwissenschaftliche Semiotik<br />

konzentriert, nicht berücksichtigt werden. Eine zugängliche Einführung in diese Problematik mit entsprechender<br />

Bibliographie findet der Leser z.B. in V. Descombes: Le méme et l'autre, Paris 1979 oder J. Habermas: Der philosophische<br />

Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985.<br />

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Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

also Kontexten — nicht wegzudenken, sie ist auch, wie oben gesagt, immer mit spontan wahrgenommenen<br />

axiologischen Inhalten verbunden. Es ist deswegen nicht schwer, sich einen Kreter<br />

vorzustellen, den einige seiner Landsleute betrogen haben, worauf er verzweifelt ausruft, alle<br />

Kreter seien Lügner. — Aussage, die innerhalb der exakten, kontextfreien Sprache sinnlos ist,<br />

kann innerhalb der natürlichen Sprache einen Sinn haben, und zwar deshalb, dass dank der<br />

Mehrdeutigkeit der natürlichen Sprache (des "weichen" Kodes) der aussagende Kreter mit den<br />

Kretern, über die ausgesagt wird, nur teilweise identisch ist.<br />

Natürliche Sprache ist "hart" genug (also: eindeutig genug), um die Kommunikation überhaupt<br />

möglich zu machen, gleichsam ist sie "weich" genug (also: mehrdeutig genug), um die<br />

Reflexivität zu sichern, die in ihrer Analogie, also im metaphorischen Reichtum der sprachlichen<br />

Begriffe gründet. Innerhalb der natürlichen Sprache ist die Exaktheit graduierbar: in Fachsprachen<br />

haben wir mit stärkerer Eindeutigkeit, in der Sprache der Poesie haben wir wiederum<br />

mit stärkerer Mehrdeutigkeit zu tun. Die Regeln für die Herstellung der Verbindungen zwischen<br />

Sprachzeichen und ihren Bedeutungen — also die Regeln der Textinterpretation — sind in der<br />

Sprache der Poesie am meisten vage und kontextgebunden. Je stärkere Mehrdeutigkeit, desto<br />

mehr Aufwand bei der Entschlüsselung, und umgekehrt: da, wo der Kode eindeutig festgesetzt<br />

ist, bedarf es keiner Entschlüsselung — alles ist exakt vorgegeben (Giraud 1974: 31-33).<br />

Im Zusammenhang damit ist darauf hinzuweisen, was oben über die Indexikalität der Zeichen<br />

gesagt wurde: in der Sprache der Poesie fällt die Deutung der Zeichen am schwersten, weil<br />

die Regeln, nach denen den Zeichen entsprechende Bedeutungen zugeordnet werden, oftmals in<br />

Gestalt schlaffer Indizien auftreten. Deswegen muss bei der Interpretation eines poetischen<br />

Textes nach Bedeutungen gesucht werden. Wie oben betont, besteht der Unterschied zwischen<br />

dem Lesen und dem Interpretieren darin, wieviel Aufwand und Erfindungskraft die Suche nach<br />

Bedeutungen, die von den Zeichen repräsentiert werden, fordert. Dies gilt auch für die<br />

elementarste Ebene: wenn man sich an den Anfang seiner Schuljahre erinnert, erinnert man sich<br />

daran, dass man die Sätze in der Fibel am Anfang mehr "interpretierte" als las, und dass im<br />

Laufe der Zeit, wo sich die Lesefähigkeit stärker entwickelte (also: wo die Regeln der Zuordnung<br />

der Bedeutungen zu entsprechenden Sprachzeichen besser eingeübt wurden), "Interpretieren" in<br />

Lesen überging.<br />

5. Dyadisches Zeichenmodell (Ferdinad de Saussure)<br />

Ferdinand de Saussure gilt als Begründer der strukturellen Linguistik und dadurch als Begründer<br />

der modernen Sprachwissenschaft. Seine Ansichten an das Wesen des Sprachzeichens<br />

und an die Sprache als Zeichensystem sind im Cours de linguistique générale (deutsch: Grundfragen<br />

der allgemeinen Sprachwissenschaft) enthalten, das, nachdem es nach Saussures Tode<br />

von seinen Studenten verfasst worden war, im Jahre 1916 erschien. In diesem Werk wird der<br />

Bedarf geäußert, eine Wissenschaft, die Beschaffenheiten der Zeichen erforschen würde, ins<br />

Leben zu rufen, die er Semiologie 18 nannte und Linguistik als ihre Teildisziplin betrachtete, und<br />

zwar deshalb, weil es neben der Sprache auch andere Zeichensysteme gibt.<br />

Nach Ferdinand de Saussure ist das Zeichen (frz. "signe") eine Einheit von zwei unteilbar<br />

verbundenen Elementen, und zwar von dem signifiant (dem Bezeichnenden) und dem signifié<br />

(dem Bezeichneten). So z.B. beinhaltet das Sprachzeichen Baum zwei innerlich verbundene,<br />

zusammen "verschmolzene" Elemente: das Lautbild (signifiant) und den Begriff (signifié). Den<br />

Begriff, der in der gegenwärtigen Semiotik auch Kategorie oder Konzept genannt wird (vgl.<br />

18 Sémiologie funktionierte lange im romanischen Sprachraum im gleichen Sinne wie semiotics im angloamerikanischen<br />

Sprachraum, wobei jede Bezeichnung auf ihre eigene Tradition verwies. In der letzten Zeit, wo sich diese ursprünglich<br />

unterschiedlichen Ansätze einander immer mehr nähern, verliert der Gebrauch von zweierlei Bezeichnungen<br />

seine Begründung, so dass im Französischen Sémiologie immer öfter durch Sémiotique ersetzt wird.<br />

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477


Jan Kajfosz<br />

Barthes 1997: 119), ist vereinfacht gesagt, das Bild des Baumes, das in unserem Bewusstsein<br />

funktioniert, oder auch unsere Vorstellung von einem typischen Baum — auch Prototyp genannt<br />

19 . Das Lautbild ist ein erkennbares Schallphänomen, das mit einer rein physikalischen<br />

Erscheinung nicht gleichzusetzen ist. Oben haben wir ausgeführt, dass an jedem wahrgenommenen<br />

Konkreten das Allgemeine seinen Anteil hat — dies gilt auch für erkennbare "pure"<br />

Laute und Geräusche 20 . Selbst wenn wir nicht verstehen, was arbor ist, erkennen wir das<br />

Fremdwort als identisch, auch wenn es durch unterschiedliche Personen ausgesprochen wird.<br />

Was physikalisch gesehen nicht identisch ist — schon deswegen, dass jeder eine andere Stimme<br />

hat und es auch teilweise anders artikullieren kann — ist wahrnehmungsgemäß eine identische<br />

akustische Erscheinung, ein erkennbares Fremdwort (vgl. Giraud 1974: 37-38). Wenn wir dann<br />

verstehen lernen, was "arbor" ist (es ist lateinische Bezeichnung für Baum), gesellt sich zu dem<br />

Lautbild der entsprechende Begriff: es gesellt sich die Vorstellung eines typischen Baumes zu<br />

dem früher unbekannten Wort, so dass ein neues Sprachzeichen entsteht. Dieses Zeichen wird<br />

dann aus zwei untrennbar verbundenen Elementen bestehen: aus einer akustischen Ausdrucksform<br />

(signifiant, das Bezeichnende) und aus einem Begriff (signifié, das Bezeichnete). Diese<br />

Elemente können sich gegenseitig hervorrufen und sind miteinander untrennbar verbunden wie<br />

zwei Seiten eines Blattes Papier, so dass sie nur in der Abstraktion voneinander getrennt werden<br />

können.<br />

De Saussure gebraucht das Bezeichnete im anderen Sinne als wir es bisher gemacht haben:<br />

für uns war das Bezeichnete eine Erscheinung innerhalb unserer Lebenswelt. Das Bezeichnete<br />

war für uns etwas sinnlich Wahrnehmbares, etwas, dem wir in der Welt begegnen, selbst wenn<br />

— wie oben betont wurde — an dem Wahrnehmbaren von vornherein unsere Begriffe teilhaben<br />

21 . Für F. de Saussure ist die Zeichenrelation lediglich eine Relation zwischen dem Begriff<br />

und seiner akustischen Ausdrucksform, das Problem der Relation zwischen dem Begriff und<br />

Sachverhalten in der Welt wird hier nicht in Betracht gezogen. Die Eigenart der Beziehung<br />

zwischen dem Begriff BAUM und einem konkreten Baum wird in der Saussures Zeichenkonzeption<br />

außer Acht gelassen (Culler 1993: 86-89, Kalaga 2001: 75). Da in der Struktur des<br />

Zeichens bloß der Begriff und seine Ausdrucksform berücksichtigt werden, sprechen wir in<br />

seiner Theorie von der dyadischen Zeichenkonzeption.<br />

F. de Saussure brachte in die Linguistik Differenzierung zwischen der Sprache (langue) und<br />

dem Sprechen (parole) hinein. Unter Sprache versteht er das Sprachsystem, also die Menge aller<br />

Einheiten der Sprache und der Regeln ihrer Anwendung. Unter Sprechen versteht er die hergestellten<br />

Texte als Realisation des Sprachsystems. Anders gesagt: langue ist unsere Kompetenz<br />

zum Sprechen, parole ist das Gesprochene. In der gegenwärtigen Semiotik wird dieser Unterschied<br />

oft als Unterschied zwischen dem abstrakten Kode (vgl. oben) und dem Text als einer<br />

konkreten Sequenz der Zeichen dargestellt. Beide dieser Aspekte der Sprache können bloß in der<br />

Abstraktion voneinander getrennt werden: in jedem Text, den wir als Text verstehen, ist von<br />

vornherein sein Kode anwesend, sowie in jedem Zeichen von vornherein das ganze Zeichensytem<br />

anwesend ist. Manchmal ist es auch schwer zu entscheiden, was zum Sprachsystem (langue),<br />

und was zum Text (parole) gehört: Texte, die im Laufe der Zeit zum Klischee werden (wie z.B.<br />

19 Wir müssen unterscheiden zwischen den Vorstellungen von unseren eigenen Begriffen, die wir in Reflexion gewinnen,<br />

und den Begriffen selbst, die in unserem Bewusstsein funktionieren, zumindest deshalb, dass wir in der Reflexion<br />

nicht alle Aspekte unserer Begriffswelt uns vor Augen führen können.<br />

20 Dies führte bei dem dänischen Sprachwissenschaftler Louis Hjelmslev (1899-1963) zur noch eingehender Einteilung<br />

der Elemente des Zeichens (siehe L. Hjelmslev: Prolegomena to a Theory of Language, Bloomington 1953).<br />

21 Die Metapher von zwei Seiten eines Blattes Papier ist sehr aufschlussreich im Bezug darauf, dass wir, wie gesagt,<br />

nichts Konkretes ohne das Allgemeine (oder Kategoriale) wahrnehmen können, ebenso wie es keine Seite des Blattes<br />

Papier ohne die andere gibt.<br />

478<br />

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Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

Sprichwörter) und dadurch in das Sprachsystem eindringen, werden zu Bestandteilen des Kodes<br />

(vgl. Barthes 1997: 89-98, Culler 1993: 29-34).<br />

Nach F. de Saussure ist das Sprachzeichen als Einheit des Sprachsystems allein auf das<br />

Sprachsystem zurückzuführen, weil der Wert des Zeichens bloß durch Differenzen zu Werten<br />

anderer Einheiten gegründet ist (Saussure 1996: 137, 144-148). Primär ist hier das System der<br />

Differenzen, sekundär sind die Sprachzeichen, die durch diese Differenzen gesetzt werden. Anders<br />

gesagt: es gibt keine Identität des Sprachzeichens ohne Unterschiede zu anderen Sprachzeichen<br />

im Rahmen des Sprachsystems. Das Sprachzeichen wird dadurch allein durch das<br />

Sprachsystem, das es entstehen lässt, gebildet. Damit hängt die These zusammen, dass das<br />

Sprachzeichen arbiträren Charakter hat, so dass es keine notwendige Verbindung zwischen dem<br />

Bezeichnendem (signifiant) und dem Bezeichnetem (signifié) besteht (Saussure 1996: S. 98-99).<br />

Anders gesagt: das Sprachzeichen als Element des Sprachsystems ist keinesfalls dadurch<br />

bestimmt, zu dem es sich in der realen Welt bezieht, es ist allein durch das Sprachsystem<br />

bestimmt. Wenn aber den Unterschieden zwischen einzelnen Wörtern Unterschiede zwischen<br />

einzelnen Erscheinungen in der Welt, die durch die Wörter bezeichnet werden, entsprechen,<br />

heißt das, dass unser Sprachsystem die Lebenswelt an einzelne Erscheinungen aufteilt, so dass<br />

man annehmen müsse, die Welt wird durch unsere Muttersprache "gebildet" (Culler 1993: S.19-<br />

29). Die Sprache und alle anderen natürlichen semiotischen Systeme (die Kultur) haben tatsächlich<br />

das Vermögen, die Gestalt der von dem Menschen wahrgenommenen Welt zu prägen.<br />

Nehmen wir ein Beispiel: im Farbenspektrum übergehen die Farben ineinander, so dass das<br />

Spektrum die Gestalt des farbigen continuum hat. Damit man über die einzelnen Farben sprechen<br />

kann, müssen sie eingeteilt, also voneinander getrennt werden — es müssen in das Spektrum<br />

Differenzen eingeführt werden 22 . Wir nehmen dann solche Farben wahr, wie es unser arbiträres<br />

Sprachsystem will: ein Abschnitt des Farbenspektrums, der in der Sprache Tsonga eine<br />

einzige Farbe bildet, ist im Englischen in orange, red (rot), pink (rosa) und purple (lila) aufgeteilt.<br />

Wenn im Englischen eine neue Benennung für einen Teil dieses Spektrums — also eine neue<br />

Farbe — auftauchen würde oder, im Gegenteil, in Vergessenheit geraten wäre, würden sich die<br />

Werte der restlichen Farben verändern, und zwar deswegen, dass dadurch das ganze System der<br />

Differenzen, das die einzigen Werte der Farben entstehen lässt, in Bewegung gesetzt wäre. Das<br />

muss jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass es in der Welt gar keine Farben mit intersubjektiver<br />

Geltung gibt oder dass verschiedene Sprachen völlig inkomparable "Farbenwelten" entstehen<br />

lassen: es gibt Beweise, dass sich Sprecher unterschiedlicher Sprachsysteme an bestimmten<br />

Farben dennoch gut einigen können, wie etwa an der Farbe des Blutes, der Milch oder der Holzkohle,<br />

also an Farben der Erscheinungen, die für alle Sprach- und Kulturgemeinschaften mehr<br />

oder weniger verbindlich sind (Taylor 2001: 25-38, vgl. Culler 1993: 23-29).<br />

Obwohl Saussures Thesen über Systemhaftigkeit und Arbitrarität der Zeichen die Linguistik,<br />

sowie auch andere Humanwissenschaften, von Grund auf veränderten, sind sie für manche<br />

Sprachwissenschaftler und Semiotiker zu radikal, und zwar deswegen, dass sie der Tatsache<br />

widersprechen, dass die Sprachzeichen von der Beschaffenheit der Welt, zu der sie sich beziehen,<br />

müssen mindestens teilweise abhängig sein. Die Zeichenlehre von F. de Saussure hat<br />

jedoch zur Folge, dass die Welt wie ein völlig willkürliches Sprachbebilde eingesehen wird 23 .<br />

Dieser extremen Konsequenz liegt die dyadische Konzeption des Zeichens zu Grunde, die die<br />

22 Solche Einteilung wird in der Semiotik Taxonomie genannt.<br />

23 Die Problematik des Weltbezugs der sprachlichen Zeichen wird in der Zeichenkonzeption von F. de Saussure als<br />

These über die Motivierung der Zeichen aufgenommen, sie hat jedoch in seinem Zeichenmodell keinen Niederschlag<br />

gefunden und ist nur fragmentarisch aufgearbeitet, deshalb ist sie unter Sprachwissenschaftlern und Semiotikern bis<br />

heute umstritten.<br />

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Jan Kajfosz<br />

Frage nach der Relation der Sprachzeichen zu Erscheinungen innerhalb der Welt nicht einbezieht.<br />

Viele Nachfolger von de Saussure versuchten die radikalen Schlüsse, die aus seiner<br />

Zeichenlehre hervorgehen, zu mäßigen, wie z.B. die Darsteller der sog. "Wortfeldtheorie" oder<br />

der inhaltbezogenen Sprachwissenschaft in Deutschland (Jost Trier, Walter Porzig, Leo Weisgerber<br />

u.a.). Unter gegenwärtigen Semiotikern der strukturalistischen Tradition wird in der Regel<br />

angenommen, dass die Frage nach dem arbiträren — also willkürlichen — Charakter der Sprache<br />

oder der Kultur, und dadurch nach der Relativität der von einzelnen Sprachen geprägten<br />

Lebenswelten, keine Entscheidungsfrage ist, die mit "ja" oder "nein" zu beantworten wäre. Es ist<br />

vielmehr eine Frage nach dem Maß und Grad der Arbitrarität (Culler 1993: 86-89, Giraud 1974:<br />

33-35, Giraud 1976: 24-29).<br />

6. Triadisches Zeichenmodell (Charles S. Peirce)<br />

Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839-1914) wird als Schöpfer der gegenwärtigen<br />

Semiotik betrachtet. Bei ihm hat ihren Ursprung die Definition des Zeichens (mit<br />

der wir uns am Anfang beschäftigt haben), die These vom kontextuellen Charakter des Zeichens,<br />

sowie auch Begriffe, wie Semiose, Abduktion und viele andere, ohne die die gegenwärtige Semiotik<br />

kaum vorstellbar wäre. Ch.S. Peirce entwickelte ein Zeichenmodell, das nicht aus zwei —<br />

wie bei F. de Saussure — sondern aus drei Gliedern besteht. Im Gegensatz zu Saussures Modell<br />

beinhaltet das Modell von Peirce das Objekt in der realen Welt, auf das sich das Zeichen bezieht.<br />

Das hängt damit zusammen, dass Ch.S. Peirce nicht der Überzeugung ist, dass alle Zeichen ausschließlich<br />

arbiträr sind. Die Konzeption eines dreistelligen Zeichenmodells tauchte in vielen<br />

nachfolgenden Theorien immer wieder auf, wie z.B. in der Zeichentheorie von K. Bühler (1879-<br />

1963) 24 oder von C.K. Ogden und I.A. Richards 25 .<br />

Peirce unterscheidet in der Struktur des Zeichens drei Elemente, die untereinander so eng<br />

verbunden sind, dass die Anwesenheit von jedem von ihnen die notwendige Voraussetzung dafür<br />

ist, dass etwas als Zeichen funktionieren kann (Peirce Vol.3: SS. 77, 82):<br />

1. Das Repräsentamen ist der Zeichenträger, also das, was etwas anderes repräsentiert (vergleichbar<br />

mit Saussures signifiant). Peirce beachtet dabei nicht nur Schallphänomene, wie es bei<br />

de Saussure der Fall ist. Zeichenträger sind bei ihm auch visuelle Phänomene, wie geschriebene<br />

Wörter oder etwa Verkehrsschilden. Für Zeichenträger hält er auch die durch andere Sinne<br />

wahrgenommenen Phänomene, die die Fähigkeit haben, etwas anderes zu repräsentieren, also<br />

hervorrufen (z.B. der verspürte Veilchenduft erinnert mich an meinen Garten). Als Zeichenträger<br />

gelten auch pure Gedanken, die andere Gedanken hervorrufen können (z.B. der Gedanke an<br />

meinen Garten ruft den Gedanken an Wasser hervor, weil ich mir dadurch bewusst mache, dass<br />

es schon lange nicht geregnet hat). Sofern gilt jeder Gedanke als Zeichen für einen anderen Gedanken,<br />

dank dem er verstanden und interpretiert wird (Peirce Vol. 2: SS. 163, 224; Vol. 3: S. 83).<br />

Peirce unterscheidet zwischen dem Token des Zeichens (dem Exemplar des Zeichens) und<br />

dem Typ des Zeichens. Jeder Token ist individuelles "Anwendungsereignis" eines Typs: z.B. arbor<br />

ausgesprochen durch verschiedene Leute, die verschiedene Stimmen haben, ist Exemplifizierung<br />

(oder: Anwendung) eines einzigen Typs — eines Zeichenträgers (vgl. mit Saussures Unterscheidung<br />

zwischen einer rein physikalischer Erscheinung und dem Lautbild). Dies betrifft auch<br />

graphische (sowie auch alle anderen Zeichen): jedesmal, wenn in diesem Text das graphische<br />

Zeichen "arbor" vorkommt, haben wir mit einem Token eines Typs zu tun 26 .<br />

24 Bühler, K.: Sprachtheorie, Jena 1934<br />

25 Ogden, C.K. — Richards, I.A.: The Meaning of Meaning, London 1923<br />

26 Mit anderen Worten: Token ist eine konkrete Realisation des allgemeinen Typs. Vgl. mit der oben erwähnten These,<br />

dass an jedem Konkreten von vornherein das Allgemeine (oder: das Kategoriale) seinen Anteil hat.<br />

480<br />

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Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

2. Das Objekt ist der Gegenstand, der durch ein Zeichen repräsentiert wird. Anders gesagt:<br />

das Objekt ist das, zu dem sich ein Zeichen bezieht. Ein Zeichen kann sich zu einem materiellen<br />

Gegenstand in der "realen" Welt beziehen, es kann sich aber auch zu einem rein intentionalen<br />

Gegenstand beziehen, den es nur in unseren Gedanken gibt (z.B. das Wort "Zwerg" bezieht sich<br />

zu einer Vorstellung von einem Zwerg, die ein Ergebnis unserer Imagination ist). Peirce unterscheidet<br />

zwischen zweierlei Objekten: dem unmittelbaren Objekt, das das Objekt ist, wie das<br />

Zeichen selbst es repräsentiert (sofern ist sein Sein von dem Zeichen abhängig), und dem dynamischen<br />

Objekt, das das Objekt selbst ist, unabhängig von dem Zeichen. Das dynamische Objekt<br />

ist außerhalb der Semiose, obwohl er der Semiose Ansporn gibt: z.B. das unmittelbare Objekt<br />

wäre die wahrgenommene rote Farbe, die von dem Sprachzeichen "rot" abhängt; das dynamische<br />

Objekt wäre wiederum die rote Farbe "an sich", also die rote Farbe bevor sie als solche<br />

überhaupt wahrgenommen und als rot erkannt wird. Dank der Wirkung des dynamischen Objektes<br />

können wir dann so etwas wie rote Farbe überhaupt wahrnehmen. Alles, was wahrgenommen<br />

wird, sind nur unmittelbare Objekte (vgl. mit der These, dass jeder menschliche<br />

Weltbezug einen Zeichencharakter hat).<br />

3. Der Interpretant ist die Bedeutung oder der Sinn des Zeichens, also alles, was das Zeichen<br />

im Bewusstsein eines Zeichenbenutzers oder Interpreten hervorruft (vergleichbar mit Saussures<br />

signifié). Jeder Interpretant ist nicht nur Bedeutung eines Zeichens, es ist selbst ein Zeichen, der<br />

seinen Interpretanten hat, der, als Zeichen, wiederum seinen Interpretanten hat und so weiter:<br />

z.B. um sich die Bedeutung des Wortes "Baum" bewusst machen zu können, brauche ich zu<br />

wissen, was "wachsen" ist, was "Wurzeln", "Stamm", "Blätter", "Äpfel" oder etwa andere Begriffe<br />

sind. Die Bedeutungen dieser Begriffe werden durch andere Begriffe klargemacht und so<br />

weiter ad infinitum.<br />

Wenn keine Wahrnehmung und kein Denken ohne Zeichen möglich ist (siehe oben), so dass<br />

jede Wahrnehmung und jedes Denken kann als Semiose betrachtet werden, gilt das auch für<br />

Verstehen der Bedeutung eines Zeichens: jede Bedeutung wird durch andere Bedeutungen, und<br />

dadurch durch andere Zeichen, verstanden und erklärt. (Wir können nicht über unsere eigenen<br />

Gedanken nachdenken, ohne dabei Zeichen zu gebrauchen.) Sofern kann jedes Zeichen nur<br />

mittels anderer Zeichen interpretiert werden. Anders gesagt: die Bedeutung eines Zeichens sind<br />

andere Zeichen, in die das Zeichen übersetzt wird (Peirce Vol. 2: S. 225, Vol. 3: S. 76). Somit ist<br />

die Semiose eine unendliche Interpretation. Es ist ein Zeichenprozess ohne Anfang und Ende, bei<br />

dem die einen Zeichen die anderen zu interpretieren helfen. Dabei gilt es, dass jede Bedeutung<br />

die Möglichkeit der unendlichen Übersetzung eines Zeichen in ein anderes ist (Buczyńska-<br />

Garewicz 1965: S. 34). Damit hängt auch die Tatsache zusamen, dass es ein Zeichen nur innerhalb<br />

eines Zeichensystems geben kann, in Umgebung anderer Zeichen, mittels der er verstanden<br />

und erklärt wird. Die Zeichen haben in diesem Sinne kontextuellen Charakter.<br />

Die Konzeption des Zeichensystems als Kontextes, wo nicht die negativen (Differenzen),<br />

sondern die positiven Relationen zwischen Zeichen betont werden (Kalaga 2001: 75), ist einer<br />

der Momente, der zur Neubewertung der Unterscheidung zwischen dem Kode und dem Text<br />

führte, die auf Saussures Unterscheidung zwischen langue und parole zurückzuführen ist. Die<br />

gegenwärtige Sprachsemiotik widmet ihre Aufmerksamkeit gegenseitigen Verbindungen und<br />

Beeinflussungen zwischen langue und parole. Es wird hier oft von Diskurs (discourse) gesprochen,<br />

mit dem dynamische Struktur gemeint wird, die sowohl Kodes als auch Texte, sowie<br />

die gegenseitigen Beeinflussungen unter ihnen, umfasst 27 .<br />

27 vgl. van Dijk, T.A. 1985, van Dijk, T.A. 1998<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

481


Jan Kajfosz<br />

7. Einteilung der Zeichen nach der Beziehung zu ihrem Objekt<br />

Nach Peirce gibt es Zeichen, die keine offensichtlichen Zusammenhänge mit den von ihnen<br />

repräsentierten Objekten aufweisen, aber auch Zeichen, wo es solche Zusammenhänge gibt. Je<br />

nachdem ob es ein Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem von ihm repräsentierten<br />

Objekt besteht, und je nachdem, welche Form dieser Zusammenhang hat, teilt er alle Zeichen in<br />

drei Gruppen ein:<br />

1. Indexe (verweisende Zeichen) sind Zeichen, die in einer direkten Beziehung zu den von ihnen<br />

repräsentierten Objekten stehen. Diese Beziehung kann physikalisch-kausal sein: z.B. Pfützen<br />

verweisen auf Regen, weil Pfützen in der Regel von dem Regen verursacht werden; Rauch<br />

verweist auf Feuer, weil Rauch in der Regel von dem Feuer verursacht wird; Schneuzen ist ein<br />

Anzeichen (ein Symptom) von Schnupfen (oder: Schneuzen verweist auf Schnupfen), weil jeder,<br />

der Schnupfen hat, schneuzt. Indexikalische Zeichen haben weniger arbiträren und mehr objektiven<br />

Charakter, weil es sich um naturbedingte Folgen bestimmter Ursachen handelt, auf die sie<br />

verweisen.<br />

2. Ikonen (abbildende Zeichen) sind Zeichen, die zu den von ihnen repräsentierten Objekten<br />

in einer Ähnlichkeitsbeziehung stehen. Ähnlichkeit kann visuell sein, wie es bei Fotografien und<br />

grafischen Abbildungen der Fall ist, sie kann akustisch sein, wie onomatopöisches Wiedergeben<br />

von Schallphänomenen (z.B. wau-wau für Bellen, miau-miau für Miauen usw.), sie kann auch<br />

rein konzeptuell (oder: kategorial) sein, wie es bei Metaphern der Fall ist (vgl. Lakoff-Johnson<br />

1980). Wenn jeder Semiose Urteilen zu Grunde liegt, heißt das, dass jedes Erkennen von einer<br />

Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Zeichen und seinem Objekt das Schließen aus dem einen<br />

auf das andere voraussetzt. Deswegen müssen auch Ikonen im gewissen Grade indexikalischen<br />

Charakter haben: auch die Beziehung eines Fotos zu der Person, die es repräsentiert, ist etwas<br />

Erfahrenes und nicht etwas "An-sich-gebendes". Ikonizität ist in dem Sinne kein absolutes, sondern<br />

ein relatives Phänomen — man kann verschiedene Grade von Ikonizität annehmen: ein gemaltes<br />

Portrait ist seinem Objekt in der Regel weniger ähnlich als ein Foto, und eine Karikatur<br />

noch weniger. Jede Ähnlichkeit hat Erfahrungscharakter, weil sie als Ähnlichkeit erkannt werden<br />

muss. An unserer Erfahrung beteiligen sich dabei unsere sprach- und kulturbedingte Erkennungsgewohnheiten<br />

(habits) (Sebeok 2000: 90-109). Wenn Ikonizität immer durch Zeichensysteme<br />

wie Sprache und Kultur bedingt ist, heißt das, dass sie im bestimmtem Grade selbst<br />

arbiträr oder konventionell — ebenso wie diese Zeichensysteme — sein kann. Dafür gibt es<br />

interessante antropologische Beweise: wie z.B. ein Fall der Afrikanerin, die am schwarzweißen<br />

Foto von ihrem Sohn gar nichts erkennen konnte. — Sie war nicht daran gewöhnt, sich Fotos<br />

anzusehen, deshalb verfügte sie nicht über den entsprechenden Kode (über entsprechende<br />

Regeln), nach dem man aus Merkmalen eines Foto auf das von ihm repräsentierte Objekt, also<br />

auf ihren Sohn, schliessen könnte 28 . Es gbt also keine Ähnlichkeit "an sich". Es gibt bloß<br />

wahrgenommene Ähnlichkeit, der die Semiose und zusammen mit ihr Urteilen zu Grunde liegt<br />

(Kalaga 1997: S. 111-114).<br />

3. Symbole (konventionelle Zeichen) sind Zeichen, die keinerlei Ähnlichkeit oder objektiv gegebene<br />

Beziehung zu dem von ihm repräsentierten Objekt aufweisen. Symbole sind in dem Sinne<br />

völlig arbiträr und rein konventionell. In einer symbolischen Beziehung zu ihrem Objekt steht die<br />

Mehrheit der Sprachzeichen, aber auch z.B. Zahlen, Nationalflaggen, manche Firmenlogos usw.<br />

Symbole verlangen die höchste Abstraktionsleistung. Das bedeutet nicht, dass das Urteilen aus<br />

dem Zeichen auf seine Bedeutung anspruchsvoll sein muss. Wenn der Kode, der die gegenseitige<br />

28 Melville J. Herskovits: Art and Value in: R. Redfield, M.J. Herskovits, G.F. Ekholm, (eds): Aspects of Primitive Art, New<br />

York 1959, S. 42-97<br />

482<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

Zuordnung von Zeichen und ihren Objekten regelt, einmal gut erlernt, also eingeübt wird, erfolgt<br />

die Zuordnung mehr oder weniger "automatisch" — aus Gewohnheit. Man ordnet dem<br />

akustischen Lautzeichen ‘Baum’ seine Bedeutung zu, ohne das Gefühl zu haben, man schließt<br />

aus etwas auf etwas, weil man es gewöhnt ist. Ebenso ordnet man dem visuellen Zeichen, das<br />

aus drei Streifen an einer Sportjacke besteht, die Marke Adidas zu, ohne zu merken, dass man<br />

gerade ein Urteil vollzogen hat.<br />

8. Primäres und sekundäres Zeichensystem<br />

Oben haben wir erwähnt, dass sowohl Sprache als auch Kultur als Zeichensysteme betrachtet<br />

werden können. Es handelt sich dabei um zwei ineinandergreifende Systeme, so dass<br />

sie nur in der Abstraktion voneinander getrennt werden können (Lotman — Uspienski 1975:<br />

179). Da jeder Kultur eine Sprache zu Grunde liegt, wird die Sprache als primäres semiotisches<br />

System betrachtet, die Kultur wiederum als sekundäres semiotisches System. Diese<br />

Unterscheidung wurde durchgeführt von Jurij Lotman (1922-1993) und anderen Mitgliedern der<br />

semiotischen Schule von Moskau und Tartu, die sich um die in Tartu herausgegebene Zeitschrift<br />

Trudy po znakovym sistemam konzentrieren. Die Unterscheidung zwischen dem primären und<br />

dem sekundären semiotischen System wird gegenwärtig eher heuristisch begründet: Sprache<br />

und Kultur sind zwei innerlich verbundene Zeichensysteme, die man voneinander trennt, um sie<br />

besser erfassen zu können: es geht um keinen "objektiv" gegebenen Unterschied. Das primäre<br />

und das sekundäre semiotiche System — sowie alle ihren Subsysteme — bilden in der<br />

Wirklichkeit ein continuum, das von Lotman Semiosphäre genannt wurde (Lotman 1999: S.15)<br />

(vgl. mit dem Begriff Semiose von Ch. S. Peirce).<br />

Ähnlich sieht die Beziehung zwischen Sprache und Kultur der französische Semiotiker Roland<br />

Barthes (1915-1980), der sich u.a. mit der Art der Verbindung zwischen Sprache und Mythos,<br />

als einem Kulturgebilde, beschäftigt. Auch für ihn ist die Sprache das primäre semiotische<br />

System, das mit Mythos, den er für das sekundäre semiotische System hält, verbunden ist. Barthes<br />

zeigt, dass sich der Mythos des Sprachzeichens auf diese Weise bedient, dass er aus ihm ein<br />

Element größerer Bedeutungseinheit macht — ein Element von Mythos. Dies erfolgt so, dass ein<br />

Sprachzeichen, das ursprünglich eine Bedeutungseinheit von einem Bezeichnenden (signifiant1)<br />

und seinem Bezeichneten (signifié1) ist, als Ganzes zu einem Bezeichnenden höherer Ordnung<br />

(signifiant2) verwandelt wird, zu dem sich der Mythos als sein Bezeichnetes (signifié2) gesellt<br />

(Barthes 1970: 31-32). So ein Sprachzeichen, das von dem Mythos zu einem Bezeichnendem<br />

gemacht wird, verliert seine Eigenständigkeit dadurch, dass er uns eine zusätzliche Bedeutung<br />

vermittelt, auf die unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird. Sofern kann man mit Barthes sagen,<br />

dass der Mythos unsere Sprache "stiehlt" (Barthes 1970: S. 51-52).<br />

Nach Barthes wird das Sprachzeichen von dem Mythos zu einer bloßen Form (oder: zu einem<br />

blossen Zeichenträger) reduziert, die den Mythos repräsentiert. Dies betrifft nicht nur Sprachzeichen,<br />

sondern alle wahrnehmbaren Sachverhalte, Gegenstände und Vorgänge im Rahmen<br />

unsererer Lebenswelt, darunter Bilder und alle anderen graphischen Zeichen, Rituale usw. Dies<br />

erklärt er an Hand vielerlei Beispiele: ROSENSTRAUSS ist für ihn im Rahmen des primären<br />

semiotischen Systems eine selbstständige Bedeutungseinheit, im Rahmen des sekundären<br />

semiotischen Systems erfüllt sie jedoch die Repräsentationsfunktion gegenüber einer anderen<br />

Bedeutung, gegenüber dem GEFÜHL oder ZUNEIGUNG. ROSENSTRAUSS bedeutet also immer<br />

"mehr" als ein Bündel von Rosen (Barthes 1970: 29-30). Die Verbindung zwischen dem ROSEN-<br />

STRAUSS als Bezeichnendem (signifiant2) und dem GEFÜHL als Bezeichnetem (signifié2) hat<br />

dabei kulturellen Charakter. Sie ist auch mehr oder weniger konventionell und dadurch arbiträr:<br />

nicht in allen Kulturen werden GELIEBTE FRAUEN mit ROSEN beschenkt.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

483


Jan Kajfosz<br />

Die Thesen von Barthes über die Verbindung der Sprache mit Mythos — und dadurch mit der<br />

Kultur — weisen bedeutende Affinität mit der Peirces Auffassung von Semiose als einem kontinuierlichen<br />

Zeichenprozess und mit seiner Auffassung von der Kontextualität der Zeichen: das<br />

Wort AMPEL ruft in unserem Bewußtsein nicht nur die Vorstellung eines Gegenstands hervor,<br />

der durch das Wort gestellt wird, sondern auch STRASSE, KREUZUNG, AUTOS, STADT usw. Die<br />

Einsichten von Barthes hängen auch damit zusammen, was oben über Stereotype gesagt wurde:<br />

auch Stereotyp ist ein Wort, das uns neben seiner primären, "ursprünglichen" Bedeutung noch<br />

sekundäre, zusätzliche Bedeutungen vermittelt. Stereotyp ist somit ein Sprachzeichen, das im<br />

Rahmen eines sekundären semiotischen Systems gefangen ist: PITBULL verweist auf einen<br />

H<strong>UND</strong> bestimmter Rasse, aber gleichsam verweist er auf KAMPF, AGRESIVITÄT, REISSW<strong>UND</strong>EN,<br />

BLUT oder GEFAHR, weil es am meisten in der Umgebung dieser Begriffe erscheint (in den Medien).<br />

Die primäre, unmittelbare Bedeutung des Wortes wird Denotation genannt, die sekundäre,<br />

also zusätzliche oder begleitende Bedeutung wird Konnotation genannt. Denotation ist also die<br />

eigentliche Bedeutung, die durch die Definition des Wortes getroffen wird, Konnotation ist wiederum<br />

die Zusatzbedeutung, die von der Definition kaum oder nur zum Teil getroffen wird. Da<br />

die konnotativen Bedeutungen in der Regel nicht definiert — also bewusst gemacht — werden,<br />

ist es ziemlich schwer, sie zu erfassen 29 . Wenn es keine Sprachzeichen außer dem kulturellen<br />

Kontext gibt, gibt es im Rahmen der natürlichen Sprache keine konnotationslosen Sprachzeichen.<br />

Anders gesagt: jedes Sprachzeichen ist sowohl ein Bestandteil des primären semiotischen Systems,<br />

sowie auch des sekundären semiotischen Systems (Barthes 1997: 169-173, Kalaga 2001:<br />

184-187). Die Feststellung, dass jede denotative Bedeutung von konnotativen Bedeutungen begleitet<br />

wird, dass kulturell bedingte Vorstellungen von der Sprache nicht wegzudenken sind und<br />

dass Stereotype sowohl eine sprachliche, als auch eine kulturelle Erscheinung darstellen, ist<br />

nichts anderes als Anerkennung der Tatsache, dass Sprache und Kultur eine Einheit bilden, die<br />

man mit Worten von J. Lotman Semiosphäre oder mit Worten von W. von Humboldt Weltbild<br />

einer Sprache (siehe oben) nennen kann.<br />

Sprachzeichen und die von ihnen gebildeten Kontexte (darunter Mythen und Stereotype)<br />

können als Sedimente früherer menschlicher Erfahrungen und Erfindungen betrachtet werden,<br />

die unter Mitwirkung anderer Zeichenkontexte entstanden sind. Sofern beinhalten Zeichen die<br />

Spuren ihrer Vergangenheit (Weisgerber 1964: 186-191). Die Struktur der Sprache erinnert an<br />

Struktur einer archäologischen Ausgrabung, wo auf die ältesten und ursprünglichsten Schichten im<br />

Laufe der Zeit immer neue Schichten aufgelegt wurden, bis zu den neuesten Schichten, die sich<br />

gegenwärtig bilden und auflegen (Anusiewicz 1995: 57-58). Die Rekonstruierung von Weltbildern,<br />

die in Zeichensystemen wie Sprache und Kultur seine Spuren hinterlassen haben, erfordert<br />

komplizierte Interpretationsvorgänge, wo versucht wird, die ursprünglichen Bedeutungskontexte<br />

zu rekonstruieren (vgl. Foucault 1966).<br />

Der semiotische Ansatz findet in der Sprachwissenschaft seit den achtziger Jahren des 20.<br />

Jhs eine seiner einflussreichsten Fortsetzungen in der sog. kognitiven Linguistik, die sich mit<br />

Zusammenhängen zwischen Sprache und Kognitionsprozessen beschäftigt. Anders gesagt: kognitive<br />

Linguistik beschäftigt sich mit der Rolle der Sprache innerhalb der menschlichen Wahrnehmung.<br />

Sie ist auf die Voraussetzung zurückzuführen, dass es keinen wesentlichen Unterschied<br />

zwischen dem sprachlichen und aussersprachlichen Wissen gibt (Taylor 2001: 41). Das<br />

29 Selbst wenn man die konnotativen Bedeutungen des Wortes in seine Definition einbeziehen wollte, könnte man<br />

nicht alle Kontexte auflisten, in denen das definierte Wort erscheint — man könnte nicht alle möglichen Zusatzbedeutungen<br />

erfassen, auf die das definierte Wort verweisen könnte. In Wörterbüchern werden in der Regel nur die in<br />

der Kultur der betreffenden Sprachgemeinschaft am stärksten verankerten Konnotationen berücksichtigt.<br />

484<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Themenbereiche der gegenwärtigen Semiotik im Bezug auf den sprachlich-kulturellen Relativismus<br />

heißt nichts anderes als die oben gemachte Feststellung, dass der Mensch in der Welt der<br />

Zeichen (darunter Sprachzeichen) lebt, und dass sein Wahrnehmen und sein Handeln durch<br />

Zeichensysteme (darunter Sprache) vermittelt — und dadurch auch geprägt — wird.<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Anusiewicz, Janusz: Lingwistyka kulturowa, Wrocław 1995<br />

2. Apel, Karl-Otto: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce, Frankfurt am Main 1975<br />

3. Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, Bd 1, Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt am Main<br />

1991<br />

4. Barthes, Roland: Éléments de Sémiologie, Paris 1964 (englisch: Elements of Semiology, Noonday Press 1977,<br />

tschechisch: Základy sémiologie in: Kritika a pravda, Praha — Liberec 1997)<br />

5. Barthes, Roland: Mit i znak, Warszawa 1970<br />

6. Buczyńska-Garewicz, Anna: "Sign and Continuity", Ars Semeiotica 2, 1978<br />

7. Culler, Jonathan: Saussure, Harvest Press Limited 1976 (slowakisch: Saussure, Bratislava 1993)<br />

8. Deleuze, Gilles: A quoi reconnait on le structuralisme? in: François chatelet: La philosophie au XX. siécle 4 (slowakisch:<br />

Podľa čoho rozpoznáme štrukturalizmus?, Bratislava 1993)<br />

9. Derrida, Jacques: Texty k dekonstrukci, Bratislava 1993<br />

10. Descombes, Vincent: Le m me et autre, Paris 1979 (tschechisch: Stejné a jiné, Čtyřicetpět let francouzské<br />

filosofie (1933-1978), Praha 1995)<br />

11. van Dijk, Teun, ed.: Discourse as Structure and Process, London — Thousand Oaks — New Delhi 1998 (polnisch:<br />

Dyskurs jako struktura i proces, Warszawa 2001)<br />

12. van Dijk, Teun: Handbook of Discourse Analysis, London 1985<br />

13. Eco, Umberto: Kant and the Platypus, London 2000<br />

14. Eco, Umberto: La struttura assente, Milano 1991 (polnisch: Nieobecna struktura, Warszawa 1996<br />

15. Eco, Umberto: Mysl a smysl, Sémiotický pohled na svět, Praha 2000<br />

16. Eco, Umberto: Semiotics and the Philosophy of Language, The Macmillan Press Ltd 1984<br />

17. Foucault, Michel: archéologie du savoir, Paris 1969 (tschechisch: Archeologie vědění, Praha 2002)<br />

18. Foucault, Michel: Les mots et les choses, Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966 (slowakisch: Slová a<br />

veci, Archeológia humanitných vied, Bratislava 2000)<br />

19. Geert, Keil: Die Sprache in: Philosophie, Ein Grundkurs (E. Martens, H. Schnädelbach, eds.), Reibek bei Hamburg<br />

1991 (polnisch: Filozofia, Podstawowe pytania,Warszawa 1995)<br />

20. Giraud, Pierre: La Sémantique, Paris 1971 (polnisch: Semantyka, Warszawa 1976)<br />

21. Giraud, Pierre: La Sémiologie, Paris 1971 (polnisch: Semiologia, Warszawa 1974)<br />

22. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985<br />

23. Hawkes, Terrence: Structuralism and Semiotics, London 1992 (tschechisch: Strukturalismus a sémiotika, Brno<br />

1999)<br />

24. Heintel, Erich: Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 1991<br />

25. Jackendoff, Ray: Semantics and Cognition, London 1983<br />

26. Jakobson, Roman: Language in Relation to other Communication Systems, Selected Writtings, The Hague 1962-<br />

1971<br />

27. Kalaga, Wojciech: Nebulae of Discourse: Interpretation, Textuality and the Subject, Frankfurt am Main 1997<br />

(polnisch: Mgławice dyskursu, Kraków 2001)<br />

28. Krampen, Martin (Hg.): Die Welt als Zeichen, Klassiker der modernen Semiotik, Berlin 1981<br />

29. Lotman, Jurij M.: Kultura i eksplozja, Warszawa 1999<br />

30. Lotman, Jurij M. — Uspienskij, Boris A.: O Semiotičeskom mechanizme kuľtury, Trudy po znakovym sistemam 5<br />

(polnisch: O semiotycznym mechanizmie kultury in: Semiotyka kultury, E. Janus, M.R. Mayenowa, eds., Warszawa<br />

1975)<br />

31. Lotman, Jurij M.: Text a kultúra, Bratislava 1994<br />

32. Lotman, JurijM.: Universe of the Mind, A Semiotic Theory of Culture, London — New York 1990<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

485


Jan Kajfosz<br />

33. Lakoff, George — Johnson, Marc: Metaphors We Live, Chicago 1980 (polnisch: Metafory w naszym Ŝyciu, Warszawa<br />

1988)<br />

34. Lakoff, George: Women, Fire and Dangerous Things: What Categories Reveal about the Mind, Chicago 1987<br />

35. Marchewka, Feliks S.: Semiotyka, Zarys teorii i jej rozwoju, Kalwaria Zebrzydowska 1996<br />

36. Oehler, Klaus: Einführung in den semiotischen Pragmatismus in: Die Welt als Zeichen und Hypothese, Perspektiven<br />

des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce, U. Wirth. ed., Frankfurt am Main 2000<br />

37. Ogden, C.K. — Richards I.A.: The Meaning of Meaning, London 1923<br />

38. Pappe, Helmut: Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozess. Charles S. Peirces Entwurf einer spekulativen<br />

Grammatik des Seins, Frankfurt am Main 1989<br />

39. Pelc, Jerzy — Koj, Leon (eds.): Semiotyka dziś i wczoraj, Wybór tekstów, Wrorcław 1991<br />

40. Pelc, Jerzy: Wstęp do semiotyki, Warszawa 1984<br />

41. Peirce, Ch.S.: Writings of Charles S. Peirce, A Chronological Edition, Vol. 1: 1857-1866, Max Fisch, General Editor,<br />

Bloomington — Indiana 1982; Vol. 2: 1897-1871, E.C. Moore, Editor, 1984; Vol. 3: 1872-1878, Christian J. W.<br />

Kloesel, Editor, 1986<br />

42. Roesler, Alexander: Vermittelte Unmittelbarkeit. Aspekte einer Semiotik der Wahrnehmung bei Charles S. Peirce<br />

in: Die Welt als Zeichen und Hypothese, Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders<br />

Peirce, U. Wirth. ed., Frankfurt am Main 2000<br />

43. Saussure, Ferdinand: Cours de linguistique générale, Paris 1919 (deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft,<br />

Berlin 1967; englisch: Course in general Linguistics, London 1983; tschechisch: Kurs obecné lingvistiky,<br />

Praha 1996)<br />

44. Schwarz, Monika: Einführung in die Kognitive Linguistik, Tübingen 1992<br />

45. Sebeok, Thomas A.: Indexikalität in: Die Welt als Zeichen und Hypothese, Perspektiven des semiotischen Pragmatismus<br />

von Charles Sanders Peirce, U. Wirth. ed., Frankfurt am Main 2000<br />

46. Taylor, John R.: Linguistic Categorization, Prototypes in Linguistic Theory, Oxford 1995 (polnisch: Kategoryzacja w<br />

j zyku, Prototypy w teorii j zykoznawczej, Kraków 2001)<br />

47. Weisgerber, Leo: Die Zusammenhänge zwischen Muttersprache, Denken und Handeln in: Zur Grundlegung der<br />

ganzheitlichen Sprachauffassung, H. Gipper, ed., Düsseldorf 1964<br />

48. Weisgerber, Leo: Muttersprache und Geistesbildung, Göttingen 1925<br />

49. Weisgerber, Leo: Zweimal Sprache, Düsseldorf 1973<br />

50. Whorf, Benjamin L.: Language, Thought and Reality, New York 1956 (polnisch: Język, myślenie i rzeczywistość,<br />

Warszawa 1982)<br />

51. Wirth, Uwe (Hg.): Die Welt als Zeichen und Hypothese, Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles<br />

Sanders Peirce, Frankfurt am Main 2000<br />

52. Wirth, Uwe: Zwischen Zeichen und Hypothese: für eine abduktive Wende in der Sprachphilosophie in: Die Welt als<br />

Zeichen und Hypothese, Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce, U. Wirth. ed.,<br />

Frankfurt am Main 2000<br />

53. Wittgenstein, Lugwig: Philosophische Untersuchungen in: Werkausgabe. Bd. 1, Frankfurt am Main 1989 (tschechisch:<br />

Filosofická zkoumání, Praha 1998)<br />

54. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Logisch-Philosophische Abhandlung, Frankfurt 1964<br />

486<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


VERB <strong>UND</strong> AUSSAGE<br />

Elemente eines integrierten Valenz-Modells 1<br />

Klaus Fischer<br />

1. Problemstellung<br />

Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, Elemente einer Valenztheorie (VT) vorzustellen. Die VT ist in<br />

den letzten 20 Jahren unter besonderen Rechtfertigungszwang geraten. Dieser entstand aus<br />

einer Reihe von unbeantworteten Fragen:<br />

Wie kann Valenz definiert werden? Dies ist zugleich die Frage nach der Abgrenzung von Ergänzungen<br />

und Angaben (im Folgenden E/A-Abgrenzung), die bekanntlich nicht eindeutig zu<br />

beantworten ist. Die Frage ist mit dem Namen J. Jacobs und dessen intelligenter und amüsanter,<br />

aber methodisch problematischer Polemik „Kontra Valenz“ (1994) verbunden.<br />

Wie ist das Verhältnis von Lexem und Textrealisierung zu sehen? Ich denke hier an R.<br />

Sadzińskis „dynamische Valenz“ (1989), an A. Storrers (1992) pragmatische Auflösung der<br />

Valenz und an V. Ágels „kontextuell-situative Valenzrealisierung“ (2000).<br />

Wie ist das Verhältnis von Valenz und Typologie? Diese Frage wurde erst relativ spät und zunächst<br />

auch nur am Rande gestellt, was angesichts der typologischen Ausrichtung von L.<br />

Tesnière (1966) und des kontrastiven Programms der VT etwas überraschend ist. Zu nennen sind<br />

hier u.a. F. Pasierbsky (1981), der den Begriff der Mikrovalenz eingeführt hat, S. László (1988),<br />

die den Begriff kontrastiv angewandt hat, und V. Ágel (2000), der verschiedene Ansätze zusammengeführt<br />

hat und eine strukturelle Valenzrealisierung von der kontextuell-situativen<br />

unterscheidet. Als Einflüsse auf die VT sind u.a. Milewski (1967), Fourquet (1970) und Nichols<br />

(1986) zu nennen.<br />

Die drei Fragen hängen offensichtlich zusammen. Ich werde sie kurz kommentieren:<br />

ad a) Valenzdefinition. Jacobs hatte Valenz mangelnden begrifflichen Inhalt attestiert und<br />

durch eine Reihe von Einzelrelationen ersetzt. An dem unten stehenden Beispiel sind drei der<br />

Relationen angezeigt (Form, Notw, Syn):<br />

1 (Thema: Die prekäre Situation der Gebäude Venedigs)<br />

Esub: PAT Esit: LOC / Asit: LOC Esub: PAT<br />

Aber noch stand alles fest auf seinen hölzernen Beinen, und Victor lehnte<br />

+Form -Form +Form<br />

+Notw -Notw +Notw<br />

+Syn -Syn +Syn<br />

Esit: LOC Edir: PATH DIR<br />

an seinem Fenster und blickte durch die staubige Scheibe nach draußen.<br />

-Form -Form<br />

1 Ich danke Ruxandra Cosma und Speran]a St`nescu für Diskussionen und Hinweise. Dank aussprechen möchte ich<br />

auch der London Metropolitan University und dem britischen Arts and Humanities Research Board, die meine Arbeit<br />

durch zwei Forschungstrimester unterstützt haben (Research Leave Scheme Award RL/AN6564/APN 16978).


488<br />

Klaus Fischer<br />

+Notw +Notw<br />

-Syn -Syn<br />

(Cornelia Funke: Der Herr der Diebe, Hamburg, Cecilie Dressler Verlag 2000)<br />

Form: Formale Determinierung durch das regierende Element (Rektion)<br />

Notw: Notwendigkeit der Realisierung (im unmarkierten Fall)<br />

Syn: Synsemantik (die semantische Rolle wird vom regierenden Element<br />

bestimmt)<br />

Weder sind E alle in ihrer Form oder semantischen Rolle vom Verb determiniert, noch sind<br />

sie alle notwendig. Jacobs zog daraus den Schluss, dass Valenz lediglich ein Sammelbegriff sei:<br />

eigentlich wichtig seien die einzelnen Valenzrelationen.<br />

ad b) Lexem und Textrealisierung. Stehen hat viele miteinander verbundene Verwendungsweisen.<br />

Wieviele Bedeutungen hat es? Es ist anzunehmen, dass das Verb nur eine hat, die im<br />

Kontext erweitert oder reduziert wird. Die Bedeutung von stehen kann mit ‘in aufrechter Ruhelage<br />

verharren’ angegeben werden. Bei geografischen Angaben ist die Bedeutung auf ‘sich befinden’<br />

reduziert, die Situativergänzung obligatorisch:<br />

2 Esit: LOC<br />

Das Rathaus steht/ist am Markt.<br />

-Form<br />

+Notw<br />

-Syn<br />

Der Hörer wendet ein auf Erfahrung basierendes Schlussverfahren an, um die Textbedeutung<br />

und die ihr entsprechenden Valenzforderungen, das heißt den passenden Satzbauplan, zu ermitteln.<br />

Die Erfahrung sagt ihm, dass Gebäude nicht einmal stehen, ein andermal liegen und<br />

auch nicht den Ort wechseln können. In 2 kann es sich also nicht um das Aufrechtsein des Rathauses,<br />

das zufällig am Markt stattfindet, handeln. Gebäude können aber zusammenfallen oder,<br />

im Falle Venedigs, versinken. Entsprechend wird die Bedeutung in 1 angepasst: stehen bedeutet<br />

hier ‘in Ruhelage, intakt sein’. Das Thema Venedig verhindert in 1, dass der Leser an bewegliche<br />

Güter (Noch stand alles in der Küche) oder an Pläne denkt (Noch stand alles fest, dann wurde es<br />

wieder geändert). Noch und fest deuten auf Veränderlichkeit, d.h. auf im Prinzip vertikales<br />

Stehen hin, eben das Stehen von Gebäuden, dessen Gegenteil nicht ein Liegen, sondern ein<br />

Zusammenfallen oder hier Versinken ist. Mit dieser Textbedeutung geht eine Degradierung des<br />

Ortsbezuges einher: Aber noch stand alles. ist ein kompletter Satz. Ob die Angabe des Untergrundes<br />

als fakulative E oder als A angesehen wird, möchte ich im Moment zur Seite stellen. Auf<br />

jeden Fall liegt ein anderes Verhältnis zur Ortsbestimmung vor als in Der Campanile steht am<br />

Markusplatz. Wichtig ist die Einsicht, dass der Satzbauplan aus dem Kontext heraus konstruiert<br />

wird: Das Verb ist hinsichtlich seiner Textlesart unterdeterminiert. 2<br />

Das Verhältnis von Lexem zur Textverwendung ist Valenzpraktikern nur zu gut vertraut. Ich<br />

sehe hier vor allem eine Chance, als Valenzgrammatiker am Modellieren der Sprachverarbeitung<br />

2 Man vergleiche Marten 2002. Zur Unterspezifizierung von Äußerungen generell siehe Sperber & Wilson (1995) und<br />

Kempson et al. (2001).<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />

mitzuwirken. Außerdem kann von der Sprachverwendung her korrektiv gegen vorschnelle typologische<br />

Generalisierungen vorgegangen werden.<br />

Dies bringt mich zum dritten Punkt:<br />

ad c) Valenz und Typologie. Von der textuellen Realisierung zu unterscheiden ist die<br />

strukturelle Valenzrealisierung in einer Einzelsprache. Dazu finden sich in kontrastiven Valenzstudien<br />

immer wieder Bemerkungen, z.B. im Valenzlexikon deutsch-rumänisch und in der<br />

Kontrastiven Grammatik deutsch-rumänisch Hinweise auf pro-drop, das Auslassen von<br />

Personalpronomen (Engel & Savin et al. 1983: 32, Engel et al. 1993: 50f.: inbegriffenes / mitverstandenes<br />

/ unbestimmtes Subjekt), und auf Verdopplungen von E (Engel & Savin et al. 1983: 33,<br />

Engel et al. 1993: 52-63). Implizit werden hier „Mikrorealisierungen“ (s.u.) angenommen: prodrop<br />

des Subjekts wird nicht als Fakultativität interpretiert und die Verdoppelungen führen zu<br />

keiner Änderung der (makrovalenziellen) Satzbaupläne. Person und Numerus des inbegriffenen<br />

Subjekts seien durch die Personalendungen des Verbs gesichert (Engel et al. 1993: 50). Auch<br />

eine Funktion bzw. ein Effekt der Verdoppelungen wird identifiziert: Disambiguierung (ebd.: 52).<br />

Die typologische Relevanz dieser Phänomene wird allerdings nicht herausgestellt. Dies ist einerseits<br />

durch den Entwicklungsstand und die Prioritäten der damaligen VT zu erklären, andererseits<br />

scheint auch das am Deutschen entwickelte Valenzmodell einen gewissen Anpassungszwang<br />

ausgeübt zu haben. Die Bevorzugung einer Sprache durch den Beschreibungsapparat ist<br />

bei kontrastiven Unternehmungen fast unvermeidlich. Eine am Rumänischen entwickelte VT<br />

hätte vielleicht den typologischen Ansatz von Tesnière stärker integriert bzw. weiter entwickelt.<br />

2. Methodik<br />

Die strukturelle Valenzrealisierung einer Einzelsprache muss identifiziert werden, schon<br />

allein, um sie methodisch von der kontextuell-situativen trennen zu können. Außerdem eröffnet<br />

die strukturelle Valenzrealisierung die Chance einer Valenztypologie.<br />

Wie soll man also vorgehen? Man kann Valenz auch nach Jacobs einfach als die Gesamtheit<br />

der syntaktischen und semantischen Anforderungen bestimmen, die ein Lexem an seine Umgebung<br />

stellt. Ein solcher Begriff läuft auf das heute übliche multidimensionale Valenzmodell<br />

mit abgestufter E/A-Abgrenzung hinaus. Da er keine Auskunft darüber gibt, warum die Anforderungen<br />

bestehen, bleibt Valenz ein Sammelbegriff.<br />

Ich möchte einen anderen Weg einschlagen und zuerst fragen, was ein Valenzmodell eigentlich<br />

erklären soll:<br />

a) Es sollte eine universal anwendbare Definition von Valenz leisten.<br />

b) Typologisch unterschiedliche Realisierungsformen von Valenz müssen im Modell darstellbar<br />

sein.<br />

c) Es sollte die „klassischen“ Einsichten in die Valenz erklären:<br />

a) die Relationalität von Valenz,<br />

b) die Gleichordnung der Ergänzungen (flache Struktur).<br />

d) Das Verhältnis der verschiedenen Valenzrelationen (Partner-Bindungsbeziehungen) sollte<br />

bestimmt werden.<br />

e) Der in der Valenzpraxis weitgehend bestehende Konsens über die E/A-Abgrenzung sollte<br />

sowohl von der Definition erfasst als auch erklärt werden.<br />

f) Die Indeterminiertheit eines Teils der Satzglieder bezüglich der E/A-Abgrenzung und die<br />

Unterdeterminiertheit von Prädikaten sollte berücksichtigt werden.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

489


Klaus Fischer<br />

g) Der Umfang des Valenzträgers, die verschiedenen Realisierungsformen von Valenz<br />

(Mikro- vs. Makrovalenz; interne vs. externe Valenz), die semantische und syntaktische<br />

Ausgestaltung von Textprädikaten durch Interaktion mit der jeweiligen Verbform (z.B.<br />

Konverse) sowie dem Ko- und Kontext und daraus resultierende Valenzreduktion/erhöhung<br />

sollten beschrieben werden.<br />

3. Valenzdefinition<br />

Beginnen wir mit der Definition: Formale Anforderungen an E sind nicht universal, da die<br />

Beziehung zwischen E und Verb rein semantisch sein kann, die Identifikation und Unterscheidung<br />

der E also vom Hörer erschlossen wird. Obwohl Deutsch eine Kasussprache ist,<br />

können E wegen mangelnder morphologischer Nominativ-Akkusativ-Differenzierung relativ<br />

häufig nur kontextuell differenziert werden:<br />

3 Mehr als 50 Frauen sollen zwei Westafrikaner nach NRW eingeschleust und zur<br />

Prostitution in Bordellen in Oberhausen, Düsseldorf und Köln gezwungen haben. (Rheinische<br />

Post, nach Spiegel 13/2001, S. 246, Rubrik Hohlspiegel)<br />

Wer hat wen eingeschleust und zur Prostitution gezwungen? Unser Weltwissen gibt uns die<br />

Antwort. Zumindest ein Leser hat die fokussierte Akk-E aber zunächst als Subjekt interpretiert,<br />

sonst wäre der Satz nicht aufgefallen und an den Spiegel eingesandt worden.<br />

Unter einem universalen Blickwinkel kann es nur eine semantische Definition von Valenz<br />

geben: Valenz ist Sachverhaltskonstitution. Sachverhaltskonstitution ist nötig, um etwas zu<br />

sagen: das Prinzip, mit dem wir über Welt sprechen, ist, dass wir Entitäten zueinander in Beziehung<br />

setzen. (Ob unser kognitives Erfassen von Welt auch so funktioniert, wissen wir nicht.)<br />

In 3 wird der Kernsachverhalt des Jemanden-an-einen-Ort-Einschleusens etabliert. Drei Entitäten<br />

werden miteinander verbunden und mit semantischen Rollen versehen: die Einschleuser,<br />

die Eingeschleusten und das geographische Ziel des Einschleusens. Dies leistet das im Kontext<br />

interpretierte Verb. Einen Sachverhalt des Einschleusens gibt es nicht an sich, nur Menschen, die<br />

sich relativ zum Raum bewegen. Der Sachverhalt ist ein sprachlich gefasster.<br />

Die Relation Sachverhaltskonstitution ist also valenzbegründend, ist die synthetische<br />

Valenzrelation (vgl. Ágel 2003). Dies ist im Prinzip seit Tesnière bekannt und wird auch in der<br />

Grammatik der deutschen Sprache (GdS) so ausgeführt: Stichworte Sachverhaltsentwurf,<br />

Minimalproposition (Zifonun et al. 1997: 601, 1028) – um dann im zweiten, etwas unverbunden<br />

neben dem ersten stehenden GdS-Valenzmodell als eine gleichberechtigte Relation neben<br />

anderen wieder zu erscheinen (ebd.: 1030-43). Der Grund dafür ist m.E., dass das volle Erklärungspotenzial<br />

der Relation Sachverhaltskonstitution nicht erkannt wurde:<br />

a) Sie erklärt den hartnäckigen, theorieübergreifenden Valenzkonsens, der so unterschiedliche<br />

E anerkennt wie das Subjekt, adverbiale Bestimmungen, prädikative Phrasen.<br />

b) Sie erklärt auch die letztlich unfruchtbare Diskussion um die Abgrenzung von E und A:<br />

Kernsachverhalte können enger oder weiter gefasst werden. Es ist nicht entscheidbar,<br />

ob für Satz 1 ein Kernsachverhalt des Stehens, des Auf-etwas-Stehens, des Auf-eine-<br />

Art-Stehens oder eines Auf-eine-Art-auf-etwas-Stehens angenommen werden soll.<br />

Sachverhaltskonstitution ist partiell indeterminiert (was nicht dasselbe ist wie vage:<br />

kein fließender Übergang wird angenommen). Ich schlage vor, eine lexikalische Grundvalenz<br />

durch Häufigkeitsuntersuchungen zu etablieren. Sie ist etwas weiter gefasst als<br />

bei Welke (1988): essen z.B. wäre zweiwertig, nicht einwertig. Diese kann dann in der<br />

Textrealisierung durch Valenzreduktion oder -erhöhung verändert werden. Valenzerhöhungen<br />

können weit in den Bereich der klassischen Angaben hineinragen, da es wie<br />

490<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />

gesagt nicht entscheidbar ist, ob adverbiale Bestimmungen als Argumente oder<br />

Prädikate zweiter Stufe angesehen werden sollen.<br />

Sachverhaltskonstitution erklärt auch die von Tesnière angenommene Gleichheit der<br />

strukturalen Beziehung von E zum Vt. Hat man sich entschieden, was der Kernsachverhalt ist,<br />

dann benötigt man alle E, um diesen zu konstituieren. In dieser Beziehung sind E gleichberechtigt<br />

und gleich wichtig. In anderer Hinsicht sind sie syntaktisch und semantisch unterschieden.<br />

3<br />

Ich gehe das Problem der Valenzdefinition nochmal aus einem etwas anderen Blickwinkel<br />

an. Es wird oft gesagt, dass die syntaktische Valenz der Ausdruck der semantischen Valenz sei.<br />

Dabei schwingt die Frage mit: Worum wurde hier eigentlich diskutiert? Ich kann dem so nicht<br />

zustimmen, weil die Formulierung zu Missverständnissen führen kann.<br />

Formale Markierung an sich zeigt syntaktische Beziehungen, z.B. Dependenzrelationen an.<br />

Sie kann vereinfacht ausgedrückt in zweierlei Form auftreten, am Kopf der Dependenzrelation<br />

oder am Dependens (s. Nichols 1986):<br />

4 Der Kanzler schmollt.<br />

Dependensmarkierung Kopfmarkierung der Dependenzbeziehung<br />

5 Sie springt über den Bach.<br />

Dependensmarkierung der Dependenzbeziehung<br />

6 Sie überspringt den Bach.<br />

Kopfmarkierung der Dependenzbeziehung<br />

Kasus sind z.B. Dependensmarkierungen, die auch bei Angaben auftreten können:<br />

7 den ganzen Tag/des Tages (obs.) schlafen<br />

Häufiger als im Deutschen z.B. im Lateinischen, besonders mit dem Ablativ (Kasusendungen<br />

fett):<br />

8 omnibus amicis/duobus modis/ruri/ vere celebrare<br />

‘mit allen Freunden/auf zweifache Weise/auf dem Lande/im Frühling feiern’<br />

Die ide. Verbflexionen markieren die Beziehung zum Subjekt am Kopf, was wie gesagt als<br />

sogenannte Mikrovalenz bezeichnet wird und eine Form von struktureller Valenzrealisierung<br />

darstellt. Aber wieder ist Markierung nicht auf E beschränkt: Auch A können kopfmarkiert sein:<br />

9 Sie kauften gestern ein. (s. Pasierbsky 1981)<br />

In 9 wird der Zeitbezug am Verb markiert. Von den Formen an sich führt kein Weg zur<br />

Valenz, vielmehr muss erst entschieden werden, ob die Markierung vom Vt abhängt, d.h. wir<br />

müssen die Valenz zuerst bestimmen, um die Markierung einzuordnen. Da weder einzelsprach-<br />

3 Genauer in Fischer 2000, 2001, 2003b. W. Bondzio z.B. vertritt seit den 70er Jahren einen semantischen Valenzbegriff<br />

(s. etwa Bondzio 2001: 157f.). Zur flachen Satzstruktur im Deutschen vgl. Kathol 2001, zu Graden von Konfiguriertheit<br />

Berg 2002.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

491


Klaus Fischer<br />

lich noch universal alle E eine formale Markierung tragen, drücken Markierungen nicht Valenz<br />

an sich aus: sie sind vielmehr auf Unterscheidung der E angelegt. Eine finite ide. Verbendung<br />

bedeutet also nicht: das entsprechende Dependens ist ein E, sondern eine bestimmte E, ein<br />

Subjekt. Gleichfalls bedeutet ein vom Verb geforderter Nominativ nicht E, sondern Subjekt.<br />

4. Valenzrealisierung<br />

4.1 Pro-drop<br />

Wir haben gesagt, dass etwas sagen bedeutet, zwischen Entitäten Beziehungen herzustellen.<br />

Das im Kontext interpretierte Verb entscheidet über die Art der Beziehung und damit darüber,<br />

welche Entitäten verbunden werden. Die Referenz auf die Entitäten wird durch die Makro-E<br />

geleistet, z.B. durch Nominalphrasen. Dies muss aber nicht sein:<br />

492<br />

10 la Laboro<br />

‘ich arbeite’<br />

11 ro Am o carte.<br />

‘ich habe ein Buch’<br />

Die deiktische Referenz wird hier jeweils durch das Verb selbst bewerkstelligt, und zwar<br />

durch die Personalendung -o bzw. -m. Lateinisch und Rumänisch, wie auch Spanisch,<br />

Portugiesisch, Italienisch, Katalanisch, Griechisch, Bulgarisch, Serbokroatisch, Chinesisch,<br />

Japanisch, Thai, Koreanisch und viele andere Sprachen, sind pro-drop, d.h. das Personalpronomen<br />

kann weggelassen werden. 4 In pro-drop-Sprachen ist die Realisierung des Personalpronomens<br />

dann markiert:<br />

12 la Ego laboro.<br />

‘ICH arbeite’ (nicht die anderen)<br />

13 ro Eu am o carte.<br />

‘ICH habe ein Buch’<br />

Die Nichtrealisierung ist nicht als Fakultativität misszuverstehen, sie ist ein struktureller Zug<br />

von pro-drop-Sprachen. Ein Sprecher des Lateinischen hätte nicht die Wahl gehabt, 12 ohne<br />

Emphase zu realisieren. Dafür hätte er 10 sagen müssen.<br />

Auch das Deutsche hat pro-drop-Strukturen, z.B. beim Imperativ:<br />

14 Komm jetzt.<br />

Die Makrorealisierung des Angesprochenen ist emphatisch:<br />

15 Komm du jetzt.<br />

Die VT hat hier durchaus eine Aufgabe: zu bestimmen, welche unmarkierte strukturelle<br />

Valenzrealisierung in einer Sprache besteht und welche markierten Strukturen nach einem<br />

anderen Muster realisiert werden. Mikrovalenz gehört also in ein integriertes Valenzmodell.<br />

Allerdings sollte Mikrovalenz aus einer Reihe von Gründen nicht überinterpretiert werden:<br />

4 Im Rumänischen ist pro-drop in der 2. Person Singular Präsens eingeschränkt, da z.B. Pleci la mare als Aufforderung<br />

interpretiert würde: Fahr ans Meer.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />

a) Eine explizite Kopfmarkierung in Form einer Personalendung ist universal nicht nötig.<br />

Ostasiatische Sprachen sind trotz fehlender Verbflexion pro-drop:<br />

16 zh Zhangsan kanjian Lisi le ma? (Roberts 1997: 154)<br />

Zhangsan see Lisi ASP Q ASP: Aspektmarkierung<br />

‘Did Zhansan see Lisi? Q: Fragemarkierung<br />

kanjian le (eine mögliche Antwort)<br />

see ASP<br />

‘He saw him’<br />

Pro-drop-Sprachen scheinen entweder eine reiche Verbmorphologie zu haben oder gar<br />

keine (Zushi 2003). Wenn man mit Tesnière ide. Personalendungen zum Subjekt rechnet, sind<br />

ostasiatische Sprachen die eigentlichen pro-drop-Sprachen.<br />

a) Auch eine Sprache wie das Deutsche, die im Konstativsatz obligatorische Makrorealisierung<br />

eines valenziell vorgesehenen Subjektelementes besitzt, ist umgangssprachlich<br />

pro-drop:<br />

17 Bin gleich wieder da.<br />

Die beiden Punkte unterminieren m.E. die syntaktische Relevanz von pro-drop und lassen es<br />

als ein pragmatisches, wenn auch in pro-drop-Sprachen stark normiertes, Phänomen erscheinen.<br />

4.2 Weitere Mikrorealisierungen<br />

Nicht nur das Subjekt kann mikrovalenziell realisiert werden. Betrachten wir kurz ein Beispiel<br />

der oben angesprochenen Verdopplungen von Dativ- und Akkusativergänzungen in Form<br />

von unbetonten Pronomen im Rumänischen (Engel & Savin et al. 1983: 33):<br />

18 Petre l-a salutat pe profesor.<br />

‘Peter hat den Lehrer gegrüßt.’<br />

Im Valenzlexikon deutsch-rumänisch heisst es dazu „Die Verdopplung hat mit der Valenz des<br />

Verbs überhaupt nichts zu tun.“ (ebd.: 33) Tatsächlich ist es dieselbe E, die zweimal realisiert<br />

wird: Am makrovalenziellen Satzbauplan ändert sich deshalb nichts. Die klitische Realisierung<br />

der E am Kopf der Phrase, dem Verb, ist vielmehr ein Phänomen der strukturellen Valenzrealisierung,<br />

hier als markierte, an gewisse Bedingungen gebundene Struktur. Zu beachten ist,<br />

dass Mikrovalenz verschiedene Formen besitzen kann: Klitika sind natürlich weniger eng an das<br />

Verb gebunden als Flexive.<br />

Nichols und Ágel fassen auch adverbiale Präfixe als Kopfmarkierungen bzw. mikrovalenzielle<br />

Realisierungen auf:<br />

19 Wir montieren die Reifen (an das Auto) an.<br />

An sei eine Mikrorealisierung der Direktivergänzung. Adverbiale Verbpartikel sind aber nicht<br />

mit Personalendungen gleichzusetzen:<br />

20 Wir montieren die Reifen an es an.<br />

ist keine emphatische Realisierung wie 12 und 13, obwohl die Direktivergänzung zweimal<br />

phorisch verwirklicht wäre. Die Lösung könnte darin gesehen werden, dass die Partikel an nur<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

493


Klaus Fischer<br />

eine Teilmikrorealisierung der Direktivergänzung darstellt: an repräsentiert den Kontakt, nicht<br />

den Gegenstand, mit dem der Kontakt stattfindet. Nicht umsonst sind PP exozentrisch.<br />

4.3 Appositive Interpretation<br />

Nichols und Ágel verbinden mit der Mikrovalenz in pro-drop-Sprachen eine auf F. Boas’ Analyse<br />

amerikanischer Sprachen 5 fußende funktionale Interpretation, die sich gegen die<br />

Kongruenzinterpretation richtet. Die Personalendung sei phorisch-deiktisch, da sie allein die<br />

Referenz sichern kann. Werde ein Subjekt realisiert, sei dieses appositiv zur Personalendung:<br />

494<br />

21 Puer laborat. ‘der/ein Junge arbeitet’<br />

––––––→<br />

„Apposition“ Personalendung sichert Referenz<br />

Die appositive Interpretation ist m.E. aus einer Reihe von Gründen nicht haltbar 6 :<br />

Laborat für sich kann nur eine definite, nicht eine indefinite Referenz besitzen. Für eine indefinite<br />

Lesart ist immer ein Makrosubjekt oder eine Passivkonstruktion nötig:<br />

22 Aliquis laborat. / Laboratur.<br />

‘jemand arbeitet’ / ‘es wird gearbeitet’<br />

Eine funktionale Teilung zwischen indefiniter und definiter Subjektphrase ist aber absurd.<br />

b) NP referieren, sobald sie im Redefluss auftreten. Ein Hörer des Lateinischen würde mit<br />

der Referenz von puer nicht warten, bis das Verb auftritt.<br />

c) Es ist unwahrscheinlich, dass sich bei einem Registerwechsel wie z.B. dem ins „Telegrammdeutsch“<br />

die funktionalen Bezüge im Satz verändern.<br />

Ich möchte der appositiven Sichtweise den Versuch einer einheitlichen funktionalen der ide.<br />

Verbflexion in Form eines Imperativs gegenüberstellen:<br />

„Suche nach einem valenzkonformen Subjekt“, ausführlicher: „Suche nach einer valenzkonformen<br />

Subjektphrase im Kotext oder, wenn nicht vorhanden, nach einem passenden<br />

Subjektreferenten im Kontext zwecks Formung einer Aussage (die zu verschiedenen Sprechakten<br />

benutzt werden kann)“. Diese Funktionsbestimmung der finiten Verbflexion hat den Vorteil, dass<br />

sie sowohl auf Sprachen mit obligatem Subjekt und auf pro-drop-Sprachen passt. Die finite<br />

Flexion verändert nicht ihre Funktion je nach Typ der Valenzrealisierung.<br />

5. Die Aussagedimension<br />

Bisher haben wir das Wesen der Valenz als Sachverhaltskonstitution bestimmt. Dies ist die<br />

lexikalische Forderung nach Valenzpartnern, die ein Verb mit dem entsprechenden Nomen teilt:<br />

laufen → der Lauf (vgl. Eichinger 1995). Verben haben aber auch eine grammatische Bedeutung,<br />

die sie von anderen Wortarten unterscheidet. Diese grammatische Bedeutung wurde in der VT<br />

meist nicht explizit benannt. Sie besteht darin, Aussagen zu ermöglichen (vgl. Bossong 2001).<br />

Unter Aussage verstehe ich das Einbringen eines Sachverhaltsentwurfs in einen Satz. Der<br />

Terminus ist sprechaktneutral gemeint. In diesem Sinne beinhalten auch Fragen und Anweisungen<br />

„Aussagen“, d.h. jeweils wird ein von der Verbsemantik bestimmter Sachverhaltsent-<br />

5 Boas 1911: 29, s.a. 74f.<br />

6 Genaueres in Fischer (2003b). Zur Referenzialität und (In-)Definitheit von Personalpronomen, personalen Affixen<br />

(Klitika) und Personalflexiven vergleiche Lyons 1999, insbesondere 26-32, 311; Corbett 2003: 173, 184f. und Mithun<br />

2003: 239ff.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />

wurf realisiert. Leiss (2002) spricht von einer Zeit- oder Innenperspektive, die Verben von Nomen<br />

unterscheidet: Nomen schauen von Außen auf die Welt und erfassen „Weltabschnitte“ als abgeschlossenes<br />

Ganzes – sozusagen in einem Augenblick. Verben erfassen Welt dynamisch, als<br />

unabgeschlossenen Vorgang. Dies ist besonders deutlich in der ersten Person. Man vergleiche<br />

ich laufe mit der Lauf. Mit dieser sspezifischen grammatischen Leistung des Verbs sind weitere<br />

Merkmale verbunden: Verben sind komplexer als Nomen, sie sind einzelsprachspezifischer und<br />

deshalb schwieriger zu übersetzen (Bybee 2000: 795). Im Spracherwerb werden sie später gelernt<br />

als Nomen.<br />

Von der VT als einer verbzentrierten Theorie kann erwartet werden, dass sie auch die<br />

grammatische Bedeutung der Kategorie Verb untersucht. Das Fehlen einer solchen Untersuchung<br />

birgt die Gefahr in sich, dass Valenz unreflektiert auf andere Wortarten, z.B. Nomen,<br />

übertragen wird (Eichinger 1995). Die prototypische Aufgabe von Nomen ist Referenz 7 . Um diese<br />

durchzuführen, genügt meist eine minimal ausgestattete NP (Determinativ und Nomen).<br />

Deshalb sind unmarkierte N gerade nicht die relationalen N, und deshalb haben Leerstellen von<br />

N einen anderen Stellenwert als Leerstellen von V: ihre Füllung ist möglich, aber meist nicht<br />

nötig. N verlangen in der Regel keine Mitspieler, tolerieren sie nur. Sekundär wird N allerdings in<br />

den Dienst von als Referenzen verkleideten Prädikationen gedrückt. Ganz deutlich und häufig<br />

geschieht dies in der deutschen Schriftsprache mit ihren kompakten, semantisch unterdeterminierten<br />

Nominalisierungen. Der Aufwand bei ihrer Rezeption – sie sind meist semantisch<br />

weniger transparent als entsprechende verbale Phrasen und zuerst muss eine Prädikation durchgeführt<br />

werden, um die Referenz zu erfassen – ist Zeuge ihrer „Zweckentfremdung“ 8 . Auf der<br />

Plusseite sind Nominalisierungen oft kürzer und erlauben deshalb kompakte Sätze.<br />

6. Valenzmodell<br />

Die bisherigen Ergebnisse sind in dem auf der nächsten Seite stehenden Modell zusammengefasst.<br />

7. Schluss<br />

Ich habe einige der Anforderungen angesprochen, die ein integriertes Valenzmodell erfüllen<br />

sollte, und in Grundzügen einige Elemente eines solchen Modells vorgestellt. Valenz hat sich<br />

dabei keineswegs als Sammelbegriff erwiesen, sondern als klassisch definierbarer semantischer<br />

Begriff, der die oft kritisierte Valenzpraxis im Prinzip rechtfertigt und auch in Bezug auf zentrale<br />

Lehrsätze der VT Erklärungspotenzial besitzt.<br />

Es wurde vorgeschlagen, zwischen der semantischen Begründung von Valenz durch die<br />

Relation Sachverhaltskonstitution und der Beschreibung der Valenz durch alle anderen<br />

Relationen zu unterscheiden. Auf diese Weise können die seit Jacobs’ Kritik erzielten Fortschritte,<br />

insbesondere auch die Relationen des zweiten Modells in der GdS, integriert werden.<br />

Die semantische Begründung von Valenz hat auch den Vorteil, dass sich die von der Theorie<br />

der strukturellen Valenzrealisierung angemahnte Beschreibung der einzelsprachlichen Valenzrealisierungen<br />

problemlos integrieren lässt. Es wurde allerdings zu einer differenzierenden Sicht<br />

der unterschiedlichen „Mikrovalenzen“ aufgefordert und davor gewarnt, das ursprünglich<br />

pragmatisch motivierte Phänomen des pro-drop funktional überzubewerten: Die appositive<br />

Abwertung von Makrosubjekten in pro-drop-Sprachen wurde verworfen. Im Übrigen lässt sich<br />

die heute auch von Konstituentenstrukturgrammatiken akzeptierte Verbzentralität im uni-<br />

7<br />

Der Einfachheit halber wird hier nicht zwischen referenziellem und essenziellem (Gegenstände setzenden) Gebrauch<br />

von N unterschieden (s. Zifonun et al. 1997: 781-3).<br />

8<br />

Dies soll keinesfalls als Stilkritik missverstanden werden, es geht lediglich um den prototypischen Gebrauch grammatischer<br />

Kategorien und um eine Kosten-Nutzenrechnung bei atypischem Gebrauch. Vgl. Fischer (2003a).<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

495


Klaus Fischer<br />

versalen Beitrag des Verbs zur Satzkonstitution, zur Formung einer Aussage, demonstrieren, die<br />

im Unterschied zum Nomen, im Aufbreiten eines generellen Ereignisraumes bzw. Zeithorizontes<br />

und im Konstituieren eines bestimmten, u.U. kulturell und einzelsprachlich geprägten Szenarios<br />

besteht. Aus dieser von der VT zu wenig thematisierten universalen Funktion des Verbs ergeben<br />

sich Unterschiede zur Valenz anderer Wortklassen, insbesondere der des Nomens.<br />

Nicht angesprochen wurden wichtige Elemente einer VT wie z.B. die Abgrenzung der Valenzträger<br />

(Kollokationen, Phraseologismen, innere und äußere Valenz, vgl. Ágel 2003) und die Ermittlung<br />

einheitlicher Lexembedeutungen (Willems & Coene 2003).<br />

Grammatische<br />

Leistung<br />

der Kategorie<br />

Verb<br />

Aussage:<br />

Einbringen<br />

eines Sachverhalts-entwurfs<br />

in einen Satz<br />

(sprechaktneutral)<br />

496<br />

Definition<br />

(„Wesen de<br />

Verbvalenz“);<br />

universal<br />

Sachverhaltskonstitution;<br />

Entscheidung<br />

E/A (partielle<br />

Indeterminierthe<br />

it)<br />

Unidimensionales Modell der Verbvalenz<br />

formale Kennzeichnung<br />

keine<br />

(Valenz ist impliziert)<br />

L i t e r a t u r :<br />

Konsequenzen aus E-Status<br />

(einzelsprachliche Beschreibung der Verbvalenz)<br />

semantisch 9 syntaktisch<br />

Das im Kontext<br />

interpretierte<br />

Verb determiniert<br />

semantische<br />

Rollen und<br />

Restriktionen<br />

aller E und<br />

perspektiviert<br />

einige E<br />

Zum Teil Kennzeichnung der<br />

Dependenzbeziehung zum<br />

Verb und der Art der<br />

Dependenzbeziehung, d.h.<br />

Unterscheidung der E durch:<br />

1. Kopfmarkierung<br />

a) formale syntaktische<br />

Mittel:<br />

- Verbflexion<br />

- Position der Verbflexive<br />

zueinander<br />

- Verbform (genus verbi)<br />

- Betonung von Affixen<br />

b) lexikalische syntaktische<br />

Mittel:<br />

- Affixe<br />

2. Dependensmarkierung<br />

a) formale syntaktische<br />

Mittel:<br />

- Position<br />

- Flexion (Kasus, Kasustransfer)<br />

- Intonation<br />

b) lexikalische syntaktische<br />

Mittel<br />

- Kopf der Phrase (NP vs. PP)<br />

- Wahl der konstanten<br />

Adposition<br />

9 Wegen der in wesentlichen Punkten ähnlichen bzw. identischen Erfahrungen menschlicher Individuen und Gesellschaften<br />

gibt es weitgehende semantische Überschneidungen zwischen den Verben bzw. Prädikatsausdrücken verschiedener<br />

Sprachen, auch, was die Anzahl und Rollen der Mitspieler und ihre Abbildung auf syntaktische Funktionen<br />

betrifft.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Verb und Aussage: Elemente eines integrierten Valenzmodells<br />

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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

497


Klaus Fischer<br />

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498<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


FRAUEN<strong>SPRACHE</strong> — MÄNNER<strong>SPRACHE</strong><br />

Fragebogenuntersuchung<br />

Emilia Muncaciu-Codarcea<br />

Einleitende Bemerkungen<br />

Die Frauen- und Männersprache ist in den letzten Jahren Gegenstand soziolinguistischer<br />

Untersuchungen geworden und gehört zum Bereich der Soziolinguistik, die die Beziehungen<br />

zwischen der Sprache und der gesellschaftlichen Gruppenzugehörigkeit von Sprechern untersucht.<br />

Die Frauen– und Männersprache könnte also als Soziolekt definiert werden, da unter<br />

Soziolekt eine gruppenspezifische Sprachvarietät verstanden wird, die Kommunikationsbarrieren<br />

darstellt und wertende Einstellungen zu anderen sozialen Gruppen verstärkt. Ein<br />

Soziolekt ist eine Sprachvarietät, die von einer sozialen Gruppe oder einer sozialen Schicht benutzt<br />

wird. Für den Begriff Soziolekt gibt es verschiedene Definitionen, z.B. „Spezifische<br />

Sprachform einer sozialen Schicht.“ 1 („Knaurs Fremdwörterlexikon“), „eine bestimmte soziale<br />

Gruppe kennzeichnende Sondersprache“. 2 (dtv-Lexikon, Band 17) oder „Sprachgebrauch einer<br />

sozialen Gruppe oder Schicht.“ 3 (Wahrig — Deutsches Wörterbuch).<br />

Ich betrachte die Frauensprache — Männersprache als einen Soziolekt, als eine geschlechtsspezifische<br />

Sprache mit geschlechtsspezifischem Sprachverhalten in kommunikativen<br />

Situationen. Die Beschäftigung mit dem Thema „Männersprache — Frauensprache“ begann Anfang<br />

der 70er Jahre in Amerika und wurde von der neuen Frauenbewegung der letzten 20 Jahre<br />

initiiert und in die Linguistik hineingetragen worden. Seit Trömel-Plötz 1978 ihren Aufsatz<br />

„Linguistik und Frauensprache“ 4 veröffentlichte, ist das Thema auch in der germanistischen<br />

Linguistik verstärkt angegriffen und bearbeitet worden. Das Thema steht aber in engen Beziehungen<br />

auch zur Soziologie, Psychologie oder Pädagogik, besonders wenn man auch den<br />

Zusammenhang zwischen Sprache und sozialer Herkunft in Betracht zieht.<br />

Bei der Behandlung der Frauensprache — Männersprache unter soziolinguistischer Perspektive<br />

müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden: das unterschiedliche Sprachverhalten von<br />

Männern und Frauen, die Position der feministischen Linguistik dazu und die sprachliche Gleichstellung<br />

der Frau in der Rechts- und Verwaltungssprache. Auch im Schul- und Schulbuchbereich<br />

sind über ministerielle Erlasse und Gutachterrichtlinien erhebliche Veränderungen im Sinne<br />

einer feministischen Lehr- und Lernmittelkritik feststellbar.<br />

Meine Arbeit beruht auf einer Fragebogenuntersuchung. Befragt wurden 50 Studenten sowohl<br />

der Germanistik als auch der nichtphilologischen Fakultäten, der deutschen Abteilung,<br />

Studienfächer in deutscher Sprache, 1. und 2. Jahrgang, darunter 20 Studenten und 30 Studentinnen.<br />

1<br />

Knaurs Fremdwörterlexikon 1992, Hg. vom Lexikograph. Institut, vollständ. Taschenbuchausg., München, S. 395.<br />

2<br />

Dtv-Lexikon, Bd 17, 1992, F.A. Brockhaus GmbH, Mannheim und DTV Verlag GmbH &Co KG, München, S. 119.<br />

3<br />

G. Wahrig 1986: Deutsches Wörterbuch, völlig überarb. Neuausg., Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/ München,<br />

S. 1195.<br />

4<br />

S. Trömel-Plötz 1978: Linguistik und Frauensprache; in „Linguistische Berichte“ 57, S. 49-68.


Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />

Ich war durch die Fachliteratur angeregt, diesen Fragebogen aufzustellen, dessen Fragen ich<br />

teils selbst formuliert habe, teils der Literatur entnommen habe. Für die Aufstellung des Fragebogens<br />

war ich besonders von Harro Gross 5 inspiriert. In der Fragebogenuntersuchung habe ich<br />

den Standpunkt der Fachliteratur und der Linguistik vertreten, denn es wäre schwierig gewesen,<br />

dieses Thema nur vom Standpunkt der Germanisten, die aber keine Muttersprachler sind, aufschlußreich<br />

zu behandeln. Durch die Fragebogenuntersuchung wollte ich noch erreichen, daß<br />

die Studenten eine Parallele zu ihrer Muttersprache (Rumänisch oder Ungarisch) machen und<br />

sehen, ob diese sprachlichen Unterschiede auch in ihrer Muttersprache die Frauen betreffen,<br />

damit ich dann daraus schließen kann, ob die Frauen- und Männersprache als soziolinguistisches<br />

Thema auch in anderen Sprachen untersucht werden kann. Natürlich waren die<br />

Meinungen der Studenten subjektiv und unterschiedlich und deshalb stimmten sie auch nicht<br />

überall mit den Standpunkten der Fachliteratur oder meinen Meinungen überein. Darüber war<br />

ich froh.<br />

Im folgenden werde ich die Ergebnisse der Auswertung der Fragebögen darstellen.<br />

500<br />

Auswertung der Fragebögen<br />

In der Fragebogenuntersuchung zum Thema “Frauensprache — Männersprache” wurden 50<br />

Studenten befragt, davon 20 Studenten und 30 Studentinnen. 33 von ihnen sind im ersten Studienjahr,<br />

also im Alter von 19 Jahren und 17 von ihnen sind im zweiten Studienjahr, also im<br />

Alter von 20- 21 Jahren. Aus denen, die im ersten Studienjahr sind, studieren 23 Deutsch als<br />

Nebenfach, 8 sind Studenten der Fakultät für Mathematik/Informatik, deutsche Abteilung und<br />

2 sind Studenten der Fakultät für Physik/Mathematik, deutsche Abteilung. Ebenfalls gehören<br />

von diesen 33 Studenten 22 der ungarischen Minderheit, 1 der deutschen Minderheit und die<br />

anderen 10 sind Rumänen. Von den 17 Studenten, die im zweiten Studienjahr sind, studieren 2<br />

Deutsch als Hauptfach, 8 sind Studenten der Fakultät für Mathematik/Informatik, deutsche<br />

Abteilung und 7 sind Studenten der Fakultät für Physik/Mathematik, deutsche Abteilung. Von<br />

diesen 17 Studenten gehören 4 der ungarischen Minderheit, 1 der deutschen Minderheit und<br />

die restlichen 12 sind Rumänen.<br />

Das Ziel dieser Fragebögen war, die Kenntnisse der Studenten über dieses Thema zu überprüfen,<br />

was sie darunter verstehen, ob sie diese sprachlichen Unterschiede bisher bemerkt haben,<br />

in der deutschen Sprache aber auch in ihrer Muttersprache, und ihre persönlichen Meinungen<br />

überhaupt zum Ausdruck zu bringen, indem sie die Fragen eingehen.<br />

Die Meinungen und Eindrücke waren sehr unterschiedlich: manche reagierten eher negativ,<br />

und diese waren insbesondere die Jungen, manche jedoch empfanden dieses Thema als besonders<br />

interessant, da sie gestanden haben, daß sie sich bisher noch keine Gedanken darüber<br />

gemacht haben und daß es tatsächlich ein heikles, problemhaftes Thema ist auch nachteilig,<br />

was die Frauen sprachlich und beruflich betrifft. Diese waren natürlich die Stimmen der<br />

Studentinnen. Es gab natürlich auch Stimmen, die dieses Thema für absolut sinnlos hielten, da<br />

es eigentlich Frage der Mentalität sei und nicht der Sprache, denn die gesellschaftliche Interaktion<br />

der Frauen und Männer würde weiterhin dieselbe bleiben und es habe keinen Sinn jetzt<br />

die sprachlichen Unterschiede im einzelnen zu betrachten, da es seit Jahrhunderten eine<br />

Männer geprägte Sprache und Gesellschaft war und auch weiterhin bleiben würde. Die Behandlung<br />

dieses Themas von der feministischen Linguistik und von der Linguistik im allgemeinen<br />

würde keinesfalls erhebliche Änderungen in der Sprache und Gesellschaft mit sich<br />

5 H. Gross 1990: Einführung in die germanistische Linguistik, 2. Auflage, iudicium Verlag GmbH, München.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Emilia Muncaciu-Codarcea<br />

bringen nur vielleicht eine stärkere Bewußtmachung. Der Fragebogen enthielt 25 Fragen, betreffend<br />

die sprachlichen, semantischen und soziologischen Unterschiede zwischen Männern<br />

und Frauen.<br />

Auf die 1. Frage: „Männliche Dominanz wird besonders bei Berufs- und Titelbezeichnungen<br />

deutlich. Viele traditionell männliche Berufe sind inzwischen von Frauen 'erobert' worden, ohne<br />

daß die Bezeichnungen dafür auch immer motiviert oder neue geschaffen worden sind. Was ist<br />

Ihnen dabei aufgefallen?“ empfanden die meisten Studenten, darunter 10 Studenten und 20<br />

Studentinnen, daß es ein Ergebnis der Emanzipation und Selbständigkeit der Frauen sei, und<br />

daher eine positive Sache, daß auch typisch männliche Berufe von Frauen ausgeübt werden<br />

und umso besser wenn diese auch eine feminine Bezeichnung haben. 15 Stimmen, darunter 5<br />

weiblichen und 10 männlichen, waren dagegen und meinten, daß es eine blöde Frage sei, weil<br />

es eigentlich sinnlos wäre, daß typisch männliche Berufe von Frauen „erobert“ werden sollten<br />

und eine feminine Bezeichnung haben, da die Männer jahrtausendelang diese Berufe ausgeübt<br />

hätten. 5 Studenten waren unentschieden.<br />

Die 2. Frage: „Gibt es Ihrer Meinung nach eine feminine Form von folgenden 10 Berufsbezeichnungen?<br />

Geschäftsmann, Tierarzt, Kaufmann, Pilot, Kapitän, Torwart, Minister, Professor,<br />

Magister, Doktor.“ Alle Studenten haben erkannt, daß nicht alle Berufsbezeichnungen eine<br />

feminine Form haben, z.B. Torwart hat keine feminine Form. Die anderen lauten: Geschäftsfrau,<br />

Tierärztin, Kauffrau, Pilotin, Kapitänin, Ministerin/Frau Minister, Professorin. Pusch meint, daß<br />

selbst die motivierten Formen zur Bezeichnung weiblicher Menschen eine sprachliche Diskriminierung<br />

darstellen. Denn das Suffix -in (Kunde — Kundin) „konserviert im Sprachsystem<br />

die jahrtausendealte Abhängigkeit vom Mann, die es endlich zu überwinden gilt. Auch sprachlich“.<br />

6 Als Therapievorschlag wird die Verwendung des geschlechtsneutralen Feminins<br />

empfohlen, zum Beispiel: Sie ist eine gute Student oder Männer sind Bürgerinnen erster Klasse.<br />

Als Gegenargument gilt folgendes Urteil: "Wenn Ute Schülerin ist und Uwe Schüler, dann sind<br />

Ute und Uwe Schüler, nicht Schülerinnen — denn Uwe verträgt das Femininum nicht" 7 .<br />

Was die 3. Frage betrifft: “Kennen sie traditionelle Frauenberufe, die jetzt auch von Männern<br />

ausgeübt werden, etwa: Putzmann, Hausmann, Kindergärtner, Erzieher?” haben die Studenten<br />

zahlreiche Beispiele genannt: Krankenschwester- Krankenpfleger, Striptease Tänzer, Babysitter,<br />

Prostituierte- Gigollo, Koch, Verkäufer, Näher, Weber, Bibliothekar, Schneider, Lehrer, Sekretär,<br />

Friseur, Kosmetiker, Geburtshelfer u.a. 10 der Befragten wußten keine andere Beispiele oder<br />

haben nur allgemein auf die Frage geantwortet.<br />

Die 4. Frage: “Kennen sie typisch männlich/weibliche Personen- und Berufsbezeichnungen?”<br />

wurde auch unterschiedlich beantwortet. 5 Studentinnen und 5 Studenten meinten, daß es in<br />

unserem Jahrhundert keine typisch männliche/ weibliche Personen- und Berufsbezeichnungen<br />

gibt und geben sollte oder, daß sie keine wüßten. Die anderen Studenten haben zahlreiche Beispiele<br />

dafür genannt: typisch weiblich: Nonne, Hexe, Sekretärin, Verkäuferin, Putzfrau, Krankenschwester,<br />

Hausfrau, Hebamme, Au-Pair-Mädchen, Stewardess, Dienstmädchen, Jungfrau,<br />

Hure, Prostituierte, Weberin, Näherin, u.a.; typisch männlich: Hirte, Priester, Jäger, Förster, Feuerwehrmann,<br />

Polizist, Wissenschaftler, Elektroniker, Schuster, Maurer, Mönch, Bischof, Papst,<br />

Pilot, Bergarbeiter, Minister, Schmied, Handwerker, Mechaniker, Taxifahrer, Schornsteinfeger,<br />

6 Luise F. Pusch 1984: Das Deutsche als Männersprache, Frankfurt/ M., S. 59.<br />

7 L. Pusch 1984: 11 urteilt etwas provozierend: „Weibliche Bezeichnungen sind für Männer genauso untragbar wie<br />

weibliche Kleidungsstücke.“<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

501


Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />

Anwalt, Ingenieur, Boss, Kapitän, Präsident, Torwart, Soldat, Offizier, Politiker, Direktor, Tischler,<br />

Pfarrer, Fußballspieler u.a.<br />

5. Frage: "Nennen Sie ein paar Paarbezeichnungen und achten Sie dabei auf die Reihenfolge<br />

'männlich/weiblich' oder umgekehrt." Alle Studenten haben als Beispiele Mutter- Vater, Bruder<br />

und Schwester, Oma und Opa, Junge und Mädchen, Herr und Dame, Hänsel und Gretel, Tristan<br />

und Isolde, Großvater und Großmutter, Onkel und Tante, Sohn und Tochter genannt, wie auch<br />

solche, die auf – in endeten: Lehrer- Lehrerin, Schüler- Schülerin, Arzt- Ärztin, Student- Studentin,<br />

Kaufmann- Kauffrau, Putzmann- Putzfrau , Herr Kohl und seine Frau, Bill Clinton und<br />

Hillary, u.a. Man kann dabei die feste Reihenfolge männlich/weiblich beobachten.<br />

6. Frage: "Kennen Sie Phraseologismen mit dem Grundwort 'Mann' und mit dem Grundwort<br />

'Frau'“? Die Antworten auf diese Frage bewiesen, daß die Studenten eher Phraseologismen mit<br />

dem Grundwort „Mann“ kannten als mit dem Grundwort „Frau“, z.B. Ein Mann von Wort, mit<br />

Mann und Maus, ein Mann von Geist, ein Mann ein Wort, Strohmann, Mann für Mann, allemann,<br />

er stellt seinen Mann, aus dem echten Mann kommen, ein Mann von echtem Schrot und<br />

Korn, ein Mann von Wort, er ist Mann genug, ein ganzer Mann, von Mann zu Mann, seinen<br />

Mann finden, ein Mann der Feder, Mann-oh-Mann, er steht seinen Mann, der rechte Mann<br />

sein, ein Mann des Todes, ein Mann der Tat, der Mann im Haus, Blödmann, ein Mann für alle,<br />

u.a. Für Frauen galten: Sich eine Frau nehmen, die Frau des Hauses, das Kind bleibt in einem<br />

Mann immer drin, aber aus einer Frau geht es manchmal raus, zänkische Weiber, jn. zu Frau<br />

nehmen, sich eine Frau nehmen, die Frau ist das Herz einer Familie, ein Mann, ein Wort, eine<br />

Frau, ein Wörterbuch?.13 der Befragten waren unentschieden.<br />

7. Frage: "Der Bereich patriarchalischer Sprachprägungen betrifft u.a. viele Personenbezeichungen<br />

und große Teile der Idiomatik. So werden z.B. viel mehr Schimpfwörter mit weiblicher<br />

Grundbedeutung auf Männer aufgewandt als umgekehrt. Welche der folgenden Schimpfwörter<br />

werden für Männer, welche für Frauen gebraucht?<br />

Blödmann, Idiot, Rindvieh, Esel, Kamel, alter Hornochse, eingebildeter Affe, arroganter Heini,<br />

Depp, mieser Typ, dämlicher Kerl, alte Sau, dumme Kuh, blöde Ziege, alte Hexe, falsche<br />

Schlange, doofe Zicke, komische Schreckschraube, blöde Tussi. Nennen sie auch andere Beispiele,<br />

die Sie kennen."<br />

Alle Studenten haben erkannt, daß die ersten 12 für Männer gebraucht sind, die anderen<br />

für Frauen. Sonstige Beispiele waren: Arschloch, Schwein, Trottel, Dummkopf (für Männer),<br />

Blondine, sauere Gurke (für Frauen).<br />

8. Frage: "Das Grundgesetz der Bundesrepublik verkündet zwar in Art. 3 (2): 'Männer und<br />

Frauen sind gleichberechtigt', enthält jedoch viele Personenbezeichnungen, die den Eindruck<br />

erwecken, als wären nur Männer betroffen. Im Gesetzestext gibt es aber auch wirklich<br />

geschlechtsneutrale Ausdrücke. Welche der folgenden Bezeichungen wirken eher männlich, und<br />

wie könnten sie neutralisiert werden? So z.B.:<br />

Art. 2 (1) — Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.<br />

Art. 3 (3) — Niemand darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt oder bevorzugt werden.<br />

Art. 7 (3) — Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu<br />

erteilen.<br />

Art. 16 (2) — Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.<br />

Art. 40 (1) — Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer.<br />

Art. 116 (1) — Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist…."<br />

Die Bezeichnungen, die männlich wirkten und die neutralisiert werden könnten, ergaben<br />

sich folgende: jeder — jede Person, jeder Mensch, jeder/jede, jeder Mann und jede Frau, ein<br />

502<br />

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Emilia Muncaciu-Codarcea<br />

Mitglied der deutschen Nation; niemand- keine Person, kein Lehrer — kein Lehrer/keine Lehrerin,<br />

seinen/ihren, kein Deutscher — ein Bürger der deutschen Bundesrepublik, Deutscher —<br />

deutsche Leute. 6 Studenten meinten, daß diese Bezeichnungen eigentlich nicht neutralisiert<br />

werden könnten und sollten, man müßte dann den Wortschatz ändern. Andere meinten, daß<br />

die Neutralisierung erfolgen könnte, wenn auch die motivierten feminine Bezeichnungen im<br />

Text stehen würden. Das kann natürlich geschehen, durch die entsprechende Lexik: Mensch(en),<br />

Person(en), Kind(er), Jugend, Volk, Mitglied(er) usw. Aber auch durch die Grammatik: Plural von<br />

Adjektiven und Partizipien: Deutsche, Abgeordnete, Gewählte, Vertriebene, Staatsangehörige,<br />

Lehrende, Studierende, wenn Gruppen beiderlei Geschlechts gemeint sind.<br />

Tatsächlich kann das generische Maskulinum durch den Gebrauch nominalisierter Adjektive<br />

und Partizipien (der/die Vorsitzende) oder durch den generischen Plural (statt: ein Beamter soll<br />

— Beamte sollen) ersetzt werden. Die Indefinitpronomen man/jedermann können jedoch nicht<br />

durch frau/jedefrau ersetzt werden. Entsprechende Beispiele finden sich nur in feministischen<br />

Zeitschriften, zum Beispiel: Denn nicht jedefrau kann Abitur haben. Im Gegensatz zum Indefinitpronomen<br />

man ist frau betont. Das unbetonte man verhält sich wie das unpersönliche es,<br />

zum Beispiel: Es ist erstaunlich, daß es heute so weit kommt.<br />

9. Frage: "Was bedeutet selbstbewußtes Auftreten für Sie? Formulieren Sie bitte ganz ehrlich,<br />

welche Eigenschaften Sie mit Selbstbewußtsein und Selbstbehauptung verbinden. Auch,<br />

welche Sprache Sie damit assoziieren."<br />

Die Studenten verstanden darunter eine klare, objektive Sprache, Offenheit, Klugheit, Ehrlichkeit,<br />

direkter Ausdrucksstil, eine höflichere Haltung und Sprache der Frauen gegenüber der<br />

der Männer, reicheren Wortschatz, wenigere vulgäre Ausdrücke, Selbstsicherheit, Zugabe von<br />

Schwächen, unnötiges Entschuldigen, ständiger Gebrauch des Konjunktivs, sogar Witze auf<br />

eigene Kosten. Die Männer hätten eine starre Haltung, seien sach- und informationsorientiert,<br />

verwendeten mehr Kraftausdrücke, seien objektiver und hätten eine größere Charakterstärke. 8<br />

Studenten haben keine Antwort auf diese Frage gegeben.<br />

10. Frage: "Sprechen Frauen anders als Männer? Wenn ja, dann was für Unterschiede gibt<br />

es?"<br />

Alle haben zugegeben, daß Frauen schöner, korrekter, mit einer reicheren Wortwahl sprechen,<br />

reden und weniger als die Männer schimpfen würden. Ihre Sprache sei gefühlsbetonter,<br />

optimistischer während die Männer mehr Schimpfwörter benutzten und eine sachlichere Sprache<br />

hätten. Sie modifizierten ihre Gesprächsbeiträgte häufig durch Höflichkeitsfloskeln und<br />

verschiedene Formen der Abschwächung,z.B.: unnötiger Gebrauch des Konjunktivs: Ich würde<br />

sagen, von Partikeln: bißchen, eigentlich, vielleicht; Entschuldigungen, Aussagen, die durch<br />

Anhängsel zu Fragen werden: Das ist doch wahr, oder ? Frauen hätten ein primäres Bedürfnis<br />

nach Bestätigung ihrer Persönlichkeit und einer Sicherheit der Beziehung zum Gesprächspartner,<br />

Männer hingegen nach Lösungen, Ergebnissen, Erfolg und würden sich erst danach der<br />

Beziehung zuwenden.<br />

11. Frage: "Nennen Sie ein paar Beispiele von Selbstdarstellung von Frauen."<br />

Zartheit, Empfindsamkeit, Schönheit, Klugheit, Indirektheit, nonoffensive Haltung aber auch<br />

Selbstabwertung, Zugeben von Schwächen, die Verwendung der Ich- Formeln „Ich glaube, meine,<br />

denke“, Zuwendung zur Familie, Hausarbeit oder Karriere seien ein paar Stichwörter von der<br />

Selbstdarstellung der Frauen. Frauen versuchen die Distanz zum Gesprächspartner zu überwinden<br />

und lassen andere an der eigenen persönlichen Welt teilhaben und signalisieren damit:<br />

„Vertraue dich mir, öffne dich mir, mach dich auch transparent“. Frauen sagen oft Ich denke /<br />

Ich glaube / Ich meine, auch wenn sie sich sich ihrer Sache ganz sicher sind, weil sie den Ge-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

503


Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />

sprächspartner nicht "überfahren" wollen. Sie laden somit zum kommunikativen Austausch ein,<br />

nach dem Motto: "Wenn du eine andere Meinung, andere Informationen hast, sag mir das bitte".<br />

Solche Formulierungen wirken auf Männer oft unsicher und werden als Schwäche und Inkonsequenz<br />

empfunden, denn sie formulieren ihre Aussagen zum indirekten Ausdruck ihrer<br />

persönlichen Wünsche und Forderungen, durch subjektive Formulierungen mit Hilfe der Ich-<br />

Formeln.<br />

12. Frage: "Schreiben Frauen anders als Männer? Was für Unterschiede haben Sie festgestellt?"<br />

Alle Befragten waren sich in ihren Meinungen einig, daß Frauen ordentlicher, schöner, reiner,<br />

grammatisch korrekter als Männer schreiben würden, mit weniger Fehlern und daß sie sich<br />

auf ihre persönlichen Erfahrungen in ihrem Schreiben beziehen. Die Männer hingegen schreiben<br />

schneller, technischer, betrachten die Themen aus einer globalen, abstrakteren Perspektive<br />

und würden eher geschichtliche oder sozialpolitische Themen angehen.<br />

504<br />

13. Frage: "Ist es Ihnen aufgefallen, wie die 3 Artikel in den Grammatiken erscheinen?"<br />

Die Antwort war: der, die, das und das kann auch nicht geändert werden.<br />

14. Frage: "Frauen in hohen politischen Positionen. Was halten Sie davon?"<br />

12 Stimmen, davon 3 weibliche und 9 männliche waren dagegen, da Frauen eher in der Küche<br />

oder ins Bett gehörten, oder im Haushalt, sie würden mehr lügen, sich schneller ärgern und<br />

seien ungeduldiger als Männer. Die Politik sei Männersache. Die anderen waren dafür, da auch<br />

Frauen begabt seien, leistungsfähig und für den politischen Dialog geeignet. Sie haben gute<br />

Ideen, wenden auch den anscheinend unwichtigen Sachen Aufmerksamkeit zu und haben eine<br />

bessere Organisationsfähigkeit.<br />

15. Frage: "Wie grüßen Sie Ihre männlichen oder weiblichen Professoren?"<br />

Die meisten Studenten grüßen ihre Professoren gleich: „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“und<br />

je nach dem Verhältnis zu ihnen: „Hallo“ oder „Tschüß“egal ob es ein Mann oder eine Frau ist. 5<br />

von ihnen verwenden die Form „Guten Tag, Herr/Frau Professor/ Schmidt“.<br />

16. Frage: "Wie möchten Sie angesprochen werden, mit 'Frau' oder 'Fräulein'?"<br />

Außer einer Studentin, die mit „Frau“ angesprochen werden wollte, bevorzugen alle anderen<br />

unverheirateten die Form „Fräulein“.<br />

17. Frage: "Was verstehen Sie unter 'Gewalt durch Sprache'? Wodurch unterscheidet sich in<br />

dieser Hinsicht die Sprache der Männer von der der Frauen?"<br />

Mit Ausnahme von zwei Studenten, die keinen Unterschied zwischen der Sprache der Männer<br />

und der Frauen erkannt haben, da sie gleich sprechen würden, verstanden alle anderen unter<br />

Gewalt durch Sprache Flüche, Schimpfwörter, Kraftausdrücke, eine Sprache, die den Frauen<br />

Gewalt antut, sie beleidigt, terrorisiert und aggressiv wirkt, eine typische Männersprache, die<br />

den Gesprächspartner in einen unangenehmen psychischen Zustand versetzt. Die Männer seien<br />

vulgärer als die Frauen, aber die Frauen erbarmungsloser; sie versuchten mit Schmeicheleien<br />

oder Schreien, Befehlen und Autorität die Männer zu manipulieren. Die Männer verwendeten<br />

die Sprache als ein Instrument der Dominanz über die Frauen durch aggressive, gewaltige<br />

Wörter, das sei eine betont brutale Sprache, wodurch sie die Frauen erschüchtern, verletzen<br />

oder unterdrücken wollen. Sie greifen auf einen agressiven Zustand zurück: „Vino-ncoa’ c te<br />

plesnesc“. Gewalt durch Sprache heißt aber auch die Verwendung und Bevorzugung von männlichen<br />

Berufs- und Titelbezeichnungen, die keine feminine Form haben und die Frauen beruflich<br />

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Emilia Muncaciu-Codarcea<br />

benachteiligt. Aber auch Frauen könnten durch ihre Sprache ihren Gesprächspartner verletzen,<br />

auch wenn sie keine oder weniger Schimpfwörter und Kraftausdrücke verwenden würden.<br />

Unter soziolinguistischer und juristischer Perspektive unterscheidet man zwischen legaler<br />

und illegaler Gewalt, d.h. körperlich verletzende Gewaltsamkeit, nichtverletzender Zwang, physische<br />

und psychische Gewaltanwendung. "Gewalt durch Sprache" ist auch die personale Gewalt<br />

(Männer lassen Frauen nicht ausreden, schneiden ihnen das Wort ab, bestimmen die Gesprächsthemen,<br />

reden mehr), die psychische Gewalt (Männer verfügen über die Sprache, sie<br />

definieren und fixieren Frauen sprachlich. Trömel-Plötz meint dazu, daß die Frauen so reden<br />

müssen wie der Mann, um ernst genommen und gehört zu werden. Dann sind sie aber männlich<br />

und werden als Frauen entwertet.) oder die strukturale Gewalt bezogen auf gewisse Eigenschaften<br />

des deutschen Sprachsystems, z.B. das generische Maskulinum, motivierte Personenbezeichnungen<br />

oder grammatische Kongruenzregeln.<br />

18. Frage: "Nennen Sie ein paar Beispiele von Komposita auf -frau. Was kennzeichnen sie?"<br />

Die Studenten haben dafür zahlreiche Beispiele genannt: Unifrau, Filmfrau, Kirchenfrau,<br />

Vorstandsfrau, Berufsfrau, Hausfrau, Putzfrau, Kauffrau, Geschäftsfrau, Jungfrau, Schutzfrau,<br />

Wäschefrau, Karrierefrau, Ehefrau, Klosterfrau, Dienstfrau, Amtfrau, Arztfrau als Berufsbezeichnungen,<br />

Bezeichnungen von typischer Frauenarbeit, von Beziehungen zu jemandem, von<br />

der sozialen Stellung der Frau in der Gesellschaft, die aber Frauen auch entstellen und erniedrigen.<br />

Die Komposita auf -frau könnten die -in Suffixe ersetzen. Ein interessantes Beispiel<br />

war, daß die Reihenfolge: Jungfrau, Traumfrau, Ehefrau und Hausfrau die chronologische Entwicklung<br />

eines weiblichen Daseins kennzeichnen würde. Die neuen Komposita auf -frau oder<br />

das -in Suffix als motivierte Personen- und Berufsbezeichnung waren häufig Anlässe für<br />

Sprachnormkonflikte. 5 Studenten haben eine unschlüssige Antwort darauf gegeben.<br />

19. Frage: "Ist die Sprache ein Instrument der sozialen Kontrolle bzw. der sozialen Kontrolle<br />

der Frauen? Wenn ja, nennen Sie ein paar Beispiele."<br />

Die Meinungen dazu waren sehr unterschiedlich. 8 Studenten wußten nicht, ob das der Fall<br />

sei, 3 meinten, es könnte auch umgekehrt sein, denn jeder Mensch könne durch die Sprache<br />

manipuliert werden, 18 Studenten (6 männliche und 12 weibliche Stimmen) waren der Meinung,<br />

daß die Sprache kein Instrument der sozialen Kontrolle der Frauen sei, da Frauen und<br />

Männer gleichberechtigt seien oder nur schwache Frauen durch die Sprache kontrolliert werden<br />

könnten. Die Sprache sei nicht die Ursache für die Position der Frauen, sondern die Folge, denn<br />

sie ist zuerst das Instrument der Gedanken und Gefühle. Das ganze sei eine Übertreibung der<br />

Feministinnen. Ein Beispiel wäre der Beruf „Babysitter“, der eine männliche Form hat, aber von<br />

Frauen ausgeübt wird. Die restlichen 21 meinten, die Sprache sei ein Instrument der sozialen<br />

Kontrolle der Frauen, weil sie die Frauen beeinflussen könnte, etwas zu machen, sie nicht zu<br />

Wort kommen ließe, sie nicht in acht genommen würden oder nicht wirklich gemeint wären<br />

und als zweitrangig erschienen, z.B. auf Einladungen steht: „Herr X mit Frau“.<br />

Die feministische Linguistik untersucht den Sexismus im deutschen Sprachsystem und kritisiert<br />

das geschlechtstypische Kommunikationsverhalten in gemischtgeschlecht-lichen Gruppen.<br />

Sie meint, daß auch bei der Erforschung der schichtspezifischen Sprachvarianten von Herrschaft<br />

durch Sprache als Instrument sozialer Kontrolle die Rede sei. Diesen Zusammenhang<br />

empfindet Trömel-Plötz als „soziale Kontrolle der Frauen“. 8 Trömel-Plötz meint, es handle sich<br />

um eine soziale Interaktion und eine Änderung der Sprache und des Sprechens würde eine Än-<br />

8 S. Trömel- Plötz 1984: Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen; Frankfurt, Fischer Tas-<br />

chenbuch Verlag, S. 39.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

505


Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />

derung des Zusammenlebens, der Gesellschaft und sogar der Welt implizieren. Diesbezüglich<br />

wird der Mechanismus des Mitgemeint- und Eingeschlossenseins im generischen Maskulinum<br />

untersucht. Dabei wird argumentiert, daß die Sprache den Frauen Gewalt antut, insofern sie die<br />

männlichen Formen bevorzugt.<br />

20. Frage: "Wie würden Sie eine Rede beginnen? z.B. Liebe Herren und Damen; Liebe Damen<br />

und Herren; Liebe Kollegen und Kolleginnen; Liebe KollegInnen!"<br />

Außer einer Stimme, die „Liebe Herren und Damen!“ bevorzugt, und 5 Stimmen, die „Liebe<br />

Kollegen und Kolleginnen“ oder „Liebe KollegInnen“ bevorzugen, würden alle Studenten ihre<br />

Rede mit „Liebe Damen und Herren“ beginnen. Homberger meint, man solle zu Beginn einer<br />

Rede, sowie an markanten Stellen die maskuline und die feminine Form nennen, während im<br />

Fortgang der Rede das generische Maskulinum stehen könnte, um den flüssigen Vortrag zu<br />

gewährleisten. Seit 1980 ist die verbindliche, nicht diskriminierende Sprache in Stellenangeboten<br />

offiziell angenommen worden wie auch die Verpflichtung, in behördlichen<br />

Schreiben, Frauen nur mit der weiblichen Form anzureden.<br />

21. Frage: "Wie könnten Frauen in grammatischer Hinsicht sprachlich gleichberechtigt werden?"<br />

11 Studenten waren unschlüssig, 13 Studenten meinten, das wäre unmöglich oder unwichtig,<br />

denn dann müßte man die Sprache verändern und eine „neutrale“ Sprache schaffen<br />

und das habe keinen Sinn. 26 Studenten (4 Männer, 22 Frauen) meinten, das könnte geschehen,<br />

indem die Berufsbezeichnungen sowohl feminine als auch maskuline Formen hätten,<br />

durch die Abschaffung des „In“- Suffixes, für motivierte Berufs- und Personenbezeichnungen,<br />

durch die Verwendung von neutralen Formen und Indefinitpronomina, durch die Anordnung der<br />

Artikel „die, der, das“, durch die partielle Feminisierung der Sprache, durch die Verwendung<br />

derselben Grammatikartikel für Männer und Frauen, genaue Nennung der Frauen, Hinzufügen<br />

der weiblichen Form neben der männlichen, Umformulierung, aber vor allem Gleichberechtigung<br />

auf mentaler Ebene. Andere Vorschläge wären die Großschreibung von I bei den<br />

motivierten Bezeichnungen, Bindestriche, Umwandlung der maskulinen Bezeichnungen in<br />

feminine (z.B. Arbeitnehmenrinnenschicksal, Sekretärinnenausbildung, heldinnenhaft,<br />

junggesellinnenhaft) oder die Herstellung von Referenzidentität durch die Feminisierung der<br />

Pronomina (z.B. Wer ihre Hausaufgaben nicht macht, die muß eben zusehen, wie sie die Arbeit<br />

schafft.).<br />

506<br />

22. Frage: "Was ist typisch für den weiblichen Kommunikationsstil?"<br />

Alle 20 Studenten meinten, daß Frauen nicht direkt sagten, was sie meinten, viel plaudern<br />

würden, ein schnelles Tempo hätten, leise, gefühlsbetonter und höflicher sprä-chen, Oberflächengespräche<br />

führten, nicht zum Objekt sprächen. Sie hätten eine andere Wortwahl, die<br />

persönliche Nähe und Akzeptanz sucht, weisen eine gewisse Unsicherheit auf, sind mehr<br />

orientiert auf gegenseitige Beziehungen, Gefühlsäußerungen und verwenden häufig „Ich-<br />

Formeln“, „ich denke, glaube….tut mir leid“, was als Nachteil für sie empfunden sei.<br />

Die anderen 30 Studentinnen hatten ungefähr dieselbe Meinung, daß der Kommunikationsstil<br />

der Frauen Unsicherheit aufweise, durch die Verwendung der „Ich-Formeln“, der Zugabe von<br />

Schwächen, der Indirektheit, Gebrauch des Konjunktivs. Sie hätten eine gefühlsbetonte, gepflegte,<br />

persönliche Sprache, die die Distanz zum Partner zu überwinden versuche, Zuwendung<br />

zum Gesprächspartner, Verständnis, Wärme und Höflichkeit aufweise aber auch Nachgiebigkeit,<br />

Extrovertiertheit und Bedürfnis von Bestätigung. Sie hätten eine stark gesprägt Körpersprache,<br />

Gestik und Mimik und benutzten mehr Formen der Verniedlichung. 5 Studenten waren in bezug<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Emilia Muncaciu-Codarcea<br />

auf diese Frage unschlüssig. Andere Merkmale sind, daß Frauen untereinander persönlicher<br />

reden, sie lassen sich mehr ein auf ihre Gesprächspartnerinnen und deren Themen, weil sie<br />

besser zuhören können. Die Frauen handeln nach dem Motto: "Eigenlob stinkt", sie verwenden<br />

selbstabwertende Äußerungen wie: "Ich bin nur Hausfrau …", sie werten sich selbst ab, durch<br />

unnötiges Zugeben von Schwächen und Fehlern ("Ich brauch' immer so lang"), durch Witze auf<br />

eigene Kosten, durch Betonen von rollenkonformem Verhalten ("Bin brav auf das Gymnasium<br />

gegangen !") und andere.<br />

23. Frage: "Wie unterscheidet sich die Kommunikation von Mann und Frau?"<br />

Die Unterschiede der Kommunikation von Mann und Frau wären, daß die Männer zielinteressiert<br />

seien, eine direkte, distanzierte, objektive Sprache verwendeten, während die<br />

Frauen einfühlsamer und hilfs- und kompromißbereiter seien. Männer sind introvertierter, sparsamer,<br />

was ihr Innenleben anbelangt, Frauen hingegen wollen einen regen Informationsaustausch<br />

haben. Männer reden mehr als Frauen, sie signalisieren Anfang und Ende von Gesprächen,<br />

sie machen mehr urteilende, analytische Äußerungen. Frauen formulieren oft ihre<br />

Aussagen in Form von Fragen, sie verwenden keine Vulgärausdrücke, ihnen geht es primär um<br />

die Beziehung zum Gesprächspartner. Die Männer behalten die Distanz, verwenden kürzere<br />

Sätze aber mehr Behauptungen, ihnen geht es primär um Information und weniger um Interaktion.<br />

Frauen kommunizieren ganzheitlich, ihnen geht es um Information und Interaktion,<br />

Männer geht es primär um Information. Für die Frauen sei die menschliche Nähe der Schlüssel<br />

in einer Beziehungswelt, in der Übereinstimmung das Ziel ist. Für die Männer dagegen ist Unabhängigkeit<br />

der Schlüssel in einer Statuswelt, in der der Status durch Befehle begründet wird.<br />

24. Frage: "Wie werden Mädchen und Jungen, Frauen und Männer in den Schulbüchern dargestellt?"<br />

Die meisten Antworten lauteten, daß die Männer/Jungen auf allen Ebenen höher gestuft<br />

werden als Frauen/Mädchen. Die Mädchen und Jungen erscheinen als Kinder, also irgendwie<br />

gleichberechtigt, aber die Frauen würden eher als Hausfrauen, Mütter dargestellt, während die<br />

Männer als Väter im Mittelpunkt standen und von ihren Frauen bedient würden. Die Frauen<br />

erschienen oft in ihrer Rolle als Hausfrauen, die kochen, backen, putzen, die Männer hingegen<br />

leisten die harte Arbeit und läsen in der Freizeit die Zeitung. Auch in Erzählungen und Märchen<br />

würde den Mädchen weniger Bedeutung gewidmet als den Jungen, die als Ritter und Helden<br />

dargestellt würden. Mädchen erzielen bessere Schulnoten als Jungen, da sie bessere Leistungen<br />

haben, während die Jungen mehr Ausmerksamkeit fordern und ihr Leben interessanter und vielseitiger<br />

dargestellt würde (z.B. in den Mathematikbüchern). Die Mädchen und Frauen seien<br />

auch in Schulbüchern diskriminiert und benachteiligt, da sie eher in stereotypen Rollen präsentiert<br />

würden, ihr Leben monoton und einseitig. 7 Studenten haben auf diese Frage nicht geanwortet,<br />

manche meinten, die Mädchen und Jungen seien in Schulbüchern gleichgestellt. In der<br />

Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden werden Schülerinnen weniger beachtet und<br />

gelobt als Jungen. Die Erklärung ist, daß Jungen mehr stören als Mädchen, laut protestieren,<br />

wenn ihre Interessen nicht wahrgenommen werden und so mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit<br />

einfordern. Deshalb hat das deutsche Kultusministerium Maßnahmen und Regelungen zur<br />

Veränderung des Rollen- und Sprachbewußtseins im schulischen Bereich eingeleitet. Die Familie<br />

und die Rolle der Frau sollen im Schulbuch dargestellt werden, und diese Schulbücher sollten<br />

den Mädchen und Jungen Identifikationsangebote geben. Die Darstellungen in den Schulbüchern<br />

sollten jedoch der Realität entsprechen.<br />

25. Frage: "Was verstehen Sie unter frauenfeindlichem Sprachgebrauch? Nennen Sie ein<br />

paar Beispiele."<br />

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Frauensprache - Männersprache. Fragebogenuntersuchung<br />

Die meisten Studenten verstanden darunter Schimpfwörter, Vorurteile gegenüber den Frauen<br />

(z.B. Alle Frauen sind…, Frauen gehören hinter dem Kochtopf, Sie sind nur hinter dem Geld<br />

her usw.), eine Sprechweise, die Frauen als dem Mann untergestellte, niedrig entwickelte Wesen<br />

darstellen würde, dumme Witze, grobe Bemerkungen über die Frauen, unterdrückende, demütigende<br />

Bemerkungen (z.B. ich habe dich nicht gefragt, du weißt das sowieso nicht, warum<br />

mischst du dich ein, das hier ist Männersache, nichts für dich, usw.). Das könnte auch die Sprache<br />

der Männer sein, wodurch sie ihre Erstrangigkeit betonen und die Frauen wegen ihrer Mutlosigkeit<br />

oder Dummheit verspotten würden (z.B. Witze: der Typ der blonden Frau). Eine<br />

Studentin betrachtet diesen Sprachgebrauch nicht frauenfeindlich sondern eher männerorientiert.<br />

4 der Befragten haben auf diese Frage nichts geantwortet.<br />

Peter Braun 9 unterscheidet vier Arten frauenfeindlichen Sprachgebrauchs:<br />

1. „Sprache, die Frauen ignoriert und ausschließt“ (sie werden nur mitgemeint), zum Beispiel:<br />

Sehr geehrte Herren, Liebe Kollegen<br />

2. „Sprache, die Frauen immer in Abhängigkeit vom Mann darstellt, als zweitrangig und<br />

untergeordnet“, zum Beispiel Thomas Mann und Frau Katja, Herr Meier mit Frau (statt<br />

Frau M. und Herr M.)<br />

3. „Sprache, die Frauen nur in traditionellen Rollen mit den sogenannten weiblichen Eigenschaften<br />

und Verhaltensweisen darstellt“ (Hausfrauen, Ehefrauen, Mütter), zum<br />

Beispiel: Fräulein Sell, Hausfrauenpflicht<br />

4. „Abwertende Sprache, durch die, Frauen degradiert werden“, zum Beispiel: das schwache<br />

Geschlecht, Dienstmädchen.<br />

508<br />

Schlussfolgerungen<br />

1. Die Auswertung der Fragebögen hat ergeben, daß die Frauensprache- Männersprache<br />

eine starke Reaktion in den Studenten hervorgerufen hat, da die meisten gestanden haben, daß<br />

sie sich nur wenig oder überhaupt keine Gedanken bisher darüber gemacht haben, daß die<br />

Frauen anders als die Männer sprächen, was sie auch in vielen Bereichen benachteilige und<br />

diskriminiere. Sehr gut empfand ich auch die Tatsache, daß 20 Männer an dieser Fragebogenuntersuchung<br />

beteiligt waren und somit ihre Meinungen dazu schreiben konnten, so daß die<br />

Ergebnisse objektiv und ausschlaggebend ausgewertet werden konnten. Auch die Tatsache, daß<br />

unter den Befragten 26 Studenten der ungarischen Minderheit waren, half mir sie zu<br />

provozieren eine Parallele zu ihrer Muttersprache zu machen und ihre Meinungen zu sagen, wie<br />

das in der ungarischen Sprache aussieht, ob man auch dort von einer Frauensprache- Männersprache<br />

überhaupt reden kann.<br />

2. Vom Standpunkt der Fachliteratur und ausgehend von den Meinungen der Studenten<br />

kann ich behaupten, daß sich die Benachteiligung von Frauen in den meisten sozialen Bereichen<br />

auch in der Sprache spiegelt. Sie ist aber schwer zu erfassen, weil das Sprachverhalten<br />

durch die Sozialisation tief verinnerlicht ist und erst bewußt gemacht werden muß. Diesbezüglich<br />

wird nicht selten von Gewalt, Macht, Kontrolle und Herrschaft gesprochen. Zwischen Frauen<br />

und (Unter-)Schichtensprache wird oft eine Analogie gesehen, die weder soziologisch noch<br />

linguistisch haltbar ist. Daß Frauen anders sprechen als Männer ist ein Indiz für die gesellschaftliche<br />

Privilegiertheit der Männer. Es geht also darum, die Privilegiertheit der Männer<br />

und damit auch den Sexismus in der Sprache aufzudecken, und eine Emanzipation in Richtung<br />

auf eine „weibliche“ Sprache zu erreichen. Das Geschlecht stellt also eine der wichtigsten<br />

soziolinguistischen Variablen in allen Sprachen dar.<br />

9 P. Braun 1993: Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Berlin, Köln, S. 58.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Emilia Muncaciu-Codarcea<br />

Ich betrachte die Frauen- und Männersprache eher als eine geschlechtsspezifische Sprache,<br />

da sie stark subjektiv und emotional geprägt ist und weil sie nicht von einer sprachgeschichtlichen<br />

Entwicklung kennzeichnet ist, sondern erst von der feministischen Linguistik in Verbindung<br />

mit der feministischen Bewegung eingeführt worden ist.<br />

Also bleibt das Thema Frauensprache — Männersprache in der Linguistik weiterhin ein<br />

heikles, es sucht immer noch nach Lösungen, Vorschlägen und Denkanstößen.<br />

*<br />

* *<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Braun, Peter: Personenbezeichnungen – mehr oder weniger tierisch ernst; In: „Deutsch als Muttersprache“, 1992,<br />

GfdS Verlag, Wiesbaden<br />

2. Braun, Peter: Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache, 1993, dritte erweiterte Auflage, Kohlhammer Verlag,<br />

Stuttgart, Berlin, Köln<br />

3. Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, 2. völlig neu bearbeitete Auflage, 1990, Alfred Kröner<br />

Verlag, Stuttgart<br />

4. Dtv-Lexikon, Bd 17, 1992, F.A. Brockhaus GmbH, Mannheim und DTV Verlag GmbH, München<br />

5. Gross, Harro: Einführung in die germanistische Linguistik, 2. Auflage, 1990, iudicium Verlag, München<br />

6. Guethenrodt, I./M. Hellinger/L. F. Pusch/S. Trömel-Plötz: Richtlinien zur Vermeidung des Sexistischen Sprachgebrauchs;<br />

In: „Linguistische Berichte“, 69/1980<br />

7. Hartig, Matthias: Soziolinguistik für Anfänger, 1980, 1.Auflage, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg<br />

8. Hartig, Matthias/ Kurz, Ursula: Sprache als soziale Kontrolle, 1971, Frankfurt/ M.<br />

9. Homberger, Dietrich: Männersprache — Frauensprache: Ein Problem der Sprachkultur?; In: „Deutsch als Muttersprache“,<br />

1993, GfdS Verlag, Wiesbaden, S. 89-110<br />

10. Knaurs Fremdwörterlexikon, Hg. v. Lexikograph. Institut, vollständ. Taschenbuchausg., 1992, München<br />

11. „Lexikon der Germanistischen Linguistik“, Studienausg. II, Hrsg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert<br />

Ernst Wiegand, 1. Aufl. 1973; 2. vollständig neu bearb. u. erweit. Aufl. 1980, Max Niemeyer Verlag, Tübingen<br />

12. Lewandowski, Th: Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, 6. Auflage, 1994, unveränderter Nachdruck der 5. überarbeiteten<br />

Auflage, Quelle& Meyer Verlag, Heidelberg. Wiesbaden<br />

13. Oppermann, Katrin / Weber, Erika: Frauensprache — Männersprache. Die verschiedenen Kommunikationsstile von<br />

Männern und Frauen, 1994, Orell Füssli Management, S. 80-93<br />

14. Pflug, Günther: Probleme der geschlechtsneutralen Rechts- und Verwaltungssprache, 1990; In: Diskussion<br />

Deutsch, 111, S. 98-102<br />

15. Polenz, Peter von: Sprachkritik und Sprachnormkritik; In: Heringer, 1982a, S. 70- 93<br />

16. Pusch, Luise F.: Das Deutsche als Männersprache, 1984, Frankfurt/M.<br />

17. Schlieben-Lange, B.: Soziolinguistik. Eine Einführung, 1973, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, S. 73<br />

18. Trömel-Plötz, Senta: Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen, 1984, Frankfurt Fischer<br />

Taschenbuch Verlag<br />

19. Trömel-Plötz, Senta: Sexismus in der Sprache, aus „Maskulin — Feminin“, S. 72- 75<br />

20. Trömel-Plötz: Linguistik und Frauensprache; in „Linguistische Berichte“, 57, 1978, S. 49-68<br />

21. Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch, 1986, völlig überarb. Neuausg., Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/<br />

München<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

509


NAMENGEOGRAFIE <strong>UND</strong> NAMENETYMOLOGIE<br />

Eine Fallstudie am Beispiel "Lippmann"<br />

Adina-Lucia Nistor<br />

Namengeografie ist ein wichtiger Teil und eine Spezialität der Namenkunde (Namenforschung<br />

oder Onomastik). Ihr Gegenstand ist die räumliche Verbreitung der Namen (der Orts-<br />

und Personennamen). Die Grundlage der modernen Namengeografie ist es, mit Hilfe von EDV-<br />

Programmen Namenkarten zu erstellen. Diese Art von Materialsammlung und -bearbeitung war<br />

der Traum und Wunsch früherer namengeografischer Analysen, die sich leider nur auf Urkunden,<br />

Kirchen-, Steuer-, Zinsregister, alten Einwohner- oder Adressbüchern stützen konnten<br />

und dies mittels mühelosem Durchzählen. „Bei der Erfassung der räumlichen Bindungen der<br />

Familiennamen sollte in Zukunft stärker als seither von einer statistisch vergleichenden<br />

Methode Gebrauch gemacht werden, die auch für die Namendeutung von Wichtigkeit werden<br />

kann.“ 1 Telefonverzeichnisse bieten eine neue, moderne, umfassende und zuverlässige namenkundliche<br />

Datenbasis. Für Deutschland wurden sie erstmals von Prof. Dr. Konrad Kunze von der<br />

Universität Freiburg und der Tivano Software GmbH in Neu Isenburg genutzt, die zusammen ein<br />

EDV-Programm entwickelt haben, mit dessen Hilfe man einzelne Namen, Namenvarianten und<br />

Namenkombinationen sowie ihre geografische Verbreitung komplett erfassen kann. Als Verbreitungsraster<br />

der Namenkarten können bis fünfstellige Postleitzahlbezirke zugrunde liegen.<br />

Erste Auswertungen dieses EDV-Programms wurden im Dtv-Atlas Namenkunde 2 , 1999 von<br />

Konrad Kunze veröffentlicht. Unsere Analyse ist Teil einer umfassenden Studie über die Familiennamen<br />

auf -mann in Deutschland, die wir dank eines Alexander von Humboldt-Forschungsaufenthaltes<br />

von 2000-2001 an der Universität Freiburg unternommen haben. Unsere Studie in<br />

Freiburg wurde im Rahmen des Projektes Deutscher Familiennamen-Atlas durchgeführt.<br />

Im folgenden wollen wir zeigen, welche Rolle die Namengeografie für die Klärung der Namenetymologien<br />

hat - u. zw. anhand des Beispiels Lippmann.<br />

Zur gesamtgeografischen Verbreitung des Namens Lippmann in Deutschland hat sich bis<br />

jetzt nur Brechenmacher (1960-63, 197) geäußert; er lokalisiert Lippmann im Mitteldeutschen.<br />

Unsere Karte zeigt das Vorkommen von Lippmann in ganz Deutschland und erstmals seine genaue<br />

Konzentration im Ostmitteldeutschen: hauptsächlich im Obersächsischen und teilweise im<br />

angrenzenden Thüringischen (siehe Karte Namenverteilung für Typ: Lippmann 1627 3 ). Für die<br />

Namengeografie spielen die Namenhäufungen bzw. Namenkonzentrationen eine entscheidende<br />

Rolle.<br />

1 Bach, 1953, Bd. I, S. 139.<br />

2 Kunze, 1999, S. 198-207.<br />

3 In: Kunze, 1999.


Namengeografie und Namenetymologie. Eine Fallstudie am Beispiel Lippmann<br />

5,6 % aller Deutschen tragen einen Familiennamen, der auf -mann endet 4 .Von den 4,4 Millionen<br />

Familiennamen auf -mann in Deutschland 5 ist Lippmann der 153.-häufige.<br />

Die Eingabe des regulären Ausdrucks Lippe?mann?s? in der Freiburger Datenbank 1995 ergab<br />

folgende Varianten: Lippman 2, Lippmann 1625. Historische Schreibweisen mit einem auslautenden<br />

-n sind zweimal belegt, patronymische Bildungen fehlen.Wenn wir davon ausgehen,<br />

dass pro Telefonanschluss durchschnittlich 2,8 Träger 6 des betreffenden Namens zu veranschlagen<br />

sind, so ergeben sich für den Typ Lippmann 1627 x 2,8 = 4555,6 Namenträger, das<br />

heißt eine für die Namengeografie beträchtliche Namenanzahl.<br />

Welches ist aber die Hauptbedeutung von Lippmann? Ist es „der Mann an / von der Lippe,<br />

Nebenfluss des Rheins“ oder „ein liebenswerter Mann“ oder sonst was? Die überregionalen Namenlexika<br />

geben für den Familiennamen Lippmann folgende Hauptbedeutungen an (fast jeder<br />

Familienname hat auch Bedeutungskonkurrenzen, das heißt Nebenbedeutungen, doch ist die<br />

Erstbedeutung die wichtigste): Bahlow (1985, 319), Gottschald (1982, 329), Kohlheim (2000,<br />

427) und Naumann (o.J., 184) geben als Erstbedeutung für den Familiennamen Lippmann die<br />

Kurzform Lipp des Vornamens Philipp (griechisch Philippos, bed. „Pferdefreund“) und das Suffix<br />

-man(n) an; Cascorbi (1933, 330 u. 326) deutet den Namen als Vaternamen, doch leitet er ihn<br />

zuerst von Rufnamen auf ahd. liut „Volk“ z.B. Liutbald, Liebhard, Leupold u.ä. ab,<br />

Brechenmacher (1960-63, 197, 188 u. 187) erklärt Lippmann als Übernamen und zwar als<br />

mitteldeutsche Variante für Lieb(er)mann (Ableitung zu mhd. liep für einen lieben, angenehmen<br />

Menschen). Kunze (1999, 71, 87, 143) und Zoder (1968, 65) erklären den Namen als Herkunfts-<br />

oder Wohnstättennamen, nach den vielfachen Ortsnamen Lippe in Schleswig-Holstein, Westfalen,<br />

Rheinland, Brandenburg, Pommern, Schlesien oder nach dem Gewässernamen Lippe, dem<br />

rechten Nebenfluss des Rheins. Welche ist nun die eigentliche Erstbedeutung: Patronymikum,<br />

Übername oder Herkunfts- bzw. Wohnstättenname?<br />

Andere Bedeutungskonkurrenzen des Familiennamens Lippmann sind slawischer Herkunft:<br />

Patronymikum von tschech. liby, wendisch luby bed. „lieb“ zu den Personennamen Ljubogost,<br />

Lubomer 7 u.ä. oder Wohnstättenname von tschech. lipa bed. „Linde“. 8<br />

Für den Familiennamen Lippmann wird vereinzelt auch jüdische Herkunft 9 angegeben, z.B.<br />

Samuel Lipman 1786, jüdischer Handelsmann in Bremen. In Frankfurt ist Lippmann zu Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts ebenfalls als Judenname zu mhd. lieb, liep „angenehm, erfreulich“ belegt. 10<br />

Jetzt werden wir die einzelnen Hauptbedeutungen des Familiennamens Lippmann: Herkunftsname<br />

bzw. Wohnstättenname, Übername, Personenname in seinem Konzentrationsgebiet<br />

genauer analysieren. Die Bedeutung Wohnstätten- bzw. Herkunftsname vom Flussnamen Lippe<br />

(sie sind schwer voneinander zu trennen, deshalb behandeln wir sie zusammen) entfällt im<br />

Ostmitteldeutschen, wegen der zu großen Entfernung zwischen diesem Gebiet und dem betreffenden<br />

Fluss. Herkunftsnamen aus Ortsnamen und Wohnstättennamen nach der Oberflächengestalt<br />

oder nach Gewässern sind nur in einer begrenzten Entfernung (maximal 60-80<br />

km) vom Ausbreitungszentrum verbreitet, weil die Migration infolge der Eheschließung oder der<br />

4 Ebd., S. 69.<br />

5 Ebd., S. 69.<br />

6 vgl. ebd., S. 199.<br />

7 Gottschald, 1982, S. 329.<br />

8 Wenzel, 1999, S. 160.<br />

9 So: Bahlow, 1985, S. 319; Zoder, Bd. 2, 1968, S. 65; Weiss, 1992, S. 199.<br />

10 Vgl. Schiff, 1917, S. 25.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

511


512<br />

Adina-Lucia Nistor<br />

Arbeitssuche zur Entstehungszeit der Familiennamen, im Mittelalter diesen Radius nicht übertraf<br />

(vgl. hierzu die Familiennamen: Münstermann, Siekmann u.ä.). Heutige Migrationen beeinflussen<br />

das Konzentrationsgebiet eines Familiennamens nur wenig, zu ungefähr 15 %. In Ost-<br />

und Westfalen kann Wohnstätten- bzw. Herkunftsname die Hauptbedeutung sein, vergleiche<br />

hierzu die Gleichung bei Zoder (1968, 65) „Hinrik van der Lippe 1447 = Hinrik Lipman junior,<br />

Hinrikes sone 1458 = Hinrik Lippeman 1470/80“, doch ist für die Erstbedeutung das Konzentrationsgebiet<br />

eines Namens ausschlaggebend. Die Bedeutung Übername für einen „lieben,<br />

angenehmen Menschen“ oder „einem dem Herren bevorzugten, begünsteten Menschen“ 11 von<br />

Lippmann als Variante von Liebmann mit Auslautverhärtung, kommt, so glauben wir, wegen der<br />

zu engen Nachbarschaft der Namen eher nicht in Frage. Brechenmacher (1960-63, 197, 188)<br />

behauptet, Lippmann sei die mitteldeutsche Variante von Lieb(er)mann. Weil sich jedoch beide<br />

Namen im Ostmitteldeutschen konzentrieren (siehe Karte Verhältnis Typ: Liebmann 942 / Typ:<br />

Lippmann 1627 12 ), ist es unwahrscheinlich, dass hier die Namen dieselbe Bedeutung, nur verschiedene<br />

lautliche Formen haben. Lippmann (1627 Telefonanschlüsse) konzentriert sich im<br />

Obersächsischen (teilweise auch im Thüringischen); das hier ungedruckte Kartenbild des Typs<br />

Liebmann (Liebmann 942 Telanschl.und Liebermann 853 Telanschl.) zeigt hingegen eine Konzentration<br />

im Thüringischen (partiell auch im Obersächsischen) (vgl. Karte Liebmann – Lippmann<br />

13 ). Die Familiennamen Lippmann und Lieb(er)mann kommen in den regionalen Namenbüchern<br />

von Hellfritzsch (1992) für das Sächsische Vogtland, sowie bei Neumann (1981) für die<br />

Gebiete Oschatz, Riesa, Grossenhain in Sachsen nicht vor. Lieb(er)mann fehlt auch bei Schwarz<br />

(1973) für das Sudetendeutsche.<br />

Bei Grünert (1958) bedeuten in Altenburg (im Ostmitteldeutschen), wohl nicht zufällig, Liebermann<br />

„Übername, ein angenehmer, lieber Mann“ 14 und Lippmann „Patronymikum, Kurzform<br />

von Philippus mit -mann-Ableitung.“ 15 Schwarz (1973, 193) erklärt Lippmann für das Sudetendeutsche<br />

auch als Patronymikum zur Kurzform Lipp von Philipp. Neumann (1981) führt in<br />

ihrem regionalen Familiennamenbuch Sachsens den Familiennamen Lip an: „Rufname, Kurzform<br />

zu Philippus, wohl kaum Übername mhd. lefs(e), mitteldt. Lipp = Lippe“ 16 an. Daraus<br />

schließen wir, dass der Familienname Lippmann in seinem Konzentrationsgebiet Sachsen, die<br />

Erstbedeutung Patronymikon hat und eine Ableitung auf -mann mit der alten Kurzform für<br />

Philipp ist, wahrscheinlich wegen der Verehrung des Heiligen Apostels Philippus gewählt. In<br />

Einzelfällen kann Lippmann auch eine mit dem Suffix -mann erweiterte Bildung der Kurzform<br />

von germanischen Rufnamen mit lieb (ahd. liub, liob) z.B. Liebhard, Liebfried, Liebwald u.ä. sein,<br />

oder einen westslawischen Einfluss zu Personennamen auf slaw. liby, luby = lieb oder zu slaw.<br />

lipa = Linde und demzufolge als Vatername oder als Wohnstätten- bzw. Herkunftsname gedeutet<br />

werden. An dieser Stelle bleibt unsere Forschung noch offen. Über jeden Einzelfall<br />

können nur familiengeschichtliche Untersuchungen entscheiden.<br />

Bei der Etymologie von Familiennamen geht es zuerst um den Rang der Bedeutungen. Im<br />

Fall Lippmann haben wir gezeigt, wie man mit Hilfe der Namengeografie einzelne Bedeutungen<br />

eines Namens als Hauptbedeutungen ausschalten kann. In den überregionalen Namenlexika<br />

11 vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, 1984, Sp. 941.<br />

12<br />

In: Kunze, 1999.<br />

13<br />

Ebd.<br />

14<br />

so: Grünert, 1958, S. 393-394.<br />

15 So: Grünert, 1958, S. 54.<br />

16 Neumann, 1981, S. 108.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Namengeografie und Namenetymologie. Eine Fallstudie am Beispiel Lippmann<br />

kam Lippmann mit den Hauptbedeutungen Patronymikum, Übername und Wohnstätten-Herkunftsname<br />

vor. Die Namengeografie hat uns dazu verholfen, auf die Erstbedeutung Patronymikon<br />

von der Kurzform zu Philipp zu kommen.<br />

Schlussfolgernd können wir behaupten:<br />

➧ Namengeografie spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über die Erstbedeutung<br />

eines Familiennamens.<br />

➧ Die moderne Namengeografie eröffnet der Namenkunde neue Wege, sie reißt sie aus<br />

dem Bereich des Hypothetischen heraus und konkretisiert sie.<br />

➧ Namengeografie ist ein Instrument zur Überprüfung der überregionalen Namenbücher.<br />

➧ Infolge moderner namengeografischer Studien müssen Namenbücher neu geschrieben,<br />

etymologisch neu geschichtet werden.<br />

➧ Namengeografie kann in manchen Fällen noch unbekannte Bedeutungen der Namen<br />

ans Licht bringen.<br />

➧ Die Rolle der Namengeografie darf nicht absolutisiert werden. Sie kann nicht immer die<br />

endgültige Lösung bringen, weil auch aus namengeografischer Perspektive manches<br />

ungelöst bleiben kann.<br />

LL L ii i t t e e r r aa a a tt t u u r r :<br />

:<br />

1. Bach, Adolf (1953): Deutsche Namenkunde. Die deutschen Personennamen. Bd. I 1 u. 2. Heidelberg.<br />

2. Bahlow, Hans (1985): Deutsches Namenlexikon. Baden-Baden.<br />

3. Brechenmacher, Josef Karlmann (1960-63): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Familiennamen. Bd. 2.<br />

Limburg an der Lahn.<br />

4. Fleischer, Wolfgang (1968): Die deutschen Personenamen. Geschichte, Bildung und Bedeutung. Berlin.<br />

5. Gottschald, Max (1982): Deutsche Namenkunde. 5. Auflage. Berlin.<br />

6. Grimm, Jakob u. Wilhelm (1984): Deutsches Wörterbuch. Bd. 12. München.<br />

7. Grünert, Horst (1958): Die Altenburgischen Personennamen. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Namenforschung.<br />

Tübingen.<br />

8. Heintze, Albert u. Cascorbi, P. (1933): Die deutschen Familiennamen geschichtlich, geografisch, sprachlich. 7.<br />

Auflage. Halle-Berlin.<br />

9. Hellfritzsch, Volkmar (1992): Familiennamenbuch des sächsischen Vogtlandes. Auf der Grundlage des Materials<br />

der Kreise Plauen und Oelsnitz. Berlin.<br />

10. Kohlheim, Volker u. Rosa (1998): Duden-Lexikon der Vornamen.3. Auflage. Mannheim.<br />

11. Kohlheim, Volker u. Rosa (2000): Duden-Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Mann-heim.<br />

12. Kunze, Konrad (1999): dtv-Atlas Namenkunde. Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebiet. 2. Auflage.<br />

München.<br />

13. Lexer, Matthias (1979): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Stuttgart.<br />

14. Naumann, Horst (o.J.): Das große Buch der Familiennamen. Alter-Herkunft-Bedeutung. o.O.<br />

15. Neumann, Isolde (1981): Die Familiennamen der Stadtbewohner in den Kreisen Oschatz, Riesa und Grossenhain<br />

bis 1600. Berlin.<br />

16. Schiff, Adelheid (1917): Die Namen der Frankfurter Juden zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Freiburg.<br />

17. Schwarz, Ernst (1973): Sudetendeutsche Familiennamen des 15. und 16. Jahrhunderts. München.<br />

18. Weiss, Nelly (1992): Die Herkunft jüdischer Familiennamen. Herkunft, Typen, Geschichte. Bern.<br />

19. Wenzel, Walter (1999): Lausitzer Familiennamen slawischen Ursprungs. Bautzen.<br />

20. Zoder, Rudolf (1968): Familiennamen in Ostfalen. Bd. 2, Hildesheim.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

513


EIN DEUTSCH-RUMÄNISCHES AUSTRIAZISMENLEXIKON<br />

Mit besonderer Hervorhebung der österreichischen<br />

und rumäniendeutschen sprachlichen Gemeinsamkeiten<br />

Hermann Hermann Scheuringer Scheuringer Scheuringer / / / Ioan Ioan L`z`rescu<br />

L`z`rescu<br />

Nachdem Hugo Moser in der ersten Auflage des Handbuchs Sprachgeschichte im Jahre<br />

1985 ein letztes Mal die, wie man jetzt sagt, monozentrische Sicht aufs Deutsche, d.h. die<br />

deutsche Standardsprache, mit einer Hauptvariante Bundesrepublik und Nebenvarianten wie<br />

damals noch DDR-Deutsch, dazu Österreichisch, Schweizerhochdeutsch u.a. vertreten hatte<br />

(Moser 1985), gewann in der Folgezeit die heute diesbezüglich dominierende, allseits auch<br />

problemlos akzeptierte poly- oder plurizentrische Sicht an Boden. Sie anerkennt die Tatsache,<br />

dass auch die deutsche Hochsprache kein monolithischer Block ist, sondern auch auf dieser<br />

hochsprachlichen Ebene regionale Varianz kennt, Zwei- und Mehrgleisigkeiten, wie sie ein so<br />

großes Sprachgebiet wie das deutsche einfach hervorbringen muss angesichts sprachhistorisch<br />

wie auch territorialpolitisch vielfältiger Entwicklungen. Bezeichnenderweise waren es außersprachliche<br />

Anlässe, die die Diskussion ums mono- oder polyzentrische Deutsch immer wieder<br />

angestoßen haben, schon in den siebziger Jahren die Emanzipationsbestrebungen der DDR, in<br />

den späten achtziger Jahren und bis zur Mitte der neunziger Jahre, zwischen so genannter<br />

Wiedervereinigung und österreichischem EU-Beitritt, die damals geradezu besessen zelebrierte<br />

Angst österreichischer Intellektueller vor der kulturellen Vereinnahmung durch Deutschland.<br />

Im speziellen Arbeitsbereich „Österreichisches Deutsch“ ist inzwischen Ruhe eingekehrt, die<br />

sprachpolitische Debatte zwischen, wie Wiesinger es genannt hat, österreichisch-nationalem<br />

und deutsch-integrativem Standpunkt scheint ausgereizt zu sein. Österreichisches Deutsch ist<br />

eine wohlbekannte und wohlbeschriebene, auch allgemein anerkannte Größe. Unterschiedliche<br />

Sichtweisen zur Regionalität der deutschen Standardsprache zwischen plurizentrisch oder etwa<br />

pluriareal ändern nichts am allgemein als regional anerkannten sprachlichen Ausgangsmaterial,<br />

und auch Vertreter einer pluriarealen Sicht aufs Deutsche, frei von Abgrenzungs- und Distanzierungsbemühungen<br />

Deutschland und „den Deutschen“ gegenüber, sehen ohne jede Selbstüberwindung<br />

neben süddeutschen oder bairisch-österreichischen Sprachformen eindeutig auch<br />

nur österreichische oder nur schweizerische, Austriazismen und Helvetismen, aber auch Liechtensteinismen<br />

und Südtirolismen und natürlich auch rein bundesdeutsche, vor dem Hintergrund<br />

des Staates Deutschland erklärbare Sprachformen, vielleicht als Teutonismen oder besser:<br />

Deutschlandismen etikettierbar, wie z.B. das Wort Abitur. Es ist einsichtig, dass insbesondere im<br />

politisch-administrativen Bereich und in allen weiteren Lebensbereichen mit größeren staatlichen<br />

Eingriffen und Befugnissen staatliche Wortschätze und weitere staatlich eingrenzbare<br />

sprachliche Formen auftreten.<br />

Bevor es noch Internet-Suchmaschinen und große über das Internet zugängliche Textkorpora<br />

und Datensammlungen gab, waren jedem Unterfangen, staatlich geprägte sprachliche<br />

Formen innerhalb des Deutschen herauszufiltern und zu beschreiben, relativ früh unüberwindbare<br />

Hürden gesetzt in dem Sinne, dass neben einem kleinen, nach bestem Wissen und Ge-


Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon …<br />

wissen, nach allgemeinem Dafürhalten und wiederholt verifizierten, quasi „zweifelsfrei“ z.B. als<br />

Austriazismen klassifizierten Anteil sprachlicher Formen viele weitere, ja die meisten dieser<br />

Formen nur auf Grund von Intuition und Einschätzung, auf Grund immer einseitiger und beschränkter<br />

räumlicher Lebenswelten ihrer Bearbeiter Eingang in entsprechende Lexika fanden.<br />

Diese Hürden sind jetzt nicht beseitigt, doch weitaus kleiner bzw. später zu sehen. Das „Wörterbuch<br />

der nationalen und regionalen Standardvarianten des Deutschen“, ein trinationales<br />

Forschungsprojekt an den Universitäten Duisburg, Basel und Innsbruck, finanziert von Deutscher<br />

Forschungsgemeinschaft, Schweizerischem Nationalfonds und Österreichischem Forschungsförderungsfonds<br />

und Geisteskind von Ulrich Ammon in Duisburg, kann die neuen technischen<br />

Möglichkeiten ausschöpfen und wird voraussichtlich ab 2004 die neue Messlatte vorgeben<br />

– und insofern auch für das österreichische Deutsch bisher noch nie gesehene Zuverlässigkeit<br />

in puncto Belegmaterial aufweisen. 1 Eine Seite der im Folgenden vorzustellenden<br />

österreichisch-rumänischen Forschungskooperation hat damit eine optimale Materialbasis zur<br />

Verfügung, die beim derzeitigen Stand der Dinge nicht weiter hinterfragt werden muss – wünschenswerte<br />

Voraussetzung auch, um das Augenmerk ganz auf die andere, rumänische Seite<br />

konzentrieren zu können. Das „Wörterbuch der nationalen Standardvarianten des Deutschen“<br />

ist grundsätzlich ein bundesdeutsch-österreichisch-schweizerisches Werk, dazu die zwei Kleinstaaten<br />

Liechtenstein und Luxemburg und allenfalls am Rande noch Südtirol und Ostbelgien<br />

berücksichtigend, es geht aber über den geschlossenen deutschen Sprachraum Mitteleuropas<br />

nicht hinaus. Dies gilt leider – fast – genauso für Ulrich Ammons 1995 erschienenes Standardwerk<br />

„Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ (Ammon 1995), in<br />

dem sich das Deutsche in Rumänien, mit dem Deutschen im Elsass und in Lothringen zusammengefasst<br />

in einem kleinen Kapitel unter der Überschrift „Zentrumsansätze ohne Amtssprachlichkeit“,<br />

mit 4 von 575 Seiten begnügen muss.<br />

Die Forschung zum plurizentrischen Deutsch, insbesondere zu seinen staatlichen Standardvarianten,<br />

hat Varietäten außerhalb des geschlossenen Stamm-Sprachraums somit bis dato<br />

wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt, ein Manko, das gerade angesichts des Rumäniendeutschen<br />

schmerzt, ist doch das Deutsche in Rumänien eine vollwertige regionale Varietät<br />

– mit Spezifika natürlich, aber nur wenigen Einschränkungen. Es hat alles dazu Erforderliche,<br />

muttersprachliche Vielfalt von der dialektalen bis zur hochsprachlichen Ebene, Schrifttum jedweder<br />

Spielart einschließlich einer Tageszeitung, Schulen, Theater und Germanistik-Lehrstühle<br />

u.v.a.m., natürlich als Sprachminderheit in einem dominant rumänischen Staat und insofern z.B.<br />

nicht auf gleicher Ebene etwa mit Südtirol, wo die Minderheit de facto die dominante sprachliche<br />

Gruppe ist. Der demografische Aderlass des letzten Jahrzehnts mag ein Übriges dazu<br />

beitragen, dass rumänisches Deutsch kaum (mehr) Beachtung findet. Seine dialektale Seite ist<br />

gut erforscht, es gibt eine lange Tradition vor allem siebenbürgischer und Banater Mundartkunde,<br />

seine hochsprachliche Seite wurde und wird nur allzu gern als Variante oder Abart des<br />

Österreichischen gesehen, was es – vielleicht – bis 1918 auch war, aber das gilt bis 1918 auch<br />

für Südtirol, und wir erkennen Südtirolismen heute zuhauf.<br />

Bei Ammon (1995), der sich bei seinen diesbezüglichen Ausführungen, wie andere auch,<br />

hauptsächlich auf die Arbeit Helmut Kelps (Kelp 1982–1984) stützt, heißt es: „Ein Großteil der<br />

von Kelp präsentierten lexikalischen Besonderheiten sind Austriazismen. In der Tat entsteht für<br />

die Rumäniendeutschen erst 1918 die politische Grundlage für die Ausbildung eines eigenen<br />

nationalen Zentrums der deutschen Sprache.“ Und weiter: „Die spezifisch rumäniendeutschen<br />

1 Vgl. dazu Ammon (1998).<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

515


Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu<br />

nationalen Varianten [Ammon nennt sie „Transsylvanismen“], ohne die Austriazismen, entstammen<br />

vor allem den folgenden drei Quellen: (1) den rumäniendeutschen Dialekten (Siebenbürger<br />

Sächsisch, Banater und Sathmarer Schwäbisch), (2) dem Rumänischen und (3) dem<br />

Ungarischen“. Die strenge Durchsicht der Kelpschen Listen durch rumänische Informantinnen<br />

führt bei Ammon (1995) letztlich zu ganz wenigen Lexemen, die zweifelsfrei als so genannte<br />

Transsylvanismen durchgehen, darunter Aufboden „Dachboden“, Hattert „Feld, Gemarkung“,<br />

Klettiten „Pfannkuchen“, Schopfen „Schuppen“ und versorgen „beiseite legen“.<br />

516<br />

Bisheriges zusammenfassend, ist festzustellen:<br />

➧ Der Status der deutschen Sprache in Rumänien geht weit über den einer durchschnittlichen<br />

Minderheitensprache hinaus. Deutsch in Rumänien kann als eine staatliche<br />

Varietät des Deutschen gesehen werden.<br />

➧ Deutsch in Rumänien zeigt zweifellos Eigenheiten, primär natürlich auf lexikalischer<br />

Ebene, wobei die Herausbildung spezifischer Rumänismen, weitgehend unabhängig<br />

von den dialektalen deutschen Grundlagen, erst ab 1918 anzusetzen ist.<br />

➧ Deutsch in Rumänien (und mittelbar damit auch das Rumänische) kennt in historischer<br />

Sicht als primären Kontaktpartner im deutschen Binnenraum die österreichische Standardvarietät,<br />

in merklichem Kontrast zu seiner vornehmlich moselfränkischen und<br />

schwäbischen dialektalen Grundlage, im letzten halben Jahrhundert verstärkt auch die<br />

westdeutsch-bundesdeutschen und DDR-Standardvarietäten.<br />

Die historische Verquickung von österreichischem Deutsch und rumänischem Deutsch stellt<br />

auch die Grundlage unseres „Doppelprojektes“ dar, das hier kurz vorzustellen auch Zweck unserer<br />

Ausführungen ist. Am Anfang steht dabei das für diesen Beitrag den Titel abgebende<br />

„Austriazismenlexikon mit besonderer Hervorhebung der österreichischen und rumäniendeutschen<br />

sprachlichen Gemeinsamkeiten“. Es soll ein deutsch-rumänisches Wörterbuch primär<br />

für rumänische Muttersprachler mit fortgeschrittener Kompetenz im Deutschen werden, in dem<br />

das besondere Augenmerk der Einbeziehung hochsprachlicher Austriazismen gilt, rumänische<br />

Deutschlerner also gezielt lexikografisch mit österreichischem Deutsch bekannt gemacht werden<br />

sollen, und dabei sollen auch die zahlreichen Rumäno-Austriazismen bewusst als eben<br />

österreichisch-rumänische Gemeinsamkeiten in der deutschen Standardsprache hervorgehoben<br />

werden. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes wird auf Struktur und Inhalt des Wörterbuchs, auf<br />

Lemmata und Lemmatisierungsproblemen usw. eingegangen. Dieses „austro“-deutsch-rumänische<br />

Wörterbuch, Teil 1 des erwähnten Doppelprojektes, wurde und wird finanziell von der<br />

Universität Wien und von der Österreichischen Botschaft in Bukarest gefördert und soll im Jahr<br />

2004 in Bukarest der Öffentlichkeit präsentiert werden.<br />

Teil 2 stellt ein noch 2003 beim Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung<br />

(FWF) in Wien einzureichendes Drei-Jahres-Forschungsprojekt dar mit dem Arbeitstitel „Erforschung<br />

und Beschreibung der rumänischen Variante der deutschen Standardsprache“, in<br />

dem, falls als förderungswürdig erachtet, eine Projektmitarbeiterin aktuelle rumäniendeutsche,<br />

gesprochene wie geschriebene Texte auf Rumänismen hin auswerten soll, wie sie natürlich<br />

primär im lexikalischen Bereich zu erwarten sind, aber nicht nur: Auch die Aussprache der<br />

deutschen Hochsprache in Rumänien ist zu thematisieren und wohl auch grammatische<br />

Aspekte. Erster Projektpartner in Rumänien ist natürlich Ioan L`z`rescu, mit weiteren<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon …<br />

rumänischen Partnern laufen zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags im Spätsommer 2003<br />

Kontaktgespräche, als Berater in Österreich uns zur Seite stehen will Jakob Ebner in Linz,<br />

seinerseits der herausragende und erfahrenste Lexikograf des österreichischen Deutsch und<br />

auch Mitarbeiter des erwähnten neuen Varietätenwörterbuchs, dessen Korpus uns dankenswerterweise<br />

schon jetzt zugänglich gemacht worden und weiter zugänglich ist und zu dem sich<br />

das geplante FWF-Projekt gleichsam als Ergänzungsprojekt versteht. Natürlich soll nach dem<br />

Aufspüren spezifischer Rumänismen insbesondere gemeinsamen Rumänismen und Austriazismen<br />

nachgegangen werden, doch auch gemeinsamen Rumänismen und Deutschlandismen, wie<br />

sie aus den letzten Jahren vermehrt zu erwarten sind, abgerundet durch einen Blick auf die<br />

Geschichte der deutschen Standardsprache in Rumänien, für die gerade auch dieser Wechsel<br />

vom primären Kontaktpartner Österreich zum primären Kontaktpartner Deutschland bedeutsam<br />

erscheint. Wir bitten generell die Germanisten an den rumänischen Universitäten um ihre Mithilfe.<br />

Auch in diesen Zeiten demografischer Schwächung der deutschen Bevölkerung Rumäniens<br />

steht z.B. der tagtägliche Ausstoß an – von deutschen Muttersprachlern – Geschriebenem weit<br />

vor oder über vergleichbarem Schrifttum deutscher Minderheitsbevölkerungen in andern Ländern<br />

außerhalb des Stammsprachraumes. Allein die Produktion aktuellen Schrifttums, wie es<br />

z.B. in Hermannstadt erscheint, ist weiterhin beeindruckend, von der wöchentlichen Hermannstädter<br />

Zeitung bis zu den Büchern des Hora-Verlages, Fachliteratur wie Belletristik usw. Gesamtrumänisch<br />

kommt die tägliche Allgemeine deutsche Zeitung dazu, weitere deutsche Presseerzeugnisse<br />

und die weiterhin vielfältige Buchproduktion in Städten wie Temeswar oder<br />

Kronstadt u.v.a.m.<br />

Schon der Blick in nur eine dieser Quellen zeitigt Ergebnisse mehrerlei Schattierung mit reinen<br />

Rumänismen, Bezeichnungs- wie Bedeutungsrumänismen, und natürlich auch mit Rumäno-Austriazismen.<br />

Exemplarisch habe ich 2 im Vorfeld des VI. Rumänischen Germanistenkongresses<br />

dafür fünf Ausgaben der Hermannstädter Zeitung (HZ) von Anfang April bis Anfang<br />

Mai 2003 durchgesehen, mir auffällig Erschienenes mit Hilfe deutscher Wörterbücher und mit<br />

Hilfe der Internet-Suchmaschine „Google“ überprüft. Manches erwies sich dabei als nur mir<br />

auffällig, sonst aber nicht einschlägig, ein paar der gefundenen Einträge seien hier vor- und zur<br />

Diskussion gestellt. In der HZ vom 4. April 2003 findet sich ein Artikel über das rumänische<br />

Gesundheitssystem, der vorrangig von kompensierten Medikamenten handelt. Der Terminus<br />

wird auch, wohl mit Blick auf nicht rumänische Leser, erklärt: Medikamente, bei denen die<br />

Krankenkasse den Apotheken die Preisdifferenz zum dort reduzierten Preis ausgleicht. Mit dem<br />

in der gleichen Ausgabe vorkommenden Spital verwendet die HZ ein älteres Lexem des<br />

Deutschen, wie es in Österreich und in der Schweiz weiterhin uneingeschränkt standardsprachlich<br />

ist, nicht mehr aber in Deutschland. Auf Seite 1 besagter Ausgabe findet sich auch ein<br />

Bericht über die neuen Korruptionsbekämpfungsgesetze, die nun vom Präsidenten promulgiert<br />

werden können, also bekannt gemacht, etwas, das im Deutschen heute sonst nur noch<br />

höchsten kirchlichen Würdenträgern vorbehalten ist. Ob der in der HZ vom 11. April in einer<br />

Anzeige des Kreisrates Sibiu gelesene Hausanschluss der sonstigen Nebenstelle oder Durchwahl,<br />

österreichisch auch Klappe, entspricht, weiß ich nicht, doch sei das Lexem hier zur Diskussion<br />

gestellt, ebenso in der HZ vom 18. April gesehenes Freizeit in einem Bericht über eine<br />

„Einladung zu Freizeiten der Senioren“, also Seniorenfreizeiten, in dem auf zwei solche Frei-<br />

2 i.e.Hermann Scheuringer.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

517


Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu<br />

zeiten hingewiesen wird und es dann auch heißt: „Für beide Freizeiten besteht Abholmöglichkeit<br />

von den nächstliegenden Bahnhöfen.“ In der gleichen Ausgabe begegnen in einem Artikel<br />

zur Internationalen Meisterschaft im Kunstturnen auch Gymnasten und Gymnastinnen, wie es<br />

sie im Rumänischen gibt und auch im Englischen, meines Wissens aber sonst im Deutschen<br />

nicht. Das in einer Wohnungsanzeige in der HZ vom 25. April gelesene Direktorenbadezimmer<br />

mag meiner mangelnden einschlägigen Lebenserfahrung entsprießen – ich weiß es nicht,<br />

Sparkassa wiederum in der HZ vom 9. Mai und auch Rauchfangkehrer sind unschwer als<br />

Rumäno-Austriazismen zu identifizieren. So weit ein erster Blick meinerseits unter Berücksichtigung<br />

des Hermannstädter genius loci.<br />

518<br />

Näheres zum "austro"-deutsch-rumänischen Wörterbuch:<br />

1. Anvisierter Benutzerkreis. Das Austriazismen-Lexikon wendet sich an rumänische<br />

Deutschlernende, die die Mittelstufe erreicht haben, und selbstverständlich an Fortgeschrittene,<br />

somit an rumänische Muttersprachler, die weit über den Grund- und Alltagswortschatz hinaus<br />

sind und in schriftlichen und/oder gesprochenen Texten auf lexikalische Spezifika des österreichischen<br />

Deutsch stoßen und sich darüber Klarheit verschaffen bzw. Kommunikationsstörungen<br />

vorbeugen oder vermeiden wollen. Gemeint sind hier die Lektüre der österreichischen<br />

Presse, von österreichischen Prospekten, Broschüren und Sachtexten verschiedensten Inhalts<br />

bis hin zu belletristischen Texten, ferner das Verstehen von Hörtexten in Form von unterschiedlichen<br />

An- und Durchsagen, im Rundfunk und Fernsehen, bzw. während Gespräche, die mit<br />

Österreicherinnen und Österreichern geführt werden.<br />

2. Das Wortinventar. Aufgenommen werden lexikalische Besonderheiten des österreichischen<br />

Deutsch im weitesten Sinne des Wortes, also neben den typischen Austriazismen<br />

auch solches Wortgut, das in der Regel als bairisch-österreichisch bezeichnet wird, ist doch in<br />

vielen Fällen eine strenge Trennung zwischen Austriazismen und Bavarismen praktisch kaum<br />

durchzuführen, wobei unter letzteren die sprachlichen Besonderheiten der Region verstanden<br />

werden, die man gewöhnlich als Altbayern zusammenfasst – nämlich Oberbayern, Niederbayern<br />

und die Oberpfalz (vgl. auch die sog. "unspezifischen Bavarismen" bei Zehetner ²1998, 7).<br />

Sieben Kategorien von Wörtern machen den Wortbestand unseres Lexikons aus:<br />

(1) In erster Linie geht es um Wörter, die in den bisher erschienenen zweisprachigen Wörterbüchern<br />

überhaupt nicht vorkommen, verständlicherweise nicht in den kleinen und mittelgroßen<br />

älteren wie jüngeren Datums, erstaunlicherweise aber auch im großen deutschrumänischen<br />

Wörterbuch der Rumänischen Akademie (2., erweiterte und bisher letzte Auflage<br />

1989) nicht. Es sind dies vornehmlich Elemente der Fachsprachen und der Behördensprache<br />

(z.B. anverwahrt für 'beiliegend', Aufgriff im Sinne von 'etw. von der Polizei Beschlagnahmtes',<br />

beeinspruchen 'gegen etw. Einspruch erheben', auffirnen 'körnig und weich werden (vom<br />

Schnee)' u.v.a.m. Zwar bildet gewissermaßen das 1996 von Ioan L`z`rescu herausgegebene<br />

Dic]ionar de argou [i limbaj colocvial german-român (Deutsch-rumänisches Wörterbuch der<br />

Gauner- und Umgangssprache) 3 diesbezüglich eine Ausnahme, zumal eine verhältnismäßig<br />

große Anzahl der darin vorkommenden Lemmata der österreichischen Umgangs-, Gauner- und<br />

Jugendsprache angehören, lexikalische Elemente der österreichischen Standardsprache scheinen<br />

jedoch in der rumänischen Lexikographie noch ein Kellerkind zu sein.<br />

3 Niculescu-Verlag, Bukarest.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon …<br />

(2) Wörter, die in deutsch-rumänischen Lexika zwar vorkommen, jedoch lediglich mit deren<br />

bundesdeutschen Bedeutungspalette, wobei etwaiige zusätzliche österreichische Bedeutungsvarianten<br />

in der Beschreibung fehlen, z.B.: anschließen, das im deutsch-rumänischen Wörterbuch<br />

der Akademie nur mit den Bedeutungen 'festmachen; verbinden; folgen lassen' – auch mit<br />

dessen reflexiver Bedeutung – vorkommt, jedoch ohne die für die österreichische Behördensprache<br />

typische zusätzliche Bedeutung 'anfügen, beilegen (etwa Unterlagen)'.<br />

(3) Wörter, die hauptsächlich in Österreich verwendet werden, somit als "reine Austriazismen"<br />

zu bezeichnen sind, in den gängigen deutsch-rumänischen Wörterbüchern jedoch bestenfalls<br />

die Markierung reg. (= regional/Regionalismus) haben. Der Wörterbuchbenutzer bekommt<br />

somit dabei gar keine Information darüber, dass das betreffende Wort als typisch österreichisch<br />

zu verstehen ist zum Unterschied von anderen Lemmata, die gleichfalls die Markierung<br />

reg. haben, die aber norddeutsch, west- oder ostmitteldeutsch oder sonstwie sind (vgl.<br />

die Einträge Buchtel und Schmetten im Wörterbuch der Akademie: in beiden Fällen steht in<br />

Klammern der Vermerk reg., man erfährt aber nicht, dass der erstere österreichisch, der letztere<br />

ostmitteldeutsch ist).<br />

(4) Es fällt auf, dass bei vielen typischen Austriazismen in den meisten bisher in Rumänien<br />

erschienenen Wörterbüchern überhaupt keine diatopische Markierung steht, also kein Vermerk<br />

über den nur auf Österreich beschränkten Gebrauch – etwa beim Verb beheben i.S.v. 'Geld<br />

abheben', so dass der darauf nicht vorbereitete Benutzer den falschen Schluss ziehen kann,<br />

diese Bedeutung sei gesamtdeutsch. Aber ein im nordwestlichen Teil des deutschen Sprachraums<br />

lebender Sprecher verwendet beheben nur im Zusammenhang mit Fehlern. Solche<br />

Wörter werden in unserem Lexikon selbstverständlich zu Austriazismen gezählt und als solche<br />

behandelt.<br />

(5) Wörter, die im Österreichischen mit anderen Wortbildungsmitteln als im bundesdeutschen<br />

Sprachraum gebildet bzw. gebräuchlich sind, z.B. im Falle der Komposita andere<br />

Fugenelemente (Rindsbraten vs. Rinderbraten, aufnahmsfähig vs. aufnahmefähig), bei<br />

Derivaten andere Suffixe usw. (Ausbildner vs. Ausbilder, Wissenschafter vs. Wissenschaftler,<br />

Wörter auf -hältig/-haltig, -färbig/-farbig usw.), oder Wörter, die sich in ihrer grammatischen<br />

Beschaffenheit von ihren bundesdeutschen Entsprechungen unterscheiden (Verben mit festen<br />

Präpositionen, wobei die Präpositionen differieren – z.B. erinnern bzw. denken auf statt an –,<br />

Substantive mit unterschiedlichem Genus: österr. das – dt. die Vokabel, österr. der – dt. das<br />

Polster usw.)<br />

(6) Österreichische Spezifika, die "durchsichtig" zu sein scheinen, die aber sehr leicht zu<br />

Verwechslungen führen könnten, falls der Leser die Bildungen wörtlich nehmen oder sie mit<br />

deren bundesdeutschen Homographen gleichsetzen würde, etwa Bügelladen, das kein "Laden/Geschäft"<br />

ist, sondern ein 'Bügelbrett', bzw. Brötchen, das in Österreich 'ein kleines belegtes<br />

Brot' bezeichnet, in Deutschland aber ein kleines rundes oder längliches Brot, was in<br />

Österreich seinerseits eine Semmel ist, Gebäck, das in Österreich ein 'Oberbegriff für Semmel,<br />

We-ckerl usw.' ist, während in Deutschland das Gebäck klein und süß ist, betreten, das in<br />

Österreich auch im Sinne von 'ertappen, festnehmen' verwendet wird, nicht nur von 'in einen<br />

Raum treten'.<br />

(7) Das, woran uns am meisten gelegen war, ist die Markierung von Rumäno-Austriazismen,<br />

um eben die zahlreichen lexikalischen österreichisch-rumäniendeutschen Gemeinsamkeiten<br />

hervorzuheben. Die meisten davon kommen zwar auch in den bisher erschienenen deutschrumänischen<br />

Wörterbüchern vor, jedoch ist dabei überhaupt nicht zu ersehen, dass diese Wörter<br />

auch dem Rumäniendeutschen und nicht nur dem Österreichischen eigen sind. Rumänien-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

519


Hermann Scheuringer / Ioan L`z`rescu<br />

deutsche-österreichische Gemeinsamkeiten sind in unserem Lexikon mit dem hochgestellten<br />

Kürzel (RO) markiert, das rechts vom Lemma steht.<br />

3. Benutzte Quellen. Zweierlei Quellen werden bei der Erstellung dieses Wörterbuchs benützt:<br />

die einen für die Lemmatisierung von "allgemeinen" Austriazismen, die anderen für die<br />

auch in der rumäniendeutschen Verkehrssprache verwendeten Austriazismen. Von vornherein<br />

muss präzisiert werden, dass wir nur verschriftlichte Formen berücksichtigen. Dialektförmige<br />

Lemmata wie abidrahn, abistessen, abizahn usw., die zwar im DUDEN-Wörterbuch Wie sagt man<br />

in Österreich? vorkommen, werden in unser Lexikon nicht aufgenommen, da diese sozusagen<br />

transkribierte Dialektformen sind. Wir berücksichtigen nur standardsprachliche, also schriftliche<br />

Formen, ist es doch praktisch kaum anzunehmen, dass sich ein rumänischer Deutschlerner mit<br />

einem Österreicher in der Mundart unterhalten wird. Unsere Lemmata sind den folgenden<br />

Quellen (in alphabetischer Reihenfolge) entnommen:<br />

1. Ammon, U. (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen<br />

Varietäten. Berlin/New York: de Gruyter.<br />

2. Ebner, J. (³1998): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch des österreichischen Deutsch. Mannheim u.a.:<br />

Dudenverlag.<br />

3. Jontes, G. (1998): Österreichisches Schimpfwörterlexikon. Wien: Donauland Kremayr & Scheriau.<br />

4. Österreichisches Wörterbuch. 39., neu bearb. Aufl., hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung,<br />

Wissenschaft und Kunst. Auf der Grundlage des amtlichen Regelwerks. Wien: ÖBV 2001.<br />

5. Seibicke, W. (1983): Wie sagt man anderswo? Landschaftliche Unterschiede im deutschen Sprachgebrauch.<br />

Mannheim u.a.: Dudenverlag.<br />

6. Wehle, P. (1997): Die Wiener Gaunersprache. Von Auszuzln bis Zimmerwanzen. Wien: Ueberreuter.<br />

7. Weihs, R. (2000): Wiener Wut. Das Schimpfwörterbuch. Wien: Uhudla.<br />

Und selbstverständlich dem 10bändigen DUDEN.<br />

Dazu gesellt sich das eingangs erwähnte, noch in Arbeit befindliche Wörterbuch der nationalen<br />

und regionalen Standardvarianten des Deutschen, kurz das neue "Varietätenwörterbuch",<br />

dessen Manuskript mit den bisher erstellten Lemmata uns vom Autorenteam freundlicherweise<br />

zur Verfügung gestellt wurde.<br />

Die Belege für die Rumäno-Austriazismen entnahmen wir den folgenden einschlägigen<br />

Werken (hier alphabetisch geordnet):<br />

8. Ammon, U. (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen<br />

Varietäten. Berlin, New York: W. de Gruyter<br />

9. G`deanu, S. (1998): Sprache auf der Suche. Zur Identitätsfrage des Deutschen in Rumänien am Beispiel der<br />

Temeswarer Stadtsprache. Regensburg: S. Roderer [Theorie und Forschung 574: Sprachwissenschaften 8]<br />

10. Gehl, H. (1997): Deutsche Stadtsprachen in Provinzstädten Südosteuropas. Stuttgart: Franz Steiner<br />

11. Gehl, H./Purdela Sitaru, M. (Hrsg.) (1994): Interferenzen in den Sprachen und Dialekten Südosteuropas. Tübingen:<br />

Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde [Materialien, Heft 4]<br />

12. Isb`[escu, M./Kisch, R./Mantsch, H. (1972): Zu den Merkmalen der gesprochenen deutschen Sprache in Rumänien.<br />

In: "Analele Universit`]ii Bucure[ti - Limbi germanice" (XXI), S. 45-58. (dass. in: "Gesprochene Sprache.<br />

Jahrbuch 1972", hrsg. von H. Moser, Düsseldorf 1973, S. 229-244 [Sprache der Gegenwart 24])<br />

13. Isb`[escu, M./Kisch, R. (1972): Beiträge zu einer soziolinguistischen Betrachtung siebenbürgisch-deutscher<br />

Sprachformen. In: "Germanistische Linguistik in Rumänien 1958-1983. Eine Textauswahl", hrsg. von H. Kelp, mit<br />

einem Vorwort von G. Klaster-Ungureanu, Bukarest: Kriterion 1993, S. 173-183 (dass. in: "Festschrift für Hans<br />

Eggers zum 65. Geburtstag", hrsg. von H. Backes, Tübingen 1972, S. 307-317)<br />

14. Kelp, H. (1982/83): Die österreichischen Formen. In: Neuer Weg 20.02.1982-23.04.1983 [Lexikalische Besonderheiten<br />

unserer deutschen Schriftsprache, Folgen 4-26]<br />

15. Wolf, J. (1975): Kleine Banater Mundartenkunde. Bukarest: Kriterion<br />

16. Wolf, J. (1977-78): Zu den sprachlichen Voraussetzungen der deutschsprachigen Literatur im rumänischen<br />

Sprachraum. In: "Germanistische Linguistik in Rumänien 1958-1983. Eine Textauswahl", hrsg. von H. Kelp, mit<br />

520<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Ein deutsch-rumänisches Austriazismenlexikon …<br />

einem Vorwort von G. Klaster-Ungureanu, Bukarest: Kriterion 1993, S. 270-289 (dass. in: "Neuer Weg", 17.12<br />

und 23.12.1977; 7.1. und 14.1.1978)<br />

4. Aufbau des Lexikons. Im deutsch-rumänischen Austriazismenlexikon werden die streng<br />

alphabetisch geordneten Lemmata mit ihrer grammatischen Beschaffenheit beschrieben, bedeutungsgemäß<br />

erklärt und schließlich ins Rumänische übersetzt. Die Verben – auch die regelmäßigen<br />

– erscheinen mit ihren vollständigen Stammformen und dem verbspezifischen Hilfsverb,<br />

die Substantive mit den gängigen Endungen für G.Sg. und N.Pl. Fallweise werden morphosyntaktische,<br />

sprachschichtliche und stilschichtliche Angaben gemacht, z.B. ob das betreffende<br />

Verb unpersönlich ist oder hauptsächlich im Infinitiv oder im Partizip vorkommt, ob ein<br />

Substantiv in der Regel im Plural gebraucht wird, ob das behandelte Stichwort einer Fach- oder<br />

Sondersprache gehört bzw. pejorativ, poetisch usw. verwendet wird. Zum Unterschied von<br />

einem für deutsche Muttersprachler konzipierten Lexikon, das auch eine diatopische Komponente<br />

zu berücksichtigen hat, wird in unserem Wörterbuch bloß zwischen standardsprachlich<br />

und dialektal im weiten Sinne des Wortes unterschieden, ohne ferner zwischen donau- und<br />

alpenösterreichisch, zwischen vorarlbergisch und wienerisch usw. zu differenzieren. Wörter mit<br />

in Österreich landschaftlich restringiertem Gebrauch sind einfach mit reg (=regional) markiert.<br />

In den meisten Fällen steht anschließend die rumänische Übersetzung. Bloß in den Fällen,<br />

wo das Lemma sozial-politisch-administrative oder landeskundliche Sachen bezeichnen – etwa<br />

Bräuche, Sitten, Institutionen, Speisen usw. –, für die es im Rumänischen keine Entsprechung<br />

gibt, werden Erklärungen statt Äquivalente angegeben, z.B. Apfelpatzen 'g`lu[tele din aluat cu<br />

mere rase', Ausgedinge 'parte p`strat` de p`rin]i dup` ce [i-au cedat averea copiilor', Belangsendung<br />

'emisiune (radio/TV) difuzat` într-un spa]iu de emisie acordat gratuit unei forma]iuni<br />

politice, sindicale etc., de al c`rei con]inut r`spunde aceasta' usw.<br />

Von Fall zu Fall werden – nach einer Raute – auch idiomatische Wendungen angeführt, z.B.<br />

Bankerl b`ncu]` # ein ~ reißen a da ortul popii.<br />

Am Ende einer Lemmabeschreibung wird in runden Klammern nach der Abkürzung Germ für<br />

'Germania' die bundesdeutsche Entsprechung angegeben, zumal der rumänische Deutschlerner<br />

heutzutage eher am Bundesdeutschen orientiert ist, aus Gründen, deren Aufzählung den Rahmen<br />

des heutigen Beitrags sprengen würde. Wo das nicht der Fall sein kann, weil es nämlich<br />

keine bundesdeutsche Entsprechung für das betreffende Stichwort gibt, steht in Klammern<br />

nach der Abkürzung Expl für 'explica]ie' eine Erklärung:<br />

Beispiel 1: Bankomat (Germ Geldautomat, Bankautomat)<br />

Beispiel 2: Burenwurst (Expl grobe Brühwurst)<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen<br />

Varietäten. Berlin/New York.<br />

2. Ammon, Ulrich (1998): "Plurinationalität oder Pluriarealität? Begriffliche und terminologische Präzisierungsvorschläge<br />

zur Plurizentrizität des Deutschen - mit einem Ausblick auf ein Wörterbuchprojekt." In: Deutsche Sprache<br />

in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Peter Ernst und Franz Patocka.<br />

Wien, S. 313-322.<br />

3. Kelp, Helmut (1982–1984): Lexikalische Besonderheiten unserer deutschen Schriftsprache. 50 Zeitungsartikel im<br />

Neuen Weg, Bukarest, zwischen 6.2.1982 und 8.12.1984.<br />

4. Moser, Hugo (1985): Die Entwicklung der deutschen Sprache seit 1945. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte<br />

der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. Band 2.<br />

Berlin/New York. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2), S. 1678-1707.<br />

5. Zehetner, Ludwig (²1998): Bairisches Deutsch. Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern. München.<br />

521


DIE PERZEPTION DER DIGLOSSIE VON IMMIGRANTEN<br />

in deutschsprachigen Ländern am Beispiel der Arabophonen<br />

in Österreich<br />

Agata S. Nalborczyk<br />

Einleitung<br />

In den letzten Jahrzehnten verließen immer mehr Menschen ihre Heimatländer und<br />

siedelten sich in anderen Staaten an. Am meisten wanderten und wandern sie aus Asien und<br />

Afrika nach Europa und Amerika aus. Viele von diesen Immigranten wählen die deutschsprachigen<br />

Länder als neue Wohnorte. Im Jahre 2001 gab es beispielsweise in Deutschland 7,81<br />

Millionen Ausländer, was 9,5% der ganzen Bevölkerung (82 Millionen) ausmacht 1 . Der<br />

Imigrationsstrom fließt natürlich auch in Richtung Österreich, wo im Jahre 2001 die Ausländer<br />

9,1% der ganzen Bevölkerung ausmachten 2 .<br />

Arabische Diglossie<br />

Unter den Immigranten in Österreich befinden sich auch Araber: Sie bilden eine Gruppe von<br />

mehr als 20.000 Personen. Die Arabophonen-Immigranten stammen aus den arabischsprachigen<br />

Gemeinschaften, deren soziolinguistische Situation sich durch klassische, d.h. sogenannte<br />

scharfe Diglossie charakterisiert. Der Begriff 'Diglossie' wurde von Charles A. Ferguson<br />

(1959) definiert: 3<br />

DIGLOSSIA is a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of<br />

the language (which may include a standard or regional standards), there is a very divergent, highly<br />

codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and<br />

respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community,<br />

which is learned largely by formal education and is used for most written and formal spoken<br />

purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation.<br />

Ch. A. Ferguson verwendete für diese zwei Sprachvarietäten die Bezeichnungen 'high<br />

variety' (H) und 'low variety' (L). Die L-Variante/n herrscht/en weitaus im mündlichen Sprachgebrauch,<br />

die H-Variante weitaus im schriftlichen. Kinder erlernen von ihren Eltern nur die L-<br />

Variante - sie ist ihre Erstsprache, die H-Variante muss erst in der Schule gelernt werden. Die<br />

H-Variante verfügt zwar über eine Fülle an angesehener geschriebener Literaturzeugnisse wird<br />

aber mündlich nie in der Familie oder im Bekanntenkreis verwendet.<br />

Grammatik und Wortschatz der beiden Sprachformen weisen Unterschiede auf. Bei den L-<br />

und H-Varianten handelt es sich um Sprachformen, die von den Mitgliedern der betreffenden<br />

1<br />

Statistisches Jahrbuch 2002, http://www.destatis.de/allg/d/veroe/proser217_d.htm, file stjb2_pdf, 12.10.2002 10:40,<br />

Statistisches Bundesamt http://www.destatis.de.<br />

2<br />

Statistische Nachrichten – Februar 2002, http://www2.statistik.gv.at/fachbereich_15/heft1.shtml, 5.10.02, 11:35.<br />

3 Ch. A. Ferguson, Diglossia, “Word” 15:2, 1959, 325-340, 336.


Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern<br />

Sprachgemeinschaft zu derselben “Sprache“ zugerechnet werden, d.h. um Sprachformen, die<br />

dem gleichen Diasystem zugeschrieben werden.<br />

Die Diglossie herrscht im arabischen Sprachraum, wie Ch. A. Ferguson schreibt, “as far back<br />

as our knowledge of Arabic goes”. 4 Die arabischen Dialekte (und das gesprochene Arabisch der<br />

Gebildeten – ESA 5 ) gehören zu den L-Varianten (oder zu dem L-Diasystem), die arabische<br />

Standardsprache bildet die H-Variante. Anzumerken ist, dass die arabischen Dialekte heute von<br />

vielen Wissenschaftlern aufgrund anderer Herkunft und ihrer Unterschiede zum Standardarabisch<br />

als eine andere Sprache betrachtet werden. Das Neuarabische (die Dialekte und ESA)<br />

hat einen analytischen Charakter, das Standardarabische dagegen einen synthetischen<br />

Charakter. 6<br />

Aber wegen eines großen Anteils an Analphabeten beherrscht nur ein Teil der Bevölkerung<br />

aktiv die arabische Standardsprache überhaupt. 7 Doch die Mehrheit der Mitglieder der<br />

arabischen Sprachgemeinschaften besityen eine passive Kompetenz (die Möglichkeit zu verstehen).<br />

8<br />

Österreichisch-deutsche Diglossie<br />

Seit einigen Jahren findet der Begriff 'Diglossie' durch die Arbeiten von J. A. Fishman 9 in<br />

einem größeren Umfang Anwendung, dass heißt, er wird auch auf Sprachrelationen bezogen,<br />

die Ch. A. Ferguson als 'Standard-und-Dialekte' 10 beschrieben hat. Zu solchen Sprachrelationen<br />

zählt man, außer der Schweiz (die schon von Ferguson als klassische Diglossie klassifiziert<br />

wurde) die Standard-Dialekt-Relationen im deutschsprachigen Raum. In der einschlägigen<br />

Fachliteratur wird solche soziolinguistiche Situation als Diglossie bezeichnet.<br />

Die sprachsoziologische Situation in Österreich charakterisiert sich ebenso wie in den<br />

anderen deutschsprachigen Ländern dadurch, dass die Mitglieder der Sprachgemeinschaft,<br />

einschließlich der Immigranten, differenzierte Sprachformen in verschiedenen Sprachsituationen<br />

und sozialen Kontexten verwenden: Hochdeutsch (Standardsprache), Umgangssprache,<br />

Dialekt. Obwohl es aber viele Ähnlichkeiten zwischen der arabischen und der<br />

4 Ferguson, 326-327.<br />

5 T. F. Mitchell, Soziolinguistische und stilistische Aspekte des gesprochenen Arabisch der Gebildeten in Ägypten und<br />

der Levante, Berlin 1984.<br />

6 O. Jastrow, Die Struktur des Neuarabischen, in: W. Fischer (Hrsg.), Grundriß der arabischen Philologie, T. 1, Sprach-<br />

wissenschaft, Wiesbaden 1982, 141ff.<br />

7 H. Wehr, Entwicklung und traditionelle Pflege der arabischen Schriftsprache in der Gegenwart, ZDMG 97 (N.F. 22),<br />

1946, 32; W. Diem, Hochsprache und Dialekt im Arabischen, Wiesbaden 1974, 87; A.S. Kaye, Remarks on diglossia in<br />

Arabic. Well-defined vs. ill-defined, “Linguistics. An International Revue” 81, 1972, 52.<br />

8 Wehr, 32.<br />

9 J. A. Fishman, Bilingualism with or without diglossia. Diglossia with or without bilingualism, “Journal of Social Issues”<br />

23:2, 1967, S. 29-38; J. A. Fishman, The sociology of language…, 226-299 und Societal bilingualism: stable and transitional,<br />

in: J. A. Fishman, Language in sociocultural change, Stanford University Press, Stanford, California 1972, 135-<br />

152.<br />

10 W. Besch, Entstehung und Ausprägung der binnensprachlichen Diglossie im Deutschen, in: W. Besch (Hrsg.) Dialektologie.<br />

Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, de Gruyter, Berlin / New York 1983 – Handbücher<br />

zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 2., 1399-1411; U. Ammon, Die deutsche Sprache in Deutschland,<br />

Österreich und der Schweiz: das Problem der nationalen Varietäten, Berlin / New York 1995.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

523


524<br />

Agata S. Nalborczyk<br />

deutschen-österreichi-schen Diglossie gibt, 11 erkennt man zugleich einen großen Unterschied<br />

zwischen der arabischen und der deutschen/österreichischen Sprachsituation.<br />

Der wichtigste Unterschied zwischen der klassischen, stabilen und der weiten, unstabilen<br />

Diglossie besteht darin, dass es Mitglieder der Sprachgemeinschaft in der weiten Diglossiesituation<br />

gibt, die die Standardsprache als ihre erste Sprache von den Eltern erlernen (höhere<br />

Sozialschichten) und dass es keine scharfe Grenzen zwischen den funktionalen Domänen der<br />

einzelnen Sprachvarianten gibt. 12 Die Aufwertung und der zunehmende Gebrauch der Umgangsprache<br />

vor allem in den mittleren Gesellschaftsschichten der städtischen Bereiche und ihre Stellung als Bindeglied<br />

zwischen dem Dialekt und der Standardsprache bilden die charakteristischen Merkmale der österreichischen<br />

(und allgemein der süddeutschen) Sprachsituation. 13<br />

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass es nach Meinung einiger Forscher d in<br />

Österreich keine Diglossie gibt, sondern dass die Sprachformen ein Kontinuum bilden, weil sie<br />

nicht voneinander getrennte Systeme, sondern Inventare von Varianten sind, zwischen denen<br />

permanente Interferenzen bestehen. 14<br />

Aber für einen Ausländer, der in Österreich lebt, ist es vor allem wichtig, dass manche Mitglieder der<br />

Sprachgemeinschaft andere Sprachvarianten verwenden als jene, die während des Sprachkurses gelernt<br />

wird. Darüber hinaus gilt es, dass sie nicht alle Varianten verstehen können.<br />

Umfrage<br />

Erkennt man die Unterschiede zwischen der arabischen und der österrichisch-deutschen<br />

Sprachsituation, erscheint es als äußerst interessant, der Frage nachzugehen, wie die<br />

Arabophonen-Immigranten, die aus der klassischen Diglossiesituation stammen, die österreichische,<br />

unstabile Diglossie beurteilen. Ist oder war das Vorhandensein der verschiedenen<br />

österreichischen, deutschen Sprachformen eine Schwierigkeit für sie? Bemerken sie Unterschiede<br />

zwischen der arabischen und der deutschen Diglossie?<br />

Im Jahre 2000 wurde von mir eine mikrosoziolingusitische 15 Umfrage bei einer Gruppe von<br />

Arabophonen, die seit längerer Zeit in Österreich leben, durchgeführt. Als Informanten wurden<br />

11<br />

A. S. Nalborczyk, the similarities and commonalities in the sociolinguistic situation of the Arabic and German language<br />

areas, “TRANS” 14, 2003, http://www.inst.at/trans/14Nr/.<br />

12<br />

Andere Unterschiede: ebd.; M. H. Ibrahim, Linguistic distance and literacy in Arabic, “Journal of Pragmatics”, 7:5,<br />

1983, 509; P. Wiesinger, Standardsprache und Mundarten in Österreich, in: G. Stickel (Hrsg.), Deutsche Gegenwartssprache.<br />

Tendenzen und Perspektiven, Berlin / New York 1990, 228-229.<br />

13<br />

P. Wiesinger, Die deutsche Sprache in Österreich. Eine Einführung, in: P. Wiesinger (Hrsg.), Das österreichische<br />

Deutsch, Wien / Köln / Graz 1988, 9-30.<br />

14<br />

z. B. I. Reiffenstein, Sprachebenen und Sprachwandel in österreichischen Deutsch der Gegenwart, in: H. Kolb, H.<br />

Lauffer (Hrsg), Sprachliche Interferenz, Festschrift für Werner Betz zum 65. Geburtstag, Tübingen 1977, 175-183; und<br />

I. Reiffenstein, Deutsch in Österreich, in: I. Reiffenstein, H. Rupp (Hrsg.) Tendenzen, Formen und Strukturen der<br />

Deutschen Standardsprache nach 1945, Marburg 1983, 15-27.<br />

15<br />

Die mikrosoziolinguistiche Umfrage ermittelt keine statistischen, quantitativen Ergebnisse, sondern qualitative; P.<br />

Atteslander, Befragung, in: U. Ammon, N. Dittmar, K. J. Mattheier (Hrsg.), Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch<br />

zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, Berlin / New York 1988 - Handbücher zur Sprach- und<br />

Kommunikationswissenschaft, 3:2, 945-946; N. Dittmar, Quantitative – qualitative Methoden, in: Sozioliguistik:<br />

Handbuch, 3:2, 879. Die Mikrosoziolinguistik untersucht die Verwendung von gegebenen/konkreten Sprachvarianten<br />

(in Abhängigkeit von den soziologischen Variablen wie z.B. Alter, Generation, Geschlecht), Erwerbung und Veränderung<br />

von der Sprachkompetenz, Spracheinstellungen usw.; J. A. Fishman, Domains and relations between microand<br />

macrosociolinguistics, in: J. J. Gumperz, D. Hymes (Hrsg.), Directions in sociolinguistics, the ethnography of<br />

communication, New York / Chicago 1972, 435-453.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern<br />

Araber gewählt, die Hochdeutsch recht gut beherrschten, so dass sie nicht nur Fragen der Umfrage<br />

verstehen konnten, sondern auch imstande wären, die sprachsoziologische Situation in<br />

Österreich zu beurteilen. Mit meiner Umfrage wollte ich aber vor allem prüfen, ob die arabische<br />

Diglossie der Grund dafür sein könnte, dass die arabischen Immigranten in der zweiten, dritten<br />

Generation ihre Muttersprache verlieren würden.<br />

1. Zum Bild der österreichischen Diglossie bei den Arabophonen-Immigranten<br />

Die Arabophonen, die Informanten meiner Umfrage, waren sich in der Regel des Vorhandenseins<br />

der Diglossie in den arabischen Ländern bewusst, obwohl manche von ihnen, insbesondere<br />

die Ungebildeten, beim Erkennen und Bezeichnen der jeweils in einer Sprachsituation<br />

gesprochenen arabischen Sprachvariante Schwierigkeiten hatten.<br />

Die Diglossie in Österreich beurteilten sie im allgemeinen als normale Sprachsituation. Fast<br />

alle Informanten dachten, dass das Vorhandensein von mehr als einer Sprachvariante in der<br />

gegebenen Sprachgemeinschaft allgemein ist. Einige von ihnen waren sogar erstaunt darüber,<br />

dass in der Umfrage überhaupt danach gefragt wurde. Sie wunderten sich über meine Beschreibung<br />

der polnischen Sprachsituation, wo es keine Diglossie gibt: die Polen benutzen<br />

dieselbe Sprachvariante, wenn sie schreiben und reden, und in den offiziellen und unoffiziellen<br />

Sprachsituationen.<br />

Zwei Informanten beurteilten aber die Diglossiesituation in Österreich aus ästhetischen<br />

Gründen als nicht normal: ihrer Meinung nach ist es “unschön“, wenn die österreichische L-<br />

Variante benutzt wird. 16<br />

Auf die Frage, ob sich die Informanten des Vorhandenseins der Diglossie in Österreich vor<br />

ihrer Ankunft in dieses Land bewusst waren, antworteten alle, dass sie sich dessen nicht<br />

bewusst gewesen seien. In ihrer Antwort begründeten sie diesen Umstand dadurch, dass sie<br />

darüber einfach nicht nachgedacht hatten. Es fällt auf, dass eine solche Antwort auch zwei<br />

andere Informanten gaben, die als einzige von der ganzen Gruppe noch vor ihrer Ankunft in<br />

Österreich ihr Deutsch (gut) gelernt hatten. Darüber hinaus wurde vermerkt, dass der Vater des<br />

einen von den beiden Informanten in der DDR studiert, dem Sohn jedoch über die deutsche<br />

diglossische Situation und ihre Folgen nichts erzählt habe. Dies ist meiner Meinung nach<br />

darauf zurückzuführen, dass das Vorhandensein der Diglossie für die Arabophonen eine normale<br />

Situation ist, und dass sie deswegen darin keinen Anlass zur weiteren Diskussion erblicken.<br />

Die nächste Frage betraf das Problem, ob das Vorhandensein von mehreren Sprachformen in<br />

Österreich den Arabophonen Schwierigkeiten bereiten oder nicht. Von 21 Informanten stellten<br />

9 sofort fest, dass das Vorhandensein einer L-Variante neben dem Hochdeutschen (das sie in<br />

den Sprachkursen erlernt haben) am Anfang ihres Aufenthaltes in Österreich zu Verständigungsschwierigkeiten,<br />

insbesondere im Umgang mit den ungebildeten Österreichern,<br />

führte.<br />

Ein Student gab folgendes Beispiel: immer wenn er Bratwurst kaufte, fragte ihn der Verkäufer<br />

im Wienerischen Dialekt: “Einpacken oder gleich essen?“. Der Student (der schon in<br />

Libanon Deutsch gelernt hatte) wurde nervös, weil er die Frage nicht richtig verstehen konnte<br />

und antwortete immer: “Beides“ - er stellte sich vor, die Frage bezihe sich darauf, ob er Senf<br />

16 Beide von ihnen waren Frauen und ihre Antworten waren immer sehr emotionell, also auf das Gefühl bezogen.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

525


Agata S. Nalborczyk<br />

oder Ketchup nehmen wollte. Einige von den Informanten erwähnten auch, dass sie sich aufgeregt<br />

hatten, wenn sie nicht weiter verstanden haben. In solchen Situationen (meistes bei<br />

dem Einkaufen, in einer Reparaturwerkstatt oder im Autoservice) haben sie immer mit “Ja!“<br />

geantwortet.<br />

12 Informanten, die die Antwort gebene haben, dass das Vorhandensein von mehreren<br />

Sprachformen ihnen keine Schwierigkeiten bietent, lebten schon seit langem (15-20 Jahren) in<br />

Österreich. 8 von ihnen fügten jedoch nach einer längeren Überlegung hinzu, dass diese<br />

Situation ihnen zwar in ihrer Gegenwart keinerlei Schwierigkeiten mehr bereite, dass sie jedoch<br />

am Anfang ihres Aufenthaltes im neuen Land, in Österreich die L-Varianten überhaupt nicht<br />

verstehen konnten.<br />

Aus der Umfrage läßt sich schließen, dass die Mehrheit von den Arabophonen-Informanten<br />

(15 von 21) in der Verständigung mit den Österreichern Schwierigkeiten haben, obwohl sie die<br />

Diglossiesituation in Österreich als normale Sprachsituation beurteilten. Für einen Teil von<br />

ihnen stellt die Diglossie immer noch ein Problem dar.<br />

2. Spracheinstellungen der Arabophonen zu der L-Variante der deutschen Sprache in<br />

Österreich<br />

Die meisten von den Informanten haben ihr Deutsch in den Sprachkursen gelernt und beherrschten<br />

also die deutsche/en L-Variante/en nicht. Sie hatten, wie ausgeführt, Schwierigkeiten<br />

beim Verstehen dieser Sprachformen. Nur wenige, und zwar diejenigen, die seit mehr als<br />

20 Jahren in Österreich leben und dazu noch eine/en ÖsterreicherIn als Ehepartner haben, sind<br />

imstande, diese Sprachvariante zu sprechen.<br />

Eine andere Frage betraf das Problem, ob es den Informanten gefällt, wenn Österreicher<br />

ihre L-Variante benutzen. 8 Informanten beantworteten, dass dies ihnen gefalle, andere 7<br />

wiederum knüpften ihre Antwort an die Sprachsituation an. Einer von ihnen sagte:<br />

526<br />

Es gefällt mir, wenn sich jemand in dieser Sprachform nicht an mich wendet, wenn er aber zu mir in<br />

dieser Sprachform spricht, gefällt es mir nicht.<br />

Meiner Meinung nach soll man diese Antwort folgendermaßen verstehen, dass es ihm nämlich<br />

immer noch Schwierigkeiten bereitet, die österreichischen L-Varianten zu verstehen.<br />

Andere Informanten brachten dasselbe noch deutlicher zum Ausdruck:<br />

Es gefällt mir, wenn ich verstehe; wenn ich aber nicht verstehe, gefällt es mir nicht, wenn jemand<br />

diese Sprachform benutzt.<br />

6 Informanten hatten eine negative Haltung zu der/den L-Variante/en und ihrer Verwendung<br />

im Gespräch. Sie äußerten sich folgendermaßen:<br />

Das ist eine vulgäre Sprache, die nur in einem Heurigen gut klingt; Das ist eine ordinäre Sprache,<br />

die Sprache der Ungebildeten.<br />

Einer von meinen Informanten, der keinen Deutschkurs besucht hatte und die ganze Zeit die<br />

österreichische L-Variante (Umgangssprache) benutzte, äußerte sich auch in diesem Sinne.<br />

8 Informanten gestanden ihre negative Einstellung zu den österreichischen L-Varianten in<br />

den Massenmedien, erstaunlicherweise waren sie nicht dieselben, die eine solche Haltung zu<br />

diesen Sprachformen im Gespräch hatten.<br />

Alle Informanten bekundeten aber ihre positive Einstellung zu der Verwendung der<br />

arabischen L-Variante/en im Gespräch und in den Massenmedien und knüpften die Benutzung<br />

dieser Sprachformen nicht an die Bildung des Sprechers an. Die Beurteilung der Verwendung<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Die Perzeption der Diglossie von Immigranten in deutschsprachigen Ländern<br />

der deutschen L-Varianten war demzufolge keinesfall einhellig. Aufgrund dieser Umfrage läßt<br />

sich also behaupten, dass die Arabophonen-Immigranten die deutsche Sprache schneller gelernt<br />

haben als die Nuancen der sprachsoziologischen Situation, obwohl intuitiv manche von<br />

ihnen diese Situation gut beschreiben konnten.<br />

3. Bewusstsein von den Unterschieden zwischen der arabischen und österreichischen<br />

Diglossie<br />

Die meisten Informanten (14) bemerken keine Unterschiede zwischen der arabischen und<br />

österreichischen Diglossie, sie antworteten: „Man benutzt in Österreich die H- und L-Varianten<br />

in denselben Situationen und Kontexten wie im arabischsprachigen Gebiet“. Aber 8 von ihnen<br />

ergänzten nach längerer Überlegung und nach meinen zusätzlichen Fragen, dass jedoch in<br />

Österreich die Hochsprache mehr als in den arabischen Ländern gesprochen werde. Die anderen<br />

(7) bemerkten diesen Unterschied schneller.<br />

Obwohl die Informanten meistens keine Unterschiede zwischen der arabischen und österreichischen<br />

Diglossie wahrnahmen, beantworteten sie intuitiv die Frage nach der Sprache in der<br />

Schule wiederum richtig. Für die deutsche Schule wählten sie Hochdeutsch als Instrument der<br />

Kommunikation zwischen dem Lehrer und den Schülern. Sie waren sich dessen bewusst, dass<br />

sowohl der Lehrer als auch die Schüler meistens imstande sind, diese Sprache im Gespräch zu<br />

benutzten. Für die arabische Schule wählten sie häufig die L-Variante, weil es für sie klar war,<br />

dass weder der Lehrer noch die Schüler sehr oft imstande sind, arabische H-Variante problemlos<br />

zu verwenden.<br />

Zusammenfassung<br />

Die meisten Arabophonen sind sich der Unterschiede zwischen der arabischen und der<br />

österreichischen Diglossie nicht bewusst, sie denken, dass man in Österreich die L-Variante/en<br />

in denselben Situationen und Kontexten benutzt. Manchmal dient aber die arabische,<br />

manchmal jedoch die österreichische Sprachsituation als Muster. Intuitiv aber, wenn sie auf<br />

Einzelheiten eingehen, spüren sie die realen Sprachrelationen heraus. Aus der Umfrage läßt sich<br />

also schließen, dass die Arabophonen-Immigranten die deutsche Sprache schneller gelernt<br />

haben als die Nuancen der sprachsoziologischen Situation.<br />

Obwohl die Immigranten aus den arabischen Ländern die österreichisch-deutsche Diglossie<br />

als normale Sprachsituation beurteilen, weil sie in einer anderen, arabischen Diglossiesituation<br />

gewachsen sind, bereitet sie der Mehrheit von ihnen Schwierigkeiten bei der Verständigung mit<br />

den Österreichern. Allgemein bekunden sie ihre positive Einstellung zu der L-Variante, dennoch<br />

gibt es ein unabdingbares Erfordernis, eine reale Bedingung: Sie müssen nämlich alle Sprachformen<br />

aus dem Sprachrepertoire der neuen Gemeinschaft verstehen.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

527


f o r u m<br />

SONDERASPEKTE VERBALER<br />

KOMMUNIKATION<br />

Zum Zum Geleit<br />

Geleit<br />

Kommunikation ist keinesfalls eine Erfindung der modernen Gesellschaft, doch wäre die Existenz der<br />

Gesellschaft ohne sie nicht zu denken, denn<br />

⇒ Kommunikation führt zusammen, sie ermöglicht die Bildung von Gemeinschaften;<br />

⇒ Kommunikation hält zusammen, sie ist die erste Bedingung für das Bestehen der Gemeinschaften;<br />

⇒ Kommunikation lässt wachsen, sie ermöglicht wichtige Schritte in der Entwicklung der Gemeinschaften.<br />

Die Gesprächsanalyse untersucht die Bedingungen, unter denen sich Kommunikation entwickelt,<br />

welche Regeln man in der sprachlich-sozialen Interaktion befolgt, wie man sich zu verhalten hat, wenn<br />

man erfolgreich kooperieren will, welche Mittel Gesprächspartner einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. In<br />

ihrem Vorgehen fügen sich die Mitglieder der Sprachgemeinschaft - wenn sie sich in Gesprächen als<br />

Interaktionspartner gegenüberstehen - den allgemein geltenden Konventionen.<br />

Um diese Tatsachen wissenschaftlich angemessen zu beschreiben, müssen alle Faktoren, die auf den<br />

Kommunikationsakt Einfluss ausüben, wahrgenommen und ihrer Bedeutung nach hierarchisiert werden.<br />

Der Analytiker wird durch die Wiederholbarkeit aller Einflussfaktoren dank gleichen Parametern und ihrer<br />

Messbarkeit an präzisen Maßstäben unterstützt.<br />

Wie hat man aber zu verfahren, wenn die Komplexität des untersuchten Sachverhaltes auch eine ununterbrochene<br />

Veränderbarkeit und eine Vielfalt der Gestaltungsformen aufweist? Am Raster der Beschreibung<br />

von Gesprächen werden Regularitäten und Ähnlichkeiten erkannt, Bedingungen für die Einschätzung<br />

von Erwartungen sowohl beim Sprecher als auch beim Hörer, verschiedene Strategien, die zum<br />

erstrebten Ziel führen sollen. Trotzdem bewährt sich auch die Annahme, die kommunikativen Akte seien<br />

eher wahre Kunstwerke zwischenmenschlicher Beziehungen mit eigener Persönlichkeit. Dabei kann nie<br />

vorausgesehen werden, wie die Kommunikationspartner mit den ihnen zur Verfügung stehenden (sprachlichen,<br />

parasprachlichen und aussersprachlichen) Mitteln umgehen werden, um ihr Ziel zu erreichen. Ein<br />

Faktor ist dabei ausschlaggebend: die Emotionen, die jedes menschliche Handeln (folglich auch die<br />

Kommunikation) begleiten und entscheidend beeinflussen.<br />

In den Beiträgen auf dem im Rahmen des VI. Kongresses der Germanisten Rumäniens in Sibiu/<br />

Hermannstadt eingerichteten Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation wurden einige Aspekte der<br />

vielfältigen Formen zwischenmenschlicher Kommunikation mit ihren Besonderheiten im Einsatz von<br />

Kommunikationsmitteln zur Diskussion gestellt. Einige Beiträge dieses Forums legen wir hiermit vor.<br />

Doina Doina Doina Sandu<br />

Sandu


ASPEKTE DER KOMMUNIKATION<br />

in den internationalen Verhandlungen<br />

Florentina Alexandru<br />

International verhandeln<br />

Das Schlagwort der modernen Wirtschaft ist die Globalisierung. Das bedeutet in erster Linie<br />

die Erweiterung des Spielfeldes aller wirtschaftlichen Tätigkeiten. Die Unternehmen beschränken<br />

ihre Beziehungen nicht mehr nur auf das Inland, sondern sie überschreiten ihre<br />

nationalen Grenzen, um nach Partnern, Arbeitskräften, Finanzquellen zu suchen, um neue<br />

Märkte zu erschließen. Das Ziel aller Unternehmen bleibt aber weiterhin die Maximierung des<br />

Gewinns durch die Minimierung der Kosten 1 . In dem neuen internationalen Kontext können<br />

aber eben diese Kosten so hoch werden, dass sie die Globalisierung erschweren oder sogar zum<br />

Scheitern dieses Prozesses führen können. Vor allem stehen die Führungskräfte jetzt vor neuen<br />

Anforderungen, zu deren wichtigsten die Fähigkeit zählt, überall in dieser Welt erfolgreich<br />

verhandeln zu können, d.h. das zu erreichen, was man sich vorgenommen hat. Die internationalen<br />

Verhandlungen setzen solche Kommunikationsformen voraus, die eine so weit wie<br />

möglich reibungslose Abwicklung der Geschäfte ermöglichen.<br />

Der Wechsel vom heimischen auf das internationale Spielfeld bringt sehr viele Veränderungen<br />

mit sich, vor allem in dem Verhalten und in dem Kommunikationsprozess der Geschäftsleute.<br />

Das Problem liegt in der Betrachtungsweise dieses neuen komplexen Kommunikationsnetzes.<br />

Manche Unterhändler betrachten die internationalen Geschäftsbeziehungen als ein<br />

unbekanntes Handlungsfeld, wo fremde Kulturen, Sprachen, Mentalitäten und Traditionen die<br />

Verhandlungen riskant und sogar unmöglich machen. Andere Firmenvertreter setzen die internationalen<br />

mit den heimischen Transaktionen gleich, ohne daran zu denken, dass es manche<br />

Faktoren gibt, die diese beiden Verhandlungsformen radikal voneinander unterscheiden. Jeder<br />

Verhandlungsprozess ist anders und verläuft unter unterschiedlichen Bedingungen, die die<br />

Verhandlungsweisen prägen. Deswegen gibt es kein Rezept, keine festen Regeln, die die Unterhändler<br />

erfolgreich machen können. Der Erfolg jeder Verhandlung hängt von dem Geschick<br />

jedes Verhandlers ab, diejenigen Faktoren, die den Kommunikationsprozess entscheidend beeinflussen<br />

können, rechtzeitig zu identifizieren, zu bewerten und zu interpretiren.<br />

Die kulturelle Heterogenität der Interaktanten im internationalen Kommunikationsprozess<br />

Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen versuchen sich an der Definition des Begriffs<br />

der interkulturellen Kommunikation 2 , ohne dass aber die beiden Bestandteile, Kultur und<br />

Kommunikation, bis jetzt erschöpfend definiert werden zu können. Die Kultur ist ein komplexes<br />

System mit mehreren sich überschneidenden Strukturebenen, ein historisch überliefertes<br />

System von Symbolen und Bedeutungen, die eine bestimmte Mobilität, Funktion und<br />

1 Dazu zählen auch die Ausbildungskosten, die für die interkulturellen Trainings erheblich hoch sein können. Deswegen<br />

verzichten viele Unternehmen darauf. So ist der Fall in den meisten ehemaligen kommunistischen Ländern aus Europa.<br />

2 Vgl. Harms 1973, Prosser 1978, Maletzke 1984, Rehbein 1985, Knapp / Knapp-Potthoff 1990, Hinnenkamp 1990,<br />

Gudykunst / Kim 1992.


530<br />

Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru<br />

Adaptationsfähigkeit aufweisen. Das führt zu einer Dynamik und Durchlässigkeit des ganzen<br />

kulturellen Systems, welches ständig unter dem Druck der externen Einflussfaktoren, aber auch<br />

der internen veränderlichen Größen steht.<br />

Die interkulturelle Perspektive setzt einen erweiterten Kulturbegriff voraus. Unter Kultur<br />

versteht man nicht nur den geteilten Wissensvorrat der Kulturteilnehmer, “aus dem sich<br />

Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in der Welt verständigen, mit Interpretationen<br />

versorgen” 3 , so dass sie innerhalb und außerhalb des eigenen kulturellen Systems<br />

angemessen handeln und kommunizieren können. Die Kultur umfasst auch das, was dem alltäglichen<br />

Wirklichkeitsbereich angehört: Werte, Normen, Einstellungen, Stereotype, Verhaltensweisen,<br />

Bräuche, Sitten, Gewohnheiten. Die Kultur ist also nicht nur das Schöne und das<br />

Erhabene, sondern auch die Lebenskultur, d.h. ein Verhaltens und Handlungsmuster, nach dem<br />

sich die Kulturteilnehmer in ihrem Alltagsleben richten. Die Kultur spielt die Rolle eines<br />

Orientierungssystems, das zum einen das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln der<br />

Kulturteilnehmer beeinflußt, und zum anderen ihre Zugehörigkeit zu einer Nation, Gesellschaft,<br />

Gruppe oder Organisation bestimmt.<br />

Die Struktur eines Orientierungssystems ist auf bestimmte Maßstäbe angewiesen. Diese<br />

Orientierungsmaßstäbe ermöglichen den Kulturteilnehmern ihre Umwelt zu bewältigen. In<br />

fremden kulturellen Kontexten greifen die Kulturmitglieder immer auf ihre vertrauten<br />

Orientierungssysteme und vor allem auf ihre typischen zentralen Kulturstandards 4 zurück,<br />

damit sie leichter die potentiell konflikthafte interkulturelle interpersonale Begegnung überwinden<br />

und sich der neuen Situation anpassen können. Die Interaktionsprobleme nehmen<br />

immer zu, wenn die Interaktanten, ausgehend von einer scheinbaren Identität von Kulturen, ein<br />

hohes Maß an Ähnlichkeit im Denken, Interpretieren und Handeln erwarten, aber große Unterschiede<br />

erfahren. Wie die Kulturen gegeneinander abgegrenzt werden können, ist eine Frage,<br />

die in den meisten theoretischen Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation zur Diskussion 5<br />

kommt, und die letzten Endes nicht beantwortet wird. Abgrenzungskriterien wie Staatsgrenzen,<br />

Nationalität, gemeinsamer relativ homogener Wissensvorrat, Sprachgemeinschaft können<br />

Kultursysteme nicht genügend voneinander unterscheiden.<br />

Jedes Individuum, das einem Kultursystem angehört, verfügt aufgrund seiner eigenen und<br />

der tradierten Erfahrungen und infolge der Interaktionen in Gruppen, Gesellschaften und<br />

Organisationen über eine eigene Art, die Umwelt wahrzunehmen, sie zu interpretieren und zu<br />

kategorisieren und entsprechend der Situation angemessen zu handeln. Das erklärt die Heterogenität<br />

innerhalb desselben Kultursystems. Der Grad der Heterogenität hängt von der<br />

kommunikativen Kompetenz des Individuums ab. Je besser man diese Fähigkeit ausdrücken<br />

kann, desto größer wird der Grad der Heterogenität. Die individuellen kommunikativen Fähigkeiten<br />

können je nach den Forderungen des Systems funktional oder disfunktional sein. Man<br />

unterscheidet drei Kompetenzstufen:<br />

⇒ eine minimale Kompetenz (Die kommunikativen Fähigkeiten des Individuums sind geringer<br />

als diejenigen, die von einem bestimmten System verlangt werden. Solche Personen befinden<br />

sich außerhalb des sozialen Systems und sie können nicht einmal innerhalb des<br />

Systems angemessen handeln und kommunizieren.)<br />

3<br />

Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt am Main, S.209.<br />

4<br />

Die Kulturteilnehmer betrachten die Kulturstandards als Richtlinien des Handelns. Für eine Kultur sind sie typisch und<br />

verbindlich (vgl. Thomas, A. 1991).<br />

5<br />

Vgl. Goodenough 1971, Gumperz 1977, Galtung 1985, Knapp / Knapp-Potthoff 1990, Knapp 1992, Müller 1991,<br />

Loenhoff 1992, Hofstede 1993.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen<br />

⇒ eine zufriedenstellende Kompetenz (Das Individuum ist im System gut verankert, es ist gut<br />

sozialisiert, es kann leicht innerhalb des Systems, aber nicht außerhalb dessen, handeln<br />

und kommunizieren.)<br />

⇒ eine optimale Kompetenz (Die kommunikativen Fähigkeiten des Individuums sind sehr<br />

umfangreich. Das Individuum handelt und kommuniziert leicht innerhalb und außerhalb<br />

des Systems abhängig von seinen Absichten.)<br />

In den theoretischen und empirischen Studien über internationales Verhandeln wird immer<br />

auf kulturelle Unterschiede als das größte Hindernis in der Abwicklung der Auslandsgeschäfte<br />

hingewiesen. Kulturelle Unterschiede sind sicherlich ein wichtiges Element bei internationalen<br />

Verhandlungen, aber sie sind nicht der einzige Faktor. Jede Verhandlung wird von einer Unzahl<br />

verschiedener Faktoren auf viele verschiedene Weisen geprägt.<br />

Kultur und Wirtschaft gehören auf den ersten Blick nicht zusammen. In unserem Denken ist<br />

die Kultur gewöhnlich das Gegenteil der Wirtschaft. Die beiden Systeme stehen sozusagen<br />

diametral zueinander. Trotzdem sind alle, die in dem Wirtschaftsbereich tätig sind, zunächst<br />

Kulturträger eines kulturellen Systems, dem sie im Prinzip von Geburt angehören. Ihre arbeitsbezogenen<br />

Grundeinstellungen werden von bestimmten Werten beeinflußt, die für einen<br />

Kulturkreis kennzeichnend sind. Hofstede unterscheidet vier sozialpsychologische Dimensionen,<br />

die allen Kulturen gemeinsam seien 6 : Distanz zu bzw. Abhängigkeit von Autoritäten,<br />

Individualismus bzw. Kollektivismus, Maskulinität bzw. Feminität und Ambiguitätstoleranz bzw.<br />

Unsicherheitsvermeidung. Die Werte, die als Grundlage dieser Dimensionen zu betrachten sind,<br />

und ihre Ausdrucksweisen, wie z. B. Kommunikationsstrategien, Gesprächsverhalten, Verhandlungsstil,<br />

unterscheiden die Kulturen voneinander.<br />

In interkulturellen Begegnungen benötigen die Interaktanten ein umfangreicheres Wissen<br />

über die kulturelle Abhängigkeit von Verhaltens-, Handelns- und Kommunikationsstrategien, so<br />

dass sie die kulturell bedingten Abweichungen rechtzeitig erkennen und verarbeiten können.<br />

Die möglichen Abweichungen weisen offensichtlich auf die Heterogenität der Interaktanten<br />

hin. Der Grad der Heterogenität nimmt zu, wenn die Interaktanten aus ganz entgegengesetzten<br />

Kultursystemen kommen, d.h., dass die grundlegenden Werte der schon genannten sozialpsychologischen<br />

Dimensionen im Gegensatz zueinander stehen.<br />

Andere Faktoren, die den Kommunikationsprozess in interkulturellen Begegnungen bestimmen<br />

und zur Heterogenität der Interaktanten beitragen, sind: die Zugehörigkeit zu einer<br />

Hoch- oder Niedrig-Kontext-Kultur 7 und das Zeitverständnis. Diese Faktoren beziehen sich auf<br />

ganz wichtige Aspekte des Alltagslebens wie Klarheit und Präzision (Hoch-Kontext-Kulturen)<br />

bzw. Ambiguität im sprachlichen Ausdruck (Niedrig-Kontext-Kulturen), Lebensrhythmus und<br />

Handlungsorganisation. Die letzten zwei Aspekte hängen von dem linearen oder monochronen<br />

und von dem zirkulären oder polychronen Zeitkonzept der Interaktanten ab.<br />

Die Berufstätigen einer Nation sind durch die Ausübung ihrer Berufe Mitglieder unterschiedlicher<br />

Organisationen. Jede Organisation verfügt über bestimmte Praktiken 8 , die ihre<br />

eigene Kultur definieren und die die Unternehmen voneinander unterscheiden. Die Kulturteilnehmer<br />

eines bestimmten Kultursystems besitzen einen gemeinsamen, relativ homogenen<br />

6 Obwohl Hofstedes Studie sehr umfangreich ist und eine beeindruckende Datenbasis anbietet, sind die Ergebnisse, vor<br />

allem für die Länder, die nicht in die Forschung einbezogen wurden, nur teilweise relevant. Gemeint sind hier die<br />

europäischen Länder des ehemaligen Ostblocks, die mehrere politische und wirtschaftliche Umwandlungen nur in dem<br />

letzten Jahrhundert erlebt haben. Das hatte und hat noch offensichtlich Auswirkungen auf die Wertesysteme und<br />

implizit auf die soziopsychologischen Dimensionen dieser Kulturen.<br />

7 Vgl. Hall 1976.<br />

8 Vgl. Hofstede 1993.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

531


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru<br />

Wissensvorrat und ein typisches, für jeweilige Kultur allgemeingültiges Wertesystem. Das<br />

bringen die Berufstätigen in die Organisation mit. Mit dem Eintritt in einen Beruf müssen sie<br />

aber auch die Elemente der Unternehmenskultur, also die Praktiken, übernehmen. Die Berufstätigen<br />

sind also auf der Makroebene die Mitglieder einer Kultur und auf der Mikroebene die<br />

Mitglieder einer Organisationskultur.<br />

Die verschiedenen Strukturmodelle 9 der Organisationen erklären die Verhaltens-, Handelns-<br />

und Kommunikationsstrategien innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Bis vor kurzem<br />

konnte man noch von homogenen Organisationen sprechen, die durch bestimmte Verhaltenserwartungen<br />

ein Klima des Vertrauens erzeugten. Das erleichterte natürlich in der ersten Linie<br />

die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der Organisation. Unter den Globalisierungsbedingungen<br />

kann man aber von einer solchen Stabilität nicht mehr sprechen. Bei den multinationalen<br />

Organisationen, die in mehreren Kulturräumen aktiv sind und mit einer Vielfalt von<br />

Wertesystemen konfrontiert werden, ist die Homogenität keine Voraussetzung mehr. Der Grad<br />

der Heterogenität hängt von dem Gleichgewicht von Identität und Differenz innerhalb einer<br />

multinationalen Organisation ab.<br />

Die Interkultur als Verbindungsfläche in internationalen Begegnungen<br />

Die Globalisierung ist ohne internationale Kommunikation kaum denkbar. Die internationale<br />

Kommunikation ist heutzutage zur Voraussetzung wirtschaftlichen Erfolgs geworden. Jeder<br />

Kommunikationsprozess beruht auf dem schon klassisch gewordenen linearen<br />

Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver, das einen Sender und einen Empfänger,<br />

einen Enkodierungs- und einen Dekodierungsprozess, eine Nachricht und eine potentielle Störquelle<br />

umfasst. Der Prozess ist nur von dem Sender gesteuert, er ist also einseitig. Das bildet<br />

nur das Gerüst der Kommunikation, denn der Kommunikationsprozess ist viel komplexer.<br />

Die Verhandlung ist die direkte, face-to-face Begegnung zwischen zwei Parteien, die ein<br />

bestimmtes Ziel erreichen möchten.Wir sprechen hier von einer zweiseitigen interpersonalen<br />

arbeitsbezogenen Kommunikation. Die Interaktanten spielen die Rollen des Senders und des<br />

Empfängers, aber die Rollen sind nicht fest, sie haben eine Dynamik, weil die Kommunikationsbeteiligten<br />

diese Rollen ständig wechseln können. Die Themen der Geschäftsgespräche beziehen<br />

sich auf den Arbeitsprozess einer Organisation und deswegen betrachtet man auch die<br />

Kommunikation als arbeitsbezogen.<br />

Als interkulturelle Kommunikation bezeichnet man hier die interpersonale Interaktion<br />

zwischen Angehörigen verschiedener Kultur- und Sprachräume. Damit sie sich verständigen<br />

können, muss zumindest einer von denen eine Fremdsprache sprechen, oder beide müssen sich<br />

einer lingua franca bedienen.<br />

Als Vertreter einer Kultur werden die Interaktanten ihre sozialen Identitäten gegenüber den<br />

personalen hervorheben. Die interkulturelle Kommunikation im wirtschaftlichen Bereich erfordert<br />

ein genaueres Eingehen auf die Arbeitsmethoden, Denk- und Handlungsweisen und<br />

Lebensgewohnheiten der Partner. Das Profil der Unterhändler, die in verschiedenen Kulturräumen<br />

tätig sind, umfasst folgende Komponente:<br />

⇒ fachliche Kompetenz im Bereich der Wirtschaft<br />

⇒ interpersonale Kompetenz (Die Fähigkeit der Interaktanten den interpersonalen<br />

Kommunikationsprozess in einer bestimmten Kommunikationssituation erfolgreich zu<br />

führen.)<br />

9 Ausgehend von den soziokulturellen Dimensionen Machtdistanz und Unsicherheitsvermeidung unterscheidet Hofstede<br />

vier Strukturmodelle: die Pyramide, die gut geölte Maschine, die Familie und den Wochenmarkt.<br />

532<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen<br />

⇒ kommunikative Kompetenz (Hier geht es zum einen um die persönlichen Eigenschaften,<br />

wie Flexibilität, Leistungsbereitschaft, Verhandlungsgeschick, Überzeugungskraft, Teamfähigkeit,<br />

und zum anderen um die Fähigkeit Verhandlungen erfolgreich auch in anderen<br />

Sprachen zu führen.)<br />

⇒ interkulturelle Kompetenz (Die Fähigkeit die kulturellen Ähnlichkeiten und die Differenzen<br />

in internationalen Begegnungen zu erkennen und anhand der Interkultur die richtigen<br />

Kommunikationsstrategien auszuwählen, damit die Ziele der Verhandlung erreicht werden<br />

können.).<br />

Im Folgenden soll versucht werden, ein interkulturelles Kommunikationsmodell in internationalen<br />

Verhandlungen zu beschreiben und graphisch zu veranschaulichen (Abb. 1). Der<br />

Ausgangspunkt dieses Kommunikationsmodells ist die interpersonale arbeitsbezogene Kommunikation,<br />

die zwischen Angehörigen verschiedener Kulturräume stattfindet, die also als interkulturell<br />

definiert werden kann. Berücksichtigt werden nur die direkten Interaktionen zwischen<br />

den Vertretern verschiedener Organisationen der Weltwirtschaft. Die Kommunikationspartner<br />

haben unterschiedliche Muttersprachen, so dass sie als Verkehrssprache entweder eine Fremdsprache<br />

oder eine lingua franca benutzen müssen. In dem ersten Fall ist die Kommunikation<br />

asymmetrisch, weil einer der Interaktanten über die Vorteile der Muttersprache verfügt. In dem<br />

zweiten Fall kann man die Kommunikation als symmetrisch bezeichnen, weil die ausgewählte<br />

Verkehrssprache eine Fremdsprache für alle Interaktanten ist. Diese Symmetrie hängt mit dem<br />

Grad des Beherrschens der Fremdsprache zusammen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Fähigkeit<br />

der Interaktanten ihre Fachsprachkenntnisse mittels einer Fremdsprache zu übertragen.<br />

Jeder Kommunikationsprozess verläuft unter bestimmten Bedingungen, die von verschiedenen<br />

Faktoren beeinflußt werden. Diese Faktoren prägen sowohl die Enkodierungs- als<br />

auch die Dekodierungsprozesse der Interaktanten und wirken sich auch auf ihren Verhandlungsstil<br />

aus. Diese Einflussfaktoren bilden ein System mit drei Ebenen, die in Beziehung<br />

zueinander stehen. Die untere Ebene oder die Tiefenstruktur des Systems umfasst diejenigen<br />

Faktoren, die für eine bestimmte Kultur kennzeichnend sind und die die Entfaltung eines<br />

Individuums prägen. Die Elemente einer Kultur werden von den Individuen erlernt und im<br />

Prozess der Sozialisation internalisiert. In Anlehnung an dem Kommunikationsmodell von<br />

Gudykunst und Kim 10 entsprechen diese grundlegenden Faktoren den vier Filtern 11 : dem<br />

kulturellen (dazu gehören Werte, Normen, Regeln, kognitive Schemas, Handlungsmuster) dem<br />

soziokulturellen (es geht um die soziale Identität der Interaktanten und um die Dimensionen<br />

Machtdistanz, Individualismus / Kollektivismus, Feminität / Maskulinität, Unsicherheitsvermeidung),<br />

dem psycho-kulturellen (dazu gehören Einstellungen, Vorurteile, Stereotype) und<br />

dem situativen (der physischen Umwelt). Die Organisationskultur bildet die mittlere Ebene des<br />

Systems. Die corporate culture, definiert als “die kollektive Programmierung des Geistes” 12<br />

innerhalb einer Organisation, unterscheidet die Belegschaften der Unternehmen voneinander.<br />

Die Mitglieder jeder Organisation besitzen ein gemeinsames Wissen über die Arbeits- und<br />

Leistungsmentalität, über Praktiken, wie Konventionen, Gewohnheiten, Bräuche, Traditionen,<br />

Rituale, Symbole, die zum einen die Identität eines Unternehmens ausmachen, und zum<br />

anderen die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern, mit den Führungskräften und mit<br />

anderen Organisationen ermöglichen.<br />

Die Kultur einer Organisation steht unter dem Einfluss interner und externer Faktoren.<br />

Machtdistanz und Unsicherheitsvermeidung sind z. B. externe Faktoren, die die Struktur einer<br />

Organisation und die Beziehungen zwischen den Mitgliedern zueinander bestimmen. Die<br />

internen und externen Kommunikationsprozesse einer Organisation werden aber vor allem von<br />

den wirtschaftlichen Faktoren geprägt. Es geht um die wirtschaftlichen Ziele, um das Interesse<br />

10 Es geht um das Organisationsmodell “Communicating with strangers”.<br />

11 “Mechanismus that delimit the number of alternatives from which we chose when we decode and encode messages”<br />

Gudykunst / Kim 1992: Communicating with Strangers, S.32.<br />

12 Hofstede, G. (1993): Interkulturelle Zusammenarbeit, S.204.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

533


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru<br />

an Mitarbeitern und an Kunden, um den Grad der Durchlässigkeit des Systems, um Gewinn und<br />

Kosten. Die Durchsetzung und die Anerkennung der Kultur einer Organisation hängt von ihrer<br />

wirtschaftlichen Kraft ab. Je stabiler ihre Lage in der National- und Weltwirtschaft ist, desto<br />

dauerhafter ist auch ihre Kultur. Die Lebensdauer einer Organisation kann kürzer oder länger<br />

sein, abhängig von dem wirtschaftlichen Kontext. Für viele Organisationen, die eine längere<br />

Stabilität aufweisen, ist ihre eigene Kultur schon ein Kennzeichen geworden, an dem man sie<br />

auf allen Märkten erkennen kann.<br />

534<br />

Organisationskultur<br />

AA<br />

Arbeits-<br />

mentalität<br />

Symbole,<br />

Rituale<br />

Traditio<br />

Abb. 1 / Fortsetzung nächste Seite./<br />

S<br />

physische Umwelt<br />

Ort – Zeit – Klima – Landschaft<br />

Interaktion<br />

Arbeitsbezogene<br />

Kommunikation<br />

Nachricht<br />

Übertragungsmedium<br />

Fremdsprache<br />

Fachsprache<br />

Verbindungsfläche<br />

situative, fluide, temporäre<br />

Interkultur<br />

Nachricht<br />

Interaktion<br />

interpersonale Kommunikation<br />

Organisationskultur<br />

B<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

E<br />

Arbeitsmentalität<br />

Symbole,<br />

Rituale<br />

Traditi


Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen<br />

Tiefenstruktur<br />

kognitive Schemas<br />

Handlungsmuster<br />

Werte, Normen, Regeln<br />

soziokulturelle Dimensionen<br />

soziale Identität<br />

relative Homogenität<br />

Abb. 1<br />

Wegen der politischen und wirtschaftlichen Umwandlungen sind die Organisationen und<br />

implizit ihre Kulturen nur relativ stabil. Die Organisationskultur bildet eine Art Oberflächenstruktur<br />

in diesem Kommunikationsmodell, weil die physische Umwelt die beiden Ebenen umfasst.<br />

Die gepunkteten Linien des Parallelogramms weisen auf die Durchlässigkeit der<br />

Organisationskultur hin. Das Profil der Organisationskultur ändert sich immer nach den Anforderungen<br />

der wirtschaftlichen Kontexte. Die Mitglieder einer Organisation übernehmen und<br />

internalisieren die Elemente der Organisationskultur, aber als ihre Kulturträger betrachtet man<br />

sie nur während der Zeit, in der sie Arbeitsplätze in der jeweiligen Organisation belegen. Der<br />

Wechsel des Arbeitsplatzes bedeutet auch das Eingliedern in eine neue Organisationskultur. Die<br />

physische Umwelt bildet die obere Ebene des Systems, die sich über die beiden anderen spannt.<br />

Verhandlungen finden in einer spezifischen Umwelt statt und die Elemente dieses Umfelds –<br />

Ort, Zeit, Klima, Landschaft – können den Verlauf der Gespräche nachhaltig beeinflussen.<br />

Fremde Umgebungen lösen immer Angst aus. Wenn die Unterschiede zwischen der heimischen<br />

und der fremden Umwelt, wo der Verhandlungsort sich befindet, sehr groß sind, kann der<br />

Kulturschock bis zum Scheitern der Verhandlungen führen. Die situativen Faktoren wirken in<br />

gleichem Maße sowohl auf die Landeskultur als auch auf die Organisationskultur.<br />

In dem Kommunikationsprozess zwischen Interaktanten aus mehr oder weniger unterschiedlichen<br />

Kulturräumen entsteht eine Verbindungsfläche, die Interkultur, ohne die die Verständigung<br />

nicht möglich wäre. Die entstehende Interkultur ist situativ, fluid und temporär. Die<br />

drei Merkmale kennzeichnen die internationalen Verhandlungsgespräche. Der wichtigste Bestimmungsfaktor<br />

der Interkultur ist der Verhandlungsort. Abhängig davon wählen die Interaktanten<br />

die zur Kommunikationssituation passenden kulturellen, soziokulturellen und psychokulturellen<br />

Elemente, die eine reibungslose Abwicklung der Gespräche ermöglichen. Mit dem<br />

Wechsel des Verhandlungsortes ändern sich auch die situativen Bedingungen.<br />

Die Interkultur als offenes System weist einen hohen Grad an Durchlässigkeit auf. Die Bestandteile<br />

des Systems variieren nach dem situativen Kontext, so dass manche Elemente, die<br />

für bestimmte Kommunikationssituationen notwendig sind, können sich in anderen Situationen<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

H<br />

E<br />

T<br />

E<br />

R<br />

O<br />

G<br />

E<br />

N<br />

I<br />

T<br />

Ä<br />

T<br />

Tiefenstruktur<br />

kognitive Schemas<br />

Handlungsmuster<br />

Werte, Normen, Regeln<br />

soziokulturelle<br />

Dimensionen<br />

soziale Identität<br />

relative Homogenität<br />

535


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Florentina Alexandru<br />

nicht nur als unbrauchbar, sondern auch als schädlich für die Ergebnisse des Kommunikationsprozesses<br />

erweisen. Diese hohe Mobilität des Systems erschwert natürlich die Kommunikation.<br />

Eine wichtige Rolle kommt hier der richtigen Interpretation und Bewertung der<br />

Kommunikationssituation zu.<br />

Internationale Transaktionen nehmen in der Regel viel Zeit in Anspruch. Diese Zeitspanne,<br />

die man benötigt, um zu einem Abschluss zu kommen, bedeutet hohe Kosten, Geduld seitens<br />

der beiden Parteien und Vorbereitungen. Im Verhältnis zu der gesamten Dauer einer Transaktion<br />

sind die Verhandlungsgespräche, also die direkten Interaktionen, sehr kurz. Sie können<br />

höchstens paar Stunden dauern. Die Interkultur ist temporär, weil sie ihre Funktion nur in<br />

dieser Zeit, wenn die direkte Interaktion stattfindet, erfüllt. Werden die Gespräche abgeschlossen,<br />

schaltet jeder Interaktant sofort auf die eigene Kultur. Die Beendigung der Verhandlungen<br />

oder das Abbrechen der Beziehungen zu den Partnern aus einem bestimmten<br />

Kulturraum bedeutet, dass auch die entstandene Interkultur als Pufferzone zwischen den verschiedenen<br />

Kulturen nicht mehr als Kommunikationsinstrument benötigt wird. Die Interkultur<br />

ist also ein temporäres Kommunikationsmittel.<br />

Zusammenfassung<br />

Das kommunikative Verhalten eines Kommunikators hängt – ob im intra- oder interkulturellen<br />

Kontext – prinzipiell von dem Rezipienten und von der Situation ab. Die für die<br />

Abwicklung des Kommunikationsprozesses nötigen Eigenschaften und Fähigkeiten variieren<br />

nicht nur von Kultursystem zu Kultursystem, sondern auch von Situation zu Situation und von<br />

Rezipient zu Rezipient. Alle diese Faktoren bestimmen den Grad der Heterogenität der Interaktanten<br />

sowohl in intra- als auch in interkulturellen Begegnungen. Die wichtigste Voraussetzung<br />

einer erfolgreichen Kommunikation ist eben die Homogenität der Beteiligten, d.h. in<br />

erster Linie das a-priori vorhandene Wissen, die Erwartungen, Einstellungen und Verhaltensweisen,<br />

die von den Interaktanten mitgebracht und geteilt werden. Als kleinster gemeinsamer<br />

Nenner könnte also festgehalten werden, dass eine gewisse Homogenität der Eigenschaften<br />

und Fähigkeiten der Interaktanten erfolgsversprechend sein kann. Die Frage ist, inwieweit die<br />

Interkultur, als Pufferzone zwischen unterschiedlichen Kulturen, den Interaktanten die<br />

Kommunikation erleichtern kann. Anhand der Angleichungs- und Adaptationsmechanismen, die<br />

Hauptbedingungen der Interkultur sind, könnten sich die Interaktanten als homogener wahrnehmen,<br />

was natürlich zu einer besseren Bewältigung der Kommunikatiossituation, sei es im<br />

alltäglichen oder beruflichen Leben, führen kann.<br />

536<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Galtung, Johann(1985): Struktur, Kultur und intellektueller Stil. In: Wierlacher, A. (Hg.): Das Fremde und das<br />

Eigene. München, 151-193.<br />

2. Goodenough, Ward H.(1971): Culture, language and society. Reading, Mass.<br />

3. Gudykunst, William B. / Kim, Y. Y.(1992): Communicating with Strangers, 2. Aufl., New York.<br />

4. Gumperz, John J.(1977): The Conversational Analysis of Interethnic Communication. In: Ross, E. L. (Hg.):<br />

Interethnic Communication. University of Georgia Press.<br />

5. Hall, E. T.(1976): Beyond Culture. New York: Doubleday.<br />

6. Harms, Leroy S.( 1973): Intercultural Communication. New York: Harper & Row.<br />

7. Hinnenkamp, Volker(1990): Wieviel und was ist “kulturell” in der interkulturellen Kommunikation? Fragen und<br />

Überblick. In: Spillner, Bernd (Hg.): Interkulturelle Kommunikation. Kongreßbeiträge zur 20. Jahrestagung der Gesellschaft<br />

für Angewandte Linguistik GAL e. V. Frankfurt am Main, 46-52.<br />

8. Hofstede, Geert(1993): Interkulturelle Zusammenarbeit, Wiesbaden: Gabler.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Aspekte der Kommunikation in den internationalen Verhandlungen<br />

9. Knapp, Karlfried / Knapp –Potthoff, Annelie(1990): Interkulturelle Kommunikation. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung<br />

1, 62-93.<br />

10. Knapp, Karlfried(1992): Interpersonale und interkulturelle Kommunikation. In: Bergemann / Sourrisseaux (Hg.):<br />

Interkulturelles Management, Heidelberg, 59-80.<br />

11. Loenhoff, J.(1992): Interkulturelle Verständigung, Opladen.<br />

12. Maletzke, Gerhard(1984): Interkulturelle und internationale Kommunikation – Vorschläge für Forschung und<br />

Lehre. In: Bausteine zur Kommunikationswissenschaft 1949-1984 Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess, 169-<br />

178.<br />

13. Müller, Bernd-Dietrich (Hg.) (1991): Interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Studium Deutsch als Fremdsprache<br />

– Sprachdidaktik 9, München: Iudicium.<br />

14. Prosser, Michael H.(1978): The Cultural Dialogue. An Introduction to Intercultural Communication. Boston:<br />

Houghton – Mifflin.<br />

15. Rehbein, Jochen(1985): Einführung in die interkulturelle Kommunikation. In: Rehbein, J. (Hg.): Interkulturelle<br />

Kommunikation. Tübingen: Narr, 7-39.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

537


VERBALE STRATEGIEN IN MÜNDLICHEN PRÜFUNGEN<br />

Ioana Ioana Hermine Hermine Hermine Fierbin]eanu Fierbin]eanu<br />

Fierbin]eanu<br />

In der vorliegenden Arbeit gehe ich davon aus, daß während der Prüfungsdiskurse beim<br />

Kandidaten ein Wissensdefizit auftreten kann, den dieser zu verbergen versucht. Es gilt die Anwesenheit<br />

der Fragen, innerhalb des Fragen-Antwort-Musters, die beim Prüfer und beim Prüfling<br />

auftreten, zu überprüfen und die Formulierungstätigkeit der Kommunikationsteilnehmer.<br />

Diskursart: Prüfungsdiskurs<br />

Prüfungsdiskurse sind die mündlichen Prüfungen an der Hochschule in Deutschland, die es<br />

dem Hochschulabsolventen erlauben, seinen M.A. zu machen. Diskurs wird von Hoffmann<br />

1997:161 wie folgt definiert:<br />

Unter einem Diskurs verstehen wir diejenige mündliche Form sprachlicher Kommunikation, die an<br />

das Hier und Jetzt der aktuellen Sprechsituation, an Ko-Präsenz und Handlungskoordination von<br />

Sprecher(n) und Hörer(n) gebunden ist.<br />

An dem Prüfungsdiskurs nimmt der Prüfer - ein Hochschulprofessor - der Agent der Institution,<br />

der über das nötige Institutionswissen verfügt, und der jeweilige Prüfling - als Klient der<br />

Institution teil. Sie erfüllen die Bedingung der zeitlichen und räumlichen Kopräsenz und der<br />

Handlungskoordination, das beide Kommunikationsteilhaber aktiv sind. Der Prüfer ist bereit,<br />

den Wissensstand des Kandidaten zu überprüfen, und der Prüfling seinerseits möchte, daß sein<br />

Wissen geprüft und bewertet wird, um seinen Hochschulabschluß machen zu können. Prüfungsdiskurse<br />

sind komplexe sprachliche Handlungsmuster, die sich schon lange in der Gesellschaft<br />

eingebürgert haben. Sprachliche Handlungsmuster sind:<br />

eine spezifische Zweck-Mittel-Konfiguration, an die sich Sprecher orientieren können, um eine bestehende<br />

Wissens- und Situationskonstellation über kooperative Handlungsschritte in gewünschter<br />

Weise zu transformieren. Zu den Mitteln gehört das Gesagte (Diktum) mit den Formeigenschaften<br />

der Äußerung und ihrem propositionalen Gehalt, nonverbale Mittel können hinzukommen. Die<br />

Zwecke sind interaktionsgeschichtlich standardisiert, ohne daß dieser Vorgang abgeschlossen oder<br />

abschließbar wäre; einige sind universal in Handlungsmuster umgesetzt. Komplexe sprachliche<br />

Handlungsmuster werden als Text-/-Diskursarten realisiert. (Hoffmann, 1997: 101)<br />

Der Zweck der Prüfungsdiskurse ist die Präsentation des fachlichen Wissens durch den Kandidaten,<br />

das im Laufe des Studiums erworben und durch eingehende Vorbereitung für die Prüfung<br />

vorbereitet wurde. In den pädagogischen Institutionen - den Hochschulen - finden Prüfungsdiskurse<br />

statt, durch die der Wissensstand der Kandidaten überprüft werden kann. Die<br />

Prüfung bietet den Kandidaten die Möglichkeit ihr Wissen, die erlernte Wissenschaftssprache,<br />

die Aneignung von Verfahren wissenschaftlicher Diskursproduktion, die Wissensverarbeitung<br />

und die Fähigkeit alle Kenntnisse zu verbinden, zu beweisen.


Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen<br />

Was die Mittel betrifft, wird das Gesagte transkribiert und auf die Formeigenschaften und<br />

den propositionalen Gehalt eingegangen. Im Falle des Prüfungsdiskurses tritt beispielsweise das<br />

Frage-Antwort-Muster. Die mündliche Prüfung dauert an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät<br />

im Hauptfach 60 Minuten und im Nebenfach eine halbe Stunde. Als Vorbereitung gilt der<br />

Vorschlag des Kandidaten, was Themen und Bibliographie betrifft, die von einem Ausschuß<br />

zugelassen werden müssen. Für die Prüfungsdiskurse hat der Prüfling Texte, die Bibliographie<br />

vorbereitet aus deren Gesamtenge er das Wesentliche herausnimmt, um es mündlich zu präsentieren.<br />

Dadurch findet ein Filtern, eine Reduktion und eine Textverflechtung statt, die zu<br />

dem Entstehen einer Prüfungsdiskurses beiträgt.<br />

Das Handlungsmuster Frage-Antwort im Prüfungsdiskurs<br />

Die Wissensdarstellung des Kandidaten erfolgt durch das Handlungsmuster Frage-Antwort.<br />

Der Prüfer formuliert Fragen, damit der Kandidat ein bestimmtes Thema behandeln soll. Wenn<br />

die Darstellung nicht die erwünschte ist, treten detaillierte Fragen oder Stützfragen auf, durch<br />

die der Prüfer den Kandidaten anleitet oder ihm seine Hilfe bietet. Es können aber Fragen beim<br />

Kandidaten auftreten, ihre Anwesenheit und Form soll untersucht werden. Das Handlungsmuster<br />

Frage-Antwort wird von dem Prüfer eingesetzt um Regie-bzw. Examensfragen zu<br />

formulieren. Die Fragen gelten als Regiefragen, da der Prüfer selbst nicht über eine Wissenslücke,<br />

wie im Normalfall - dem Zweckbereich-Wissenstransfer - verfügt, die beseitigt werden<br />

soll.<br />

Wie aus dem Frage-Antwort-Handlungsmuster erfolgt, ist der Ausgangspunkt, das der<br />

Nichtwissende eine Wissenslücke bei sich entdeckt. Diese muß er formulieren und an einen<br />

geeigneten potenziellen Antwortenden richten. Der Hörer führt einen mentalen Suchprozeß<br />

aus, indem er sein Wissen auf geeignete Elemente hin befragt. Findet er solche, äußert er sic als<br />

Antwort auf die Frage, wenn nicht, kann er schweigen oder ein Nichtwissen mitteilen. Der<br />

Fragende überprüft, ob die Antwort sein Wissensdefizit zufriedenstellend behebt und kann dies<br />

im positiven Fall einer Rückbestätigung bekannt geben, im negativen Fall bleibt sein Wissensdefizit<br />

bestehen und er kann zu einer Wiederholung der Frage an einen Mitaktanten gehen oder<br />

reformulieren. Im Fall der Prüfungsdiskurse umreißt der Prüfer nicht seine Wissenslücke,<br />

sondern das vom Kandidaten zu behandelnde Thema. Seine Frage ist eine Examens und Regiefrage,<br />

bei der kein Wissenstransfer, sondern eine Wissensüberprüfung stattfindet, da er selbst<br />

über das Wissen, das er überprüfen und bewerten soll, bereits verfügt. Bei der Regiefrage besteht<br />

an der Oberfläche kein Unterschied zur W-Frage / Ergänzungsfrage oder zu den ob-<br />

Fragesätzen. Auf diese wäre die „ja“- Antwort pragmatisch unangemessen, da die Frage auf<br />

Momente des Handlungsprozesses zielt und zur Realisierung der Regiefrage (Ehlich/Rehbein<br />

1986: 66) beiträgt. Auf die Regiefrage oder die Aufforderung des Prüfers reagiert der Prüfling<br />

mit einer Antwort, die durch eine Assertion oder Assertionsverkettung realisiert wird, die zur<br />

Entstehung des Diskurses beiträgt.<br />

Handlungstheoretisch differenzieren Ehlich / Rehbein (1983: 12) in ihrem Grundmodell drei<br />

Typen von Wirklichkeit: die außersprachliche (P), die mentale (π) (d.h. die Widerspiegelung von<br />

P im Kopf vom Sprecher (πS) und im Kopf vom Hörer (πH) und die sprachliche Wirklichkeit. Ob<br />

die mentale Wirklichkeit bei Prüfer und Kandidat übereinstimmt, gilt innerhalb der mündlichen<br />

Prüfung festzustellen.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

539


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Ioana Hermine Fierbin]eanu<br />

Zum Korpus allgemein<br />

Meine Analyse der mündliche Kommunikation in Prüfungen stützt sich auf ein Korpus, das<br />

zu diesem Zweck erstellt wurde. Die Aufnahmen stammen aus dem Bereich Geisteswissenschaften.<br />

Ich nahm Kontakt mit dem Prüfen und erhielt die Zusage zur Aufnahme währen der<br />

mündlichen Prüfungen. Bei der Prüfung wahren: der Prüfer, der Kandidat, der Protokollant und<br />

ich anwesend. Die Kandidaten wurden über den Zweck der Aufnahmen informiert und um ihr<br />

Einverständnis gebeten, um keinen Anlaß zum Rechtsverstoß zu bieten.<br />

540<br />

Prüfungsdiskurs: Wissensdefizit beim Kandidaten<br />

T – Turn<br />

K – Kandidat<br />

P – Prüfer<br />

T1P: Gibt es ein Suffix, das nur aus einem Vokal besteht im Deutschen?<br />

T2K: Ja, nämlich das “e” z.B.<br />

T3P: Nur aus einem Vokal?<br />

T4K: “e” ist ja ein Vokal<br />

T5P: “E” haben sie gesagt? Ich hab “g∂” verstanden. Ja, “∂ “ meinen Sie, nicht? Also in “Gebirg∂“<br />

T6K: Nee, wie beim “Lehre”<br />

T7P: Lehr∂<br />

T8K: “e” ist ein Suffix dann<br />

T9P: Früher haben sie “e” gesagt. Hier verbirgt sich hinter dem Buchstaben “e” verbergen sich ja<br />

verschiedene<br />

K: hm<br />

T10:Vokalphoneme im Deutschen, das , manchmal paßt das e: Bei den Suffixen geht es konkret um<br />

das “∂“<br />

K: hm<br />

T11P: Ja, das “e” haben wir in “Frankfurter Sufflé”<br />

T12K: Ja, mhm<br />

T13: Aber ansonsten ist es das “∂“. Wie nennen wir diesen Vokal? Das “∂“? Ja, mit einem bestimmten<br />

Namen in der Linguistik?…äh...Weil es ganz besondere Stellung…<br />

T14K: Umlaut (zögernd)<br />

T15P: Nein, nein. Es ist kein Umlaut.<br />

T16K: Also, welches “∂“? Also O in Umlaut?<br />

T17P: Was haben Sie jetzt im äh … z.B….<br />

T18K: oder U-Umlaut, meinen Sie?<br />

T19P: Ich meine nicht das “ü” ich meine nicht das “ö”, ich meine dieses “∂“, was eben dieses Suffix<br />

ausmacht in: “Straß∂“. Wie heißt dieser Laut am Schluß?<br />

T20K: Ja, mhm… Nullmorphem?<br />

T21P: Nein, es ist ja / wird ja gesprochen. Straß∂, Hos∂, Dos∂, hm los∂…. Es ist das Schwa. Sind sie<br />

mal darauf gestoßen? Schwa? Offensichtlich nicht.<br />

T22K: Also, in dieser meiner Literatur nicht.<br />

T23P: In Ihrer Literatur… Das ist jetzt so zu sagen, eigentlich Grundstudium.<br />

T24K: Auch nicht aus dem Wortbildungsseminar, das wir gemacht haben.<br />

T25P: Ja, ja. Nein, da sind wir darauf nicht eingegangen.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen<br />

Im ausgewählten und transkribierten Beispiel handelt es sich um eine Prüfung im Nebenfach<br />

germanistische Sprachwissenschaft mit dem Thema: deutsche Wortbildung. Durch eine<br />

Aufforderung seitens des Prüfers hat der Kandidat sein Wissen zum Thema: Wortbildung zu<br />

präsentieren begonnen. Der Prüfer steuert die Handlung des Kandidaten, sein Initiativrecht ist<br />

begrenzt. Die Assertionskette kann durch Fragen seitens des Prüfers, der den Kandidaten lenken,<br />

anleiten möchte, um ihn von Ausschweifungen zu bewahren oder um auf Detailes einzugehen,<br />

unterbrochen werden.<br />

Das Beispiel beginnt mit einer Regiefrage, die die Form einer Ergänzungsfrage hat. Der<br />

Prüfer hat der Kandidaten aufgefordert über die morphematische Struktur der Lexeme in<br />

Deutschen zu sprechen. In dem behandelten Beispiel formuliert er eine Detailfrage, auf die der<br />

Kandidat eingeht. Der Diskurs dauert ca. 2 Minuten und stellt einen Fall dar, in dem der Kandidat<br />

sein Wissen zum Thema Wortbildung darstellt. Er behandelt komplexe Wortbildungsstrukturen<br />

– Komposita, Derivate und was die Ableitungen betrifft, verlangt der Prüfer, daß er<br />

auf die Struktur der Affixe eingeht. Daher stellt er die Frage, nach einem Suffix, das nur aus<br />

einem Vokal besteht.<br />

Die formulierte Frage seitens des Prüfers isr eine Regiefrage, eine typische Examensfrage,<br />

auf die der Kandidat mit „ja“ antwortet, pragmatisch unpassend, um dann gleich eine Antwort<br />

zu bieten: das „e“. In den folgenden Turns kommt es zu einem Mißverständnis, da der Prüfer<br />

den Prüfling akustisch nicht richtig wahrnimmt. Er wiederholt daher in T3 seine Frage, ob die<br />

Antwort des Kandidaten das Wort „ein Vokal“ enthält. Der Kandidat assertiert, daß „e“ ein Vokal<br />

ist, wobei der Prüfer das Mißverständnis klärt u.zw., daß er statt „e“ – „ge“ verstanden hat, um<br />

gleich mit einer Frage – einer Entscheidungsfrage, durch die er die Antwort suggeriert, fortzusetzen.<br />

Er bietet sogar ein Beispiel – Gebirge, er spricht den Auslaut korrekt aus, als Schwa-<br />

Laut, was die von ihm erwünschte Antwort darstellt.<br />

Durch die erfolgte Antwort verbessert der Kandidat den Prüfer, indem das Beispiel wiederholt<br />

wird, die Endsilbe aber phonetisch falsch ausgesprochen wird. Durch die in T1 formulierte<br />

Frage hat der Prüfer den Kandidaten bereits auf den Bereich Phonetik hingewiesen, das gebotene<br />

Beispiel sollte als Stütze gelten, jedoch bleibt der Kandidat beim Buchstaben „e“, ohne<br />

an die richtige Aussprache desselben in einer Endsilbe zu denken. Dadurch, daß der Kandidat<br />

auf die Aussprache „e“ statt „∂“ beharrt, erkennt der Prüfer den Wissensdefizit, versucht aber<br />

erneut den Kandidaten auf die von ihm erwünschte Antwort zu bringen. In T9 - T10 erklärt der<br />

Prüfer dem Kandidaten, daß hinter dem Buchstaben „e“ sich mehrere Vokalphoneme verbergen,<br />

er bietet dem Kandidaten dadurch eine weitere Hilfe an, die dieser nicht wahrnimmt. Durch die<br />

korrekte Aussprache „∂“ ergibt sich die Gelegenheit dem Kandidaten helfend entgegenzukommen,<br />

was in einer schriftlichen Prüfung ausgeschlossen wäre. Der Prüfer verlangt den Fachterminus<br />

in T13. Die darauffolgende Antwort in T14, als Assertion, wird als falsch zurückgewiesen.<br />

Während der Kandidat weiter überlegt, bringt der Prüfer Beispiele für die Vokalphoneme<br />

des Deutschen, um dann zu fragen, wie „∂“ mit einem Fachwort bezeichnet wird. In<br />

T14 versucht der Kandidat eine Antwort, die Stimme ist zögernd, die falsch ist, der Prüfer weist<br />

sie gleich als falsch zurück.<br />

Durch T16 formuliert der Kandidat zum ersten Mal eine Frage und zwar eine Ergänzungsfrage,<br />

die er selbst zu beantworten versucht, um sie dann doch in eine Frage , vom Tonhöhenverlauf<br />

her, zu verwandeln. Durch T17 versucht der Prüfer weitere Beispiele zu bringen,<br />

während er noch überlegt, folgt in T18 ein weiterer Versucht – eine fragende Antwort, da durch<br />

das „meinen Sie“ das an den Prüfer gerichtet ist, nach einer Präzisierung, der Proposition ver-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

541


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Ioana Hermine Fierbin]eanu<br />

langt wird. Die ursprüngliche Assertion wird in eine Entscheidungsfrage transformiert. In T19<br />

findet die Präzisierung statt, der Kandidat nimmt zur Kenntnis, daß er keine richtige Antwort<br />

gegeben hat, er macht einen weiteren Versuch in T20, die Antwort erfolgt als Quästiv. In T21<br />

entscheidet sich der Prüfer den Wissensdefizit als solchen zu akzeptieren und die von ihm<br />

erwünschte Antwort zu bringen. In den darauffolgenden Turns (T22-T24) beantwortet der<br />

Kandidat die Frage (Entscheidungsfrage) des Prüfers, ob ihr der Fachterminus bekannt sein oder<br />

nicht u.zw. dadurch, daß derselbe in ihrer Literatur, die sie vorbereitet hat, nicht gewesen wäre,<br />

sehr höflich und hebt hervor, daß sie den Terminus auch nicht in dem Wortbildungsseminar,<br />

daß sie während des Studiums besucht hat, gehört hat. Durch den Turn 25 wird von dem Prüfer<br />

auf ein weitere Thema hingewiesen.<br />

Aus dem dargestellten Beispiel geht hervor, daß die Prüfungsdiskurse nicht immer „problemlos“<br />

verlaufen. Es treten Situationen auf, in denen bei den Kandidaten ein Wissensdefizit<br />

aufkommt, den diese nicht gleich zugeben, sondern zu verbergen versuchen. Der Prüfer handelt<br />

unterschiedlich. In dem von mir behandelten Beispiel bemüht sich der Prüfer, sobald er das<br />

Nichtwissen des Prüflings erkannt hat die Wissenslücke desselben durch helfende Fragen zu<br />

beheben. Zu einem Wissensdefizit, kommt es, wenn die mentale Wirklichkeit π des Prüfers und<br />

des Kandidaten nicht übereinstimmt. Theoretisch hat der Prüfling für die Themen, die er vorgeschlagen<br />

hat, Aufsätze und Bücher gelesen und verarbeitet. Diese sind dem Prüfling bekannt,<br />

daher sollte die mentale Wirklichkeit der beiden Aktanten die gleiche sein. Die Texte werden zu<br />

Diskursen von dem Kandidaten verarbeitet. Der Kandidat hat die Texte im Kopf aus deren<br />

Gesamtmenge er wissenschaftlich herausnimmt, um die entsprechende Fragen / Aufgaben<br />

beantworten bzw. erfüllen zu können. Eine Textverflechtung findet statt, die Texte werden<br />

reduziert und gefiltert und ein Diskurs entsteht, der die Beantwortung der Fragen des Prüfers<br />

darstellt.<br />

Aus dem Beispiel geht hervor, daß der Kandidat nicht nur Texte im Kopf hat, sondern auch<br />

Unterrichtsdiskurse, das Wissen, das er während des Studiums, beim Besuchen der Seminare<br />

und Vorlesungen sich angeeignet hat. Der Kandidat beantwortet die Fragen des Prüfers aufgrund<br />

einer Verflechtung von Texten und Unterrichtsdiskursen, dank des erworbenen Grundwissens,<br />

der Fähigkeit und Fertigkeit zu abstrahieren, zu filtern und zu reduzieren, die dazu<br />

beitragen, daß ein wissenschaftlicher Diskurs entsteht. Der Prüfer ist darum bemüht den Wissensdefizit<br />

des Kandidaten zu beheben, er formuliert Stützfragen, helfende Fragen, die seine<br />

Strategien darstellen, dadurch diese der Prüfer ein eigenes Ziel und zwar dem Kandidaten zu<br />

helfen, verfolgt und nicht einen Zweck. Zum Unterschied von dem Frage-Antwort-Muster, bei<br />

dem der Sprecher, sobald er eine Antwort nicht erhalten hat einen anderen Hörer aussucht, von<br />

dem er annimmt, daß er seine Fragen beantworten kann, versucht der Prüfer durch seine Examensfragen<br />

die Antwort von ein- und demselben Hörer, nämlich dem Kandidaten zu bekommen.<br />

Der Kandidat formuliert auch Fragen, zwar sind es Antworten, sie beginnen als Assertionen,<br />

werden in Entscheidungsfragen ungewandelt, durch die Struktur „meinen Sie“, mittels derer<br />

eine Präzisierung – ob die Antwort richtig oder falsch ist – verlangt wird. Es wird sowohl vom<br />

Prüfer als auch vom Kandidaten das Frage-Antwort-Muster initiiert, der Prüfer setzt es als eine<br />

Strategie ein, durch die er dem Kandidaten helfen kann sein Wissensdefizit zu beheben, dem<br />

Kandidaten dient es auch als Strategie durch die er von dem Prüfer erfährt, ob seine Antwort<br />

die erwünschte ist oder nicht.<br />

542<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Verbale Strategien in mündlichen Prüfungen<br />

Schlußfolgerungen<br />

Durch das untersuchte Korpusbeispiel wollte ich überprüfen, was für Strategien die Kandidaten<br />

einer mündlichen Abschlußprüfung an der Hochschule in Deutschland und die Prüfer, die<br />

in solchen Prüfungen agieren einsetzen, ob sie das Frage-Antwort-Muster initiieren und welche<br />

Formulierungstätigkeit die beiden Kommunikationspartner eingehen. Die Anwesenheit des<br />

Frage-Antwort-Musters beim Prüfer wurde bestätigt, da dieser durch Regiefragen den Wissensstand<br />

des Prüflings überprüfen und bewerten soll. Indem er Stützfragen äußert, setzt er eine<br />

Strategie ein durch die er den Wissensdefizit des Kandidaten, den er sofort erkannt hat, beheben<br />

möchte. Das gleiche Muster wurde auf von dem Kandidaten initiiert, um durch die<br />

Struktur „meinen Sie“ die Präzisierung zu erhalten, ob seine Kenntnisse richtig oder falsch sind.<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Becker-Mrotzek, Michael (1989) Schüler erzählen aus ihrer Schulzeit. Eine diskursanalytische Untersuchung über<br />

das Institutionswissen. Frankfurt/Bern: Peter Lang<br />

2. Brünner, Gisela (1989) Intonation und Diskurs. In: Linguistische Studien 199. Reihe A (Berlin/DDR), S.233-244<br />

3. Cherubim, D./Henne, H./Rehbock, H. (Hgg.)(1987) Gespräche zwischen Alltag und Literatur. Beiträge zur<br />

germanistischen Gesprächs-forschung. Tübingen: Niemeyer<br />

4. Ehlich, Konrad (1992) Language in the Professions: Text und Discourse. In: Grindsted, A./Wagner, J. (Hgg.)(1992),<br />

S.9-29<br />

5. Ehlich, Konrad (Hg.)(1980) Erzählen im Alltag. Frankfurt: Suhrkamp<br />

6. Ehlich, Konrad/Wagner, Klaus R. (Hgg.)(1989) Erzählerwerb. Frankfurt/Bern: Peter Lang<br />

7. Ehlich, Konrad/Rehbein, J.(1986)Muster und Institution.Untersuchungen zur schulischen Kommunikation.Tübingen:Narr<br />

8. Fritjof, Werner (Hg.)(1983) Gesprächsverhalten von Frauen und Männern. Frankfurt/Bern: Peter Lang<br />

9. Grindsted, Annette/Wagner, Johannes (Hgg.)(1992) Communication for Specific Purposes/Fachsprachliche<br />

Kommunikation Tübingen: Narr (Kommunikation und Institution 21)<br />

10. Günthner, Susanne (1992) Sprache und Geschlecht: Ist Kommunikation zwischen Frauen und Männern interkulturelle<br />

Kommunikation ? In: Linguistische Berichte 138/1992, S.123-143<br />

11. Hoffmann, L.. (1997) Kap.C1:Sprache und Illokution.In:Zifonun; G./Hoffmann, L./Strecker, B. (1997) Grammatik der<br />

deutschen Sprache,.Bd.1 Berlin, New York: de Gruyer.<br />

12. Jin, Friederike (1990) Intonation im Gespräch. Tübingen: Niemeyer<br />

13. Kallmeyer, Werner (1985) Handlungskonstitution im Gespräch. Dupont und sein Experte fähren ein Beratungsgespräch.<br />

In: Gülich, E./Kotschi, Th. (Hgg.)(1985) Grammatik, Konversation, Interaktion. Beiträge zim<br />

Romanistentag 1983. Tübingen: Niemeyer, S.81-122<br />

14. Kallmeyer, Werner (Hg.)(1986) Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten und Situationstypen.<br />

Jahrbuch 1985 des IDS. Düsseldorf: Schwann<br />

15. Kallmeyer, Werner/Schütze, Fritz (1977) Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung.<br />

In: Wegner, D. (Hg.)(1977), S.159-274<br />

16. Lämmert, Eberhard (Hg.)(1982) Erzählforschung. Stuttgart: Metzler<br />

17. Nothdurft, Werner (1984) "äh folgendes problem äh". Die interaktive Ausarbeitung "des Problems" in Beratungsgesprächen.<br />

Tübingen: Narr<br />

18. Nothdurft, Werner/Reitemeier, Ulrich/Schröder, Peter (1992) Beratungsgespräche-Analyse asymetrischer Dialoge.<br />

Tübingen: Narr<br />

19. Quasthoff, Uta (1980) Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am<br />

Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tübingen: Narr<br />

20. Redder, Angelika/Rehbein, Jochen (Hgg.)(1987) Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation. Bremen: OBST 38<br />

21. Rehbein, Jochen (1984) Beschreiben, Berichten, Erzählen. In: Ehlich, K. (Hg.)(1984), S.57-124<br />

22. Rehbein, Jochen (1989) Biographiefragmente. Nicht-erzählende rekonstruktive Diskursformen in der Hochschulkommunikation.<br />

In: Kokemohr, R./Marotzki, W. (Hgg.)(1989), S.163-254<br />

23. Rehbein, Jochen (Hg.)(1985) Interkulturelle Kommunikation. Tübingen: Narr<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

543


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Ioana Hermine Fierbin]eanu<br />

24. Schank, Gerd/Schwitalla, Johannes (Hgg.)(1987) Konflikte in Gesprächen. Tübingen: Narr<br />

25. Schmitz, Ulrich (Hg.)(1990) Schweigen. Bremen:OBST 42<br />

26. Schönert, Jörg (Hg.)(1991) Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in<br />

Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen: Niemeyer<br />

27. Schröder, Peter (Hg.)(1985) Beratungsgespräche - ein kommentierter Textband. Tübingen: Narr<br />

28. Schütze, Fritz (1982) Narrative Repräsentation kollektiver Schicksalsbetroffenheit. In: Lämmert, E. (Hg.)(1982), S.<br />

568-590<br />

29. Schütze, Fritz (1984) Kognitive Figuren des Stegreiferzählens. In: Kohli, M./Robert, G. (Hgg.)(1984) Biographie.<br />

Stuttgart: Metzler, S. 78-117<br />

30. Silbereisen, Rainer K./Heinrich, P./Schulz, W. (1975) Beratungsgespräche im Sozialamt: Zusammenhänge zwischen<br />

Merkmalen des Berater- und Klientenverhaltens. In: Psychologie und Praxis 19/1975, S. 126-135<br />

31. Spillner, Bernd (Hg.)(1990b) Interkulturelle Kommunikation. Kongreßbeiträge zur 20. Jahrestagung der GAL.<br />

Frankfurt/Bern: Peter Lang<br />

32. Thimm, Caja (1987) Die "Zweierkiste" als Zweierfront - Solidarität über alles ? In: Schank, G./Schwitalla, J.<br />

(Hgg.)(1987), S. 292-325<br />

33. Watts, Richard J./Sachiko, Ide/Ehlich, Konrad (Hgg.)(1992) Politeness in Language. Studies in its History, Theory<br />

and Practice. Berlin/New York: de Gruyter<br />

34. Zifonun; G./Hoffmann, L./Strecker, B. (1997) Grammatik der deutschen Sprache,. Bd.1 Berlin, New York: de Gruyer.<br />

544<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


“DER SPRECHER <strong>UND</strong> DAS WORT SIND ZWEI PERSONEN”<br />

(M. Luther, T is c hr ede n)<br />

Zum Gebrauch des politischen Euphemismus in den Massenmedien<br />

Maria Muscan<br />

Vorbemerkungen<br />

Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine theoriegeleitete empirische Untersuchung zum<br />

Euphemismus-Problem in politischen Pressetexten allgemein. Das Ziel dieser Arbeit ist einerseits,<br />

auf der Grundlage eines Korpus die möglichen Kontexte, in denen Euphemismen verwendet<br />

werden, aufzudecken und zu analysieren und somit theoretisch zur Erklärung des<br />

politischen Euphemismus beizutragen. Andereseits sollen Herkunftsbereiche und Funktionen<br />

untersucht und Vorschläge zu einer Klassifikation von Euphemismen in politischen Pressetexten<br />

gemacht werden..<br />

Mein Untersuchungsmaterial umfasst zwei Textkorpora: zum ersten gehören die Tageszeitungen<br />

Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Wochenmagazin<br />

Der Spiegel aus dem Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis zum 30. September 2001. Zum zweiten<br />

Textkorpus zählen Schlagzeilen verschiedener Fernsehsender (Antena 1, Realitatea TV, România<br />

1, CNBC, CNN, Euro News) in der Zeitspanne 21. – 28. März 2003. Selbst wenn man das untersuchte<br />

Material auf die politische Berichterstattung eingrenzen würde, wäre sein Umfang zu<br />

groß, als dass es im Rahmen der vorliegenden Arbeit gründlich analysiert werden könnte. Es ist<br />

infolgedessen nötig, das Material weiter zu reduzieren. Ich beschränke mich daher auf zwei<br />

Themen: der Irak-Krieg im März 2003 und sozial-politische Entscheidungen in Deutschland im<br />

Zeitraum Juli-September 2001. Um euphemistischen Sprachgebrauch als solchen zu erkennen,<br />

muss zunächst der Bezug zum Tabu hergestellt werden. Erst vor diesem Hintergrund werden die<br />

verschleiernde und verhüllende Funktion von Euphemismen insbesondere in den politischen<br />

Pressetexten bzw. Pressemitteilungen deutlich.<br />

Begriffsklärung<br />

Die Politik<br />

Für den Begriff Politik gibt es in der Forschung keine allgemeingültige Definition. In meiner<br />

Untersuchung gehe ich von E. Leinfellners Definition aus (zit. nach Xiaon: 1993), die über Politik<br />

sagt, es sei:<br />

die Wissenschaft oder Kunst der Regierung, Verwaltung oder Leitung von öffentlichen oder staatlichen<br />

Angelegenheiten;<br />

die Angelegenheiten oder Tätigkeiten derjenigen, die eine Regierung oder Organe einer Regierung<br />

kontrollieren oder zu kontrollieren versuchen;<br />

die Prinzipien oder Ziele einer Regierung, einer Partei oder einer Gruppe innerhalb einer Regierung,<br />

ausgedrückt z.B. in Manifesten, Parteiprogrammen, Reden nach Art der State of the Union Message<br />

usw.;<br />

allgemein die Praktiken derjenigen, die Macht, Autorität oder ihren Vorteil im Rahmen des Staates<br />

suchen (…);<br />

(…) politische Gedanken oder Meinungen.


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />

Die Politik eines Staates oder einer Partei kann auf verschiedene Ebenen angesiedelt sein.<br />

Dazu gehören z.B. die Außen-, Innen- oder Sozialpolitik. In dem von mir untersuchten Material<br />

geht es hauptsächlich um die Innen- und Sozialpolitik Deutschlands bzw. um die Außenpolitik<br />

der USA, wie sie von europäischen / rumänischen Fernsehsendern präsentiert wird.<br />

Obwohl es die oben erwähnten Kriterien für Politik erleichtern, die Bereiche zu identifizieren,<br />

ist es bei der konkreten Auswahl sehr schwierig, eine klare Abgrenzung zwischen<br />

Politik und anderen Sachbereichen vorzunehmen. In manchen Fällen überschneiden sich zwei<br />

Bereiche, wie z.B. Politik und Wirtschaft, so stark, dass die Grenzen zwischen ihnen kaum gezogen<br />

werden können. In Bezug auf das von mir recherchierte Material werden die Texte in den<br />

meisten Fällen aus der Sparte Politik einzelner Zeitungen bzw. der Zeitschrift Der Spiegel entnommen.<br />

Aber manchmal bleiben die von Redakteuren gemachten Verteilungen der Sachbereiche<br />

nicht problemlos. Manche Artikel, die z.B. von Redakteuren in die Sparte Wirtschaft<br />

aufgenommen werden, könnten m.E. auch der Sparte Politik zugeordnet werden, weil sie eher<br />

mit der Wirtschaftspolitik zu tun haben und sie grösstenteils ja doch politische Entscheidungen<br />

mit wirtschaftlicher Auswirkungen sind. Dasselbe gilt für die Politikersprache in Bezug auf den<br />

Irak-Krieg im März – April 2003, da diese eigentlich politische Entscheidungen wiedergibt, die<br />

einen bedeutenden Einfluss auf die rumänische Zivilbevölkerung aus Constan a bzw. Mihail<br />

Kog lniceanu (wo US-Truppen stationierten) hatte. Die Euphemisierung dieser Sprache konnte<br />

festgestellt werden anhand der verschleiernden Aussagen, die im Gegensatz zu der konkreten<br />

Realität stand, nämlich einem zerstörerischen Krieg.<br />

546<br />

Die politische Rolle des Journalisten<br />

Wie die Massenmedien im Allgemein, so spielen die Journalisten im Besonderen eine wichtige<br />

Rolle innerhalb der politischen Meinungs- und Willensbildung. Massenkommunikation<br />

ohne hauptberufliche Journalisten – das ist heute kaum noch vorstellbar. Beispiele für die Verbindung<br />

zwischen Politik und Journalismus fanden und finden sich immer in grosser Anzahl –<br />

so etwa in Deutschland Willy Brandt oder der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky. Vor<br />

allem die aus der Arbeiterbewegung stammenden Politiker haben häufig über den Journalismus<br />

ihre politische Laufbahn begonnen (Victor Ciorbea, Miron Mitrea). Dennoch lassen sich anhand<br />

solcher Beispiele nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede zwischen den<br />

Berufsrollen des Politikers und des Journalisten erkennen: Politik – wie immer sie begrifflich<br />

erfasst wird – ist direkt am Entscheidungsprozess der Gesellschaft gebunden; der Journalismus<br />

begleitet hingegen diesen Prozess – kommentierend, berichtend oder selbst Einfluss nehmend.<br />

Journalisten bringen nicht nur ihre eigene Meinung oder die der Medieneigentümer zum<br />

Ausdruck, sondern geben häufiger lediglich wieder, was andere, beispielsweise Politiker, gesagt<br />

haben, die damit zum sog. Ausgangskommunikator werden. Beim Verfolgen einer Nachrichtensendung<br />

im Fernsehen kann jeder selbst feststellen, dass das, was der Nachrichtensprecher vorliest,<br />

gar nicht seine eigenen Worte sind, sondern die Worte eines Ministers, die eines Parteivorsitzenden,<br />

eines Sprechers einer Meinungsgruppe usw. Kommunikatoren sind alle diejenigen,<br />

die eine Meinung ausdrücken, während der Journalist diese im Allgemeinen nur vermittelt..<br />

Inwieweit Journalisten ihre Rolle als Mediatoren verstehen und ausüben sprengt den Rahmen<br />

der vorliegenden Arbeit und wird daher nicht eingehender dargestellt.<br />

Tabus und politische Euphemismen<br />

Man gewinnt einen ersten Überblick über Euphemismen aus Lehrbüchern der Rhetorik, die<br />

durch Lexika und erklärende Wörterbücher ergänzt werden können. Außer dem Begriff Euphemismus<br />

muß der von Tabu gedeutet werden, wenn geklärt werden soll, ob Euphemismen<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />

sprachliche Reaktionen auf gesellschaftlich geltende Tabus und Abweichungen von politisch<br />

nicht korrekten Spracheinheiten sind. Auch hierfür bieten sich für die Erfassung der Terminologie<br />

Wörterbücher, Lehrbücher sowie unzählige Internet-Seiten an. Im Rahmen des vorliegenden<br />

Vortrages/Arbeit würde es zu weit führen detaillierter ausleuchten zu wollen. Daher<br />

beziehe ich mich auf folgende Definitionen für Tabus, um dann eingehender über den<br />

Euphemismus zu sprechen. Tabus sind immer eng verknüpft mit den Verboten und Einschränkungen<br />

und werden innerhalb einer bestimmten Gesellschaft als Instrument der sozialen<br />

Kontrolle gesehen. Luchtenberg (1975) betrachtet die Tabus als<br />

alle mit Denk-, Anfass- oder Nennverbot belegten Gegenstände, Vorgänge oder Gedanken – in einer<br />

bestimmten Gesellschaft entstanden und durch ihre Besonderheiten bedingt.<br />

Christel Balle (1990:20) erweitert Luchtenbergs Definition und meint:<br />

Heutige Tabus unterscheiden sich von früheren durch ihre Motivation: während der Naturmensch<br />

glaubte, Dämonen zu erzürnen und durch Verletzung des Verbots leibhaftigen Schaden davonzutragen,<br />

bedingen heute vorwiegend die Angst, Aufsehen, Peinlichkeit, Scham und Verletzung zu erregen,<br />

also Rücksichtsnahme und Respekt, die Achtung der Gebote.<br />

Tabuvorstellungen finden ihren Niederschlag in der Sprache. Aus den bereits erwähnten<br />

Gründen versucht der Sprecher ein Tabu zu umschreiben, er drückt somit einen Sachverhalt<br />

indirekt aus. Es gibt viele Gründe, uneigentlich zu sprechen, von feinzüngiger Rhetorik bis hin<br />

zum akuten Mangel an passenden Ausdrücken, der den Sprecher zwingt das Gemeinte zu umschreiben.<br />

Um von einem Euphemismus sprechen zu können fordert Michael Crombach<br />

(2001:86) grundsätzlich die Existenz eines Tabus, der allerdings nicht religiöser oder abergläubischer<br />

Natur sein müsse. Crombach vertritt weiterhin die Meinung, dass jedwelche außersprachlichen<br />

Tabus Grund für ein Sprachtabu sein können; zudem könnten Tabus aus weit unterschiedlicheren<br />

Gründen entstehen als nur Religion und Aberglauben.<br />

Anderer Ansicht ist Elisabeth Leinfellner (1971:71), die der Meinung ist,<br />

dass in der politischen Sprache der Euphemismus als Deckausdruck für Tabus keinen Platz finden<br />

kann, oder nur selten.<br />

Crombach meint hingegen, dass die von Leinfellner angegebenen Gründe nicht mit dem<br />

Prinzip Euphemismus zu tun hätten (Crombach 2001:87). So sei es kein hinreichender Grund für<br />

die Nutzung eines Euphemismus, an der Macht bleiben beziehungsweise an die Macht kommen<br />

zu wollen (so Leinfellner). Es gehe dabei darum, dass man, um dieses Ziel zu erreichen, bestimmte<br />

Dinge nicht beim Namen nennen sollte, weil sie tabu sind. Man kann diese Tabus unter<br />

tabous de sentiment zusammenfassen, auch wenn die Gewichtungen im Umfeld der Politik etwas<br />

anders liegen als bei der alltäglichen zwischenmenschlichen Erscheinung dieses Phänomens.<br />

Zur Stützung ihrer eigenen These gibt Leinfellner folgendes Beispiel:<br />

Typisch sind hier auch die Euphemismen, die die Krankheiten von Politikern verhüllen. (…) Wir sehen<br />

hier nochmals den grossen Unterschied zwischen alltäglichen und politischen Euphemismen. Während<br />

die alltäglichen Euphemismen für Krankheiten tatsächlich als Deckausdrücke für ein Tabu aufgefasst<br />

werden können, ist dieser Aspekt hier vollständig verschwunden. Als Beispiel führen wir<br />

John F. Kennedy an, der an der Addisonschen Krankheit [Unzureichende Funktion der Nebennierenrinde]<br />

litt; diese wurde – schon vor seiner Wahl zum Präsidenten – der Öffentlichkeit stets nur euphemistisch<br />

präsentiert, nämlich als `partial adrenal insufficiency`.<br />

Crombach macht diesbezüglich folgende Bemerkung, die durchaus den Schluss zulässt, dass<br />

hinter diesem Euphemismus ein Tabu verborgen werden soll. Crombach (2001:87) lässt die Behauptung<br />

stehen, die besagt, dass dieses Tabu ein anderes sein kann als im alltäglichen Bereich.<br />

Was an Krankheiten im zwischenmenschlichen Gespräch tabu sein kann, erörtert Crombach<br />

nicht näher, er fokusiert seine Aufmerksamkeit auf Tabus, die hinter einer solchen euphemisti-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

547


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />

schen Phrase in der politischen Sprache stehen. Das wichtigste ist laut Crombach, dass eine<br />

`Krankheit` - noch dazu eine mehr oder weniger chronische, unheilbare Krankheit – die Regierungsfähigkeit<br />

eines US-Präsidenten mehr als nur fragwürdig erscheinen lassen würde. Und<br />

ein solcher Gedanke soll dem Wähler nicht kommen, diese Vorstellung alleine ist tabu. Aber<br />

auch an das Publikum eines politischen Euphemismus muss gedacht werden. Crombach erläutert<br />

weiter, dass Tabus situationsgebunden und nicht immer und überall gültig seien, dass<br />

sich somit auch die Euphemismen änderten. Während im umgangssprachlichen Gebrauch<br />

Addinson`sche Krankheit schon ein recht brauchbarer Euphemismus ist, ist der terminus<br />

technicus für ein grosses Publikum, in dem sich auch Ärzte, KrankenpflegerInnen etc. befinden,<br />

zu schwach. Somit muss man (Crombach 2001:88) Zuflucht zu einem anderen Euphemismus<br />

suchen, der auch für diese Zielgruppe durch `Vagheit` euphemistische Wirkung erzielt.<br />

Für diesen konkreten Fall hat Crombach nur ein mögliches situationsgebundenes Tabu erwähnt:<br />

die Regierungsuntauglichkeit, die eben nicht einmal angedacht werden soll. Ein anderes<br />

mögliches Tabu wäre, seiner Meinung nach, trotz allem, der Umstand des Krankseins als solcher.<br />

Crombach (2001:88) stellt natürlich die absolut rhetorische Frage, warum bei Politikern<br />

nicht die gleichen Spielregeln wie bei allen anderen Menschen gelten sollten. Er beantwortet<br />

mit der Annnahme, dass, obwohl es um Machterhalt ginge, doch letztlich das nichts mit dem<br />

Tabu zu tun habe, mit dem Krankheiten grundsätzlich tendenziell belegt seien. Also auch bei<br />

einem Menschen, der im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, gibt es ein tabou de sentiment.<br />

Dass politische Gegner eben diese nicht einhalten werden, liegt in der Natur der politischen<br />

Auseinandersetzung, und doch gibt es auch in dieser Grenzen des guten Geschmacks, deren<br />

Übertretung oftmals das Gegenteil dessen bewirkt, was mit der Kampagne beabsichtigt war.<br />

Es gibt immer einen Grund, ein Tabu, wenn man etwas nicht beim Namen nennt. Oftmals<br />

sehr alte Gründe, die z.B. verhindert haben, dass sich ein (neutrales) Vokabular ausbilden<br />

konnte, etwa im Bereich der Sexualität, aber auch sehr aktuelle Gründe: wie beispielsweise das<br />

Image der Hochpräzisionswaffen der US Armee, die keine zivilen Opfer fordern, wie dies noch<br />

im Vietnamkrieg der Fall war, sondern “nur” Kollateralschäden verursachen. Mit anderen Worten,<br />

es steht hinter jedem Euphemismus in der einen oder anderen Form ein Tabu.<br />

In Politikerreden und politischen Texten der Tagespresse stößt man auf veschleiernde Aussagen,<br />

die sich als Euphemismen fassen lassen. Allerdings erfordert das Erkennen politischer<br />

Euphemismen sowohl Sachkenntnis als auch Einblick in die Bildungsweise von Euphemismen.<br />

Gerade aber diese Tatsache, dass Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um Euphemismen einordnen<br />

zu können, schien mir Anlass zur näheren Untersuchung zu sein, da gerade in der Politik<br />

die Möglichkeit auffällt, durch Euphemismen Einfluss zu nehmen. Die beiden Theorien von<br />

Crombach und Leinfellner habe ich gegenübergestellt, um den Ausgangspunkt eines Euphemismus<br />

und dessen Wirkung für meine Untersuchung zu klären. Ich schließe mich somit der<br />

Meinung Leinfellners an, weil für den Zweck meiner Arbeit nicht nur die Aufdeckung möglicher<br />

Tabus wichtig ist, sondern um die Feststellung, dass die Verwendung politischer Euphemismen<br />

der Manipulation dienen.<br />

Euphemismen in der Politik<br />

Politische Sprache setze ich für die Interessen dieser Arbeit nicht gleich mit der politischen<br />

Fachsprache, für die der Gebrauch eines bestimmten politischen Wortschatzes in stärkerem<br />

Maße signifikant ist. M.E. fällt die politische Sprache meistens mit der Sprache der Öffentlichkeit<br />

zusammen. Zunächst einige Überlegungen zum euphemistischen Gebrauch politischer<br />

Schlagwörter: Es gilt vor allem zu prüfen, inwieweit bestimmte politische Schlagwörter wie<br />

Freiheit oder Demokratie euphemistischen Charakter bereits usuell angenommen haben oder<br />

okkasionell erhalten können. Hierfür sei das Beispiel einer vom CNBC-Sender verwendete<br />

548<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />

Schlagzeile zum Irak-Krieg, nämlich Operation Freedom (22.03.2003, NBC-News, 17.30 Uhr).<br />

Durch die Verwendung des Wortes freedom im Zusammenhang mit einem Krieg ruft der Sprecher<br />

im Hörer positive Assoziationen hervor. Er verschleiert somit die negativen Aspekte eines<br />

Krieges.(In diesem Fall ist Sprecher, bzw. Kommunikator, die Regierung der USA).<br />

Euphemistisch gebrauchte Schlagwörter lassen sich allerdings nicht an einem eigentlichen<br />

Ausdruck messen, wie dies bei vielen Euphemismen anderer Bildungsart auch innerhalb der<br />

politischen Sprache möglich ist (vgl. Operation = Krieg). Es ist beim Schlagwort nur möglich, die<br />

konkrete Verwendung nach der Hörerwirkung und der Stellung im Kontext zu beurteilen, wobei<br />

euphemistischer Gebrauch oft durch einen hohen Grad an Allgemeinheit gekennzeichnet ist,<br />

der dem Hörer die Möglichkeit gibt, seine persönliche Vorstellung mit dem Schlagwort zu verbinden,<br />

ohne nachprüfen zu können, ob diese mit der vom Sprecher intendierten übereinstimmt.<br />

Als Beispiel dazu erwähne ich (ohne jedwelchen Kommentar) die von mir wahrgenommene<br />

positive Einstellung der rumänischen Bevölkerung zu dem zerstörerischen<br />

Militäreingriff der USA und Großbritanniens in den Irak im März-April 2003, der von den<br />

rumänischen Massenmedien, z.T. in Übernahme amerikanischer Termini, folgendermaßen<br />

beschrieben worden ist:<br />

- Opera]iunea “{oc [i Groaz`” – Realitatea TV, 21.03.2003, 22.30 Uhr<br />

- Furtun` în Irak - Antena 1, 21.03.2003, 22.30 Uhr<br />

- Strike on Iraq - CNN, 21.03.2003, 22.30 Uhr<br />

- Opera]iunea „Decapitarea“ - Realitatea TV, 22.03.2003, 9.00 Uhr<br />

- Operation „Iraq Freedom“ - NBC, 22.03.2003, 17.30 Uhr<br />

- Opera]iunea „Pas cu Pas“ – Realitatea TV, 26.03.2003, 20.00 Uhr<br />

- Operation „Iraq Freedom“ - NBC, 26.03.2003, 20.15 Uhr<br />

- Furtun` în Irak- Antena 1, 28.03.2003, 20.00 Uhr<br />

Wie sich diese Schlagzeilen ins Deutsche übersetzen lassen, ist ein anderes interessantes<br />

Thema, das aber an anderer Stelle ausführlicher behandelt sein wird. Hier nur ein Übersetzungsversuch,<br />

wobei ich die euphemistische Wirkung anhand der Substitution des<br />

Gemeinten (Operation = Krieg) durch ein Fremdwort wiederzugeben versuche:<br />

- Operation „Schock und Schrecken“<br />

- Sturm über dem Irak<br />

- Schlag gegen den Irak<br />

- Operation „Enthauptung“<br />

- Operation „Irakische Freiheit“<br />

- Operation „Schritt für Schritt“<br />

- Operation „Irakische Freiheit“<br />

- Sturm über dem Irak<br />

Das politische Schlagwort dient der Beeinflussung der öffentlichen Meinung im System der<br />

Meinungsbildung und Meinungsänderung (Propaganda) und ist der Meinungssprache (im Gegensatz<br />

zur Funktionssprache) zuzurechnen, der sie den emotiven Charakter verleiht, wie<br />

Schlagwörter überhaupt als Mittel emotiven Sprachgebrauchs gelten. Den Schlagwörtern<br />

kommt allerdings mehr zu als nur emotionale Reizwirkung, da die Wortmanipulationen des<br />

Meinungsbildners und Propagandisten zu einem grossen Teil die begrifflichen Inhalte betreffen.<br />

Emotionale und intellektuelle Beeinflussung hängen jedoch in den meisten Fällen eng zusammen.<br />

In vielen Euphemismus-Darstellungen werden politische Euphemismen als Regierungskunst<br />

bzw. Rücksicht auf die Gefühle der Hörer bezeichnet, wobei jedoch euphemsitische<br />

Verschleierung nicht nur der Führung, sondern auch der Verführung dienen kann, solange sie<br />

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Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />

als sprachliche Mittel der Herrschaftsausübung dient. Um diesen Ideen noch zusätzliche<br />

Deutungen zu verleihen, zitiere ich im Folgenden ein Martin-Walser-Zitat zum Thema Krieg:<br />

550<br />

Über Ausschwitz kann es doch gar nicht zwei Meinungen geben (über den Krieg m.E. auch nicht).<br />

Aber man kann eine Art, auf die Frage nach Ausschwitz zu antworten, so ritualisieren, dass jede andere<br />

Art zu antworten zur Blasphemie erklärt werden kann. Das ist das, was bei uns jetzt erreicht<br />

ist. Die Formalisierung, die Standardisierung der Sprache für das, was aus dem Gewissen stammt. 1<br />

Hiermit stellt Walser eine neue Kategorie auf für die sprachliche Realisation des Euphemismus,<br />

die die Einteilung von N. Zöllner vervollständigt, nämlich der Euphemismus durch Stadardisierung<br />

der Sprache.<br />

Ich schließe mich ganz der Meinung Sigrid Luchtenbergs (1975:71) an, derzufolge die Existenz<br />

von Euphemismen in der politischen Sprache und ihre bewusste Verwendung eine Gefahr<br />

sei, da die Möglichkeit ihrer Nachprüfung nicht immer gegeben ist, und außerdem an Sprachbewusstsein<br />

und politischem Wissensstand mehr vorausgesetzt wird, als der Realität entspricht.<br />

Euphemismen, meint Luchtenberg, sollen meist unbemerkt wirken, weil sie nicht als solche erkannt<br />

werden oder nicht ernst genommen werden. Es sei durchaus möglich, dass die Verharmlosung<br />

eines Ausdrucks erkannt wird, aber auch in diesem Falle könne die abgeschwächte<br />

Sprechweise langfristig zur Verharmlosung des Sachverhaltes führen.<br />

Weil die Intention des Kommunikators durch die Verwendung von Euphemismen oft nicht<br />

transparent ist, ist es notwendig, Wesen und Funktion des Euphemismus noch etwas differenzierter<br />

zu betrachten. Ich folge dazu den Ausführungen Sigrid Luchtenbergs (1975) die den<br />

verschiedenartigen Intentionen beschönigenden Sprechens mit der Unterscheidung zwischen<br />

verhüllenden und verschleiernden Euphemismen gerecht zu werden versucht. Mögen die als<br />

Kontrast gedachten Begriffe Verhüllung und Verschleierung auch auf den ersten Blick für eine<br />

klare Differenzierung nicht besonders geeignet erscheinen, weil sie weitgehend synonym sind,<br />

so gelingt es Luchtenberg doch, einige wesentliche unterschiedliche Charakteristika der beiden<br />

Euphemismentypen herauszuarbeiten, so dass sich eine für meine Untersuchung durchaus<br />

brauchbare Klassifizierung vornehmen lässt.<br />

Die Funktion des Verhüllens<br />

Ausgangspunkt für Luchtenbergs Klassifikationsvorschlag ist die Tatsache, dass sich Funktion<br />

oder Zweck jeder sprachlichen Handlung grundsätzlich nur mit Blick auf die Relation zwischen<br />

den Kommunikationspartnern beurteilen lässt. Diese doppelte Betrachtungsweise, die<br />

gleichzeitig auf die Intention des Sprechers und auf die beim Hörer hervorgerufene Wirkung<br />

gerichtet ist, hat sich bereits bei den oben angeführten Schlagzeilen zum Irak-Krieg, als äußerst<br />

praktikabel erwiesen. Verhüllend nennt Luchtenberg (1975: 361-368) eine<br />

i.a. gesellschaftlich bedingte Ausdrucksweise, die den als anstößig empfundenen Aspekt eines Wortes<br />

bzw. Begriffs entweder mildernd formuliert oder durch einen unbeanstandeten Aspekt benennt.<br />

Unter dem Gesichtspunkt der Hörer-Sprecher-Relation lässt sich diese Funktion aber noch<br />

präziser beschreiben: Nachdem es in den hier zu betrachtenden Kommunikationssituationen<br />

um Inhalte geht, die gesellschaftlichen „Zensurverboten“ unterliegen, – ergibt sich für den<br />

Sprecher/Kommunikator ein Interessenkonflikt: Er will einerseits die Kommunikation aufrecht<br />

erhalten und eine bestimmte Information an sein Gegenüber vermitteln, möchte andererseits<br />

aber nicht gegen die allgemeine Konvention verstoßen, die die Thematisierung unangenehmer<br />

Inhalte oder auch nur den Gebrauch bestimmter negativ konnotierter Ausdrücke verbietet.<br />

1 Martin Walser. Über freie und unfreie Rede, in: Der Spiegel, Nr. 45/1994.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />

Luchtenberg spricht (1975: 361-368) von mehr oder weniger verbindlichen Konventionen, welche<br />

sich auf<br />

Dinge, Vorgänge, Sachverhalte [beziehen], die zu meiden sind bzw. deren Erwähnung zu meiden gesellschaftlich<br />

verlangt wird.<br />

Die Lösung des Konflikts liegt im Ausweichen auf Ersatzformulierungen, die den Blick auf<br />

einen gesellschaftlich weniger gemiedenen Aspekt legen, wobei zugleich die Interessen beider<br />

Sprachteilnehmer berücksichtigt werden. Dem Sprecher gelingt es, seine Aussageabsicht zu<br />

verwirklichen, ohne dabei sozial bedingte Tabus zu brechen; gleichzeitig bleibt aber dem Hörer<br />

die Härte der direkten Aussage erspart, die verhüllende Formulierung nimmt Rücksicht auf seine<br />

Gefühle, was je nach Situation oft sogar als der Hauptzweck euphemistischer Rede anzusehen<br />

ist.<br />

Zusammenfassend können nun folgende Merkmale des verhüllenden Euphemismus im Sinne<br />

Luchtenbergs festgehalten werden: Verhüllende Euphemismen sind immer durch Normen und<br />

Konventionen sozialer, religiöser Art usw. bedingt. Ihre Aufgabe besteht deshalb darin, gesellschaftliche<br />

Tabus sprachlich zu umgehen, die Thematisierung unangenehmer Dinge also<br />

trotz der Tabus möglich zu machen. Mit der Beachtung und Einhaltung allgemein verbindlicher<br />

Konventionen verbindet sich immer auch die Rücksichtnahme auf die Gefühle beider<br />

Gesprächspartner: Vermeidung von Peinlichkeit als Interesse des Sprechers; Vermeidung starker<br />

negativer Gefühlsreaktionen im Interesse des Hörers.<br />

Die Funktion des Verschleierns<br />

Um den Unterschied zwischen verhüllender und verschleiernder Funktion im Sinne Luchtenbergs<br />

zu verdeutlichen, gilt es wieder, die Relation zwischen Sprecher und Hörer in den jeweiligen<br />

Kommunikationssituationen zu berücksichtigen. Als verschleiernd sieht Luchtenberg (1975<br />

: 368-380) nämlich solche Euphemismen an, die zum Ziel haben, beim Hörer eine vom Sprecher<br />

intendierte Wirkung hervorzurufen. Die Schonung des Hörers als mögliche Intention wird hier<br />

jedoch bewusst ausgeklammert. Dass die scharfe Abgrenzung beider Funktionen in der Praxis<br />

nur schwer möglich ist, gibt die Autorin zu (Luchtenberg 1975: 369):<br />

Die Trennung in verhüllende und verschleiernde Euphemismen kennt viele Übergänge, und in nicht<br />

wenigen Fällen erfüllt ein Euphemismus beide Funktionen.<br />

Trotz vieler Mischformen wird jedoch der grundsätzliche Unterschied zwischen verhüllender<br />

und verschleiernder Funktion anhand der Motive deutlich, die einen Sprecher/Kommunikator<br />

zum Gebrauch verschleiernder Formulierungen veranlassen. Es geht hier nämlich keineswegs<br />

um eine Beachtung sozialer Normen und Verbote, die sich (auch) im Bereich der Sprache manifestieren,<br />

sondern um ganz persönliche Interessen des Sprechers, zu deren Durchsetzung die<br />

Sprache als Mittel der Manipulation nutzbar gemacht wird: Machtausspruch, Gewinnstreben<br />

etc. Die sprachliche Realisation der verschleiernden Euphemsimen im Beispiel der Irak-Schlagzeilen<br />

geschieht durch Substitution des Gemeinten durch Untertreibung, Fremdwörtern, Standardisierung<br />

der Sprache (s.o.), ja sogar durch kontextunabhängige, auf den ersten Blick völlig<br />

unzusammenhängende Phraseme („{oc [i groaz`“, „Decapitarea“ – „Schock und Schrecken“,<br />

„Enthauptung“). Die äußeren Faktoren verschleiernder Kommunikation beschreibt Luchtenberg<br />

folgendermaßen (1975: 370):<br />

Ein Sprecher S verändert die von einem Hörer H erwartete Information I dahingehend, daß S nur für<br />

ihn und seine Absichten günstige Teile von I übermittelt, also eine Information äußert, die bewußt<br />

nicht dem zugrundeliegenden Realgeschehen R entspricht.<br />

Das Ziel der Verschleierung kann im Gegensatz zur Verhüllung jedoch nur dann als erreicht<br />

angesehen werden, wenn H etwa infolge mangelnder Kenntnisse über R oder aufgrund unzureichenden<br />

Sprachbewusstseins die Unangemessenheit von I nicht erkennt und die von S<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

551


552<br />

Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />

verfälschte Information als Wahrheit akzeptiert. Anderenfalls muss die Absicht von S, H zu täuschen,<br />

als gescheitert gelten. Die bisher skizzierte Unterteilung euphemistischer Äußerungen<br />

ermöglicht es nun, die Frage, ob Euphemismen vom Hörer „missverstanden“ oder als solche<br />

erkannt und entschlüsselt werden sollen, zunächst für eine Teilgruppe solcher Sprechakte klar<br />

zu beantworten: Euphemismen, die ein Sprecher nicht dazu verwendet, um bestehende Tabus<br />

zu umgehen und/oder die Gefühle des Angesprochenen zu schonen, sondern um diesen über<br />

bestimmte Fakten und Ereignisse oder Entscheidungen im Unklaren zu lassen und aus diesem<br />

Unwissen persönliche Vorteile zu ziehen, können diese verschleiernde Funktion nur dann erfüllen,<br />

wenn sie vom Hörer unerkannt bleibt. Das Missverständnis liegt somit in der Absicht des<br />

Sprechers. Interessant ist nun, welchen Themenbereichen oder auch Gesprächskonstellationen<br />

sich dieser Typus des Euphemismus zuordnen lässt. Denn wenn es hier auch ausschließlich um<br />

die Interessen und Belange des Sprechers geht, so scheinen doch, wie Luchtenberg betont<br />

(1975: 371),<br />

persönliche, d.h. individuell – persönliche Interessen eine geringere Rolle zu spielen als die Interessen<br />

von Politik und Wirtschaft u.ä.<br />

Es lassen sich also Bereiche ausmachen, in denen die mit beschönigendem Reden intendierte<br />

Wirkung besonders häufig in der bewussten Fehlinformation oder gar Irreführung des<br />

Adressaten besteht, während die Achtung von Normen oder die Rücksicht auf Gefühle überhaupt<br />

keine Rolle spielt. Euphemismen erfüllen, wie sich an dieser Stelle resümieren lässt, zwei<br />

sehr unterschiedliche Funktionen in der sprachlichen Kommunikation:<br />

Tabubewältigung: : : Euphemismen vom Typ entschlafen gewähren die Möglichkeit der Verständigung<br />

über Dinge und Sachverhalte, die einem Tabu unterliegen. Wesentliches Ziel solcher<br />

Verhüllungen ist die Schonung des Angesprochenen.<br />

Manipulation: Verschleiernde Euphemismen vom Typ Operation Freedom (für Krieg im Irak)<br />

können zur Wirklichkeitsentstellung und -verfälschung benutzt werden und dienen damit allein<br />

dem Interesse des Sprechers. Sie bauen auf mangelnde Sachkenntnis und geringes Sprachbewusstsein<br />

des Hörers auf, können ihr Ziel – die Meinung des Adressaten in die gewünschte<br />

Richtung zu lenken – nur dann erreichen, wenn sie diesem nicht als Euphemismus bewusst<br />

werden.<br />

Der Euphemismus als partielle Lüge<br />

Da ich der Überzeugung bin, dass der Euphemismus in der politischen Sprache als verschleiernd<br />

und täuschend angesehen werden sollte, stellt sich für mich die Frage, inwieweit er<br />

somit den Tatbestand der Lüge erfüllt bzw. welche Kriterien erfüllt sein müssen, um eine Aussage<br />

als Lüge zu definieren.<br />

Mit Hilfe des Euphemismus wird ein präziserer Ausdruck umgangen. Dass diese Art der<br />

sprachlichen Manipulation gelingen kann, ist darauf zurückzuführen, dass Politiker eine Wahrscheinlichkeitslogik<br />

bzw. eine mehrwertige Logik benützen, wenn sie einen euphemistischen<br />

Satz formulieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob den Sprechern/Kommunikatoren bewusst ist,<br />

dass sie eine Wahrscheinlichkeitslogik anwenden, genauso wie ihnen nicht immer bewusst sein<br />

muss, dass sie einen Euphemismus verwenden. Die Hörer wiederum tendieren dazu, Sätze<br />

innerhalb einer zweiwertigen Logik zu interpretieren. Das heißt, ein Satz ist entweder wahr<br />

oder falsch. Diese Logik wird dadurch begünstigt, dass wahrscheinlich Sätze in der Umgangssprache<br />

meist durch Operatoren wie Ich glaube, dass usw. gekennzeichnet werden. Wird nun<br />

der Hörer mit einem Euphemismus in der politischen Sprache konfrontiert, geht er auch hier<br />

von einer zweiwertigen Logik aus. Er wird den Euphemismus in aller Regel mit dem faktisch<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />

wahren Satz verwechseln. Wenn er die Manipulation aber bemerkt, wird er dem Politiker<br />

generell misstrauen und dessen Euphemismus für faktisch falsche Sätze, also für Lügen halten.<br />

Hierzu folgendes Beispiel aus der deutschen politischen Szene. In einem Interview mit dem<br />

grünen Außenminister Joschka Fischer (Bündnis ´90/Die Grünen), zu den Themen Identitätskrise<br />

der grünen Partei und Reformmüdigkeit der Regierung, stellte der Reporter Fragen bzw. machte<br />

Behauptungen, die vom Politiker mit gegensätzlichen Aussagen beantwortet wurden (Der Spiegel<br />

34, 20.08.2001, S. 24-27):<br />

Spiegel: Spiegel: Genau das bleibt Ihr zentrales Problem in der Regierung – dass die Grünen als Partei Forderungen<br />

vertreten, die sie als Regierung nicht erfüllen können.<br />

Der Reporter vertritt die Meinung, dass die Grünen kein genaues Profil haben und sie folglich<br />

nicht regierungsfähig sind, dass sie immer wieder Kompromisse schließen müssen, um in<br />

der Regierungskoalition zu bleiben. Diese Meinung kann als faktische Wahrheit für mein Beispiel<br />

gelten. Darauf aber antwortet der Außenminister Joschka Fischer Folgendes:<br />

Fischer: Fischer: Aber nein, das Gegenteil ist der Fall. Vielleicht haben wir einen Fehler nicht in der Sache,<br />

sondern im Vorgehen gemacht. Wir stehen für strukturelle Reformen, und das braucht Zeit und<br />

Durchhaltevermögen, wir haben aber zu oft auf das `Sofort`gesetzt.<br />

Auf die Frage Welche Aussage ist richtig und welche ist falsch gibt es nur eine Antwort:<br />

BEIDE sind korrekt, und trotzdem gegensätzlich, weil jeder der beiden Sprecher etwas anderes<br />

anspricht, und Fischers Antwort eigentlich keine Re-Aktion auf die Reporter-Frage ist.<br />

Euphemismen in der Sozialpolitik<br />

Damit die Verständigung im Bereich der Sozialpolitik zwischen Kommunikator und dem<br />

Bürger via Massenmedien funktioniert, müssen die Gesprächspartner sich natürlich im Klaren<br />

darüber sein, was mit der euphemistischen Rede gemeint ist. Das ist normalerweise auch der<br />

Fall. Doch passiert es sehr oft, insbesondere im politischen Sprachgebrauch, dass die Sprecher<br />

versuchen, Sachverhalte zu verschleiern, insbesondere gegenüber Außenstehenden, die nicht<br />

über einschlägiges Wissen verfügen. Als Beispiel dazu möchte ich das am 1. August 2001 in<br />

Deutschland in Kraft getretene Lebenspartnerschaftsgesetz bzw. die dazu erschienenen Zeitungsartikel<br />

in der Süddeutschen Zeitung, der FAZ und dem Wochenmagazin Der Spiegel zitieren.<br />

Dass die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft oder Homo-Ehe auch nach dem neuen<br />

Gesetz mit der heterosexuellen Ehe nicht gleichgesetzt werden konnte, blieb vielen Bundesbürgern<br />

in den ersten Monaten nach Verabschieden des Gesetzes verborgen. Ob die Regierung<br />

aus politischer Überlegung die Wahrheit zu verschleiern versuchte oder lediglich selbst nocht<br />

nicht genau wusste, welches Ausmaß dieses Gesetz haben würde und könnte, sei dahingestellt.<br />

Dass es aber eine verschleiernde Ausdrucksweise gegeben hat bezüglich dieses Gesetzes, kann<br />

zumindest für die Monate August bis Oktober 2001 behauptet werden. Diese ist offensichtlich<br />

aus der Konfusion angesichts der inhaltlichen und sprachlichen Verwirrung, die nach den ersten<br />

verschleiernden Aussagen entstanden ist. Im Weiteren einen Auszug aus der Süddeutschen<br />

Zeitung Nr. 164, Do., 19. Juli 2001, Seite 7:<br />

Wie bei einer Eheschließung erscheinen die Partner (beispielsweise) vor dem Standesbeamten und<br />

erklären, miteinander eine Partnerschaft auf Lebenszeit eingehen zu wollen.( …) Im Normalfall werden<br />

die beiden Partner in der Ausgleichsgemeinschaft leben, die der ehelichen Zugewinngemeinschaft<br />

weitgehend entspricht.<br />

Auf den ersten Blick suggeriert dieser Passus, die standesamtliche Eintragung der Partnerschaft<br />

auf Lebenszeit sei der herkömmlichen Eheschließung mit all ihren Rechten und Pflichten<br />

gleichgestellt. Das ist aber nicht der Fall. Informiert sich der Leser anhand weiterer Zeitungs-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

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Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Maria Muscan<br />

artikel oder liest er gar den eigentlichen Gesetzestext, findet er heraus, dass die Eheschließung<br />

in einigen Bundesländern (z.B. Bayern) eigentlich nicht standesamtlich, sondern notariell eingetragen<br />

wird. Um des Weiteren die Verschleierungen des hier sozialpolitischen Sprachgebrauchs<br />

zu erkennen und verstehen, braucht der Leser einerseits einschlägiges Wissen über Regelungen<br />

einer heterosexuellen Eheschließung und andererseits Wissen über die neuen Regelungen<br />

des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Eingetragene gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften<br />

sollen den Partnern (laut Zeitungsartikel) mehr Sicherheit bieten und die rechtliche<br />

Gleichstellung mit den heterosexuellen Ehen (z.B. Steuerregelung, endgültiges Erbrecht). Die<br />

Gleichstellung ist jedoch am Anfang nicht erreicht und wird auch nicht explizit in den Medien<br />

zum Ausdruck gebracht. Durch das Weglassen äußerst wichtiger Informationen wird hier m.E.<br />

eine verschleiernd euphemistische Wirkung erzielt, um, ganz einfach, ein jahrhundertealtes<br />

Tabu, die Homosexualität, zu umschreiben, aber gleichzeitig den sozialen Notwendigkeiten des<br />

21. Jahrhunderts zu entsprechen. Ob den Politikern auch andere Gründe zum euphemistischen<br />

Verschleiern wichtig waren, muss Thema einer gesonderten Untersuchung bleiben.<br />

Schlussbemerkungen<br />

Anstelle einer wissenschaftlichen Schlussfolgerung, die mir an dieser Stelle verfrüht erscheint,<br />

möchte ich mit den Worten Luthers enden: das Wort und der Sprecher sind zwei verschiedene<br />

Personen. Um diese Aussage vor dem Hintergrund meiner hier präsentierten Recherche<br />

zu deuten, verweise ich auf die Tatsache, dass das Wort des Sprechers bzw. des Kommunikators<br />

als Euphemismus eigentlich ein Begriffsaustausch ist. In einer objektiv zutreffenden Aussage<br />

(gleichzusetzen mit dem Sprecher selbst) werden diejenigen Wörter, die negativ konnotiert<br />

sind und daher weder veschleiernd noch verhüllend wirken, durch neutrale, oft sogar<br />

positive Begriffe ersetzt, so dass die objektiven Tatsachen nicht mehr erkennbar sind. Hier<br />

drängt sich natürlich die Frage auf, ob es bei euphemistischer Rede (insbesondere bei der politischen<br />

Rede) nicht vielleicht beabsichtigt wird, die eigene Meinung zu verbergen und so bewusst<br />

ein falsches Verständnis aufzubauen? Nach beendeter Untersuchung scheint die Annahme<br />

begründet, dass es im politischen Sprachgebrauch beabsichtigte Verschleierungen gibt.<br />

Der Euphemismus erlangt eigenen Status, wird somit zur anderen Wahrheit, zur Wahrheit des<br />

Hörers, der sich der objektiven Wahrheit, die Wahrheit des Sprechers, gegenüberstellen lässt.<br />

Und, sobald die Mehrheit der Bürger, die Mehrheit der Wähler, diese andere (zweite) Wahrheit<br />

eines Politikers erkennt, erkennt sie auch die Dichotomie Sprecher – Wort. Wie Luther es so<br />

treffend sagte: zwei verschiedene Personen.<br />

Primärliteratur<br />

554<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. Frankfurter Allgemeine Zeitung (1. Juli – 30 September 2001)<br />

2. Süddeutsche Zeitung (1. Juli – 30 September 2001)<br />

3. Der Spiegel (1. Juli – 30 September 2001)<br />

4. www.faz.de<br />

5. www.sz.de<br />

6. www.spiegel.de<br />

7. Fernsehsender: Nachrichtensendungen bei Antena 1, Realitatea TV, România 1, NBC, CNN im Zeitraum März-April<br />

2003<br />

Sekundärliteratur<br />

1. BURKHARD, Armin (1988): Sprache in der Politik. Linguistische Begriffe und Methoden. IN: Englisch Amerikanische<br />

Studien 10. S.333-358.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


“Der Sprecher und das Wort sind zwei Personen”. Zum Gebrauch des politischen Euphemismus<br />

2. BUSSMANN, Hadumod (1990): Lexikon der Sprachwissenschaft. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Alfred<br />

Kröner Verlag. Stuttgart.<br />

3. CROMBACH, Michael (2001): Euphemismus und Tabu. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der geisteswissenschaftlichen<br />

fakultät der Universität Salzburg.<br />

4. DANNINGER, Elisabeth (1982): Tabubereiche und Euphemismen. In: Welte, Werner (Hrsg.) (1982): Sprachtheorie<br />

und angewandte Linguistik. Festschrift für Alfred Wollmann. Gunter Narr Verlag. Tübingen. S.237-251.<br />

5. Die Bibel oder Die Ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der Übersetzung Martin Luthers.<br />

Deutsche Bibelstiftung Stuttgart.1978.<br />

6. FAULSEIT, Dieter & KÜHN, Gudrun (1975): Stilistische Mittel und Möglichkeiten der deutschen Sprache. 6., unveränderte<br />

Auflage. VEB Bibliographisches Institut Leipzig.<br />

7. FREUD, Sigmund (1991): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker.<br />

Fischer Taschenbuchverlag. Frankfurt a.M.<br />

8. GALLENKAMP, Elisabeth (1976): Die politische Rolle des Journalisten. Studieneinheit 8. IN: Einführung in die<br />

Kommunikationswissenschaft – Der Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung. Teil 1. Ein Kurs im<br />

Medienverbund. Erarbeitet von einer Projektgruppe am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität<br />

München. Verlag Dokumentation München.<br />

9. GIRNTH, Heiko (1996): Texte im politischen Diskurs. Ein Vorschlag zur diskursorientierten Beschreibung von Textsorten.<br />

In: Hoberg, Hölder, Otto, Pflug, Warner (Hrsg.) (1996): Muttersprache. Vierteljahresschrift für deutsche<br />

Sprache. S.66-79.<br />

10. HASUBECK, Peter & GÜNTHER, Wolfgang (1973): Sprache der Öffentlichkeit. Informierende Texte und informatorisches<br />

Lesen im Unterricht der Sekundarstufe. Pädagogischer verlag Schwann. Düsseldorf.<br />

11. HOLLY,Werner (1985): Politische Kultur und Sprachkultur. Wie sich der Bürger politische Äußerungen verständlich<br />

machen kann. IN: Wimmer, Reiner (Hrsg.) (1985): Sprachkultur. Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache.<br />

12. KLEIN, Josef (1999): Die politische Fachsprache als Institutionensprache. In: Hoffmann, Kalverkämper, Wiegand,<br />

Galinski (Hrsg.) (1999): Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft.<br />

„.Halbband. Walter de Gruyter. Berlin, New York.<br />

13. LEINFELLNER, Elisabeth (1971): Der Euphemismus in der politischen Sprache. Berlin.<br />

14. LUCHTENBERG, Sigrid (1975): Untersuchung zu Euphemismen in der deutschen Gegenwartssprache. Inaugural-<br />

Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-<br />

Universität zu Bonn.<br />

15. MÜLLER, Wolfgang (1973): Leicht verwechselbare Wörter. Bibliographisches Institut. Mannheim.<br />

16. SÖKELAND, Werner (1979): Ein Beitrag zur Theorie der indirekten Sprechakte. In: Vandeweghe, Van de Velde<br />

(Hrsg.) (1979): Bedeutung, Sprechakte und Texte. Akten des 13. Linguistischen Kolloquiums. Bd.2. max Niemeyer<br />

Verlag, Tübingen.<br />

17. STRASSNER, Erich (1992): Dementis, Lügen, Ehrenwörter. Zur Rhetorik politischer Skandale. In: Dyck, Jens, Ueding<br />

(Hrsg.) (1992): Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 11. Rhetorik und Politik. Max Niemeyer Verlag. Tübingen.<br />

18. STRASSNER, Erich (1994): Deutsche Presse und Pressesprache nach 1945. In: Löffler, Jakob, Kelle (Hrsg.) (1994):<br />

Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart.<br />

Festschrift für Hugo Steger zum 65. Geburtstag. Walter de Gruyter. S.225-260.<br />

19. STRAUSS, Gerhard (1986): Der politische Wortschatz. Zur Kommunikations- und Textsortenspezifik. Gunter narr<br />

Verlag. Tübingen.0<br />

20. YHU, Xiaoan (1992): „Wenn sich das Gras bewegt, dann muss auch der Wind blasen!“ Studien zur Metapher in der<br />

deutschen politischen Pressesprache – unter besonderer Berücksichtigung der China-Berichterstattung. Peter<br />

Lang. Frankfurt a.M.<br />

21. ZIMMERMANN, Hans-Dieter (1972): „Der allgemeine Barzel“. In: Rucktäschel (Hrsg.) (1972): Sprache und Gesellschaft.<br />

Wilhelm Fink Verlag. München. S.113.<br />

22. ZÖLLNER, Nicole(1997): Der Euphemismus im alltäglichen und politischen Sprachgebrauch des Englischen. Europäischer<br />

Verlag der Wissenschaften. Frankfurt a.M.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

555


DAS GESPRÄCHSBILD<br />

eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />

Doina Sandu / Doris Sava<br />

Folgende Ausführungen bieten eine Einsicht in Möglichkeiten und Regelhaftigkeiten des Umgangs<br />

mit Sprache und möchten wichtige Aspekte der Verwendung von vorgeprägten Ausdrucksmitteln,<br />

die auf die Erfordernisse der jeweiligen Kommunikationssituation abgestimmt<br />

sind, beleuchten. In der linguistischen Terminologielandschaft stoßen wir nicht selten auf ein<br />

Dickicht von Termini (Überlappungen, gleiche Bezeichnung verschiedener Begriffe, u.a.), was oft<br />

zu Missverständnissen führen kann. Deshalb halten wir eine kurze Terminologieklärung für<br />

notwendig, so wie sie in den aktuellen Nachschlagewerken vorzufinden ist:<br />

- Stereotyp Stereotypie [techn.] Verfahren zur Vervielfältigung von Hochdruckformen;<br />

Schriftsätze aus unbeweglich verbundenen Druckzeilen;<br />

- [ugs.] feststehend, unveränderlich, sinnentleert;<br />

- [soz.-psych.] „Bilder in unseren Köpfen“ – vorgeprägte Konzepte zur Wahrnehmung der<br />

Welt<br />

- Klischee (sprachliches) synonym zu Stereotyp überindividueller Gebrauch von vorgeprägten<br />

Wörtern/Wortgruppen, Formeln, Modewendungen<br />

Ausgangspunkt der Betrachtungen war die Tatsache, dass in der sprachlich-sozialen Interaktion<br />

kommunikative Intentionen auch anhand von “Fertigteilen” aktualisiert werden können.<br />

Der Sprecher kann, um sein kommunikatives Ziel zu erreichen, seine individuelle Formulierungsarbeit<br />

einschränken und sich auf das Reproduzieren vorgegebener Äußerungseinheiten<br />

beschränken. Welche Ziele in der Kommunikation mit der Verwendung dieser ’gebrauchsfertigen’<br />

Ausdrucksformen jeweils verfolgt werden, ist aus dem konkreten Zusammenhang zu<br />

erschließen.<br />

Der Begriff “verbale Stereotypie”, der auf vorgeprägte Wortverbindungen zu beziehen ist,<br />

kennzeichnet den Gebrauch von Ausdrucksmitteln, die als Formulierungsmuster etabliert sind<br />

und auf die die Kommunikationspartner entsprechend zurückgreifen können. (Gülich 1978 zit.<br />

nach Lüger 1989, 3). Diese verfestigten Kommunikationseinheiten zu erfassen und zu beschreiben,<br />

gehört zum Forschungsbereich der Phraseologie. Das Anliegen der hier vorgeführten<br />

Ausführungen besteht darin, anhand eines Ausschnitts aus der Gesamtheit des phraseologischen<br />

Bestandes, Aspekte ihres Gebrauchs vorzuführen, wobei ihre komplexe Beschaffenheit<br />

und die damit verknüpften Besonderheiten den allgemeinen Diskussionsrahmen darstellen.<br />

Die Eigenarten dieser sprachlichen Benennungsmittel lassen ihre speziellen Möglichkeiten im<br />

Text/in der Äußerung hervortreten und Fragestellungen hinsichtlich ihrer Leistung im Interaktionsablauf<br />

aufkommen. In der Behandlung dieses Sonderaspekts verbaler Kommunikation<br />

sollen nur manche Auffälligkeiten beleuchtet werden, um Sprache und ihrem Gebrauchswert<br />

Aufmerksamkeit zu schenken. Die Darstellung konzentriert sich auf die Leistungsbeschreibung<br />

fester, standardisierter Äußerungsmittel in Alltagsgesprächen. Formelhaftigkeit kann auf verschiedenen<br />

Ebenen beschrieben werden. Aus dem umfangreichen Spektrum der relevanten<br />

Stereotype seien hier als Beispiele vor allem (a) idiomatische Wendungen und (b) satzwertige<br />

Phraseologismen genannt.


Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />

Die Vielfalt gebundener Formen zeigt, dass der Gegenstandsbereich der Phraseologie uneinheitlich<br />

ist. Eine weit gefasste Phraseologie-Forschung geht über die Grenzen der<br />

traditionellen Phraseologie hinaus. Mit Gülich (1997, 170) ist Phraseologie in einem weiten<br />

Verständnis das Gebiet der Linguistik, in dem Formelhaftigkeit oder Vorgeformtheit in einem<br />

umfassenden Sinn untersucht wird. Gegenwärtig werden vor allem Aspekte der Verwendung<br />

phraseologischer Einheiten diskutiert. Auf die ständige Ausweitung des Gegenstandsbereichs<br />

der Phraseologie haben viele Linguisten hingewiesen. Gemäß einer weiten Auffassung von<br />

Phraseologie gehören in den Bereich der Phraseologie auch die sogenannten „Routineformeln“.<br />

Die Einbeziehung solcher Ausdrücke in die Idiomatik wurde von Burger (1973) vorgeschlagen.<br />

Coulmas führt Routineformeln neben Redewendungen, Sprichwörtern und Gemeinplätzen als<br />

„Arten verbaler Stereotype“ an und benutzt sie als Argument für eine „pragmatische<br />

Fundierung der Idiomatik“ (Coulmas 1981, zit. nach Gülich 1997, 144): „Routineformeln sind<br />

wie Sprichwörter oder auch Gemeinplätze Muster für die Konstituierung von Handlungen, und<br />

zwar von solchen Handlungen, die sich in der alltäglichen kommunikativen Praxis jeder Sprachgemeinschaft<br />

wiederholen. Sie sind an rekurrente Situationen des sozialen Verkehrs gebunden<br />

und sind als Resultat dieser Situationsstandardisierungen zu betrachten.“ „Phraseologismus“<br />

wäre demnach Oberbegriff für verschiedene Typen formelhafter Ausdrücke aufzufassen. Die<br />

Darlegungen zur Erfassung des Begriffs 'Phraseologismus' verzeichnen eine vielfältige, uneinheitliche<br />

terminologische Festlegung. Unabhängig zahlreicher Definierungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten<br />

werden die unter dem Oberbegriff 'Phraseologismus' subsumierten<br />

Erscheinungen in ihrer formalen und semantischen Eigenart von den übrigen Lexemen abgehoben.<br />

Auch Lüger (1989, 1998) greift das Problem der Erweiterung des Gegenstandsbereichs der<br />

Phraseologie auf, indem er in einem umfassenden Konzept von Stereotypie auch eine textuelle<br />

Ebene einbezogen haben will; folglich sei der Bereich der Phraseologie so auszudehnen, dass<br />

nicht allein satzgliedwertige Einheiten, sondern auch größere Einheiten einbezogen werden:<br />

Routineformeln, satzwertige Ausdrücke, Äußerungssequenzen oder ganze Texte, die als vorgeprägt<br />

oder musterhaft gelten. Der Forschungsbereich der Phraseologie müsse die Textdimension<br />

umfassen: “[…] man [wird] sich in Zukunft weiter den Peripherie- und Übergangsphänomenen<br />

zuwenden und die Phraseologie auch als Schnittstelle etwa zur<br />

Text(sorten)linguistik, zur Ritualforschung und zur Gesprochenen-Sprache-Forschung begreifen<br />

müssen”. (Stein 1994 zit. nach Lüger 1998, 44). Auch Gülich (1997) stellt die Frage zur Diskussion,<br />

ob man Textteile oder sogar ganze Texte als Phraseologismen beschreiben kann und<br />

damit auch die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Phraseologie, nach möglichen Erweiterungen<br />

oder Eingrenzungen. Ich berücksichtige die Formenvielfalt der ‘Fertigteile’, die uns<br />

die Sprache zur Verfügung stellt, und gehe bei den Betrachtungen von einem weiten Phraseologiebegriff<br />

aus, d.h. ich beschränke mich nicht nur auf den phraseologischen Kernbereich.<br />

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen demnach einerseits diejenigen Erscheinungen, die<br />

als zentrale Gruppe innerhalb phraseologischer Einheiten mit Begriffen wie Idiom, Phraseolexem,<br />

Phrasem, Redensart, Redewendung, Wendung (mit Spezifizierungen wie 'idiomatisch',<br />

'sprichwörtlich', 'bildlich', 'fest' oder 'gebunden'), Wortgruppenlexem, fester Ausdruck, feste<br />

Formel, Stereotyp, phraseologische Einheit, feste Wortgruppe, phraseologische Wortfügung,<br />

feste Wortverbindung umschrieben wurden und die die Minimalstruktur einer Wortgruppe aufweisen.<br />

Unter dem Begriff 'phraseologische Einheiten' sind allgemein nicht satzwertige Wortgruppen<br />

mit unterschiedlicher syntaktischer Struktur und mehr oder weniger ausgeprägter Umdeutung<br />

der Komponenten zu verstehen. Im folgenden soll die Vielgestaltigkeit formelhafter<br />

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Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />

Kommunikationseinheiten verdeutlicht werden, indem das Augenmerk auch auf die Beschreibung<br />

von Satzphraseologismen gerichtet wird. Verbale Stereotype oder satzwertige<br />

Phraseologismen/Satzphraseologismen auch Satzidiome (in der Fachliteratur auch unter<br />

folgenden Termini angeführt: kommunikative Formeln, Routineformeln, kommunikative<br />

Phraseologismen, pragmatische Idiome, situationelle Redewendungen, situationsgebundene<br />

Stereotype)(Lüger 1998, Wotjak 1996; Wotjak./Richter 1993; Fleischer 1982; Sandu 1993;<br />

Heller 1980; Burger 1973; Hessky/Ettinger 1997, Lüger 1989) sind weitverbreitete standardisierte<br />

fest stehende Formeln, Bemerkungen, Ausrufe, mit oder ohne Satzstruktur, die uns<br />

die Sprache für bestimmte Situationen gebrauchsfertig zur Verfügung stellt und die als Signale<br />

in bestimmten pragmatischen Situationen fungieren. Sie sind nach Kühn (1992, 415) “funktionsbezogen”<br />

zu beschreiben und werden als ‘festgeprägte Sätze’ in verschiedenen Kommunikationssituationen<br />

geäußert. Das Definitionskriterium für diese Erscheinungen, das alle Autoren<br />

benutzen, ist ihre Bindung an einen bestimmten Typ von Situation. Es handelt sich folglich um<br />

komplexe Ausdrücke, die eine starke kontextuelle Bindung aufweisen und deren Gebrauch<br />

weitgehend aus den gegebenen Kommunikationsbedingungen erklärbar ist. Ebenfalls als vorgeprägte<br />

Einheiten der Kommunikation sind hier Konstruktionen anzuführen, die sich als<br />

Phraseoschablonen, Aphorismen, Sentenzen, Maximen, Sinn- und Sittensprüche, Zitate, geflügelte<br />

Worte, Sprichwörter, Sprüche, Gemeinplätze, Wellerismen bezeichnen lassen. Als intentional<br />

verwendbare Einheiten sind sie funktional vollständig. Das Kriterium der funktionalen<br />

Vollständigkeit ist nach Lüger (1989) bei der Klassifizierung der Erscheinung „Stereotypie“ relevant.<br />

Gesprächsanalytisch untersucht werden zunächst feste nichtsatzwertige Wortverbindungen,<br />

die das sprachliche Miteinander-Umgehen, das Sprachverhalten der Kommunikationsteilhaber<br />

thematisieren, auf Strategien der Gesprächsführung und der Rollenübernahme hinweisen, die<br />

darauf hindeuten, wie Gesprächspartner ihre verbalen Reaktionen gegenseitig interpretieren.<br />

Hier müssen z.B. die zahlreichen Phraseologismen mit den Komponenten sprechen/Sprechen,<br />

Sprache, reden/Rede/Gerede, sagen/Sagen, sowie Wort, Mund, Mundwerk, Maul, Maulwerk,<br />

Mühle/Mühlwerk, Schnabewel, Zunge, Lippe angeführt werden. Andererseits werden satzwertige<br />

Phraseologismen präsentiert, mit deren Verwendung unterschiedliche Handlungen vollziehbar<br />

sind. Allgemein betrachtet, handelt es sich um Beschreibungen der Vorgehensweisen der Gesprächsbeteiligten<br />

bei der Gesprächssteuerung und -gestaltung. Dabei kann der Aussagewert<br />

von Phraseologismen festgelegt werden, ihre Wirkung im Sprachgebrauch.<br />

Der Sprachgebrauch stellt den Sprachteilhabern eine Anzahl von variablen Ausdrucksmöglichkeiten<br />

zur Verfügung. Gemäß der Absicht des Sprechers werden durch die Sprache<br />

Inhalte vermittelt mit dem Ziel, etwas zu bewirken, zu verändern, zu erreichen, zu veranlassen.<br />

Dieselbe sprachliche Mitteilung lässt sich auf verschiedene Weise in Worte kleiden. Sprechen<br />

als soziales Handeln erfolgt in einem sozialen Kontext und impliziert eine Reihe von Faktoren.<br />

Im Verlauf des Gesprächs wechseln die Beteiligten ihre Rolle untereinander, d.h. die Initiative in<br />

der Entwicklung und im Verlauf eines Gesprächs geht von einem Kommunikationspartner zum<br />

anderen über. Die wechselnde Rollenübernahme ist Teil der Gesprächsdynamik. Auf einen<br />

Initiativenwechsel/-austausch und damit auf die Rederechtübernahme weisen u. a. folgende<br />

Phraseologismen hin: jmdm. das Wort geben/erteilen, sich zu Wort melden, jmdm. das Wort aus<br />

dem Mund(e) nehmen, jmdm. ins Wort/in die Rede fallen, jmdm. das Wort entziehen/verbieten,<br />

jmdm. das Wort abschneiden, um das Wort bitten, das Sagen haben, den Takt angeben. Der<br />

Rollenwechsel im Gespräch wird von unterschiedlichen Faktoren mitbestimmt. Er geht auch<br />

davon aus, je nachdem ob die Kommunikationsteilnehmer gleichberechtigt, sozial gleichgestellt<br />

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sind oder nicht. Der Sprecher muss auch seinem Kommunikationspartner den Status als Gesprächspartner<br />

anerkennen, Bereitschaft zur Kommunikation haben. Partnerunterstützende<br />

phraseologische Einheiten sind z.B.: für jmdn. Partei ergreifen/nehmen, an einem/am<br />

gleichen/am selben Strang ziehen, sich etw. nicht zweimal sagen lassen, jmdm. das Rückgrat<br />

stärken, jmdm. den Rücken stärken/steifen, ein gutes Wort für jmdn. einlegen.<br />

Zur Verwirklichung seiner kommunikativen Absichten wird ein Gesprächsteilnehmer versuchen,<br />

je nach Kommunikationssituation geeignete Strategien bezüglich der Hörerreaktion<br />

anzuwenden. Das Einreden auf den Dialogpartner, die Veranlassung einer Handlung oder zur<br />

Auslösung einer Reaktion beim Gesprächspartner können phraseologische Einheiten eingesetzt<br />

werden, die sich z. B. unter die Begriffe ‘auf jmdn. ununterbrochen einreden’/’jmdn. fragen/ausfragen’<br />

gruppieren lassen: jmdm. ins Gewissen reden, sich den Mund fransig/fusselig reden,<br />

jmdm. in den Ohren liegen, bitten und betteln, jmdm. ein Loch/Löcher in den Bauch/Arsch<br />

reden/fragen, reden wie ein Wasserfall/Buch, jmds. Mund geht wie ein Mühlwerk, ohne Punkt<br />

und Komma reden, jmdn. mit Fragen überschütten/bombardieren. Zur Auslösung einer Reaktion<br />

beim Gesprächspartner können aber auch Einheiten eingesetzt werden, die eine Einschätzung<br />

des Informationswertes einer Aussage durch den Adressaten ausdrücken: etw./das ist (alles)<br />

kalter Kaffee, etw. ist Schnee vom vergangenen Jahr/ von gestern, etw. ist ein alter Hut, etw. ist<br />

eine alte Weste, etw. ist aufgewärmter Kohl, etw. ist schon in tausend Zungen gepredigt worden,<br />

etw. ist das alte Lied/die alte Leier, (das ist) dasselbe in Grün, (es ist) immer dieselbe/die<br />

gleiche/die alte Platte, Blech reden, dummes Zeug reden, Unsinn/Makulatur reden, Mist reden,<br />

hellen Unsinn reden, albernes Gerede. Beim Vollziehen kommunikativer Handlungen muss sich<br />

der Handelnde an den Reaktionen des anderen orientieren. Die Reaktionen des Empfängers –<br />

die sowohl sprachlich als auch nichtsprachlich ausfallen können – sind das Ergebnis des Dekodierungsprozesses<br />

und können – vorausgesetzt, dass sie den Sender erreichen – zu neuen<br />

Gesprächsbeiträgen führen. Viele Phraseologismen bringen die Reaktionen des Angesprochenen<br />

auf den Punkt. Als explizite Zeichen der Zuwendung auffassbar, werden die Meldungen des<br />

Hörerverhaltens – die intendiert sind - als Rückmeldungen/Rückmeldungsverhalten bezeichnet.<br />

Das Rückmeldungsverhalten deutet darauf hin, dass der Hörer den Formulierungsprozess mitverfolgt.<br />

Andererseits signalisieren die Meldungen des Dialogpartners, dass dieser die Übernahme<br />

der Sprecherrolle plant. Das Verhalten des Hörers, das fast gleichzeitig zum Verlauf des<br />

Specherbeitrags läuft, beeinflusst den weiteren Ablauf und den Weitergang der<br />

Kommunikation. In der Beschreibung verbaler Kommunikation wird dem Hörer eine besonders<br />

wichtige Rolle zugeschrieben. Er hat den entscheidenden Anteil an der Verwirklichung der Kooperation,<br />

die als Grundvoraussetzung einer Interaktion gilt. Die Hörerbeteiligung kann aktiv<br />

oder passiv erfolgen, auf jeden Fall wird der Angesprochene ein bestimmtes Verhalten zeigen.<br />

Hinsichtlich des Rückmeldungsverhaltens lassen sich Phraseologismen sowohl dem sprachlich<br />

formulierten Hörerverhalten als auch den nichtsprachlichen Reaktionsmöglichkeiten zuschreiben.<br />

Auf ein bestimmtes Verhalten des Adressaten weisen Phraseologismen hin, deren<br />

Bedeutung sich mit ‘aufmerksam zuhören’ vs. ‘nicht zuhören/ignorieren’ umschreiben lässt: an<br />

jmds. Lippen hängen, ganz (Auge und) Ohr sein, Augen und Ohren offenhalten/aufhalten, die<br />

Augen aufmachen/aufsper-ren/auftun, die Ohren aufmachen/aufsperren, die Ohren/die Löffel<br />

spitzen, ganz Ohr sein, lange/spitze Ohren machen, jmd. hört wie elektrisiert mit, jmd. ist gespannt<br />

wie ein alter Regenschirm, jmd. macht lange Ohren, jmd. spitzt die Löffel/die Lauscher wie<br />

ein Feldhase in der Jagdsaison, jmd. hat seine Augen vorn und hinten, jmd. passt auf wie ein<br />

Schiesshund, bei jmdm. ein offenes/williges Ohr finden, ein offenes Ohr für jmdn. haben, jmdm.<br />

Gehör schenken, mit halbem Ohr zuhören/hinhören, tauben Ohren predigen, etw. geht zu einem<br />

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Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />

Ohr hinein/rein und zum anderen wieder hinaus/raus, auf den/seinen Ohren sitzen, bei jmdm.<br />

kein Gehör finden, etw. in den Wind schlagen, in den Wind reden, gegen die/eine Wand reden,<br />

zum Fenster hinaus reden, jmdn. mit dem Rücken ansehen, jmdm./etw. den Rücken<br />

kehren/wenden/zudrehen, für etw. blind sein, über etw. hinwegsehen, sich einen Dreck um nichts<br />

kümmern, jmdn. wie Luft behandeln, Luft für jmdn. sein, jmdn. keines Blickes würdigen,<br />

jmdn./etw. links liegen lassen. Weitere das Verhalten des Dialogpartners beschreibende<br />

Phraseologismen sind: jmdm. aufs Maul schauen, reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist,<br />

reden, wie jeder es versteht, fluchen wie ein Bierkutscher, jmd. gibt (überall) seinen Senf dazu,<br />

[vor jmdm.](seine) schmutzige Wäsche waschen. Manche Phraseologismen weisen auf<br />

Strategien hin, die dem Sprecher den Kommunikationserfolg sichern sollen: jmdm. geht/fliesst<br />

etw. leicht/glatt von den Lippen/von der Zunge, alles/jedes Wort auf die Goldwaage legen, Stein<br />

und Bein (auf etw.) schwören, aus einer Mücke einen Elefanten machen, etw. grau in grau<br />

sehen/… , etw. schwarz in schwarz malen/darstellen/schildern, etw. in den schwärzesten Farben<br />

malen/darstellen/schildern, das Pro und Contra abwägen, Gründe und Gegengründe geben, jmd.<br />

hängt einer Sache ein Mäntelchen um, jmd. macht aus teigigen Birnen böhmische Feigen, reden<br />

wie ein Buch, reden wie aufgezogen, reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, reden, wie<br />

jeder es versteht, seine Zunge im Zaum halten/zügeln, sich auf die Zunge beissen (müssen). Die<br />

Hörerbeteiligung kann sowohl sprachlich als auch nichtsprachlich erfolgen. Der Angesprochene<br />

reagiert auf das Gesagte/Gehörte und das, was er gerade wahrgenommen hat, kann er<br />

akzeptieren oder ablehnen. Die nichtsprachlichen Reaktionen der Dialogpartner halten folgende<br />

Phraseologismen fest: etw. steht jmdm. im Gesicht geschrieben, ein Gesicht machen wie<br />

drei/sieben Tage Regenwetter, ein langes Gesicht machen/ziehen, jmdn. keines Blickes würdigen,<br />

keine Miene verziehen, ohne mit der Wimper zu zucken, jmdm. die kalte Schulter zeigen, jmdn.<br />

über die Schulter ansehen, jmdn. über die Achsel ansehen, die (mit den) Achseln zucken, den<br />

Mund/Mund und Augen/Mund und Nase aufsperren/aufreißen, Stielaugen machen/bekommen<br />

/kriegen, die Augen aufreißen, jmdn. mit den Augen verschlingen/verzehren, die Hände überm<br />

Kopf zusammenschlagen, die Stirn in Falten legen, mit der Faust auf den Tisch schlagen,<br />

jmdm./etw. den Rücken kehren/wenden/zudrehen, von einem Ohr zum anderen strahlen/<br />

grinsen/lachen, zu Tode betrübt sein, auf-/hochfahren wie von der Tarantel gestochen, aussehen<br />

wie eine gebadete Maus, dastehen wie die Kuh vorm neuen Tor, dastehen/aussehen wie versteinert,<br />

zittern wie Espenlaub. Darüber hinaus weisen zahlreiche Phraseologismen darauf hin,<br />

dass sich mit ihrem Einsatz Konsequenzen für den Weiterlauf des Gesprächs ergeben. Es geht<br />

hier um Fügungen, die sich unter den Leitbegriffen ‚sich irren/falsch liegen/sich täuschen/fehl<br />

einschätzen‘, und ‚unverständlich sein‘ vs. ‚nichtssagend/oberflächlich‘ gruppieren lassen: etw.<br />

in den falschen/verkehrten Hals bekommen/kriegen, im falschen Laden/im falschen Film/auf der<br />

falschen Fährte sein, im falschen Zug/im falschen Boot sitzen, auf dem falschen Dampfer<br />

sein/sitzen, an der falschen/verkehrten Adresse sein, falsche Schlüsse ziehen, auf dem Holzweg<br />

sein/sich befinden. Auf die Unverständlichkeit einer Aussage/Handlung beziehen sich: in Rätseln<br />

sprechen/reden, sich keinen/einen Vers auf etw. machen können, etw. kommt jmdm. spanisch<br />

vor, Bahnhof verstehen, etw. ist chinesisch für jmdn.<br />

Die Teilnehmer an einem Gespräch müssen ihre Äußerungen spezifisch auf den jeweiligen<br />

Äußerungsadressaten und dessen Vorwissen zuschneiden. Die Formulierungstätigkeit fällt je<br />

nach Zeit-/Raumfaktor, Beziehung der Kommunikationspartner zueinander, Befindlichkeit der<br />

Kommunikationspartner usw. unterschiedlich aus. Zahlreiche Phraseologismen weisen auf die<br />

Formulierungstätigkeit (‚jmdm. direkt‘ vs. ‚indirekt etwas mitteilen‘) hin: (sich) kein Blatt vor den<br />

Mund nehmen, mit der Tür ins Haus fallen, mit etw. nicht hinterm Zaun halten, jmdm. etw. unter<br />

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Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />

die Nase reiben, jmdm. etw. auf den Kopf zusagen, mit jmdm. Klartext sprechen/reden, das Herz<br />

auf der Zunge tragen/halten, frisch/frei von der Leber weg erzählen/reden/sprechen, jmd. lässt<br />

sich keine Spinne übers Maul wachsen, mit der Sprache herausrücken, das Kind bei Namen und<br />

Vornamen, etw./das Kind beim (rechten/richtigen) Namen nennen, eine deutliche Sprache mit<br />

jmdm. sprechen, den Nagel auf den Kopf treffen, etw. auf den Punkt bringen, ins Schwarze<br />

treffen, kurz und bündig, offen und ehrlich, kurz und schmerzlos; vs. um den (heissen) Brei<br />

herumreden, wie die Katze um den heißen Brei um etw. herumgehen/herumschleichen, durch die<br />

Blume sprechen, [jmdm.] etw. durch die Blume sagen.<br />

Zu den Faktoren, die eine Gesprächssituation mitprägen, gehört auch die Vorstellung der<br />

Gesprächspartner voneinander, das Image eines jeden Teilhaber am Gespräch in den Augen<br />

der/des anderen, oder in seiner eigenen Einschätzung. Wie sich die Kommunikation entwickelt,<br />

hängt auch von dem Bild ab, das die Gesprächsteilnehmer in der Interaktion von sich selbst<br />

schaffen. Die am Gespräch Beteiligten sind darum bemüht ihr Image zu pflegen. Die von den<br />

Teilnehmern verwendeten Strategien dienen nicht nur der Vermittlung von Informationen, sondern<br />

weisen darauf hin, dass die Agierenden sich bemühen, sich ihren Gesprächspartnern gegenüber<br />

in einem günstigen Licht zu präsentieren. Bei der Diskussion um die Gestaltung des<br />

Images spielt die Tatsache eine Rolle, dass Phraseologismen gegenüber den nichtphraseologischen<br />

Entsprechungen ein “Bündel evaluativer Handlungen, Einstellungen, Imagebezeugungen”<br />

ausdrücken können. (Kühn 1994, 420) Aus der Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten,<br />

sein Image zu pflegen bzw. zu gestalten sollen hier nur einige Möglichkeiten vorgestellt<br />

werden. Es geht einerseits um die Begriffe ‘schmeicheln/loben/heucheln’: jmdm. Honig/Pappe/<br />

Brei um den Bart/ums Maul/ um den Mund schmieren/streichen, sich bei jmdm. lieb Kind<br />

machen, jmdn./etw. über den grünen Klee loben, jmdm. Zucker in den Hintern/Arsch blasen,<br />

jmdn. in den Himmel heben, Süßholz raspeln, jmdm. in den Hintern kriechen und den Eingang<br />

verteidigen, sich bei jmdm. eine braune Zunge abverdienen, jmdm. ums Maul streichen, jmdm.<br />

Pappe ums Maul schmieren, jmdm. die Ohren melken, es jmdm. honigsüß einträufeln, jmdm. um<br />

den Bart gehen, sich wie Katzen verhalten – vorne lecken und hinten kratzen, in den süßesten<br />

Tönen flöten, jmd. hat eine glatte Zunge, jmd. möchte dem lieben Gott die Füße küssen, mit dem<br />

Schwanz wedeln und mit den Zähnen beißen, Zucker klopfen, jmd. hat Zucker im Mund. Andererseits<br />

um ‚angeben/prahlen/aufbauschen/schwülstig sprechen‘: Hefe in den Schuhen haben,<br />

angeben wie ein Wald voll Affen, angeben wie ein nackter Affe/ zehn nackte Affen, mit Jägerlatein<br />

um sich werfen, ein Maul so groß wie ein Scheunentor haben, daherkommen wie ein aufgeblasener<br />

Frosch, jmd. hat eine Schnauze wie ein Kanaldeckel, angeben wie ein Sack voll<br />

Mücken/wie ein Tüte voll Wanzen/wie zehn nackte Neger/ein Sack Flöhe, den Mund/das Maul<br />

(zu) voll nehmen/aufreißen, einen großen Mund haben/führen, die Klappe aufreißen, die große<br />

Klappe schwingen, das Maul sperrangelweit aufreißen, die große Posaune blasen, viel Wind<br />

machen, auf die Pauke hauen, jmdm. einen blauen Dunst vormachen, hohe Noten pusten, den<br />

Rachen weit aufreißen, sich spreizen wie ein Pfau, große Bogen spucken, sich aufplustern wie<br />

eine Henne auf ihrem Nest, sich aufplustern wie die älteste Glucke auf der Stange, daherkommen<br />

wie der gestiefelte Kater, große (dicke) Töne reden (schwingen)(spucken), hohe Töne schwingen,<br />

vom großen Christoph reden, dick auftragen, angeben wie eine Tüte Bienen.<br />

Manche Gesprächssituationen entwickeln sich in eine nicht immer voraussehbare Richtung,<br />

das Gleichgewicht kann durch eine Äußerung und/oder Handlung gestört sein. Auf ‘Ablehnung/Abweisung’<br />

ausgerichtet sind: jmdm. die Tür vor der Nase zuschlagen, jmdm. einen Korb<br />

geben, jmdn. mit rauchenden Ohren abblitzen lassen, jmdm. den Rücken zuwenden, jmdn. mit<br />

eisiger Miene empfangen, jmdm. die kalte Schulter zeigen, jmdm. einen Korb geben, sich einen<br />

Korb holen, einen Korb bekommen/erhalten/kriegen, auf Distanz zu jmdm. gehen, jmdn. nicht<br />

riechen können, einen Pik auf jmdn. haben, jmdn. abblitzen lassen, jmdm. eine Abfuhr erteilen,<br />

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Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />

jmdm. den Buckel herunterrutschen, jmdm. den Rücken wenden/kehren, jmdn. in die Pfanne<br />

hauen. Auf das Konfliktsituationen und damit auf Image-Verletzung/-Zerstörung beziehen sich:<br />

sich in den Haaren liegen, sich um des Kaisers Bart streiten, einen Streit vom Zaun(e) brechen,<br />

das Kriegsbeil ausgraben/begraben, Öl ins Feuer gießen. Hierher gehören auch Phraseologismen,<br />

deren Bedeutung mit ‚beschimpfen/beleidigen/zurechtweisen‘, ‚ausschimpfen/schimpfen/tadeln/Meinung<br />

sagen, Vorwürfe machen/züchtigen/bösartige Bemerkungen machen’ beschrieben<br />

werden kann: jmd. hat eine scharfe/spitze/freche/spöttische/lose/böse/ boshafte Zunge, über<br />

jmdn./etw. das Maul zerreißen, Haare auf den Zähnen haben, jmdm. auf den Schwanz/auf die<br />

Zehen treten, jmdm. mit dem nackten Hintern ins Gesicht springen, jmdn. vor den Kopf stossen,<br />

jmdn. bis ins Mark treffen, jmdm. einen verbalen Leberhaken verpassen, jmdn. zur Sau/zur<br />

Schnecke machen, jmdm. übers Maul fahren, jmdn. aus den Lumpen schütteln, jmdn. ins Gebet<br />

nehmen, jmdm. das Oberstübchen fegen, etw. stallfrisch sagen, etw. unter die Nase reiben, sich<br />

jmdn. vorknöpfen, den Knüppel aus dem Sack lassen, den richtigen Ton anschlagen, das Kind<br />

beim (rechten) Namen nennen, jmdm. auf den Sack niesen/husten, jmdm. auf die Beine/auf die<br />

Zehen/auf die Hühneraugen treten, jmdn. in seine Schranken weisen/zeigen, was eine Harke ist,<br />

jmdm. aufs Dach steigen/auf die Finger/Pfoten klopfen/die Flötentöne beibringen/auf den Deckel<br />

spucken, jmdm. eine Lektion/die Leviten//die Epistel/die Kapitel/den Text lesen, jmdn. mit<br />

scharfer Lauge taufen, mit jmdn. hart/scharf/streng ins Gericht gehen, kein gutes Haar (Härchen)<br />

an jmdm./etw. lassen, auf jmdm. herumreiten/herumhacken, jmdn. fix und fertig machen, jmdm.<br />

eine Standpauke halten, mit jmdm. Fraktur reden, jmdm. das Halleluja singen, jmdm. die Grillen<br />

austreiben, jmdm. die gelbe Karte zeigen, jmdm. die Haare schneiden, jmdm. etw. flüstern, jmdn.<br />

das Vaterunser lehren, jmdm. die Zähne ziehen, mit jmdm. Klartext sprechen, jmdm. die Hühneraugen<br />

operieren, jmdm. etw. auf die Mütze geben, jmdm. etw. um die Ohren hauen, jmdn. bei den<br />

Ohren nehmen, jmdm. die Löffel lang ziehen, jmdn. kalt rasieren, mit jmdm. Karussell fahren,<br />

jmdm. den Marsch blasen, jmdm. etw. aufs Butterbrot schmieren/streichen, jmdm. eins auf den<br />

Deckel geben, jmdm. auf die Finger klopfen, eins/etw. auf die Finger bekommen/kriegen, eins auf<br />

den Kopf bekommen, jmdn. ins Gebet nehmen, jmdm. den Kopf waschen, jmdm. eine Lektion erteilen,<br />

jmdm. die Leviten lesen, jmdm. (gehörig) den Marsch blasen, jmdm. die Ohren lang ziehen,<br />

jmdn. zur Schnecke machen, ein Haar in der Suppe finden, etw./jmdn. in der Luft zerreißen, jmdn.<br />

in die Pfanne hauen, jmdn. in Grund und Boden kritisieren jmdn. fix und fertig machen jmdm.<br />

eine Gardinenpredigt halten, jmdm. etw. unter die Weste jubeln.<br />

Jeder Gesprächsschritt wird als Reaktion auf den vorhergehenden Gesprächsbeitrag des<br />

Partners verstanden. Jeder Sprecher beachtet bei der Gestaltung seines Eingriffs auch das von<br />

beiden Seiten vorher Gesagte. Je nach Bearbeitung bereits produzierter kommunikativer Handlungen,<br />

kann der Umfang der Fortsetzungsmöglichkeiten im Gespräch unterschiedlich ausfallen;<br />

im Gegenzug des Partners ein Ergänzen, Modifizieren, Abwandeln, ein Akzeptieren oder<br />

sogar eine Zurückweisung des bereits Geäußerten erfolgen. In authentischen Gesprächen sind<br />

zahlreiche Zusätze vorzufinden, redeorganisierende Sprechakte, metakommunikative Einschübe,<br />

Schweigephasen, Äußerungsüberlappungen, Einschubsequenzen. Schweigen ist als Ausdrucksmöglichkeit<br />

in das Gespräch miteinzubeziehen. Das Ausbleiben einer sprachlichen Reaktion<br />

kann als Überzeugtsein, Rückzug in diplomatischer Zurückhaltung, Zustimmung, Überraschtheit,<br />

als Ausdruck der Ablehnung, als Hinweis auf die psychische Verfassung des Dialogpartners<br />

usw. gedeutet werden. Während des Schweigens kann der Kommunikationsteilhaber aber auch<br />

überlegen, über das eben Gesagte nachdenken, es kritisch abwägen oder einen Kommunikationsfortgang<br />

planen, vielleicht auch an die Eröffnung anderer Gespräche denken. Der Angesprochene<br />

kann zwischen Reagieren und Nichtreagieren wählen und sich beispielsweise für<br />

die Unterlassung des reaktiven Gesprächsschrittes entscheiden. Das kann zu Störungen in der<br />

562<br />

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Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />

Kommunikation führen, die sich negativ auf den weiteren Kommunikationsablauf, auf die weitere<br />

Gestaltung der Sprecher-Hörer-Beziehung auswirken, zu einer Änderung der Gesprächsrichtung.<br />

Die Akzeptierung oder Nichtakzeptierung der kommunikativen Intention bringt der<br />

Hörer durch einen Sprechakt oder durch eine nichtsprachliche Handlung zum Ausdruck. An der<br />

Stelle des Sprechakts kann auch Schweigen treten. Eine ausbleibende verbale Reaktion, die als<br />

sprecherinitiiert oder hörerdeterminiert eingestuft werden kann, ist für die Weiterentwicklung<br />

der Kommunikation ausschlaggebend. Die Suche nach dem richtigen Wort/das (plötzliche)<br />

Schweigen/die psychische Verfassung des Kommunikationsteilhabers verdeutlichen folgende<br />

Phraseologismen: nach/um Worte ringen, das Wort schwebt/liegt jmdm. auf der Zunge/auf den<br />

Lippen, den Mund nicht aufbekommen/aufkriegen, jmdm. fehlen die Worte, jmdm. die Sprache<br />

rauben/verschlagen/nehmen, jmdm. bleibt die Sprache weg, jmdm. den Mund/das Maul stopfen,<br />

das Maul/die Klappe halten, kein Wort (mehr) über etw. verlieren, seine Zunge hüten/zügeln/im<br />

Zaum halten/beherrschen können, in sieben Sprachen schweigen, tot schweigen, sich in<br />

Schweigen hüllen, verschwiegen wie ein Grab sein, die Kiemen nicht auseinanderkriegen, keinen<br />

Ton von sich geben, keinen Mucks machen, die Angst bindet jmdm. die Zunge, keinen Laut von<br />

sich geben, kein Wort fallen lassen.<br />

Der Sender produziert unter Berücksichtigung der Kommunikationssituation und seiner Auffassung<br />

von dem Empfänger einen Kommunikationsakt mit Hilfe seiner pragmatischen<br />

Kompetenz und realisiert ihn mit mit Hilfe seiner sprachlichen Kompetenz. Der Empfänger dekodiert<br />

den entstandenen Text mit Hilfe der entsprechenden Kompetenzen unter Berücksichtigung<br />

der situationellen Faktoren und seiner Kenntnisse von dem Sender. Die<br />

Kommunikation als eine soziale Handlung ist dann gelungen, wenn die Intention des Sprechers<br />

richtig dekodiert wird, d.h. der Inhalt der Äußerung intentionsmässig angekommen ist. Für das<br />

Gelingen einer sprachlichen Handlung sind situationsspezifische, gesellschaftsspezifische,<br />

sprecher- und hörerspezifische Regeln verantwortlich. Die Sprach- und Kommunikationsteilhaber<br />

kommunizieren miteinander indem sie als Träger von Sprache und Kultur, von<br />

Kontextwissen Äußerungen produzieren und rezipieren. Dabei ist offensichtlich, dass die Ausdrucksmöglichkeiten<br />

mit der Bedeutung „schweigen“ weniger zahlreich im phraseologischen<br />

Bestand der deutschen Sprache vertreten sind im Unterschied zu denen, deren Bedeutung<br />

„sprechen“ ist.<br />

Der Umgang mit formelhaften Kommunikationseinheiten gehört zum Sprach- und Alltagswissen<br />

der Mitglieder einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Die Agierenden konzentrieren<br />

sich auf die Verfolgung ihrer kommunikativen Ziele in der Entfaltung des Gesprächsthemas,<br />

sind aber in der Wahl ihrer Vorgehensweise und der Ausdrucksform frei. In der Sprachpraxis<br />

ist der Rückgriff auf Vorgeprägtes und das Vorkommen fester Wortverbindungen keine<br />

Sondererscheinung, die Verwendung von Phraseologismen kann in der Kommunikation verschiedenen<br />

Zielen dienen. Mit dem Einsatz satzwertiger Phraseologismen können bestimmte<br />

Kommunikationsabsichten- und –ziele abgesichert werden. Phraseologismen sind zu denjenigen<br />

Ausdrucksmitteln zu zählen, mit denen man Handlungen zum Aussagegehalt sprachlicher<br />

Äußerungen (Referenz- und Prädikationshandlungen) durchführen kann. Anhand von<br />

phraseologischen Einheiten können die Sprachteilhaber und Dialogpartner werten, vereinfachen,<br />

verallgemeinern, veranschaulichen, verschleiern, verstärken. Phraseologismen als<br />

semantisch und pragmatisch komplexe Mehrwortlexeme sind satzsemantisch wichtig, weil<br />

“manche Handlungen […] ohne Phraseologismen nicht oder nur sehr umständlich durchführbar”<br />

wären. (Kühn 1992, 418) Es geht folglich um komplexe Ausdrucksmittel, die für ver-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

563


564<br />

Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />

schiedene kommunikative Aufgaben herangezogen werden können. Ihre Leistung kann u.a. auf<br />

der Ebene der Imagegestaltung, der Darstellung interpersonaler Beziehungen, der Aufmerksamkeitssteuerung<br />

dargestellt werden. Darüber hinaus verdeutlicht der Gebrauch von Satzidiomen<br />

in einer bestimmten Gesprächssituation die Handlungsabsicht der Sprechers gegenüber den<br />

Gesprächspartnern. Gebrauchsfertige Formulierungshilfen können u.a. zum Ausdruck bringen:<br />

Empörung/Entrüstung/Protest: Da hört doch alles auf! Da könnte ich mich schwarz ärgern. Das<br />

kann doch nicht wahr sein. Das ist doch nicht zu fassen! Das ist nun wirklich zu viel. Was zu viel<br />

ist, ist zu viel; Um Gottes willen! Das ist eine Frechheit! Das ist unverantwortlich! Enttäuschung/Resignation:<br />

Na dann gute Nacht! Aus der Traum! Traurig, aber wahr! Das bringt<br />

nichts; das wird und wird nicht; das klappt und klappt nicht. Zurückweisung: Das fehlte gerade<br />

noch! Das liegt mir nicht! Nicht, dass ich wüsste! Verwunderung/Bestürzung/Überraschung: Mir<br />

fehlen die Worte! Ach, du meine/liebe Güte! Das kann ja heiter/lustig werden. Ablehnung/Abwehr:<br />

Was erlaubst du dir! Was fällt dir ein! Ich will nichts mehr davon wissen/hören!<br />

Das ist bei uns kein Thema. Das kannst du dir abschminken. Lass das! Um Gottes willen! Abstand/ironischer<br />

Zweifel: Der und dein Freund? Die und zuverlässig? Ich fresse einen Besen, wenn<br />

… Dass ich nicht lache! Wer’s glaubt, wird selig! Das wäre ja noch schöner! Das ist ja schön! Das<br />

würde/könnte dir so passen! Drohung/Ermahnung: Dir werde ich gleich helfen! Das lasse ich mir<br />

nicht gefallen! Nun schlägt’s aber dreizehn! Wie du mir, so ich dir. Bis hierher und nicht weiter!<br />

Na warte! Hab dich nicht so! Tu (doch) nicht so! Mach keine Umstände! Stell dich nicht so an!<br />

Zier dich nicht so! Dem/der hab‘ ich es aber gesagt! Verärgerung/Verwunderung: Das fehlte<br />

gerade noch! Das kann ja heiter werden! Das ist (doch) der Gipfel! Unwillen/Ungeduld: Halt’ die<br />

Klappe! Das fehlte gerade noch! Nun mach aber einen Punkt! Heraus mit der Sprache! X hin, X<br />

her… Beruhigung: Das hat nichts zu sagen! (Das) macht nichts! Abwarten, Tee trinken! Das wird<br />

sich regeln/klären. Bekräftigung/Zustimmung: Ganz meinerseits! Versicherung: Hand drauf!<br />

Hand aufs Herz!Das macht mir nichts aus! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer! Darauf kannst<br />

du Gift nehmen. Feststellung/Warnung: Das ist leichter gesagt als getan. Die Zeiten sind vorbei!<br />

Lass dir das gesagt sein! Schluss jetzt! Vorwurf: Es gibt ein Donnerwetter! versprochen ist versprochen.<br />

Unerwartetes/Unangenehmes: Da haben wir die Bescherung! Da haben wir den Salat!<br />

Anerkennung/Ermunterung: Hut ab! Alle Achtung! Toi, Toi, Toi! Kopf hoch! Hals- und Beinbruch!<br />

Weigerung/Widerspruch: Das lasse ich mir nicht gefallen! Mir reicht‘s! Das fällt mir doch nicht<br />

im Traume ein!<br />

Viele phraseologische Einheiten sind sprechaktgebunden. Mit dem Einsatz formelhafter<br />

Kommunikationseinheiten können mehrere und unterschiedliche Handlungen gleichzeitig ausgeführt<br />

werden. Für Satzphraseologismen kann man folgende Funktionsbereiche annehmen<br />

(vgl. Lüger 1989, 1998): Satzphraseologismen sind als Mittel zur Erleichterung der Formulierungsarbeit<br />

auffaßbar. Kommunikationsaufgaben, die feste Bestandteile der sozialen Interaktion<br />

sind, werden routiniert mit Hilfe vorgefertigter sprachlicher Ausdrücke bewältigt. In der<br />

Kommunikationspraxis helfen Vorformulierungen bei der Formulierungsarbeit. Satzwertige<br />

Phraseologismen werden in der Kommunikation häufig für Zwecke der Textorganisation eingesetzt<br />

(textgliedernde und -steuernde Funktion). . Gülich (1997, 170) möchte den Rückgriff auf<br />

Formelhaftigkeit als Formulierungsverfahren verstehen und demzufolge das Formulieren mithilfe<br />

von Formelhaftem in Beziehung zu anderen Formulierungsverfahren setzen. Wenn der<br />

Gesprächsteilnehmer in bestimmten Kommunikationssituationen für häufig auftretende Formulierungsaufgaben<br />

auf Formelhaftes zurückgreift, kann er damit auch eine mit der voraufgehenden<br />

Äußerung vollzogene Handlung unterstützen (Satzphraseologismen als Mittel der<br />

Handlungsunterstützung und -verstärkung). Gleichzeitig mit der Unterstützung einer Sprach-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />

handlung können aber auch Bewertungshandlungen vollzogen werden, Sprechereinstellungen<br />

zu einer Sprachhandlung, zum Sachverhalt, zum angesprochenen Thema insgesamt ausgedrückt<br />

werden um damit wiederum als Verstärkung/Unterstützung für Sprachhandlungen zu gelten.<br />

Satzphraseologismen kommt eine wichtige Funktion als Bewertungs- und Einstellungsindikatoren<br />

zu. Darüber hinaus wird mit der betreffenden Äußerung noch eine Imageaufwertung<br />

oder -bestätigung bezweckt. Diese Fertigteile sind eine bequeme und einfache<br />

Möglichkeit, sein Image wunschgemäß zu gestalten und zu wahren, das Image des anderen<br />

nicht zu verletzen um damit auch Imagearbeit zu leisten, sich durch den Rekurs auf Formelhaftes<br />

positiv darzustellen. Vorgeprägtem kann folglich eine imageorientierte Wirkung zugeschrieben<br />

werden. Damit kann die kommunikativen Distanz zwischen den Beteiligten abgebaut<br />

werden, kann die Schaffung eines bestimmten Gesprächsklimas erreicht werden. Mit<br />

der Funktion der Imagepflege eng verbunden ist eine weitere in Beziehung zu setzen, nämlich<br />

die Möglichkeit das Gesprächsklima zu beeinflussen, zu steuern. Die Art und Weise des Miteinander-Redens<br />

wirkt sich auf die Gestaltung der Beziehung zwischen den Dialogpartnern aus.<br />

Satzphraseologismen müssen als Mittel der Beziehungsgestaltung in der Interaktion berücksichtigt<br />

werden. In der Funktionsbeschreibung verfestigter Formulierungsmuster ist auf ihre<br />

Relevanz für die soziale Interaktion hingewiesen worden u.a. als Mittel zur Symbolisierung der<br />

eigenen sozialen Identität und der der Adressaten. Die pragmatische Funktion von Phraseologismen<br />

sieht Fleischer (1982, 221) darin, dass sie als Indikatoren sozialer Verhältnisse<br />

fungieren. Ein Sprecher/Schreiber erweist sich durch den Gebrauch bestimmter Formeln als<br />

Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft. Phraseologische Ausdrücke können die Aufmerksamkeit<br />

auf einen bestimmten Gesprächsschritt lenken und der Äußerung besonderes Gewicht<br />

verleihen. Die Wirkungsverstärkung einer bestimmten Sprachhandlung und die Aufmerksamkeitssteuerung<br />

sollen der Kommunikationsverbesserung dienen. Als kompakte Einheiten sind<br />

Phraseologismen für die Raffung des Mitteilungsgehaltes geeignet. Andererseits erlaubt die<br />

Vagheit ihres Mitteilungsgehaltes dem Gesprächspartner Rückzugsmöglichkeiten. Man kann<br />

dadurch sein Image auch schützen, ein bestimmten Gesprächsklima schaffen, kommunikative<br />

Distanz abbauen. Damit wird ein Beitrag zur Konfliktentschärfung und Verstehenssicherung<br />

geleistet. Vorgeprägtem wird allgemein eine Entlastungsfunktion zugeschrieben. Fleischer<br />

(1982) geht noch einen Schritt weiter und spricht den Phraseologismen insgesamt die Funktion<br />

der Kommunikationserleichterung zu. Die Verhaltensunsicherheit nimmt aber zu wenn man die<br />

richtigen Formeln nicht beherrscht, sie situationell, sozio-kulturell nicht adäquat in den<br />

Kontext einbaut. Den sozio-kulturell verankerten Komponenten des komplexen sprachlichen<br />

Kommunikationsverhaltens muss gebührende Beachtung geschenkt werden, vor allem weil<br />

Fragen des Miteinanderredens in den Vordergrund geraten, besonders wenn es um interkulturelle<br />

Kommunikation geht (kulturspezifische Züge des Sprachgebrauchs und des Verhaltens<br />

im Gespräch, kulturspezifische Gesprächsregeln, kulturbedingte Kommunikationsgepflogenheiten).<br />

Ein weiteres Kennzeichen der angesprochenen Einheiten ist die Vermittlung<br />

kulturspezifischer Inhalte. Phraseologismen als “Kulturzeichen” (Lüger 1998, 43) sind Träger<br />

landeskundlicher, gesellschaftsspezifischer Erfahrungen; sie geben in komprimierter Form<br />

kulturspezifischen Einstellungen, Erfahrungen, Normen, Urteile und Vorurteile, Werte einer<br />

Sprachgemeinschaft wieder. In der Kommunikation kommt solchen Ausdrücken eine erhöhte<br />

Bedeutung zu. Interagierende müssen auch mit Missverständnissen, Unklarheiten, Vermutungen<br />

u.v.m. rechnen, mit dem Nicht-Verstehen einer Äußerung als Formulierungsmuster. Als Verstehenshilfen<br />

können metakommunikative Mittel eingesetzt werden. Vorformuliertes erscheint<br />

häufig von metasprachlichen Signalen begleitet. Metakommunikative Mittel sind Dekodierungshilfen<br />

für Sprachzeichen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit als besonderes und<br />

komplexes Sprachmaterial aufzufassen sind. Metakommunikatives dient nicht nur der Ver-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

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566<br />

Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />

stehens- und Wirkungssicherung, es signalisiert gleichzeitig aber auch die Kooperationsbereitschaft<br />

des Senders und eine deutliche Zuwendung zum Partner: im wahrsten Sinn(e) des<br />

Wortes, im wahrsten Sinne, buchstäblich, wahrhaft, förmlich, im wörtlichen Sinn(e), wörtlich<br />

genommen, wie man so schön sagt, wie es so schön hei t, (wie schon) der Volksmund sagt, es<br />

gibt ein deutsches Sprichwort, wie man sich auszudrücken pflegt, bildlich ausgedrückt, im<br />

redensartlichen Sinne, sprichwörtlich, im sprichwörtlichen Sinne, wie es im Sprichwort heißt,<br />

salopp gesagt.<br />

Ausgangspunkt der Betrachtungen war der spezielle Bereich sprachlicher Erscheinungen,<br />

die das Sprachsystem als „Fertigteile“ den Sprachteilhabern zur Verfügung stellt und die im<br />

Äußerungsprozess als Gesamtkomplex übernommen und reproduziert werden. Das vorgeformte<br />

Sprachgut als spezieller Bereich des Sprachbestandes ist heterogen und umfasst unterschiedlich<br />

gestaltete Einheiten. Aus der Fülle des phraseologischen Bestandes wurden Einheiten herausgegriffen<br />

und beschrieben, die über den sie kennzeichnenden semantischen und pragmatischen<br />

Mehrwert hinaus, diese als besonderes Sprachmaterial ausweisen.<br />

Die Ausführungen sollten einen Überblick über die Möglichkeiten, Sprache in der Kommunikation<br />

zu verwenden, bieten; das Sprachverhalten der Kommunikationsteilhaber, ihr Handeln<br />

mit der Sprache darstellen. Folglich sollte ein wichtiger Aspekt der tatsächlichen Verwendung<br />

von Phraseologismen beleuchtet werden. Die angesprochenen Erscheinungen müssen aufgrund<br />

ihrer Beschaffenheit in ihrer 'Andersartigkeit' erkannt und als komplex interpretiert werden, mit<br />

denen die Sprach- und Gesprächsteilhaber Personen, Vorgänge, Handlungen, Verhaltensweisen<br />

bewerten oder ihre Einstellungen, Gefühle und Bewertungen ausdrücken. Da sie durch Expressivität<br />

und Bildhaftigkeit gekennzeichnet sind, ist ihr angemessener Gebrauch kontextabhängig.<br />

Sie werden in privaten, halböffentlichen und öffentlichen Sprech- und Schreibsituationen<br />

verwendet, müssen aber als besondere Sprachzeichen interpretiert werden. Vorgefertigte<br />

Ausdrucksmöglichkeiten können eine Kommunikationserleichterung darstellen, wobei<br />

ihre Gebrauchsrestriktionen, ihre Bindung an den Kontext berücksichtigt werden müssen.<br />

Mit der Darstellung dieses Sonderaspekts verbaler Kommunikation – die Realisierung kommunikativer<br />

Absichten durch den Rückgriff auf ‘Fertigteile’ - sollte folgendes geleistet werden:<br />

(a) im kooperativen Geschehen “miteinander umgehen” lernen im Sinne einer verbesserten<br />

Adressatenorientiertheit. Hierfür ist die Kenntnis und der Anwendungszusammenhang verfestigter<br />

Äußerungsmuster unerlässlich;<br />

(b) über den alltäglichen Sprachgebrauch, über Interaktionsabläufe nachzudenken, um souverän<br />

über vorgeprägte Einheiten verfügen zu können;<br />

(c) die Leistung formelhafter Kommunikationseinheiten im Interaktionsablauf darzustellen;<br />

(d) den Reichtum des phraseologischen Wortschatzes zu erschließen;<br />

(e) nicht zuletzt daran zu erinnern, dass “man mit Redensarten so manches ausdrücken<br />

[kann], was man mit eigenen Worten nicht sagen möchte oder auch einfach nicht sagen<br />

kann.” (Röhrich 1994, 33).<br />

L L ii i i t t e e rr r r a a t t u u r r r :<br />

:<br />

1. AGRICOLA, E. (Hrsg.)( 13 1988): Wörter und Wendungen. Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch. (Unter<br />

Mitwirkung von H.Görner u. R. Küfner), Leipzig.<br />

2. BRINKER, K./SAGER, K. (1989): Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung. Berlin.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Das Gesprächsbild – eine Dialoganalyse in stereotypen Äusserungen<br />

3. BRUGGER, H. P. (1993): Der treffende Vergleich: eine Sammlung treffsicherer Vergleiche und bildhafter Formu-<br />

lierungen. Ott.<br />

4. BURGER, H. (1973): Idiomatik des Deutschen (= Germanistische Arbeitshefte, 16)(Unter Mitarbeit von H. Jaksche),<br />

Tübingen.<br />

5. DUDEN (1992): Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Mann-<br />

heim, Leipzig, Wien, Zürich, Bd. 11.<br />

6. DOBROVOL'SKIJ, D./LJUBIMOVA, N. (1993): "Wie man so schön sagt, kommt das gar nicht in die Tüte" – Zur me-<br />

takommunikativen Umrahmung von Idiomen. In: Info DaF 30, S. 151-156.<br />

7. FLEISCHER, W. (1982): Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig.<br />

8. FRANKE, W. (1990): Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion.Tübingen<br />

9. FRIEDERICH, W. ( 2 1976): Moderne deutsche Idiomatik. Alphabetisches Wörterbuch mit Definitionen und Bei-<br />

spielen. München.<br />

10. FRITZ, G. (1982): Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kommunikationsanalyse. Tübingen.<br />

11. FRITZ, G./H<strong>UND</strong>SNURSCHER, F. (Hrsg.)(1994): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen.<br />

12. GREWENDORF, G. ( 2 1980): Sprechakttheorie. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E. Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germa-<br />

nistischen Linguistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 287-293.<br />

13. GRIESBACH, H./UHLIG, G.(1993): Mit anderen Worten. Deutsche Idiomatik. Redensarten und Redeweisen. Mün-<br />

chen.<br />

14. GÜLICH, E. (1997): Routineformeln und Formulierungsroutinen. Ein Beitrag zur Beschreibung ‚formelhafter Texte‘.<br />

In: R. Wimmer, F.–J. Berens (Hrsg): Wortbildung und Phraseologie, Tübingen, S. 131 - 175.<br />

15. HELLER, D. ( 2 1980): Idiomatik. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E. Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Lin-<br />

guistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 180-186.<br />

16. HESSKY, R./ETTINGER, St. (1997): Deutsche Redewendungen. Ein Wörter- und bungsbuch für Fortgeschrittene.<br />

Tübingen.<br />

17. KOLLER, W. (1977): Redensarten. Linguistische Aspekte, Vorkommensanalysen, Sprachspiel. Tübingen (= Reihe<br />

Germanistische Linguistik, 5).<br />

18. KÜHN, P. (1994): Pragmatische Phraseologie: Konsequenzen für die Phraseographie und Phraseodidaktik. In: B.<br />

Sandig (Hrsg.): EUROPHRAS 92. Tendenzen der Phraseologieforschung, Bochum (= Studien zur Phraseologie und<br />

Parömiologie, 1), S. 413-428.<br />

19. KÜHN, P. (1996): Redewendungen – nur im Kontext! Kritische Anmerkungen zu Redewendungen in Lehrwerken.<br />

In: FD 15, S. 10-16.<br />

20. LÜGER, H.H. (1989): Stereotypie und Konversationsstil. Zu einigen Funktionen satzwertiger Phraseologismen im<br />

literarischen Dialog. In: DS, 1/1989, S. 3 – 25.<br />

21. LÜGER, H. H. (1998): Satzwertige Phraseologismen im Text. Elemente eines Mehrebenenmodels, In: G. Gu]u, S.<br />

St`nescu (Hrsg.)(Unter Mitarbeit von D. Sandu): “Die Sprache ist das Haus des Seins. Sprachwissenschaftliche<br />

Aufsätze”, Bukarest, Bd.3 , (= GGR-Beiträge zur Germanistik), S. 43-66.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

567


Forum Sonderaspekte verbaler Kommunikation Doina Sandu / Doris Sava<br />

22. PALM, Ch. ( 2 1997): Phraseologie. Eine Einführung. Tübingen.<br />

23. RÖHRICH, L. (1994): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Freiburg,Basel, Wien.<br />

24. SANDU, D. (1993): Einführung in die Lexikologie der deutschen Sprache. Bukarest, Bd. I.<br />

25. SANDU, D.: Gespräche. Forschungsbild und Sprachwirklichkeit.(unveröffentlichtes Manuskript).<br />

26. SCHANK, G./SCHWITALLA, J. ( 2 1980): Gesprochene Sprache und Gesprächsanalyse. In: P. Althaus, H. Henne, H.-E.<br />

568<br />

Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. (= Studienausgabe), Tübingen, S. 313-322.<br />

27. SCHEMANN, H. (1992): Synonymwörterbuch der deutschen Redensarten. Stuttgart, Dresden.<br />

28. SCHEMANN, H. (1993): Deutsche Idiomatik. Die deutschen Redewendungen im Kontext. Stuttgart, Dresden.<br />

29. SCHULZ, D./GRIESBACH, H. ( 8 1990): 1000 deutsche Redensarten. Mit Erklärungen und Anwendungsbeispielen.<br />

Berlin.<br />

30. WOTJAK, B. (1992): Verbale Phraseolexeme in System und Text. Tübingen.<br />

31. WOTJAK, B. (1994): Fuchs, die hast du ganz gestohlen: Zur auffälligen Vernetzung von Phraseologismen in der<br />

Textsorte Anekdote. In: B. Sandig (Hrsg.): EUROPHRAS 92. Tendenzen der Phraseologieforschung, Bochum (= Stu-<br />

dien zur Phraseologie und Parömiologie, 1), S. 619-648.<br />

32. WOTJAK, B. (1996): Redewendungen und Sprichwörter. Ein Buch mit sieben Siegeln? Einführung in den Themen-<br />

schwerpunkt. In: FD 15, S. 4-9.<br />

33. WOTJAK, B./RICHTER, M. ( 2 1993): sage und schreibe. Deutsche Phraseologismen in Theorie und Praxis. Leipzig,<br />

München.ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS<br />

Info Daf = Informationen Deutsch als Fremdsprache<br />

FD = Fremdsprache Deutsch<br />

DS = Deutsche Sprache<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


TRADUTTORE…<br />

DER FUNKTIONALE ANSATZ<br />

Zur theoretischen Diskussion über kulturell-soziale Zielsetzung<br />

und literaturhistorische Textvorlage<br />

Mihai Draganovici<br />

1. Einleitung<br />

Funktionale translationstheoretische Ansätze erheben die Forderung, der Translationsprozess<br />

solle sich an die zielkulturelle Situation anpassen, damit das aus diesem Prozess<br />

resultierende Translat – das heißt die jeweilige Übersetzung oder Verdolmetschung – in dieser<br />

Situation, für die es ja produziert wird, die gewünschte Funktion erfüllen kann.<br />

Diese Forderung beruht auf zwei nicht immer explizit formulierten Prämissen: die erste<br />

wäre die kulturell-soziale Gegebenheit und die zielkulturelle Gemeinschaft und die zweite die<br />

Praxis des professionellen Dolmetschens und Übersetzens und die in diesem Sinne verstandene<br />

Translation. Die letzte Forderung steht im Gegensatz zu der anderen traditionsreichen Form des<br />

Übersetzens, die allgemein als „philologisches Übersetzen“ bezeichnet wird. Dieses findet im<br />

Fremdsprachenunterricht in den philologischen Fakultäten der Universitäten statt und dient<br />

dort verschiedenen, nicht Praxis orientierten Zwecken: der Kontrolle des Textverständnisses<br />

oder der Beherrschung fremdsprachlichen Strukturen und Ausdrucksformen. Diese könnte man<br />

als metakommunikativ bezeichnen, weil sie die Voraussetzungen und Vollzugsformen der<br />

Kommunikation und nicht ihren Inhalt proritär in den Blick nehmen.<br />

Der Anfangspunkt einer Übersetzung wird sich immer im Ausgangstext befinden. Dieser (der<br />

AT) stellt eine dynamische Verbindung her zwischen Intention, sprachlichen Äußerungen, soziokulturellem<br />

Kontext, Bedeutung und Wirkung und so wie dieser. So schafft auch die Übersetzung<br />

eine neue dynamische Verbindung, die die kulturspezifische Konstellation von<br />

Wirkungsabsicht, Sprach- und Textformen, Inhalt und Sinn verarbeitet.<br />

2. Die ausgangskulturelle literar-historische Vorlage<br />

Der Mensch lebt in der Welt des Alltags, der Gedanken, Traditionen, Konventionen, in realen<br />

und fiktiven Welten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und mit einer<br />

gewissen Absicht verfasst jemand (mündlich oder schriftlich) einen Text. Den Verfasser könnte<br />

man als Produzenten des Textes bezeichnen 1 . Der Text bildet die wichtigste Einheit, die man im<br />

Fall einer Translation in Betracht ziehen muss, denn es sind nicht die Wörter oder die Sätze, die<br />

man übersetzt, sondern den Text als Ganzes. Ein Text muss also als eine ganze Gestalteinheit<br />

verstanden, bei der das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist und die Bezugnahme auf den<br />

Gesamthorizont von Situation und Kontext wichtig ist.<br />

1 vgl. Reiß/Vermeer 1991:18


Mihai Draganovici<br />

Die intendierte Absicht des produzierten Textes kann aber nicht in Erfüllung gehen ohne<br />

den fast genauso wichtigen anderen Teil, nämlich denjenigen für den der Text bestimmt ist.<br />

Dieser Rezipient 2 nimmt den Text wahr und je nach seinen Reaktionen kann man nachher sagen,<br />

ob der Text und das, was man kommunizieren wollte, gelungen sind. In diesem Fall findet<br />

eine Interaktion zwischen dem Empfänger und dem Verfasser statt und diese Interaktion kann<br />

als geglückt gelten, wenn es ein positives feed-back, das heißt im Sinne der Intention des Autors,<br />

gibt.<br />

Die Funktion eines Textes wird also nicht nur vom Produzenten bestimmt, sie kommt durch<br />

den tatsächlichen Empfänger zustande 3 . Nord nennt auch mehrere Faktoren, die die möglichen<br />

Textfunktionen beeinflussen können, wie z.B.: die situativen Bedingungen, aber auch die individuellen<br />

kommunikativen Bedingungen des Empfängers, die ihn zum Beispiel veranlassen, bei<br />

einem Text, der nicht als informativ gedacht war, vor allem die informativen Teile zu berücksichtigen.<br />

Wenn bislang von einzelnen Personen die Rede war, muss auch die Möglichkeit in<br />

Erwägung gezogen werden, dass ein Text nicht nur eine Funktion bekommt, sondern, je nach<br />

der persönlichen Einstellung, mehrere Funktionen übernehmen kann.<br />

Der funktionale translationstheoretische Ansatz fordert prinzipiell eine Funktionsgleichheit<br />

zwischen den ausgangs- und zielkulturellen Gegebenheiten, wobei gesagt werden sollte, dass<br />

eine Übersetzung auch eine geänderte Funktion übernehmen könnte, falls deren Ziel solcherart<br />

angegeben ist, dass eine solche Änderung erfolgen muss.<br />

570<br />

3. Die Übersetzung als zielkulturelles Ergebnis<br />

In vielen Arbeiten, die sich mit der theoretischen Auseinandersetzung im Bereich der Übersetzungstheorie<br />

befassen, treffen wir verschiedene Definitionen einer Übersetzung. Wenn man<br />

jenige von Wills in Betracht zieht 4 , ergeben sich folgende Bestimmungsmerkmale:<br />

➧ Beteiligt sind zwei Sprachen<br />

➧ Ausgangspunkt und Resultat des translatorischen Handelns sind Texte<br />

➧ zwischen Zieltext und Ausgangstext besteht eine Äquivalenzbeziehung.<br />

In diesem Fall werden aber nicht die kulturellen Hintergründe berücksichtigt. Die funktionale<br />

Translationstheorie ist der Ansicht, dass Sprache und Kultur eng miteinander verbunden<br />

sind. Der produzierte Text ist von inneren und äußeren Umständen abhängig, folglich kann man<br />

nicht überall x-beliebiges sagen 5 . Der Produzent, der Rezipient sind in dem Kontext einer Kultur<br />

eingebettet.<br />

Übersetzungen zeichnen sich also durch eine doppelte Bindung aus. Einerseits gibt es die<br />

Bindung an den Ausgangstext. Wenn man sie zu stark berücksichtigt, dann entsteht die Gefahr,<br />

dass der Zieltext für den Rezipienten unleserlich und unverständlich wird, also dass eine Wortfür-Wort<br />

Übersetzung entsteht. Andererseits gibt es eine Bindung an den Zieltext. Wenn man<br />

diese Bindung verabsolutiert, dann kann die Autonomie des Originaltextes verletzt werden und<br />

die Zieltexte stehen zum Ausgangstext nur noch in entfernter Beziehung.<br />

2 Der Rezipient ist in erster Linie der Übersetzer, der mit dem Ausgangstext unvermittelt in kontakt kommt. Nur in<br />

zweiter Linie wird die Rolle des Rezipientes von dem Leser (der Übersetzung) übernommen.<br />

3 vgl. Nord 1998:145.<br />

4 zit. aus Koller 1992:191.<br />

5 vgl. Stolze 1994:157.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Der funktionale Ansatz. Zielsetzung und literarhistorische Textvorlage<br />

Diese doppelte Bindung einer Übersetzung wird aber von der in 1978 von Vermeer gegründeten<br />

Skopostheorie erweitert. Er gründetete eine allgemeine Theorie der Translation, die<br />

durch einen funktionsorientierten Ansatz die Grundlage für ein neues Paradigma in der Translationswissenschaft<br />

bildet. Der Schwerpunkt wird auf das Ziel des translatorischen Handelns 6<br />

(Begriff, der von Holz-Mänttäri in 1984 festgelegt wurde) und auf den Translator als Experten,<br />

der für ein optimales Erreichen dieses Ziels verantwortlich ist, verlagert<br />

Wie jedes Handeln folgt auch das translatorische Handeln einem Ziel. Dieses Ziel, das man<br />

im Fall einer Übersetzung als Untersorte des translatorischen Handelns als Skopos bezeichnen<br />

kann 7 , wird als oberstes Primat der Translation betrachtet. (Man muss hier noch erwähnen, dass<br />

Skopos synonim mit den Ausdrücken Zweck, Ziel oder Funktion verwendet wird.) In diesem Fall<br />

stellt man sich nicht die Frage ob man handeln (übersetzen/dolmetschen), sondern wie und mit<br />

welchem Ziel man das tun soll.<br />

Wenn wir die Übersetzung als eine Aktion betrachten, können wir im Sinne der Skopostheorie<br />

auch über das „Glücken“ der Handlung und über den „Protest“ gegen sie sprechen 8 .<br />

Reiß und Vermeer (1991:108) sprechen von geglückter Aktion wenn kein Protest erfolgt gegen:<br />

➧ die Übermittlung (als Ereignis) und gegen die Art der Übermittlung<br />

➧ den gemeinten Sachverhalt als Informationsangebot<br />

➧ die Interpretation (d.h. Protest seitens des Produzenten gegen die Reaktion des Rezipienten)<br />

Interessant ist dabei, dass sich der Protest nicht nur gegen das Translat richten kann, sondern<br />

auch gegen das ausgangssprachliche Informationsangebot. Wenn man die obengenannten<br />

Fälle aus der Hinsicht der Skopostheorie analysiert, dann kann man im ersten Fall<br />

bemerken, dass der Protest nicht nur gegen den Übersetzer gerichtet werden kann, sondern<br />

auch gegen den Auftraggeber. Der letzte trifft z.B. die Entscheidung, ob die Übersetzung der AK<br />

oder ZK angepasst sein wird. Nur nachher wird der Übersetzer unter die Lupe genommen,<br />

wenn man die Übermittlungsart des Auftrags überprüft. Jetzt sprechen wir über den exklusiven<br />

Bereich des Fachmanns, in dem er gemäß Auftrag die, seiner Meinung nach, richtigen Mittel<br />

und Verfahren für das Glücken der Übersetzung ausgewählt hat. Der Protest gegen das<br />

Informationsangebot (der AT an sich) kann aber sowohl gegen den Übersetzer als auch gegen<br />

den Auftraggeber gerichtet sein. Man kann Kritik am ausgangssprachlichen Informationsangebot<br />

üben oder an der Art und Weise wie es erfolgt. Die letzte Art von Protest könnten wir als<br />

„inversen Protest“ bezeichnen. Das heißt, dass im Gegensatz zu den anderen Protesttypen, die<br />

vom Rezipient zum Auftraggeber oder Produzent erfolgten, ist diese Art eine, die sich gegen<br />

den Rezipienten richtet seitens des Produzenten. In diesem Falle ist es möglich, dass die Reaktion<br />

des Lesers nicht den ursprünglichen Absichten des Übersetzers entspricht.<br />

Falls kein Protest erfolgt, dann kann man eine Übersetzung als geglückt betrachten. Im<br />

Rahmen der Skopostheorie kann man schlussfolgern, dass das Ziel, der Skopos der Translation<br />

erreicht wurde.<br />

6 Über die Handlung sprechen Reiß/Vermeer in ihrer “Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie”, 1991:95:<br />

“Eine Handlung bezweckt die Erreichung eines Zieles und damit die Änderung eines bestehenden Zustandes. Die Motivation<br />

für eine Handlung besteht darin, dass das angesterbte Ziel höher eingeschetzt wird als der bestehende Zustand.”<br />

7 vgl. Vermeer 1992:82.<br />

8 vgl. Reiß/Vermeer 1991:106.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

571


572<br />

Mihai Draganovici<br />

Am Ende dieses Kapitels möchte ich noch ein für die Skopostheorie grundsätzliches Problem<br />

erwähnen und zwar den Skopos an sich. Viele bringen die funktionalen Translationstheorien<br />

und damit auch die Skopostheorie mit der Zielsprache oder Zielkultur in Verbindung, was<br />

grundsätzlich falsch ist. So wie Vermeer bemerkt, eine<br />

skoposadäquate Translation bedeutet nicht, dass an die Gepflogenheit einer Zielkultur adaptierend<br />

übersetzt werden muss (sie bedeutet wohl, dass unter gegebenen Umständen skoposgemäs adaptierend<br />

übersetzt werden kann). 9<br />

Dieses Ziel ist immer in einer Übersetzung anwesend und man muss nach ihm konsequent<br />

übersetzen. Es spielt keine Rolle ob man eine Ausgangstext getreue Übersetzung macht oder ob<br />

man adaptierend, sich an die Zielkultur anpassend, übersetzt (was meistens auch der Fall ist<br />

aber es ist nicht eine Regel). Die einzige wichtige Sache ist, dass man die richtige Übersetzung<br />

für den Ausgangstext findet, dem Ziel entsprechend<br />

Der erste, der dem Protest ausgesetzt werden kann, - seitens derjenigen, die die Übersetzung<br />

für misslungen halten - und derjenige der meistens für das Gelingen einer Übersetzung<br />

verantwortlich ist, ist der Übersetzer. Er ist nicht nur der Sender der Botschaft des AT, sondern<br />

produziert einen Text in der ZK, also schafft ein zilekulturelles Kommunikationsinstrument einer<br />

ausgangskulturellen Kommunikation. 10<br />

4. Der Translator als Kulturübermittler<br />

Voraussetzung für eine Translation ist in der Regel der Bedarf an interkultureller Kommunikation.<br />

Die Person, die das veranlasst ist der Auftraggeber, der dem Übersetzer die Aufgabe<br />

erteilt, die gewünschte Kommunikation zu ermöglichen. Im Sinne des funktionalen Ansatzes<br />

hat der Auftraggeber bestimmte Vorstellungen über die Funktion, die das Translat erfüllen soll,<br />

das heißt er legt den Skopos fest. Der Translator bekommt einen ausgangssprachlichen Text als<br />

Vorlage und wird Rezipient dieses Textes der Ausgangskultur 11 . Um ein genaues Verständnis zu<br />

erreichen, muss er ein sehr guter Kenner der Ausgangskultur sein. In der zweiten Etappe seines<br />

translatorischen Handelns muss er im Rahmen der Zielkultur einen funktionsadäquaten Text<br />

herstellen, mit Brücksichtigung des Zieles, das ihm vorgeschlagen wurde. Deshalb muss ein<br />

Translator ein guter Kenner beider Kulturen sein, er muss sogar, wenn möglich, bi-kulturell sein.<br />

Ursprünglich sprach man über einen puren linguistischen Transfer und Catford suchte noch<br />

„nach einem austauschbaren Sprachmaterial in einer Vergleichbaren Situation“ 12 . Später war<br />

man der Ansicht, dass eine Übersetzung vielmehr ein kultureller Transfer wäre. Damit ändert<br />

sich auch die Übersetzungsfunktion, denn ein Text wird jeweils in einer anderen Situation<br />

rezipiert und interpretiert.<br />

Es ist nicht möglich, Translation als Transkodierung toute simple der/einer Bedeutung eines Textes<br />

zu verstehen. Translation setzt Verstehen eines Textes, damit Interpretation des Gegenstandes<br />

„Text“ in einer Situation voraus. Damit ist Translation nicht nur an Bedeutung, sondern an Sinn/Gemeintes,<br />

also an Textsinn-in-Situation, gebunden. 13<br />

9<br />

vgl. Vermeer 1992:102<br />

10<br />

vgl. Nord 1991:13<br />

11<br />

vgl. Vermeer 1992:55<br />

12<br />

siehe Stolze 1994:160<br />

13<br />

siehe Reiß/Vermeer 1991:58<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Der funktionale Ansatz. Zielsetzung und literarhistorische Textvorlage<br />

Der als „Situation“ obengenannte Begriff bezeichnet den kulturellen Hintergrund, der von<br />

der Ausgangs-und Zielkultur dargestellt wird. Koller 14 macht eine konkrete Einteilung der Übersetzungsmöglichkeit<br />

bzw. -unmöglichkeit nach dem Kriterium der Übersetzbarkeit. Seiner<br />

Meinung nach hängt diese nicht von den Sprachen ab, sondern nur von den kulturellen Hintergründen.<br />

Zur Veranschaulichung seiner Theorie stellt er mehrere Schemata auf. Im ersten Extremfall,<br />

dort wo sich die AK mit der ZK deckt, ist eine Übersetzung zwischen zwei verschiedenen<br />

Sprachen durchaus möglich. Im anderen Extremfall, also wenn die AK von der ZK<br />

ganz verschieden ist, kann keine Übersetzung zustande kommen. Wie in jedem Extremfall, kann<br />

eine Verabsolutierung nicht der Wahrheit entsprechen und die Praxis hat bewiesen, dass z.B.<br />

eine Übersetzung auch im Fall der kulturellen Verschiedenheit möglich ist. Die Schemata sind<br />

aber bezeichnend für die Wichtigkeit, die dem jeweiligen kulturellen Hintergrund eingeräumt<br />

wird. Somit muss man die Kompetenz des professionellen Übersetzers innerhalb seines komplexen<br />

Handlungsrahmens, in dem er sich bewegt, festhalten: er soll anhand eines Ausgangstextes<br />

mit anderen sprachlichen Mitteln einen neuen Text verfassen, der für andere Rezipienten bestimmt<br />

ist und unter anderen kulturellen Gegebenheiten funktionieren soll als der Ausgangstext.<br />

Auf Grundlage dieser Kompetenz trägt der Translator die Veranrwortung für ein funktionsadäquates<br />

Handeln. Er ist in der Lage, auf Kultur-, Adressaten- und Situationsspezifik einzugehen,<br />

sich den Erwartungen der Zielkultur gemäß zu verhalten oder auch gegen sie zu verstoßen.<br />

5. Schlussfolgerung<br />

Der funktionale Ansatz und die praxisorientierte Betrachtung der Translation führen zur<br />

Einsicht, dass ein und derselbe Ausgangstext je nach Anforderungen der Zielsituation und der<br />

darin eingeschlossenen Rezipienten durchaus unterschiedlich zu übersetzen ist. Damit wird der<br />

Status des Ausgangstextes als des einzigen Maßstabs für die Qualität oder Adäquatheit der<br />

Übersetzung gebrochen. Der Ausgangstext bleibt zwar der erste Ring im Übersetzungsprozess,<br />

aber er wird entthront und die zielkulturelle Situation, für die eine Übersetzung zu produzieren<br />

ist, und die intendierte Funktion des Translats wird an seiner Stelle zur wichtigsten Leitlinie für<br />

den Translator. Der professionelle Übersetzer muss somit seine Fähigkeiten beweisen, wodurch<br />

er sich als ein guter Kenner sowohl der Ausgangskultur als auch der Zielkultur behaupten kann,<br />

und die Absicht des AT-Authors durchschaut, um sie – auch wenn vielleicht nicht immer gelungen<br />

- korrekt im ZT wiedergeben zu können. Diese Voraussetzungen erfüllt, so ist es<br />

möglich das Gelingen dieser komplexen Arbeit zu sichern.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

L i t e r a t u r :<br />

1. KOLLER, Werner ( 4 1992): Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Quelle&Meyer Verlag, Heidelberg-Wiesbaden<br />

2. NORD, Christiane (1991 2 ): Textanalyse und Übersetzen: theoretische Grundlagen, Julius Groos Verlag, Heidelberg<br />

3. REISS, Katharina/VERMEER, Hans ( 2 1991): Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Niemeyer Verlag,<br />

Tübingen<br />

4. SNELL-HORNBY, Mary u.a. (Hrsg.) (1998): Handbuch Translation, Stauffenburg Verlag, Tübingen<br />

5. STOLZE, Radegundis, (1994): Übersetzungstheorien – eine Einführung, Gunter Narr Verlag, Tübingen<br />

6. VERMEER, Hans J. ( 3 1992): Skopos und Translationsauftrag – Aufsätze, Verlag für interkulturelle Kommunikation,<br />

Frankfurt/Main<br />

14 vgl. Koller 1992:165<br />

573


WÖRTLICHE ODER FREIE ÜBERSETZUNG?<br />

Zum Streit über das “richtige” Übersetzen<br />

Gundula-Ulrike Fleischer<br />

Bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Äußerungen zum Übersetzen von -<br />

hauptsächlich - literarischen Texten, stößt man immer auf ein Problem, daß sich durch die ganze<br />

Geschichte der Übersetzungswissenschaft verfolgen läßt: Es handelt sich um das<br />

Spannungsfeld zwischen wörtlicher und freier Übersetzung. Benedetto Croce behauptete,<br />

zwischen den beiden Polen "Belle Infedeli" und "Brutte Fedeli" finde die Geschichte der Übersetzung<br />

statt. [STACKELBERG 1988, 16]<br />

In seiner Rede auf Wieland (Zu brüderlichem Andenken Wielands) am 18. Februar 1813<br />

stellte Goethe fest:<br />

Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns<br />

herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen<br />

macht uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände,<br />

seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen. [nach SDUN 1967, 54]<br />

Und bloß Monate später sieht auch Schleiermacher in seiner am 24. Juni 1813 gehaltenen<br />

Rede Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens zwei mögliche Vorgangsweisen für den<br />

Übersetzer:<br />

Entweder der Übersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen;<br />

oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.<br />

[SCHLEIERMACHER 1838, 218]<br />

Schleiermacher war Anhänger der erstgenannten Methode. Die Ursachen seiner Überzeugung<br />

sind in der Übersetzungsauffassung der deutschen Romantiker zu suchen, die<br />

ausgehend von dem Anspruch des Dichters, ein Schöpfer von Welten in seinem Werk sein zu<br />

dürfen, gegenüber dem Original als “Schöpfungs”-akt eine ganz andere Haltung einnehmen als<br />

die klassizistischen Vertreter der “Belles Infidèles”. Sie sind Anhänger der betont treuen<br />

Übersetzung, die sich in Deutschland so sehr einbürgerte, daß es wohl nicht falsch ist, mit<br />

Jürgen von Stackelberg zu behaupten, daß die Originaltreue “immer schon eine typischdeutsche<br />

Übersetzungsforderung war” [STACKELBERG 1988, 24].<br />

Schleiermacher spricht von zwei Übersetzungsarten, die er als Paraphrase und Nachbildung<br />

bezeichnet. Nachdem er diese beiden Grundpositionen definiert, "der Paraphrast verfährt mit<br />

den Elementen beider Sprachen, als ob sie mathematische Zeichen wären" und: "Die Nachbildung<br />

dagegen beugt sich unter der Irrationalität der Sprachen; sie gesteht, man könne von<br />

einem Kunstwerk der Rede kein Abbild in einer anderen Sprache hervorbringen, das in seinen<br />

einzelnen Teilen den einzelnen Teilen des Urbildes genau entspräche" [SCHLEIERMACHER 1838,<br />

217], weist er als erster auf ihre hermeneutische Natur hin, die sich negativ auf die Übersetzungsleistung<br />

auswirkt, und empfiehlt als Alternative eine Übertragung, die - soweit es die<br />

Zielsprache nur erlaubt - dem Original treu bleibt:<br />

Ein unerläßliches Erfordernis dieser Methode des Übersetzens ist eine Haltung der Sprache, die<br />

nicht nur alltäglich ist, sondern auch ahnden läßt, daß sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu<br />

einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen ist. [SCHLEIERMACHER 1838, 227]


Wörtliche oder freie Übersetzung? - Zum Streit über das “richtige” Übersetzen<br />

Aber auch Walter Benjamin und Ortega y Gasset [ORTEGA Y GASSET 1957] teilen diesen<br />

Standpunkt. Ihrer Meinung nach darf die Übersetzung keineswegs für ein Original gehalten<br />

werden, der Ausgangstext als Zeugnis einer fremden Sprache und Kultur muß beständig durchscheinen,<br />

auch wenn der Übersetzer dies nur erreicht, indem er seiner Muttersprache (Zielsprache)<br />

Gewalt antut, wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers<br />

fordert:<br />

Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax, und gerade sie erweist das Wort,<br />

nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des<br />

Originals, Wörtlichkeit die Arkade. [nach STÖRIG 1969, 166]<br />

Ortega geht noch weiter, indem er der Übersetzung jeden Anspruch auf Schönheit abspricht,<br />

denn sie soll kein Kunstwerk, sondern bloß ein Hilfsmittel zu Erkenntniszwecken sein.<br />

Zu einer ähnlichen Überzeugung gelangt auch Antoine Berman in seinem Essay La traduction<br />

et la lettre:<br />

Dans son domaine, le traducteur est possédé de l'esprit de fidélité et d'exactitude. C'est là sa passion,<br />

et c'est une passion étique, non pas littéraire ou esthétique. [BERMAN 1985, 87]<br />

Die entgegengesetzte Ansicht vertrat der Bibelübersetzer Martin Luther, der es sich leistete,<br />

mit dem "heiligen Wort" frei umzuspringen, dem Leitspruch "rem tene, verba sequuntur" folgend.<br />

Das wohl bekannteste Beispiel, mit dessen Hilfe er seine Entscheidung für die freie Übersetzung<br />

im Sendbrief vom Dolmetschen aus dem Jahre 1530 rechtfertigt, ist die Übertragung<br />

von "Ex abundántia cordis os lóquitur" [Matth. 12, 34] nicht mit dem wörtlichen "Aus dem<br />

Überfluß des Herzens redet der Mund", sondern mit dem deutsch klingenden "Wes das Herz voll<br />

ist, des gehet der Mund über", denn "so redet die Mutter im Haus und der gemeine Mann"<br />

[nach STÖRIG 1969, 21-22], für die seine Übersetzung gedacht ist.<br />

Es ist dies wohl das bekannteste Beispiel einer zielsprachlich orientierten Übertragung in<br />

die deutsche Sprache und ist besonders auffällig, weil die Bibelübersetzer bis dahin sich noch<br />

am strengsten an den Wortlaut hielten, nach dem Ausspruch Hieronymus’, des Autors der als<br />

Vulgata bekannten Bibelübertragung: “verborum ordo mysterium est”.<br />

Solch kategorische Standpunkte sind heutzutage die Ausnahme, der literarische Übersetzer<br />

ist meist darum bemüht, einen goldenen Mittelweg zu finden, der trotz zahlreicher Theoretisierungen<br />

auf diesem Gebiet, wegen der Mannigfaltigkeit der an ihn herantretenden Probleme<br />

doch oft ein persönlicher Entscheidungsprozeß bleibt, wie Ellen Elias-Bursac so treffend formuliert:<br />

Translation is a continual balancing act, an ongoing compromise between the voice of the original<br />

author and the voice of the translator, between the cultural framework of the original work and the<br />

translator's audience. [ELIAS-BURSAC 1988, 97]<br />

Im weiteren weist die Autorin auf die Gefahren sowohl der wörtlichen Übersetzung ("lack of<br />

spontaneity"), als auch auf jene einer zu freien Übersetzung hin ("it strays so far from the original<br />

that it can no longer be attributed to its author").<br />

Allgemein kann für die literarische Übersetzung die von Newmark stammende Maxime gelten:<br />

"Translate as Literally as Possible and as Freely as Necessary" [NEWMARK 1982], die leider<br />

durch ihre vage Formulierung die Entscheidung darüber, was nun möglich, bzw. notwendig ist,<br />

dem Gutdünken des Einzelnen überläßt.<br />

Konkretere Hinweise darüber, wie wörtlich oder wie frei übersetzt werden sollte, bietet Katharina<br />

Reiß. In ihrem Bestreben, erstmals objektive Kriterien zu einer Übersetzungskritik zu<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

575


Gundula-Ulrike Fleischer<br />

erstellen, unterscheidet sie auf der Skala ausgangstextorientierte - zieltextorientierte literarische<br />

Übersetzung unterschiedlichen Zwecken dienende Kategorien, wie Rohübersetzungen,<br />

Schul- und Studienausgaben, die "gelehrte" Übersetzung usw., wovon jede ihren Zielsetzungen<br />

entsprechenden Anforderungen zu genügen hat, die dann auch von der Übersetzungskritik in<br />

betracht gezogen werden müssen. [REISS 1986]<br />

Die Berücksichtigung des Zwecks, dem die Übersetzung dienen soll, bei der Wahl der Übersetzerposition,<br />

bzw. bei der Bewertung einer Übersetzung, wie sie heutzutage die Skopostheorie<br />

fordert, ist so neu nicht. Bereits Goethe verwendete die Zweckentsprechung als Kriterium seines<br />

Systematisierungsversuchs der Übertragungen:<br />

Es gibt dreierlei Arten Übersetzung. Die erste macht uns in unserem eigenen Sinne mit dem Auslande<br />

bekannt; eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste.[...] Eine zweite Epoche folgt hierauf, wo<br />

man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich<br />

anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich mit reinstem<br />

Wortverstand die parodistische nennen.[...] Weil man aber weder im Vollkommenen noch Unvollkommenen<br />

lange verharren kann, sondern eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen<br />

muß, so erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige<br />

nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt<br />

des andern, sondern an der Stelle des andern gelten soll. Diese Art erlitt anfangs den größten Widerstand;<br />

denn der Übersetzer, der sich fest an sein Original anschließt, gibt mehr oder weniger die<br />

Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst<br />

heranbilden muß. [GOETHE II, 255-256]<br />

Für die erste Art der Übertragung steht Luthers Bibelübersetzung, für die zweite die von<br />

Wieland oder den Franzosen gepflegte, freie Übersetzung, für die dritte hingegen Voß und die<br />

treuen Übersetzer Ariosts, Tassos, Shakespeares und Calderons, die Goethe durch seine Hierarchisierung<br />

zu weiteren treuen Übertragungen aus der Weltliteratur ermutigt. Es stellt sich die<br />

Frage, inwieweit der Begriff der treuen Übersetzung sich wirklich mit jenem der wörtlichen<br />

deckt und das insbesondere auf dem Gebiet der literarischen Übersetzung, wo das Wort nicht<br />

bloßer Informationsträger ist, sondern die dem Kunstwerk eigene Realität schafft, die der Übersetzer<br />

in die Zielsprache und -kultur herüberholen muß.<br />

576<br />

In einem Aufsatz über die westeuropäische Übersetzungstradition stellt José Lambert fest:<br />

Recent theories demonstrate that the opposition literal/free is rather naïve, and that every translation<br />

has to combine norms and models from the source and from the target system, perhaps even<br />

from still other surrounding systems. [LAMBERT 1988, 129]<br />

Auch Otto Kade erkennt, daß die Alternative wörtlich-frei zu einem künstlichen Gegensatz<br />

zwischen Inhalt und Form führt, weshalb er statt dessen eine organische Vision dieser beiden<br />

empfiehlt. [KADE 1968] Indem er sich zur Veranschaulichung unter anderem einer Ballade von<br />

François Villon, einer Interlinearversion und fünf deutscher Übersetzungen bedient, plädiert<br />

Rainer Kirsch, selbst Lyriker und Nachdichter, in seinem der Lyrik-Übersetzung gewidmeten<br />

Buch Das Wort und sein Schatten für die "funktionale Nachdichtung" als die angemessene Form<br />

der Übertragung von Poesie. Das bedeutet im Klartext:<br />

Ein Verfahren kann das andere ersetzen, wenn es für die poetische Mitteilung annähernd das gleiche<br />

leistet wie das originale, die Funktion eines Verfahrens kann in der Übertragung von anderen<br />

Bauteilen des Gedichts übernommen werden. [KIRSCH 1976, 84]<br />

Die hier zitierten Einstellungen der Übersetzer und Übersetzungstheoretiker aus ganz verschiedenen<br />

Jahrhunderten zeigen, daß es bisnoch zu keiner Einigung gekommen ist, was die<br />

Übersetzerposition betrifft. Die heutige Übersetzungsforschung ist darum bemüht, den Über-<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Wörtliche oder freie Übersetzung? - Zum Streit über das “richtige” Übersetzen<br />

setzungsvorgang wissenschaftlich zu fundieren und aus unterschiedlichen Perspektiven etwas<br />

zur Lösung des schon immerwährenden Streites beizutragen. Allgemeingültige Regeln konnten<br />

nicht aufgestellt werden, aber jede der zahlreichen Orientierungen in der zeitgenössischen<br />

Übersetzungswissenschaft hat ihren Beitrag zur Klärung dieses so umstrittenen Phänomens<br />

geleistet.<br />

Der Leipziger Schule [KADE 1968] liegt der materialistische Glaube an die unbestrittene<br />

Existenz von Entsprechungen für alle Begriffe einer Sprache in einer anderen zugrunde und die<br />

der maschinellen Übersetzung entliehene Behandlung der Übertragung als mechanischen<br />

Transfer. Eine solche Haltung erweist ihre schwachen Seiten im Falle der Übertragung von Literatur<br />

und der stark kulturell geprägten Texte.<br />

Konkrete Hinweise für die Übersetzung aus einer Sprache in die andere versuchen die Vertreter<br />

der Stylistique comparée [VINAY\DARBELNET 1958], der Autor der "translation rules"<br />

[NEWMARK 1988] und jener der "translation shifts" [CATFORD 1965] auf sprachvergleichender<br />

Basis zu erarbeiten. Doch auch hier sind dem Verfahren Grenzen gesetzt: nicht alle Situationen,<br />

die sich während einer konkreten Übersetzung ergeben, lassen sich voraussehen und insbesondere<br />

bei literarischen Übertragungen müssen oft extralinguale Faktoren berücksichtigt<br />

werden, wobei es vom Feingefühl des Übersetzers abhängt, ob er vertretbare Entsprechungen in<br />

der Zielsprache findet, da ihm starre Regeln nicht weiterhelfen können.<br />

Immer wieder rückt das Problem der Äquivalenz ins Blickfeld. Um bloß einige Nuancierungen<br />

zu nennen: "equivalent textual material" [CATFORD 1965], "closest natural equivalent" mit<br />

der Unterscheidung von "formal" und "dynamic equivalence" [NIDA 1964], "kommunikative<br />

Äquivalenz" [JÄGER 1975], "möglichst äquivalenter zielsprachlicher Text" [WILSS 1988] oder<br />

aber die Abschattierungen "denotative, konnotative, textnormative, pragmatische und formale<br />

Äquivalenz" [KOLLER 1979]. Diese Orientierung innerhalb der Übersetzungswissenschaft ist der<br />

Übersetzungsrealität bedeutend näher, weil sie auf einzelne Nuancen Wert legt und den Übersetzungsvorgang<br />

in seiner Dynamik und Kontextgebundenheit zu erfassen sucht.<br />

Um die Bestimmung spezifischer Kriterien zur Anfertigung und Bewertung von Übersetzungen<br />

geht es den Vertretern der textsortenorientierten Theorien [REISS 1986; KOLLER<br />

1992]. Sie sind auf einen textlinguistischen Ansatz zurückzuführen und eröffnen der Forschung<br />

Wege, die praxisorientierte Tendenz haben, da sie auf die Unterschiede einzelner zu übertragenden<br />

Texte eingehen. Diese Theorien können bei der Ausbildung von Berufsübersetzern<br />

große Dienste leisten.<br />

Andere Theorien verlagern den Forschungsschwerpunkt auf den kulturellen Austausch, der<br />

durch die Übersetzung stattfindet [REISS\VERMEER 1984], eine Orientierung die hauptsächlich<br />

bei der Übertragung literarischer Texte hilfreich ist.<br />

Funktional-pragmatischen Charakter hat die sogenannte "Skopostheorie", die alle Anforderungen<br />

dem durch die Übersetzung zu erfüllenden Zweck unterordnet [REISS\VERMEER<br />

1984] und auf dieser Grundlage einerseits dem Übersetzer die Wahl seines Standorts gegenüber<br />

dem Originaltext erleichtert, andrerseits aber auch objektive Wertungskriterien für die Übersetzung<br />

schafft.<br />

Nicht zuletzt wächst zunehmend das Interesse für die Erforschung des Anteils kognitiver<br />

Prozesse einerseits und intuitiver andrerseits im Rahmen des Übertragungsprozeßes, was zu<br />

einem psycholinguistischen Blickwinkel führt [WILSS 1988], der bei einer tieferen Erforschung<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

577


578<br />

Gundula-Ulrike Fleischer<br />

der Phänomene dem Übersetzer Aspekte bewußt macht, die er vorhin bloß intuitiv erfassen<br />

konnte. Dies ist ein vielversprechender Weg zur Verbesserung der Übersetzerleistung.<br />

Die hier geäußerten Gedanken zu einer Debatte, deren Ende bisher nicht vorauszusehen ist,<br />

und die angeführten Tendenzen der zeitgenössischen Übersetzungswissenschaft mit ihren Perspektiven<br />

unterstreichen noch einmal den äußerst komplexen Charakter der Übersetzung, der<br />

bei der gängigen Einstufung in wörtliche, beziehungsweise freie Übersetzung leider nur zu oft<br />

übersehen wird.<br />

L L i i t t e e r r a a t t u u r r :<br />

:<br />

1. BERMAN, Antoine, La traduction et la lettre, in: les tours de babel, Mauvezin: Trans-Europ-Repress, 1985<br />

2. CATFORD, J. C., A Linguistic Theory of Translation, London, 1965<br />

3. ELIAS-BURSAC, Ellen, Translation and Creativity: The Importance of Writing for the Translator, in: Hg. Paul Nekeman,<br />

Translation, our future, Maastricht: Euroterm, 1988<br />

4. GOETHE, Johann Wolfgang, Werke, Hamburger Ausgabe, Hg. E. Trunz, Hamburg, 1959f., II<br />

5. JÄGER, G., Translation und Translationslinguistik, Halle (Saale), 1975<br />

6. KADE, Otto, Zufall und Gesetzmäßigkeit in der Übersetzung, Leipzig, 1968<br />

7. KIRSCH, Rainer, Das Wort und seine Strahlung, Berlin und Weimar: Aufbau, 1976<br />

8. KOLLER, Werner, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Heidelberg, 1979<br />

9. KOLLER, Werner, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Heidelberg/Wiesbaden, 1992<br />

10. LAMBERT, José, West-European Traditions in Translational Policy: A Report on Research in Progress in: Hg. Paul<br />

Nekeman, Translation, our future, Maastricht: Euroterm, 1988<br />

11. NEWMARK, Peter, Approaches to Translation, Oxford: Pergamon, 1982<br />

12. NEWMARK, Peter, A Textbook of Translation, London, 1988<br />

13. NIDA, Eugene A., Toward a Science of Translating. With Special Reference to Principles and Procedures Involved in<br />

Bible Translating, Leiden, 1964<br />

14. ORTEGA Y GASSET, José, Miseria y Esplendor de la Traducción. Elend und Glanz der Übersetzung, München: Langewiesche-Brandt,<br />

1957<br />

15. REISS, Katharina, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, München: Max Hueber, 1986<br />

16. REISS, Katharina/VERMEER, Hans J., Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen: Niemeyer,<br />

1984<br />

17. SCHLEIERMACHER, Friedrich Ernst, Sämtliche Werke, Berlin, 1838, II<br />

18. SDUN, Winfried, Probleme und Theorien des Übersetzens, München: Max Hueber, 1967<br />

19. STACKELBERG, Jürgen von, Blüte und Niedergang der "Belles Infidèles", in: Hg. Harald Kittel, Die literarische<br />

Übersetzung. Stand und Perspektiven ihrer Erforschung, Berlin: Erich Schmidt, 1988<br />

20. STÖRIG, Hans Joachim, Das Problem des Übersetzens, Darmstadt, 1969<br />

21. VINAY, J. P./DARBELNET, J., Stylistique comparée du français et de l'anglais. Méthode de traduction, Paris, 1958<br />

22. WILSS, Wolfram, Kognition und Übersetzen. Zu Theorie und Praxis der menschlichen und maschinellen Übersetzung,<br />

Tübingen: Niemeyer, 1988<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


MALTRÄTIEREN DER ZIEL<strong>SPRACHE</strong>:<br />

Kreativität in der Übersetzung relativer Aausgangssprachkenntnisse<br />

(L. N. Tolstoi, Die Kindheit)<br />

Petru Forna / Misiriantu Sanda<br />

„Kreativität” in der Übersetzung ist, obwohl von einigen Autoren verwendet, ein fremdes<br />

Wort in der Übersetzungswissenschaft. Derart fremd, daß das Stichwort „Kreativität” in der<br />

Arbeitsbibliographie Übersetzen (D. LEHMANN 1982) fehlt. Aber auch heute noch gilt dieser<br />

Begriff als „terra incognita”, so wie die Stichwörter „Problemlösung”, „Entscheidungsprozeß”<br />

und „Intuition” (W. WILSS 1988). GUILFORD, der als Begründer der Kreativitätsforschung gilt<br />

(1950), hat darauf aufmerksam gemacht (1968), daß die Kreativitätsforschung noch immer ein<br />

problematisches Gebiet der Psychologie mit einer Vielzahl verschiedener Forschungsmethoden,<br />

Forschungsperspektiven und Forschungsziele sei. Inzwischen hat sich an dieser Situation nichts<br />

Entscheidendes geändert. Kreativität ist noch immer ein smoke-screen-Begriff; dies hängt u.a.<br />

auch damit zusammen, daß klare begriffliche und definitorische Unterscheidungen zwischen<br />

Kreativität, Produktivität, Originalität und Imagination fehlen (SCHOTTLAENDER 1972; McFAR-<br />

LAND 1985). W. WILSS (1988), führt in diesem Zusammenhang aus:<br />

1. Wenn wir unser gegenwätiges Wissen über Kreativität zusammenfassen, können wir, vereinfacht<br />

formuliert, folgende Feststellungen treffen: Kreativität hat etwas mit Intelligenz zu<br />

tun, aber daraus die Gleichung „höherer Intelligenzquotient = höherer Kreativitäts-Quotient“<br />

abzuleiten ist nach den Erkenntnissen der Kreativitätsforschung falsch.<br />

2. Eine „creatio ex nihilo“ gibt es nicht; Kreativität ist, wie Intuition, immer wissens- und<br />

erfahrungsbasiert; sie setzt ein bestimmtes Maß an Problemverständnis voraus und artikuliert<br />

sich im Entwurf und in der Durchführung von Verhaltensplänen. Augenfällig ist die Wissens-<br />

und Erfahrungsbasiertheit kreativer Handlungsweisen in sog. „brain storming“-Diskussionen.<br />

3. Kreativität ist immer zielgerichtet und wertorientiert; Kreativität ist also nicht identisch<br />

mit einer ziellosen, wertindiffernten Originalität. Kreativität ist so etwas wie eine irrationelle,<br />

nicht mechanisierbare Form der Rationalität. Aber sie ist nicht identisch mit einem „ungesteuerten<br />

Luxurieren“ der Phantasie.<br />

4. Es gibt ganz unterschiedliche Manifestationen der Kreativität, z.B. künstlerische, wissenschaftliche,<br />

technische, organisatorische, didaktische, theoretische und praktische Kreativität.<br />

Ein „kreativitätsübergreifendes“ Merkmal ist die Fähigkeit zur „innovatorischen“, „nichtbehavioristischen“<br />

Kombination von bislang unverbundenen Ideen und Sachverhalten. Nicht<br />

einmal Chomsky ist es geglückt, einen kohärenten, überzeugenden Begriff sprachlicher<br />

Kreativität zu entwickeln. Es ist deshalb kein Zufall, daß er Kreativität einmal „a mysterious<br />

ability“ genannt hat.


Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />

Übersetzungskreativität ist noch weiterhin eine „terra incognita“. Das läßt sich u.a. an der<br />

Tatsache ablesen, daß in der schon erwähnten „Arbeitsbibliographie Übersetzen“ das Stichwort<br />

„Kreativität“ fehlt.<br />

Man muß aber noch die folgende weitverbreitete Vorstellung von den Voraussetzungen und<br />

Bedingungen des Übersetzens vor Augen halten, um die Abstinenz der ÜW auf diesem Gebiet<br />

verstehen zu können: Die Übersetzungsfähigkeit gehört, wie die Fähigkeit zum Erlernen einer<br />

oder mehreren Fremdsprachen, zur mentalen “Grundausstattung“ des Menschen. Sie kann von<br />

ihm im Rahmen eines mehr oder minder systematischen Trainings zu einer interlingualen<br />

Sprachtechnik ausgebaut werden.<br />

Hier und da gibt es zwar in der Fachliteratur Hinweise darauf, daß Übersetzen ein kreativitätsbestimmter<br />

Vorgang ist, aber diese Bemerkungen sind nicht ausschlaggebend, wenn man<br />

wissen möchte, was denn das Charakteristikum der Übersetzungskreativität ist. Sie lassen nicht<br />

erkennen, ob mit Übersetzungskreativität eine Art interlingualer Disponibilität oder eine vage<br />

Umschreibung der im konkreten Übersetzungsvorgang wirksamen übersetzerischen „black box“<br />

ist. Wenn Versuche zur Definition des Begriffs der Übersetzungskreativität gemacht werden,<br />

wird dessen Komplexität durch die Inanspruchsnahme informationstheoretischer Begriffe überspielt.<br />

Die Unsicherheit bei der Bestimmung des Begriffs der Übersetzungskreativität hat mehrere<br />

Ursachen (WILSS 1988):<br />

Erstens: Übersetzen ist eine spezifische Form der Verbindung von Verstehen und Erfinden.<br />

Im Übersetzungsprozeß manifestiert sich eine spezifische Form sprachlicher Kreativität - hier<br />

im individualpsychologischen, nicht im generativen Sinn verstanden. Übersetzungskreativität ist<br />

ein schillender Begriff. Man kann sie weder begrifflich packen noch exakt messen, gewichten<br />

oder beschreiben. Welcher unserer geistigen Kräfte wollen wir sie zuordnen? Kreativität ist<br />

offenbar ein mentales Superdatum, in welchem Vernunft, Verstand, Intuition und Phantasie<br />

integrativ zusammenwirken. Kreativität im allgemeinen und Übersetzungskreativität im besonderen<br />

lassen sich nicht vorherbestimmen. Man kann so gut wie nicht vorhersagen, was wir<br />

als Übersetzer morgen an kreativen Einfällen haben werden und ob wir mit unserem Kreativitätespotential<br />

dem zu übersetzenden Text gerecht werden oder nicht.<br />

Zweitens: Man kann die Meinung vertreten, daß Kreativität im Widerspruch zum Wesen des<br />

Übersetzungsprozesses steht. Sein Ziel ist die Nachbildung eines Ausgangstextes in einer ZS.<br />

Aber ein Übersetzer muß seine eigenen mentalen Kreativitätsressourcen aktivieren, um in einer<br />

spezifischen Übersetzungssituation in semantischer, funktionaler und pragmatischer Hinsicht<br />

ein Ebenbild des Ausgangstextes zu erreichen. Übersetzen ist eine „transformative“ Tätigkeit.<br />

Sie steht also prinzipiell im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Re-Kreativität.<br />

Drittens: Übersetzungskreativität ist weder auf induktivem noch auf deduktivem Weg voll<br />

objektivierbar; es läßt sich kein theoretisch fundierter und empirisch eindeutig überprüfbarer<br />

übersetzungskreativer Beschreibungs- und Erklärungszusammenhang entwickeln. Für die Volatilität<br />

des Begriffs der Übersetzungskreativität spricht auch, daß bis heute nicht entschieden<br />

ist, ob Übersetzen eine Kunst, eine Fertigkeit oder ein wissenschaftliches Unterfangen im Sinne<br />

einer sachverhalt- und text(typ)bezogenen Methodologie ist (NIDA 1976).<br />

Viertens: Es gibt offenbar keinen homogenen Begriff von Übersetzungskreativität. Man muß<br />

in der Übersetzungspraxis verschiedene Kreativitätsebenen, Kreativitätsbereiche und Kreativitätsmanifestationen<br />

ansetzen (SASTRI 1973). Die Relativität des Begriffs der Übersetzungs-<br />

580<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />

kreativität ist ungefähr so vage wie die Relativität der Zuordnung eines zu übersetzenden Textes<br />

zu einem bestimmten Schwierigkeitsgrad (WILSS 1988).<br />

Die Relativität des Kreativirätsbegriffs wird deutlicher, wenn man den diesen texttypspezifisch<br />

differenziert. Denn der Übersetzer sieht nicht alle übersetzungsrelevanten Texte durch<br />

dasselbe Fadenkreuz der Kreativität. In literarischen Texten ist das Sender/Empfänger-Verhältnis<br />

asymmetrisch, d.h., der Übersetzer als Empfänger eines literarischen Textes reagiert auf<br />

einen solchen Text nicht, jedenfalls nicht immer, auf vorhersagbare Weise. Das gilt vor allem<br />

für lyrische Texte, die MAYER als „Momentaufnahmen des sozialen Geschehens“ (1980) bezeichnet.<br />

Das unterschiedliche Reaktionsverhalten läßt sich anhand verschiedener Übersetzungen ein<br />

und desselben literarischen Werkes gut dokumentieren. Ein literarischer Text steht nicht einem<br />

beiden Kommunikationspartnern, dem Ausgangs-Autor und dem Übersetzer, gleichermaßen<br />

bewußten und bekannten Erwartungshorizont zur Verfügung; das Einverständnis über eine<br />

literarische Übersetzungssituation wird erst über „Irritation“ und auf dem Weg hermeneutischer<br />

Textbewältigung hergestellt (WILSS 1988).<br />

Literarische Texte sind u.U. extrem „rücksichtslos“. Sie verkünden keine verordneten Meinungen.<br />

Sie können durchaus so beschaffen sein, daß der Übersetzer ins Leere läuft, daß er<br />

leere Stellen ausfüllen, Ungesagtes, nur Angedeutetes ergänzen, einen Text gleichsam „gegen<br />

den Strich“ lesen muß (WILSS 1988). Voraussetzung dafür ist, daß der Übersetzer eines literarischen<br />

Textes bereit ist, sein alltagssprachliches Textverständnis, seine eigene Erfahrungswelt<br />

in Frage zu stellen und sich in die vom Autor des Ausgangstextes intendierten Sinnzusammenhänge<br />

hineinzudenken. Literarische Texte stehen außerhalb der Wahr/Falsch-Dichotomie. Johann<br />

Wolfgang von Goethes Ausspruch „das Gedichtete behauptet sein Recht wie das Geschehene“<br />

erweist literarische Texte als komplizierte Ereignisse, denen mit einer<br />

übersetzerischen Standardmethode nicht beizukommen ist (REICHERT 1967).<br />

Es ist also einleuchtend, daß die wörtliche Übersetzung unter übersetzungskreativem<br />

Aspekt weniger aufwendig ist als die nichtwörtliche Übersetzung. Es muß auch dem Umstand<br />

Rechnung getragen werden, daß der Übersetzer, vor allem der Anfänger, auch dort wörtlich<br />

übersetzt, wo er nur mit einer nichtwörtlichen Übersetzung interferenzfrei sein Ziel erreichen<br />

könnte. Denn wörtliche Übersetzungsprozeduren können nur dort praktiziert werden, wo zwischen<br />

AS und ZS ein struktureller (syntaktischer) Gleichgewichtszustand herrscht.<br />

Bei wörtlichen Übersetzungen reduziert sich der Transferaufwand auf die Aktualisierung<br />

von Verhaltensschemata. Wo wörtlich übersetzt wird, tritt die Unidirektionalität des Übersetzungsprozesses<br />

außer Kraft. Der Übersetzer braucht im Grunde nicht mehr zu leisten, als das<br />

betreffende Textsegment substitutiv auf die ZS zu projizieren. Dies läßt den Schluß zu, daß das<br />

zahlenmäßige Verhältnis von wörtlichen Übersetzungsprozeduren und ZS zwingend vorgeschriebenen<br />

nichtwörtlichen Übersetzungsprozeduren ein wichtiges Kriterium für den<br />

Schwierigkeitsgrad eines Textes sein kann. Die nichtwörtlichen Übersetzungsprozeduren<br />

resultieren aus interlingualen Konfliktsituationen. Die AS und ZS Segmente sind syntaktisch,<br />

lexikalisch, idiomatisch oder soziokulturell divergent.<br />

Wie wörtliche Übersetzungsprozeduren, so sind auch nichtwörtliche Übersetzuungsprozeduren<br />

erklärbar. D.h., der Übersetzer kann in der Regel Auskunft darüber geben (oder sollte<br />

zumindest Auskunft darüber geben können), warum er zur Erreichung eines akzeptablen Übersetzungsergebnisses<br />

auf eine nichtwörtliche Übersetzungsprozedur zurückgegriffen hat. Dies ist<br />

immer dann der Fall, wenn aus sprachsystematischen oder gebrauchsnormativen Gründen eine<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

581


Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />

Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen AS und ZS fehlt und eine wörtliche Übersetzung einen<br />

eindeutigen Verstoß gegen die syntaktischen, lexikalischen, idiomatischen und soziokulturellen<br />

Regelapparate der ZS zur Folge hätte.<br />

Während wörtliche Übersetzungsprozeduren dem Übersetzer leichter von der Hand gehen,<br />

weil er AS Textsegmente auf die ZS direkt abbilden kann und im Rahmen der ZS Textkonzeptionalisierung<br />

nur einen minimalen Transferaufwand investieren muß, erfordern nichtwörtliche<br />

Übersetzungsprozeduren oft ein verlhältnismäßig hohes Maß an kreativer Energie und intertextueller<br />

Sprachhandlungskompetenz.<br />

Ein kreativitätsrelevantes Problem ist eben der Umstand, daß man bei der Übersetzung ein<br />

und desselben Textes durch verschiedene Übersetzer mit einem u.U. breiten Spektrum formal<br />

verschiedener, qualitativ aber (ungefähr) gleichrangiger ZS-Versionen rechnen muß. Aber der<br />

Bezugspunkt für interlinguale Kommunikation ist nicht eine wie immer motivierte authentische<br />

Mitteilungsabsicht, sondern ein as vorformulierter Text, der für den Übersetzer Handlungsanweisungscharakter<br />

besitzt.<br />

Der Ausgangstext steuert das Verhalten des Überstzers. Gäbe es keinen Originaltext, gäbe es<br />

keine Übersetzung. Die Aufgabe des Übersetzers beasteht darin, unter übersetzungssituationsbezogener<br />

Aktivierung seiner kreativer Möglichkeiten auf dem Weg über einen u.U. höchst<br />

komplizierten intertextuellen Balanceakt ein funktionelles Gleichgewicht zwischen Ausgangs-<br />

und Zieltext herzustellen.<br />

Der Übersetzer gewährleistet dadurch die Voraussetzungen für ein Informations-kontinuum<br />

zwischen zwei ihm oft unbekannten Kommunikationspartnern. Dabei verläßt sich der Überstzer<br />

in seinem Handeln vorwiegend oder ausschließlich auf seinem übersetzerischen Erfahrungsbereich;<br />

er lernt im Laufe der Zeit abzuschätzen, wieviel Kreativität er in die sachgerechte<br />

Lösung eines Übersetzungsauftrags investieren muß und in welchem Umfang er interlinguale<br />

Zuordungsstereotypen aktivieren kann (WILSS 1988).<br />

Doch sind im Gegensatz zu Übersetzungsmethoden die Übersetzungstechniken durch Routinertheit<br />

und Wiederholbarkeit geprägte übersetzerische Verhaltensweisen, in denen abstrakte<br />

Gedächnisinhalte in konkreten Handlungszusammenhängen automatisch aktiviert werden.<br />

Übersetzerisches Routinenverhalten ist das Gegenteil einen übersetzerischen Konfliktlösungsproblems;<br />

es beruht auf dem Prinzip, daß unter gleichen oder zumindest vergleichbaren übersetzerischen<br />

Bedingungen bei ökonomischem übersetzerischen Mittelansatz situationsunabhängig<br />

ein gleiches oder zumindest vergeichbares Ergebnis erzielt werden kann. Übersetzungstechniken<br />

setzen eine „allmähliche Sedimentierung eingeübter Praxisvollzüge“ ((BUBNER 1984)<br />

voraus, die auf Selbstregulierungsmechanismen beruhen, in denen „ursprünglich bewußtseinspflichtige<br />

Bestandteile der psychischen Struktur aus dem Bewußtsein zurücktreten (HACKER<br />

1978). Übersetzungstechniken repräsentieren eine spezifische Form standarsdisierter Informationsverarbeitung,<br />

Sie ermöglichen eine invariante, auf jeden fall nur begrenzt variable Zuordnung<br />

von Input und Output und verlangen eine Relativierung der Festsellung, daß „in einem<br />

Wissenschafsbereich (wie dem der Übersetzungswissenschaft) wissenschaftliche Kriterien wie<br />

Objektivität und Wiederholbarkeit nicht sinnvoll angewandt werden können (MUDERSBACH<br />

1987). Übersetzungstechniken sind das Ergebnis von Lernprozessen (WILSS 1988). Sie beruhen<br />

auf Erinnerungsfaktoren.<br />

Der Übersetzer vergegenwärtigt sich in seinem Langzeitgedächtnis verfestigte Handlungsschemata<br />

und setzt diese bei der Erreichung seines Handlungszieles ein. Dadurch daß Übersetzungstechniken<br />

weithin regelhafter Natur sind, werden sie in bestimmtem Umfang vorhersagbar.<br />

Diese Vorhersagbarkeit übt eine Entlastungsfunktion aus. Der Übersetzer kann von<br />

vorgegebenen Handlungsmustern Gebrauch machen, oder er kann von ihm für geeignet und<br />

582<br />

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Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />

unverwechselbar gehaltene Textbausteine zu neuen überstzerischen Handlungsmustern<br />

zusammnesetzen (DANIEL 1981). Zu beachten ist allerdings, daß eine solche Verhaltensweise<br />

nicht dispositionell gesteuert, sondern sprach- und text(typ)determiniert ist.<br />

Übersetzungstechniken sind zu Gewohnheitstätigkeiten (habits) verfertigte Transfermechanismen<br />

(WILSS 1988), die allerdings nur dann praktiziert werden können, wenn der<br />

Übersetzer über eine ausgeprägte interlinguale „Framekomptenz“ (WEGNER 1984) verfügt.<br />

Diese – bewußt oder unbewußt aktivierte - „Framekompetenz“ baut sich allmählich durch<br />

induktive Sammlung vereinzelter Beobachtungen zu einem verläßlichen Spurensystem auf und<br />

wird so nach dem Prinzip der „increasing-strength hypothesis“ (WICKELGREN 1979) Teil eines<br />

übersetzerischen Handlungskalküls, das prototypisches Denken und Formulieren ermöglicht.<br />

Es setzt voraus, daß es zwischen as und zs Ausdrucksinventaren strukturhafte oder strukturierbare<br />

Äquivalenzbeziehungen gibt, die der Übersetzer text(typ)spezifisch mehr oder minder<br />

unreflektiert aus seinem Gedächtnis abzurufen imsande ist (TOMMOLA 1085). Diese Überlegungen<br />

verweisen auf COSERIUs (1970) (an ARISTOTELES anknüpfende) Unterscheidung zwischen<br />

nichtkreativen Handlungen, die eine schon gegebene Dynamis bloß anwenden, und der<br />

schöpferischen Tätigkeit, die der Dynamis vorausgeht. WILSS(1988) glaubt, daß COSERIU unter<br />

der Anwendung einer schon vorgegebenen Dynamik die Entwicklung und die Konsolidierung<br />

von standardisierbaren lexikalischen, idiomatischen und syntaktischen Übersetzungsprozessen<br />

zu Übersetzungstechniken versteht, und unter kreativen Handlungen, die der Dynamik vorausgehen,<br />

eine originalitätsbestimmte Übersetzungstätigkeit, wie sie sich, vereinfacht formuliert,<br />

in allen „nichtformatierten“ Texten manifestiert. Es ist aber zu bezweifeln, daß die Anwendung<br />

einer schon vorgegebenen Dynamik als nichtkreativ zu bezeichnen wäre. Man könnte umgekehrt<br />

argumentieren und das Wissen um die vorgegebene Dynamik geradezu als<br />

Vorbedingung für eine bestimmte (sekundäre) Art übersetzerischer Kreativität betrachten, für<br />

die ALLEN (1982) den Begriff „ostinatio“ (das Erwartbare) im Gegensatz zu „capriccio“ (das<br />

Nichterwartbare) geprägt hat.<br />

Also: In übersetzerischen Handlungszusammenhängen ist die Übersetzungskreativität auf<br />

zweierlei Weise virulent: sie bringt einerseits Ordnung und Stabilität in übersetzerisches Verhalten.<br />

Das entscheidende Merlkmal dieser Art von Übersetzungskreativität ist ihre Kraft, „Regelmäßigkeit<br />

im Handeln zu stiften. Diese Kraft ist in der Gemeinschaft verankert. . . Wo diese<br />

gemeinschaftliche Verankerung fehlt, ist auch nicht mit einer sicheren Geregeltheit des Handelns<br />

durch Normen zu rechnen“ (MÜNCH 1984).<br />

Übersetzungskreativität setzt andererseits Kräfte frei, durch die sie die Dynamik des Übersetzers<br />

außerhalb einer soziotechnischen Verhaltenspragmatik mit einer kollektivistischen<br />

übersetzerischen Grundhaltung verwirklichen kann. Stabilität und Inovation widersprechen sich<br />

nicht. Sie sind komplementäre Manifestationen eines sich an den Gegebenheiten des jeweiligen<br />

Übersetzungsauftrags orientierenden Übersetzerverhaltens. Übersetzerische Routine wird ergänzt<br />

durch einen übersetzerischen „Möglichkeitssinn“, der die beklemmende Vision einer total<br />

durchrationalisierten übersetzerischen Praxis mit durchgängig praktizierten festen Denk- und<br />

Ausdrucksschemata als gegenstandslos erweist (WILSS 1988). Man kann den übersetzerischen<br />

Produktionsprozeß nicht vollumfänglich dem Prinzip der Maschinenlogik unterwerfen. Neben<br />

vorhersagbaren, typisierbaren Übersetzungsprozessen gibt es auch nicht vorhersagbare, nicht<br />

„generierbare“, gleichsam „unbefestigte“ Übersetzungsprozesse außerhalb eines „instituierten“<br />

Sprachgebrauchs mit geregeltem Erwartungshorizont (WILSS 1988). Für Übersetzen gibt es<br />

keinen operativen Blankoschek. Der Übersetzer hält sich viele Wegrichtungen offen. Sein Erfindungsreichtum<br />

ist, jedenfalls in literarischen Texten, fast unauslotbar.<br />

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Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />

Auch deswegen ist es sinnwidrig, immer und überall zu allgemeinen Regeln übersetzerischen<br />

Geschehens vorstoßen zu wollen. Praktisch kommt es darauf an, die jeweilige<br />

übersetzerische Gesamtsituation in all ihren Eigentümlichkeiten möglichst präzise zu erfassen<br />

und in der ZS durch Aktivierung aller kreativen Resourcen möglichst konturscharf und<br />

unverfälscht wiederzugeben. Die sprachlichen Rollen sind uns verordnet. Übersetzen ist eine Art<br />

sprachliches Rollenspiel. Aber gerade im Bewußtsein dieses Rollenspiels eröffnen sich dem<br />

Übersetzer Möglichkeiten und Perspektiven eines kreativen Verhaltens.<br />

*<br />

* * *<br />

*<br />

Graf Leo Tolstoi (1828-1910) ist das größte epische Naturgenie des 19. Jahrhunderts, Inbegriff<br />

russischen Wesens bis in den ungelösten Zwiespalt von Welt und Gott. Aus russischem<br />

Hochadel - auch von der Mutter her, einer Prinzessin Wolkonski - stammend, verlebte er glückliche<br />

Kinderjahre, die er so wunderbar in seiner Kindheit beschreibt. Er beherrschte die deutsche<br />

Sprache wie ein Muttersprachler, da er von klein auf diese Sprache gebrauchte. Und weil das in<br />

den adligen Familien Rußlands normal war. Auch seine Eltern waren der deutschen Sprache<br />

derart mächtig, daß sie den Geschwistern Tolstoi manchmal „verdächtig“ wurden, insbesondere<br />

wenn sie im Anlaut statt „G“ „J“gebrauchten. Das hing aber vom Erzieher ab. Graf Tolstoi und<br />

seine Geschwister sprachen aber ein „Standard-Deutsch“, weil ihr Erzieher aus einer Gegend<br />

Deutschlands kam, die die Normen der Schriftsprache durchsetzte. Alles was von Graf Tolstoi in<br />

deutscher Sprache geschrieben wurde, ist einwandfrei. Hier ein paar Beispiele aus seiner Kindheit,<br />

die das beweisen sollen:<br />

Auf, Kinder, auf. . . s'ist Zeit!<br />

Sind Sie bald fertig?<br />

Von allen Leidenschaften die grausamste ist die Undankbarkeit.<br />

Das Unglück verfolgte mich schon im Schosse meiner Mutter.<br />

In meinen Adern fliesst das edle Blut der Grafen von Sommerblat.<br />

Ich war ein Fremder in meiner eigenen Familie.<br />

Trachte nur ein ehrlicher Deutscher zu werden, sagte sie, und der liebe Gott wird dich nicht verlassen.<br />

Ich hatte einen einzigen Sohn und von diesem muß ich mich trennen.<br />

Du bist ein braver Bursche, sagte mein Vater und küsste mich.<br />

Und wir verteidigten unser Vaterland bis auf den letzten Tropfen Blut.<br />

Ich sprang ins Wasser, kletterte auf die andere Seite und machte mich aus dem Staube.<br />

Ich dankte dem Allmächtigen Gott für Seine Barmherzigkeit und mit beruhigtem Gefühl schlief ich ein.<br />

Ich nahm meinen Mantelsack und Beutel und sprang zum Fenster hinaus.<br />

Die deutsche Sprache verdankt er seinem Erzieher Karl Ivanitsch Mauer, den er liebte, wie<br />

wenige Personen in seinem weltlichen Dasein. Er nennt ihn bald „Erzieher“, bald „Djatka“, bald<br />

„Lehrer“. Und auch wenn manchmal eine quasi-herablassende Haltung Karl Ivanitsch gegenüber<br />

zu spüren ist – normal für den Sprößling einer solchen Familie - ist die Liebe für ihn echt<br />

und die Dankbarkeit fraglos. Sätze, wie die oben erwähnten, machten den Übersetzern überhaupt<br />

keine Schwierigkeiten, höchstens diejenigen, die bei einer Translation üblich sind. Also in<br />

Fußnhoten eine ziemlich getreue Wiedergabe zu geben. Aber Karl Ivanitsch Mauer spricht auch<br />

Russisch. Natürlich nicht besonders gut, was verständlich ist. Er macht Fehler, die „normal“ für<br />

einen Nichtmuttersprachler sind.<br />

Eben diese Fehler beschäftigen uns. Denn sie sind charakteristisch für einen, der nicht sehr<br />

gut Russisch spricht und können nur „kreativ“ in eine andere Sprache übersetzt werden. Der<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />

Leser des betereffenden Textes soll verstehen, daß dort jemand spricht, der die Sprache, in die<br />

die Übersetzung gemacht worden ist, nicht vollständig beherrscht. Was Karl Ivanitsch im Russischen<br />

sagt, ist eine „Malträtierung“ der russischen Sprache. Er macht Fehler, die bald anerkennen<br />

lassen, daß der Betreffende der russischen Sprache nur relativ mächtig ist. Diese<br />

Fehler haben eine spezifische Natur, die nur für diejenigen, die das Russische einwandfrei beherrschen,<br />

zu verstehen sind. Es ist sinnlos hier zu erklären, worin sie bestehen.<br />

Aber wie übersetzt man solche Aussagen? Soll man die Charakterika der betreffenden Fehler<br />

aus der Ausgangssprache bewahren? Oder sollte man sie derart übersetzen, daß der Leser<br />

den Einduck hat, daß dort jemand spricht, der die Sprache nicht gut beherrscht? Sind die Fehler,<br />

die ein Deutscher im Russischen und im Rumänischen macht derselben Natur? Natürlich<br />

nicht, auch wenn sie manchmal übereinstimmen können, da beide indo-germanische Sprachen<br />

sind. Die beiden Übersetzer mußten das Russische von Karl Mauer so übersetzen, daß jeder<br />

rumänische Leser verstände, daß dort jemand eine Sprache verwendet, die er nicht sehr gut<br />

beherrscht, die er aber „verständlich“ gebrauchen will.<br />

Es sind in diesem Zusammenhang noch zwei Aspekte zu erwähnen:<br />

Der eine wäre, daß in verschiedenen Provinzen Rumäniens deutsche Minderheiten lebten,<br />

die aber derart einwandfrei Rumänisch sprachen, daß man bloß nach dem Hören des Namens<br />

sich Rechenschaft gegeben hat, mit einem Deutschen gesprochen zu haben. Also hatten die<br />

Übersetzer kein Muster für eine rumänische Sprache der Deutschen aus Rumänien.<br />

Der andere bestünde darin, daß die Menschen verschiedener Nationalitäten insbesondere in<br />

Siebenbürgen gewohnt sind, auch andere Sprachen zu sprechen. Und obwohl sie sich dessen<br />

bewußt sind, daß das nicht immer sehr gut „funktioniert“, liegt die Hauptsache darin, sich<br />

verständlich zu machen. Also malträtiert man brüderlich eine andere Sprache, aber die Malträtierung<br />

führt zu einem guten Ende.<br />

Nun haben wir den Eindruck, daß die Übersetzer des Werks von Graf Leo Tolostoi keine Ahnung<br />

von solchen philologischen Spekulationen gehabt haben. Sie haben aber etwas Außerordentliches<br />

geleistet. Und eben das ist die Frage nach Kreativität. Ist man sich ihrer bewußt?<br />

Ist sie erlernbar? Hätten die Übersetzer es besser übersetzt, wenn sie gründliche theoretische<br />

Kenntnisse in diesem Bereich gehabt hätten? Es folgen ein paar Beispiele, aus denen jeder<br />

rumänische Leser verstehen kann, daß dort ein Deutscher spricht, der das Rumänische nur<br />

relativ beherrscht:<br />

«Doua undi]a pentru copil, [aptezeci copeica.»<br />

«Hârtie colorat, margine aurit, clei [i stinghie de la cutiu]a, pentru cadouri, [ase ruble [i<br />

cincizeci[icinci copeica.»<br />

«Carte [i arc, cadou la copii, opt ruble [aisprezece copeica.»<br />

«Pantaloni la Nicolai, patru ruble.»<br />

«Ceas de aur, f`g`duit de Piotr Alexandrovici la Mocov, în 18. . . cost o sut` patruzeci<br />

ruble.»<br />

«Eu fost nefericit inca in pântec la mama al meu.»<br />

«Eu fugit.»<br />

«Când v`zut, ea spus la mine.»<br />

«Tumnezeu fede tot [i [tie tot [i în tot este sfânta lui foie, numai de voi copii pare la<br />

mine r`u.»<br />

«Comedia de p`pu[i.»<br />

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Petru Forna / Sanda Misiriantu<br />

«B`iat neastâmp`rat`.»<br />

«Musculi]` plicticos.»<br />

«Eu s`rit în apa, c`]`rat pe cel`lalt parte [i rupt fuga.»<br />

«Când v`zut, ea spus la mine. . .»<br />

«Aminte[te de mine aproape când sunt,<br />

Aminte[te departe când merg pe p`mânt,<br />

Aminte[te întruna,<br />

Amninte[te de mine tu, totdeauna,<br />

{i la mormânt<br />

S` fii credincios cum eu sunt.»<br />

Das letzte angeführte Beispiel, eben das von Karl Mauer für Gräfin Tolstoja geschriebene<br />

„Liebesgedicht“, beweist aus philologischem Sichtpunkt mehrere Sachen:<br />

➧ es ist nicht unbedingt notwedig, über eine dichterische Sprache zu verfügen, um echten<br />

Gefühlen Ausdruck zu geben;<br />

➧ die Sprache ist in erster Linie Kommunikationsmittel. Das Dichterische und das Korrekte<br />

sind (und waren) Luxusartikel;<br />

➧ das Übersetzen ist nicht erlernbar, obwohl Studium im Bereich behilflich sein könnte;<br />

➧ Kreativität ist eine angeborene Sache;<br />

➧ Übersetzen ist etwas, was bleibt. Auch wenn man den Namen des Übersetzers vergißt<br />

oder nicht kennt, werden noch lange Zeit die Menschen ihn brauchen. Denn er leistet<br />

das, was keine wissenschaftliche philologische Arbeit leisten kann. Verständnis, Kennenlernen,<br />

Toleranz und Liebe unter Menschen.<br />

L L i i t t e e r r a a t t u u r r :<br />

:<br />

1. S. Allen (1982), Text Processing as a Theme. The Capriccio and Ostinato of Texts. In: S. Allen (ed.) (1982), Textprocessing,<br />

Text Analysis and Generation, Text Typology and Attribution, Proceedings of NOBEL SYMPOSIUM 51,<br />

Stockholm, 15-22<br />

2. R. Bubner (1960/1969), Rationalität, Lebensform und Geschichte. In: H. Schnädelbach (Hg.) (1984), Rationalität.<br />

Philosophische Beiträge. Frankfurt a.M. 198-217<br />

3. E. Coseriu (1970) in U. Petersen, Sprache, Strukturen und Funktionen. XII Aufsätze zur Allgemeinen und Romanischen<br />

Sprachwissenschaft. Tübingen<br />

4. C. Daniel (1981); Theorien der Subjektivität. Einführung in die Soziologie des Individuums. Frankfurt a.M./New York<br />

5. J. P. Guilford (1968), Intelligence, Creativity and Their Educational Implications. San Diego, Cal.<br />

6. W. Hacker (1978), Allgemeine Arbeits- und Ingenieurpsychologie. Psychische Struktur und Regulation von Arbeitstätigkeiten.<br />

Bern/ Stuttgart/ Wien<br />

7. D. Lehmann (1982), Arbeitsbibliographie Übersetzen: Interdisziplinäre Aspekte der Sprach- und Übersetzungswissenschaft<br />

sowie der Übersetzungspraxis. L.A.U.T. Series B. Paper No. 83. Trier<br />

8. G. Mayer (1980), Zum kulturwissenschaftlichen Erkenntniswert literarischer Texte. In: A. Wierlacher / D. Eggers /<br />

U. Engel / H.-J. Krumm / R. Picht / K.-F. Bohrer (Hrsg.), Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Band 6. Heidelberg, 8-<br />

16<br />

9. T. McFarland (1985), Originality and Imagination. Baltimore/ London<br />

10. K. Mudersbach (1987), Eine Methode des wissenschaftlichen Übersetzens mit Computer-Unterstützung. Einleitung<br />

zum Vortrag bei der GAL-Konferenz, 1.10.87<br />

11. R. Münch (1984), Die Sprache der Moderne. Grundmuster und differntielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus<br />

der modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Malträtieren der Zielsprache: Kreativität in der Übersetzung relativer Ausgangssprachkenntnisse<br />

12. E. A. Nida (1976), A Framework for the Analysis and Evaluation of Theories of Translation. In: R.W. Brislin (Hg.)<br />

(1976), Translation, Applications and Research, New-York<br />

13. K. Reichert (1967), Zur Technik des Übersetzens amerikanischer Gedichte. In: Sprache im technischen Zeitalter 21<br />

14. M. I. Sastri (1973), Degrees of Creativity. In: Language Sciences 27<br />

15. R. Schottlaender (1972), Paradoxien der “Kreativität”. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 26<br />

16. L. N. Tolstoi (1953), Opere în paisprezece volume, Volumul 1. Copil`ria,Adolescen]a, Tinere]ea. Traducere de Ticu<br />

Arhip [i Maria Vlad. Editura A.R.L.U.S. “Cartea Rus`” 1953<br />

17. J. Tommola (1985), Approaches to Research on Translation. In: J.Tommola/T. Virtanen (Hg.) (1985), Working<br />

Papers in English Studies, Turku<br />

18. I. Wegner(1984), Die Frame-Theorie, eine neue Theorie konzeptueller Makrostrukturen für die Lexikographie. In:<br />

Der Deutschunterricht 5<br />

19. W. Wilss (1988), Kognition und Übersetzen, Tübingen<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

587


DIE ÜBERSETZUNG ALS PROZESS DES KULTURTRANSFERS<br />

Einige Überlegungen zu Victor Klemperers<br />

LTI. Notizbuch eines Philologen<br />

La Laura La Gabriela Gabriela Laza<br />

Laza<br />

Kultur läßt sich durch vieles vermitteln, durch Bräuche, Sitten, Gesänge, Trachten, Essensgerichte,<br />

wohl aber am besten durch Sprache. Und das nicht nur im Sinne des Lernens einer<br />

Fremdsprache, um die Kultur derjenigen Sprachgemeinschaft besser zu verstehen. Die Sprache<br />

kann auch für sich selbst sprechen. Viele Wörter sind spezifisch für eine Kulturgemeinschaft ,<br />

weil sie Phänomene beschreiben, die es nur in der Kultur gibt. 1947 veröffentlicht Victor Klemperer<br />

in Berlin sein LTI. Notizbuch eines Philologen 1 , ein Buch, das Anlass gibt, nicht nur über<br />

die Sprache des Dritten Reiches nachzudenken, sondern auch über ein sozial-historisches<br />

Phänomen, den Nationalsozialismus.<br />

„Le style c’est l’homme“- nach diesem Motto möchte Klemperer Sprache und Ideologie zusammenbringen,<br />

und implizite auch Kultur. Für einen Übersetzer ist es sicherlich eine Herausforderung<br />

sich mit der LTI (Sprache des Dritten Reiches) auseinanderzusetzen. Indem wir versucht<br />

haben, einige Begriffe daraus zu übersetzen, stießen wir auf das vieldiskutierte Problem<br />

der Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit. Hierzu schien uns ein Artikel von Eugen Coseriu<br />

„Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie“ 2 von besonderer Wichtigkeit.<br />

Mit Hilfe der Termini, die er hier aufführt, als auch des hier aufgestellten Modells, das im Zusammenhang<br />

mit seinem linguistischen System zu verstehen ist, sind wir an den Text von<br />

Klemperer näher herangegangen, und haben versucht, Begriffe, die uns repräsentativ schienen,<br />

zu analysieren. Besser gesagt, es wird der Versuch gemacht, ähnliche Bedeutungen für dieselben<br />

Bezeichnungen in der eigenen Sprache - hier Zielsprache, zu finden. Übersetzen hat<br />

sicherlich nicht nur mit Sprache zu tun, sondern auch mit Kultur, und da sind sich die meisten<br />

Sprach- und Literaturwisseschaftler einig. Beim Übersetzen aus der Ausgangssprache - hier<br />

Deutsch in die Zielsprache - hier Rumänisch mußten wir mehr als nur sprachwissenschaftliche<br />

Phänomene beachten. Zwei Kulturen trafen aufeinander. In der Zielsprache sind wir auf zwei<br />

der LTI ähnliche Phänomene gestoßen. Am 24. Juni 1927 wird auch in Rumänien eine nationalistische<br />

Organisation gegründet, zum einen nach dem deutschen Muster, da ihre Führer in<br />

Jena und Berlin studiert hatten und vom deutschen Nationalsozialismus stark begeistert waren,<br />

zum anderen basierte der rumänische Nationalismus auf einer hohen Form der Religiosität. Der<br />

Antisemitismus und die „Rettung des rumänischen Volkes“ 3 waren auch hier leitende Gedanken,<br />

aber der Glaube an Gott, und an die orthodoxe Religion standen über alles. Später, 1930 ließ<br />

sich die Organisation umbenennen und so entstand die Eiserne Garde, eine politische Partei, die<br />

unter dem Marschall Antonescu eine Zeit lang auch regiert hat. Einige Wörter der LTI können<br />

1<br />

Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen, Aufbau-Verlag, Berlin 1947.<br />

2<br />

Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie, in: Wills, Wolfram (Hrsg.): Übersetzungswissenschaft,<br />

Darmstadt 1981.<br />

3<br />

Siehe Zelea Codreanu, Corneliu: Pentru legionari, Bucure[ti 1940.


Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI<br />

auch in den Reden der rumänischen Rechtsextremisten um 1935 wiederentdeckt werden. Viele<br />

Wörter wurden aber nicht einfach übersetzt, sondern es wurden neue mit eigenen sprachlichen<br />

Mitteln geschaffen, denn diese Sprache, obwohl sie auch einer nationalistischen Ideologie<br />

diente, war eine eigene spezifische Kulturerscheinung. LTI wurde zu einer Tabu-Sprache zu<br />

DDR-Zeiten, man hat nicht nur im Bezug auf Literatur, sondern auch im Bezug auf die Sprache<br />

von einem Nullpunkt geredet. Dieses Phänomen ist auch in Rumänien nach 50 Jahren kommunistischer<br />

Herrschaft zu beobachten. Wörter, die im damaligen sprachlichen Alltag unvermeidlich<br />

waren, werden heute kaum noch ausgesprochen, wie z. B. tovar`[ oder gospodar. 4 Es entsteht<br />

also beim Versuch der Übersetzung der Sprache des Dritten Reiches ein interkultureller<br />

Dialog.<br />

Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers und als Form der interkulturellen<br />

Kommunikation.<br />

Über die Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit eines Textes waren sich die Übersetzungswissenschaftler<br />

nie einig. Nach Coserius Ansicht, müßte erstens einen Unterschied<br />

zwischen Übersetzung als rein technischer Tätigkeit, auch Übertragung genannt und dem Übersetzen<br />

als Prozess, gemacht werden 5 . Die Übersetzung ist die Technik der Feststellung von<br />

„Entsprechungen“, d. h. von Äquivalenzen in der Bezeichnung; das „Übersetzen“ hingegen ist<br />

eine komplexe Tätigkeit, die bei weitem nicht nur aus Übertragung besteht. Coseriu führt also<br />

diese Termini ein: Übersetzung und Übersetzen, wobei Übersetzen eine gelungene Übersetzung<br />

darstellt, die den kulturellen Aspekt dieses Vorgangs beachtet. Das, was grundsätzlich nicht<br />

„übersetzt“ werden kann, wird beim Übersetzen auch nicht übertragen, im Sinne des Begriffes.<br />

Der Autor behauptet, die Übersetzung stöße leicht an ihre Grenzen und darum müßte man vom<br />

Übersetzen reden, eine Tätigkeit, die keine rationalen, sondern nur empirischen Grenzen erfährt.<br />

Die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Übersetzung und Übersetzen wurde schon<br />

von den ältesten Übersetzungswissenschaftlern angesehen, behauptet E. Coseriu. Im lutherischen<br />

„Sendbrief vom Dolmetschen“ zum Beispiel, wird das Problem vom Gesichtspunkt eines<br />

Übersetzungsideals dargestellt; implizite hat Luther aber doch die Differenzierung im Sinne,<br />

und zwar je nach den Adressanten, denen man „auf das Maul sehen“ müsse.<br />

Als Textlinguist sieht Coseriu die Übersetzungstheorie als Teil der Textlinguistik, so behauptet<br />

er, das Übersetzen habe nichts mit einzelnen sprachlichen Einheiten zu tun. Übersetzen<br />

macht nur im textuellen Kontext einen Sinn. Der Autor erkennt vier falsche Fragestellungen in<br />

der Übersetzungstheorie:<br />

1. Die Problematik der Übersetzung und des Übersetzens wird wie eine Problematik, welche<br />

die Einzelsprachen betrifft, eingegangen.<br />

2. Es wird von den Übersetzungen wenigstens implizite erwartet, dass sie alles in den Originaltexten<br />

Gemeinte und durch diese Texte als gemeint Verstandene mit den Mitteln<br />

der Zielsprache wiedergeben; sie können dies aber nicht, und deshalb seien sie schon<br />

ihrem Wesen nach „unvollkommen“, wenn auch praktisch notwendig.<br />

4 Hier verwechselt die Verfasserin die kommunikativ-situative, epochenbedingte Konnotation eines Wortes mit einem<br />

Wort des rumänischen Grundwortschatzes, welches sonst auch heute noch in anderen semantischen Feldern voll im<br />

Gebrauch ist: tovar`[ de drum, tovar`[ de suferin]` etc. Von gospodar kann die Behauptung der Verfasserin aus ähnlichem<br />

Grunde nicht so gelten. (Anm. der Redaktion der ZGR.)<br />

5 Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie, in Wills, Wolfram (Hrsg). : Überset-<br />

zungswissenschaft, Darmstadt 1981, S. 27 ff.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

589


Laura Gabriela Laza<br />

3. Die Übersetzung als rein einzelsprachlich bezogene Technik wird dem Übersetzen<br />

gleichgesetzt. Dies führt u. a. zu dem Paradoxon, dass die Übersetzung zwar theoretisch<br />

unmöglich, empirisch jedoch eine Realität ist.<br />

4. Es wird eine abstrakte optimale Invariante für die Übersetzung überhaupt angenommen.<br />

6<br />

Die Problematik der Übersetzung taucht in Bezug auf das Verhältnis Ausgangssprache -<br />

Zielsprache auf. Es wird falscher Weise angenommen, dass die Inhalte zweier verschiedenen<br />

Sprachen - abgesehen vom terminologischen Wortschatz - im Verhältnis 1:1 stehen müssten,<br />

so Coseriu. Aber das Verhältnis sei eigentlich „irrationaler“ Natur, so dass gewisse Inhalte der<br />

Sprache A nur gewissen Inhalten der Sprache B entsprechen, die wiederum anderen Inhalten<br />

der Sprache A entsprechen und so weiter. Sehr viele Inhalte zweier Sprachen seien „inkommensurabel“<br />

behauptet E. Coseriu. Man müsse beachten, dass eine der falschen Problemstellungen<br />

der Übersetzungstheorie daraus entsteht, dass man einzelne „Wörter“ nicht übersetzen<br />

kann, man spricht von „unübersetzbaren Wörtern“. Nur Texte können aber übersetzt<br />

werden, sprachliche Einheiten, die nicht nur mit sprachlichen Mitteln allein, sondern im verschiedenen<br />

Maß auch mit Hilfe außersprachlichen Mitteln erzeugt werden. Dies ist, nach<br />

Coserius Ansicht, das Grundprinzip der Übersetzungstheorie. Man müsse also nicht Wörter ,<br />

sondern Inhalte übersetzen, und dazu führt er drei wichtige Begriffe ein :<br />

1. Die Bedeutung, die jeweils einzelsprachlich ist- bezieht sich auf den gegebenen Inhalt.<br />

2. Die Bezeichnung, der Bezug auf den „außersprachlichen Sachverhalt“ oder „Tatbestand“.<br />

3. Der Sinn, der besondere Inhalt eines Textes oder einer Texteinheit (z. B. Aufruf, Frage). 7<br />

Die Aufgabe des Übersetzens sei nun, in sprachlicher Hinsicht nicht die gleiche Bedeutung,<br />

sondern die gleiche Bezeichnung und den gleichen Sinn, durch sprachliche und außersprachliche<br />

Mittel einer Zielsprache wiederzugeben. Eugen Coseriu macht eine sehr interessante Bemerkung,<br />

was die falsche Fragestellung der Übersetzungsproblematik angeht: man frage sich<br />

falscher Weise “ Wie übersetzt man diese oder jene Bedeutung dieser Sprache?“, die richtige<br />

Frage müsste aber heißen: „ Wie nennt man den gleichen Sachverhalt bzw. Tatbestand in einer<br />

anderen Sprache in der gleichen Situation?“ 8 Bedeutungen können und müssen nicht übersetzt<br />

werden, da sie einzelsprachlich sind. Es geht darum die gleiche Bedeutung in der Zielsprache zu<br />

finden, die das gleiche bezeichnen will:<br />

Bedeutung 1 Bedeutung 2<br />

Bezeichnung 9<br />

Man spricht mittels der Bedeutung, man teilt nicht Bedeutung mit. Der mitgeteilte Textinhalt<br />

bestehe ausschließlich aus Bezeichnung und Sinn, behauptet Coseriu. Es ginge folglich<br />

um Äquivalenz in der Bezeichnung. Man müsse auch zwischen Bedeutung und Verwendung der<br />

6 siehe dazu Ebd., S. 28-29<br />

7 Ebd., S. 32-33.<br />

8 Ebd., S. 33.<br />

9 Ebd., S. 34.<br />

590<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI<br />

Bedeutung unterscheiden. Z. B. auf Deutsch sagt man „keine Ursache!“ aber im Französischen<br />

sagt man nicht „aucune cause!“ , sondern die Entsprechung dem Sinn und der Bezeichnung<br />

nach heißt: „Pas de quoi!“; oder „Schade!“ heißt auf Portugiesisch „che pena!“ also ungefähr<br />

„was für ein Schmerz!“ 10 .<br />

Diese Verschiedenheit der einzelsprachlichen Bedeutungen, d. h. die verschiedene Gestaltung<br />

der Wirklichkeit durch die Einzelsprachen, ist nicht, wie man oft meint, das Problem<br />

par excellence der Übersetzung, sondern viel mehr ihre Voraussetzung, die Bedingung ihrer<br />

Existenz: gerade deshalb gibt es Übersetzen und nicht nur bloße Ersetzung auf der Ausdrucksebene.<br />

Also heißt Übersetzen soviel wie: gleiche Bezeichnung mittels grundsätzlich verschiedener<br />

Bedeutung. Es gibt aber auch spezielle Situationen, wo bestimmte Sprachen eine bestimmte<br />

Bezeichnung einer Bedeutung nicht kennen, da spricht man von „Lehnübersetzungen“: schaffen<br />

von neuen Ausdrücken und Bedeutungen mit einheimischen Mitteln. Hier führt Coseriu das<br />

berühmte Beispiel des Wortes „Schnee“ ein. Bestimmte Sprachgemeinschaften kennen nämlich<br />

dieses Phänomen nicht.<br />

Die Sprache kann aber nicht nur als Zeichensystem, sondern auch als „Realität“ verwendet<br />

werden. In der Übersetzung können auch Konflikte zwischen Bezeichnung und Sinn entstehen.<br />

Z. B. die Farben weiß und schwarz rufen verschiedene Gefühle hervor, bei den jeweiligen Gemeinschaften,<br />

einmal Frieden und einmal Tod, und umgekehrt. Oder der Mond und die Sonne<br />

werden als eine männliche bzw. als eine weibliche Gestalt, im deutschsprachigen Raum gesehen.<br />

In den romanischen Sprachen dagegen, ist der Mond vom Genus her weiblich, und die<br />

Sonne männlich, also genau umgekehrt. In solchen Fällen kann sich der Übersetzer entweder<br />

für den Sinn, oder für die Bezeichnung entscheiden. Sicherlich teilt das Gesagte einer Sprache<br />

auch bestimmte Gefühle mit, oder ruft sie hervor, Gefühle die nur in der jeweiligen Sprachgemeinschaft<br />

nachzuvollziehen sind. Diese kann man auch nicht übersetzen, höchstens angeben,<br />

als Bemerkung. Da stößt das Übersetzen an seine Grenzen. Die Übersetzung als rein<br />

sprachliche Technik betrifft nur das Sprachliche, also das Gesagte und nicht das Gemeinte. „Die<br />

eigentliche rationale Grenze der Übersetzung ist also nicht durch die Verschiedenheit der<br />

Sprachen, durch die Sprachen als Bezeichnungssysteme gegeben, sondern durch die in den<br />

Texten verwendete Realität (einschließlich der Sprache als Realität).“ 11<br />

Die ideologische Sprache des Nationalsozialismus. Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines<br />

Philologen – ein Übersetzungsversuch<br />

1947 veröffentlicht der Dresdener Romanist Victor Klemperer im Aufbau-Verlag, Berlin sein<br />

„schwierigstes“ Buch, wie er es selbst bezeichnete: LTI. Notizbuch eines Philologen. Mehrere<br />

Auflagen des Buches sind danach erschienen in Leipzig 1947, 1957 und 1993. Es ist auch unter<br />

dem Titel: Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. LTI - 1966 bekannt.<br />

Das Buch soll eine kritische Analyse der Sprache des Dritten Reiches darstellen. Nach der<br />

Machtübernamme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 und bis Ende des II. Weltkrieges<br />

macht sich Klemperer Notizen, denn er möchte „Zeugnis ablegen bis zum letzten“, eine Aussage,<br />

die später sogar als Titel für seine Tagebücher vom Verleger übernommen wurde. Wie<br />

schon der Untertitel des Buches verrät, erhebt V. Klemperer keine hohen sprachwissenschaftlichen<br />

Ansprüche für sich, es soll nicht eine sprachwissenschaftliche Analyse sein, sondern nur<br />

10 Ebd.<br />

11 Ebd., S. 42.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

591


592<br />

Laura Gabriela Laza<br />

Gedanken, Notizen. Was LTI eigentlich darstellen soll, erklärt er selbst im ersten Kapitel seines<br />

Werkes: „LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches... man könnte das metaphorisch<br />

nehmen. Denn ebenso wie es üblich ist, vom Gesicht einer Zeit, eines Landes zu reden, genauso<br />

wird der Ausdruck der Epoche als ihre Sprache bezeichnet. Das Dritte Reich spricht mit einer<br />

schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus<br />

der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten,<br />

der SA- und SS- Männer, die es als Idealgestalten auf immer gleichen Plakate fixierte, aus seinen<br />

Autobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des Dritten Reiches, und von alledem<br />

ist natürlich auch in diesen Blättern die Rede“ 12 .<br />

Die LTI ist kein Jargon der natürlichen Sprache, wie man glauben könnte, sondern die natürliche<br />

Sprache wurde einfach in ihrer Funktion umgewandelt. Denselben Worten werden andere<br />

Bezeichnungen zuerteilt. LTI ist eine Sprache, die ständig der Zensur unterliegt, dadurch ist sie<br />

keine ehrliche oder freie Sprache. Sie ist auch arm, denn sie basiert auf einigen Begriffen, die<br />

sie ständig wiederholt, um sie einzuprägen. Sie ist zugleich eine öffentliche Sprache, sie hat<br />

kein persönliches Register, nach dem Motto : „du bist nichts, dein Volk ist alles“. Damit sie die<br />

Massen erreicht, ist sie zugleich eine sehr einfache Sprache. Deshalb aber nicht weniger überzeugungsfähig,<br />

und deswegen bedient sie sich mehrerer Klischees. Zum einen verneint sie das<br />

Christentum, dabei verwendet sie genau dieselben Schemata (neutestamentarischer Diskurs),<br />

zum anderen verneint sie jegliche fremdsprachlichen Einflüsse, dabei will sie modern sein, und<br />

bedient sich der Fremdwörter. Sie möchte aber ein neues Kapitel in der Sprachgeschichte für<br />

sich aufschlagen, und das gelingt ihr, nicht etwa indem sie eine sehr innovative Sprache gewesen<br />

ist, sondern gerade indem sie eine „reine Sprache“ vergiftet hat 13 .<br />

Das Wort der LTI par excellence war und bleibt: Führer. Hitler nannte sich zuerst auch<br />

Reichskanzler und Führer, um dann auf die erste Bezeichnung ganz zu verzichten, und nur noch<br />

Führer genannt zu werden. Das Wort wurde in vielen anderen Bereichen benutzt, jedoch nur in<br />

Komposita. Man sagte Betriebsführer aber auf keinen Fall Führer des Betriebes. Führer war nur<br />

einer, und daher bekam diese Bezeichnung in ihrer Verwendung schon Funktionen, die der biblischen<br />

Sprache ähnelten. Die Deutschen sollen nicht mehr geführt werden, sondern selbst<br />

führen, und dabei einen Führer haben, der seinen Führerwillen, wie ein Gottesgesetz durchsetzt<br />

- dies war der Sinn. Diesem Kultus des Führers begegneten die Kommunisten in der DDR durch<br />

Tabuisierung des Wortes. So sagte man Fahrererlaubnis statt Führerschein 14 . Man behauptet,<br />

das Wort sei die deutsche Entsprechung des faschistischen italienischen il Duce, was einigen<br />

Wörterbüchern zufolge auch stimmt. Man muss aber aus kultureller und ideologischer Sicht<br />

einen Unterschied zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus<br />

machen, und daher auch zwischen Führer und il Duce. Beim Versuch des Übersetzens<br />

dieses Begriffes ins Rumänische haben manche Übersetzer das Wort einfach so übernommen,<br />

ohne es wenigstens an den phonetischen, graphemischen oder morphologischen<br />

Normen der rumänischen Sprache anzupassen: Führer. Das Wort wird im rumänischen Fremdwörterbuch<br />

folgendermaßen definiert: der Name, der Hitler nach der Machtergreifung zugelegt<br />

wurde, oder führende Person einer germanischen Menschengruppe 15 . Zwei andere Übersetzungen<br />

kämen in Frage, und zwar das Wort conduc`tor, also der Führer einer Gruppe von<br />

12<br />

Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 20.<br />

13<br />

siehe dazu Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 26-27.<br />

14<br />

Schlosser, Dieter: Lexikon der Unwörter. Berlin 2000, S. 101.<br />

15<br />

Marcu, Florin und Mânec`, Constant (Hrsg.): Dic]ionar de neologisme, 3. Auflage, Bucure[ti 1978 , S. 475.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI<br />

Personen, oder das Wort capitan – der Führer einer Militärgruppe. So wurde der<br />

nationalistische Führer der Eisernen Garde genannt. Wie das Wort Führer wurde dem<br />

rumänischen Wort c`pitan eine fast magische Bedeutung mit religiösen Anleihen zugeschrieben.<br />

Anhand dieses Beispiels kann man veranschaulichen, dass dieselbe politische Ideologie,<br />

nämlich die nationalistische, drei verschiedene Formen in derselben Zeitspanne angenommen<br />

hat, drei verschiedenen Kulturen entsprechend - der Italienischen, der Rumänischen<br />

und der Deutschen. Welche Form des Wortes würde man jedoch bei einer Übersetzung aus dem<br />

Deutschen ins Rumänische bevorzugen? Wir plädieren für das Übernehmen des ausgangssprachlichen<br />

Wortes, da wir so auch in der Zielsprache der Bezeichnung und dem Sinn treu<br />

bleiben. Die kulturspezifische Erscheinung der Ausgangssprache wird in der Zielsprache beibehalten.<br />

Fanatismus - fanatisch sind Wörter die an ein utopisches Weltbild anknüpfen - die totale<br />

Hingabe zu Gott, das Stadium einer religiösen Verzückung. Seitdem Rousseau zum ersten Mal<br />

Fanatismus im Zusammenhang mit der französischen Aufklärung benutzt hatte, wurde dem<br />

Wort eine pejorative Konnotation zugeschrieben. Die LTI dagegen erteilte dem Wort einen positiven<br />

Sinn. Fanatismus wurde zu einer Tugend, die irrationale Begeisterung wurde zu einer<br />

positiven Kerntugend gemacht 16 . In dieser Form findet man die Bezeichnung nicht in der rumänischen<br />

Sprache. Das aus dem Lateinischen stammende Wort fanatism, adj. fanatic (aus lat.<br />

fanum) hatte und hat eine pejorative Konnotation. Die Definition des Wortes fanatism lautet:<br />

eine außerordentliche Verbundenheit zu einer Idee oder Person, die sich durch Intoleranz gegenüber<br />

Personen anderer Gesinnungen charakterisiert 17 . In der LTI wurde nur die außerordentliche<br />

Verbundenheit zu einer Person gesehen, und die Intoleranz gegenüber anderen nicht negativ<br />

bewertet.<br />

Anstelle Wörter deutscher Herkunft wie Begeisterung, abgeleitet vom mhd., ahd. geist 18<br />

oder Heldentum aus dem altgerm. Substantiv „haliÞ-“ 19 bedeutend „freier Mann“, tauchen in<br />

der LTI Neologismen wie: Enthusiasmus und Heroismus auf, aus dem gr. enthousiasmos und aus<br />

dem gr. hērōs 20 auf . Dafür gibt es im Rumänischen Wörter gleicher griechischer Abstammung<br />

über die französische Sprache in die rumänische gekommen: entuziasm , aus dem fr.<br />

enthousiasme 21 , und eroism aus dem fr. héroïsm 22 abstammend aus dem lat. heroicus. Die Bedeutung<br />

aus der Ausgangssprache wird in der Zielsprache genau wiedergegeben, denn es<br />

handelt sich hierbei um dieselbe Bezeichnung. Sie beschreiben ein Stadium der Begeisterung<br />

bzw. ein heldenhaftes Benehmen. Der exzessive Gebrauch solcher Wörter veranschaulicht am<br />

besten, dass die LTI eine Sprache der Superlative war.<br />

Ein gelungenes Beispiel einer Lehnübersetzung ins Rumänische stellt, unserer Meinung<br />

nach, der Begriff cel de-al treilea Reich dar. Der Begriff geht auf eine alte geschichtstheologische<br />

Theorie zurück, wonach die Geschichte nach den „Reichen“ Gottvaters und Gottsohnes<br />

in das dritte Reich des Heiligen Geistes als Vollendung münden sollte. Diese ist eine der zahlreichen<br />

Religionsanleihen einer in sich atheistischen Weltanschauung. Das Dritte Reich war ein<br />

16<br />

siehe Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2001, S. 77-83.<br />

17<br />

Dictionarul explicativ al limbii romane, 2. Auflage, Bukarest 1996, S. 366.<br />

18<br />

Drosdowski, Günther (Hrsg.): Duden. Ethymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 2. Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich<br />

1989, S. 226.<br />

19<br />

Ebd., S. 278.<br />

20<br />

Ebd., S. 281.<br />

21<br />

Dictionarul explicativ al limbii romane, 2. Auflage, Bukarest 1996, S. 343.<br />

22 Ebd., S. 342.<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003<br />

593


594<br />

Laura Gabriela Laza<br />

Ziel bis 1933, so sprach Hitler danach vom Großdeutschen Reich oder Tausendjährigen Reich.<br />

Vor allem nach dem Anschluss von Österreich, 1938 hat man den Namen Großdeutsches Reich<br />

als offiziellen Saatsnamen verwendet. In einer Rede, 1943 sprach er auch vom Germanischen<br />

Staat deutscher Nation in Anlehnung an das Heilige Römische Reich deutscher Nation. 23 Im<br />

Rumänischen hat man eine Teilübersetzung vorgenommen. Den ersten Teil hat man übersetzt<br />

und den zweiten übernommen. Wieso aber, da es im Rumänischen durchaus eine „Entsprechung“<br />

des deutschen Wortes Reich gibt, nämlich imp`r`]ie oder imperiu. Das bis 1806<br />

existierende Heilige Römische Reich deutscher Nation heißt in rumänischer Überseztung<br />

Imperiul Roman de Na]iune German`, wobei das Wort Reich hier nicht mehr so belassen, sondern<br />

übersezt wurde. Das Dritte Reich ist aber nicht mehr Al treilea Imperiu sondern Al treilea Reich. Das<br />

Wort wird also nicht separat vom Kontext übersetzt, sondern hier berücksichtigt man ein geschichtliches<br />

und implizite in der Ausgangssprache auch kulturbezogenes Phänomen.<br />

Die sogenannte ethnische Säuberung als Prozess hat sich mehrerer, immer wieder auftauchender<br />

Begriffe bedient, z. B. Arier - arisch - Arisierung, Rasse - Rassenschande - niederrassig<br />

oder rein.<br />

Arier: Angehöriger einer östlichen, indogerm. Völkergruppe; aus dem sanskritischen ârje<br />

bedeutend ein Mann eines iranischen oder indischen Stammes; falscher Weise nicht semitisch<br />

24 . Im Rumänischen arian, ein Wort, das zwei verschiedene Bedeutungen und Abstammungen<br />

hat, das Wortlaut aber das gleiche ist. Zum einen aus dem fr. arien 25 wird es als<br />

der Name eines Anhängers der Arianismus erklärt, eine früh christliche Ideologie , deren zufolge<br />

die göttliche Natur von Jesus Christus negiert wird, und dessen Gründer der Erzbischof Arie aus<br />

Alexandria war. Das zweite Wort, mit dem gleichen Wortlaut aber aus dem fr. aryen 26 abstammend,<br />

steht für den alten Namen der Völker, die eine indo-europäische Sprache sprechen.<br />

Später bezeichnete der Begriff die Angehörigkeit zu einem germanischen Volk. Im 19. Jh. verengten<br />

sich die Bedetungen des Begriffes, und er bezeichnete die Zugehörigkeit zur „weißen<br />

Rasse“ oder die Ahnen des deutschen Volkes 27 . Die LTI übernahm das Wort, und machte aus ihm<br />

mehr als die Bezeichnung einer Zugehörigkeit, es wurde zu einer Lebensprämisse. Im<br />

Rumänischen wird das zweite Wort mit dem Bezug auf die NS-Ideologie verwendet und gibt<br />

die Bezeichnung der ausgangssprachlichen Kultur treu wieder.<br />

Das Wort Rasse aus dem fr. race, seinerseits aus dem it. razza, ein naturwissenschaftliches<br />

Ordnungsbegriff zur Bezeichnung einer Gruppe von Individuen innerhalb einer Art, die in typischen<br />

Merkmalen übereinstimmen 28 , erfuhr innerhalb der LTI eine andere Bezeichnung. Dem<br />

Wort wird einen Spezialsinn erteilt. Es bezeichnet nicht mehr eine harmlose Realität aus der<br />

naturwissenschaftlichen Welt, sondern die Angehörigkeit zu einer oder anderen Rasse wird zu<br />

einer Lebensbedingung gemacht. Die nachkriegszeit Sprache tratt diesem Wort durch Tabuisierung<br />

entgegen. Die rumänischen Legionäre bezeichneten den Nationalsozialismus als die<br />

Rassenlehre 29 , während sie ihre Lehre auf den Glauben an Gott stützten, daher bezeichnet das<br />

rum. Wort ras` mit gleicher Abstammung aus dem fr. race, it. razza 30 die simple Angehörigkeit<br />

zu einer bestimmten Gruppe von Menschen oder Tieren. Die Übersetzung durch ein anderes<br />

Wort würde aber auch nicht zutreffen. Es gibt aber im Rumänischen das vom Wort ras` ab-<br />

23<br />

Schlosser, Dieter: Lexikon der Unwörter, Berlin 2000, S. 70 und S. 100.<br />

24<br />

Neues Deutsches Wörterbuch, Köln o. J., S. 65<br />

25<br />

Dic]ionarul explicativ al limbii române, 2. Auflage, Bucure[ti 1996, S. 59.<br />

26<br />

Ebd.<br />

27<br />

Ebd., S. 59.<br />

28<br />

Drosdowski, Günther (Hrsg.): Duden. Ethymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache“, 2. Völlig neu bearbeitete<br />

und erweiterte Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1989, S. 572.<br />

29<br />

Siehe dazu: Sima, Horia: Doctrina legionar`. Bucure[ti 1998.<br />

30<br />

Marcu, Florin und Maneca, Constant (Hrsg.): Dic]ionar de neologisme. 3. Auflage. Bucure[ti 1978, S. 903<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003


Die Übersetzung als Prozess des Kulturtransfers.. Zu Victor Klemperers LTI<br />

geleitete Wort rasism, das einen sozial-politischen Glauben beschreibt, nachdem es zwischen<br />

Angehöriger verschiedenen Menschenrassen, biologische und intelektuelle Unterschiede gibt 31 .<br />

Als Rassenschande galt gemäß dem NS-„Blutschutzgesetz“ von 1935 der außer-eheliche Verkehr<br />

von anderen nicht-arischen Menschen, in erster Linie Juden mit Staatsangehörigen<br />

„deutschen oder artverwandten Blutes“ 32 . Die nicht-jüdische Ehefrau eines Juden wurde als<br />

Rassenschänderin beleidigt. In der Form kann man auf Rumänisch keine Entsprechung derselben<br />

Bezeichnung finden. Eine Übersetzung ohne zusätzliche Erklärung seitens des Übersetzers<br />

würde sicherlich mißverstanden werden. Mit Berücksichtigung des kulturellen und<br />

kontextuellen Aspekts würden wir folgende Übersetzungen vorschlagen: necinstirea rasei,<br />

pâng`rirea rasei oder profanarea rasei, Begriffe, die einen fast kirchlichen Klang haben.<br />

Wir möchten mit einem Wort altgerm. Ursprungs enden: rein < ahd. [h]reini, got. hrains,<br />

schwed. ren das auf einer alten Prinzipialbildung zu der Wurzelform [s]kr i „schneiden, sichten,<br />

sieben“ 33 beruht. In der Zielsprache - hier Rumänisch könnte dieser Inhalt durch das Wort pur<br />

(


Laura Gabriela Laza<br />

3. Coseriu, Eugen: Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie. in: Wilss, Wolfram (Hrsg.): Übersetzungswissenschaft.<br />

Darmstadt 1981<br />

4. Coseriu, Eugen: Limbaj [i politic`. In: Revista de lingvistic` [i [tiin]a literar` a Institutului de lingvistic` [i istorie<br />

al Academiei de [tiin]e din Moldova. Nr. 5/1996.<br />

5. Dic]ionar explicativ al limbii române. Bucure[ti 1996<br />

6. Dic]ionar român-german. Bucure[ti 1958<br />

7. Draganovici, Mihai: Die literarische Übersetzung als sprachlicher und kultureller Transfer. Einige Überlegungen. In:<br />

Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 7. Jahrgang, Heft 1-2 (13-14), Bukarest 1998, S. 284-286<br />

8. Drosdovski, Günther (Hrsg.) : Duden Ethymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 2. Auflage, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich<br />

1989<br />

9. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975<br />

10. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Auflage. Berlin 1998<br />

11. Kupsch-Losereit, Sigrid: Übersetzen als transkultureller Verstehens- und Kommunikationsvorgang: andere Kulturen,<br />

andere Äußerungen. Auf: www.fask.uni-mainz.de<br />

12. Marcu, Florin; Mânec`, Constant: Dic]ionar de neologisme. 3. Auflage. Bucure[ti 1978<br />

13. Reiß, Katharina. Vermeer, Hans J.: Grundlagen einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen 1991<br />

14. Neues Deutsches Wörterbuch, Naumann & Göbel Verlag, Köln o. J.<br />

15. Schlosser, H. Dieter: Lexikon der Unwörter. Berlin 2000<br />

16. Siehr, Karl-Heinz (Hrsg.): Victor Klemperers Werk. Berlin 2001<br />

17. Sima, Horia: Doctrina legionar`. Bucure[ti 1998<br />

18. Sima, Horia: Menirea na]ionalismului. Bucure[ti 1993<br />

19. Stolze, Radegundis: Übersetzungstheorien. Eine Einführung. Tübingen 1994<br />

20. 100 Wörter des Jahrhunderts. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999<br />

21. Witte, Heidrun: Die Kulturkompetenz des Translators. Begriffliche Grundlegung und Didaktisierung, Tübingen<br />

2000<br />

22. Zelea-Codreanu, Corneliu: Pentru legionari. Sibiu 1936<br />

23. Zelea-Codreanu, Corneliu: Pentru legionari. Sibiu 1940<br />

596<br />

ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

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