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Neue Weltordnungen - Vom Kolonialismus bis zum Bic Mac.pdf

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NOAM CHOMSKY<br />

NEUE WELTORDNUNGEN<br />

<strong>Vom</strong> <strong>Kolonialismus</strong> <strong>zum</strong> Big <strong>Mac</strong><br />

Übersetzt von Michael Haupt<br />

Europa Verlag<br />

Hamburg · Leibzig · Wien


Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme<br />

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der<br />

Deutschen Bibliothek erhältlich.<br />

Originalausgabe:<br />

»World Orders Old and New«<br />

© 1994 by Noam Chomsky<br />

Published by arrangement with The American University in Cairo Press<br />

Erstausgabe<br />

© Europa Verlag GmbH Leipzig, November 2004<br />

Umschlaggestaltung: Frauke Weise, Hamburg<br />

Satz: Paxmann/Teutsch Buchprojekte, München<br />

Druck und Bindung: Offizin Andersen Nexö Leipzig GmbH<br />

Scan., OCR und digitale Nachbearbeitung: Cats & Paws Productions, August 2005<br />

ISBN 3-203-76009-6<br />

Informationen über unser Programm erhalten Sie beim Europa Verlag,<br />

<strong>Neue</strong>r Wall 10, 20354 Hamburg oder unter www.europaverlag.de


INHALT<br />

Vorwort .......................................................................................... 5<br />

I. Der Kalte Krieg<br />

1. Wie man die Bevölkerung in Schach hält ................................... 6<br />

2. Weltordnungsstrategien .............................................................. 8<br />

3. Testfall Irak .............................................................................. 11<br />

4. Ein Rückblick auf den Kalten Krieg ......................................... 21<br />

5. Der Nord-Süd-Konflikt ............................................................ 45<br />

II. Die Weltwirtschaftspolitik<br />

1. Der Kampf an der Heimatfront ................................................. 51<br />

2. Geschichtliche Lektionen ......................................................... 62<br />

3. »Die Welt regieren« ................................................................. 66<br />

4. Bilanzierung ............................................................................. 70<br />

5. Der Blick nach vorn ................................................................. 83<br />

6. Die Konturen der <strong>Neue</strong>n Weltordnung ..................................... 90<br />

Anmerkungen ............................................................................ 96<br />

Editorische Nachbemerkung ................................................ 106


VORWORT<br />

Das Buch beruht auf drei Vorlesungen, die im Mai 1993 an der Amerikanischen Universität in Kairo<br />

gehalten wurden. Das Material wurde beträchtlich erweitert und aktualisiert, auch um die Anregungen<br />

aufzunehmen, die ich bei den Seminaren, Zusammenkünften und äußerst erhellenden persönlichen<br />

Gesprächen anläßlich meines viel zu kurzen Aufenthalts empfing. Vielen alten und neuen Freunden<br />

möchte ich für ihre Hilfsbereitschaft und sorgfältigen Kommentare danken. Namentlich erwähnen will<br />

ich hier nur Dr. Nelly Hanna, deren Gastfreundschaft und unermüdliche Unterstützung den Aufenthalt<br />

für mich und meine Frau zu einem unvergeßlichen Erlebnis machten und mir darüber hinaus das alte<br />

und neue Ägypten auf einzigartige Weise nahebrachten.<br />

Danken möchte ich auch vielen anderen Freunden überall auf der Welt, die zu den informellen<br />

Netzwerken gehören, welche sich über die Jahre entwickelt haben. In diesen Netzwerken werden,<br />

zusammen mit Kommentaren und Analysen, Presseberichte, Dokumente, Monographien und andere<br />

Materialien ausgetauscht, die über die gewöhnlichen Kanäle nicht erhältlich sind. Außerhalb der<br />

etablierten Institutionen, denen man kritisch gegenübersteht, zu arbeiten, verursacht Kosten und<br />

Ärgernisse, verschafft einem aber auch die freudig wahrgenommene Gelegenheit zu Kontakten mit<br />

anderen, die eine ähnliche Geisteshaltung aufweisen, ähnliche Interessen und Themen verfolgen. Viele<br />

von ihnen arbeiten unter höchst schwierigen Bedingungen, unter Begleitumständen also, die häufig<br />

mit Dissidenz und geistiger Unabhängigkeit einhergehen. Auch in diesem Buch habe ich, wie schon so<br />

oft zuvor, auf Materialien zurückgreifen können, die mir auf andere Weise nicht zugänglich gewesen<br />

wären. Gerne würde ich Namen nennen, aber diejenigen, denen ich so viel Hilfestellung verdanke,<br />

wissen ohnehin bescheid, und andere würden das Wesen und die Bedeutung eines solchen Austauschs<br />

zwischen Menschen, die sich kaum jemals persönlich getroffen, aber Mittel und Wege einer<br />

konstruktiven Zusammenarbeit jenseits institutioneller Schranken gefunden haben, nur schwer zu<br />

würdigen wissen.<br />

5


I: DER KALTE KRIEG<br />

Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 markiert konventionellerweise das symbolische Ende<br />

einer Ära der Weltpolitik, in der auf die wichtigsten Ereignisse der Schatten des Kalten Kriegs mit<br />

seiner fortwährenden Gefahr nuklearer Vernichtung fiel. Dieses Bild ist sicher nicht falsch, aber, weil<br />

es nur einen Teilaspekt darstellt, irreführend. Wenn wir es unkritisch übernehmen, können wir die<br />

unmittelbare Vergangenheit ebensowenig begreifen wie das, was vor uns liegt.<br />

1. Wie man die Bevölkerung in Schach hält<br />

Der soeben umrissene konventionelle Interpretationsrahmen hat den Interessen derjenigen, welche die<br />

Zügel fest in der Hand halten, recht gut gedient. Mit seiner Hilfe ließen sich höchst wirksame<br />

Mechanismen zur »Kontrolle der Bevölkerung« entwickeln. Dieser Begriff stammt aus dem Arsenal<br />

der Experten für counterinsurgency, worunter die Bekämpfung von Aufständen, Rebellionen und<br />

Partisanengruppen zu verstehen ist. Die Kontrolle der einheimischen Bevölkerung gehört zu den<br />

vorrangigen Aufgaben jedes Staats, der von bestimmten Sektoren der Gesellschaft beherrscht wird und<br />

deren Interessen er folglich wahrnimmt. Das gilt für jeden »real existierenden Staat«. Im Hinblick auf<br />

innerstaatliche Freiheit und Demokratie unterschieden sich die beiden Supermächte der Ära des Kalten<br />

Kriegs sehr deutlich voneinander, doch war das Problem der Bevölkerungskontrolle ihren jeweiligen<br />

<strong>Mac</strong>htstrukturen inhärent. In der Sowjetunion oblag diese Aufgabe dem von Lenin und Trotzki gleich<br />

nach der <strong>Mac</strong>htübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 eingerichteten militärischbürokratischen<br />

Netzwerk, das alle sozialistischen und rätedemokratischen Ansätze schnell und nachhaltig zerstörte. In<br />

den Vereinigten Staaten nahm sich der aus Industrie-, Finanz- und Handelsmächten bestehende Sektor<br />

der Sache an, ein hochkonzentriertes, ineinander verwobenes, klassenbewußtes Ensemble von<br />

Organisationen, das bei der Planung und Durchführung seiner Ziele zunehmend transnational verfuhr.<br />

Die Konfrontation der Supermächte im Kalten Krieg machte es leicht, kriminelle Handlungen im<br />

Ausland ebenso zu rechtfertigen wie die Stärkung privatwirtschaftlicher und staatlicher <strong>Mac</strong>ht im<br />

eigenen Land. Der lästigen Mühsal, glaubwürdige Beweise präsentieren zu müssen, konnten die<br />

Apologeten der <strong>Mac</strong>ht auf beiden Seiten durch die Erklärung entrinnen, daß die jeweiligen<br />

Handlungen zwar bedauerlich, jedoch als Reaktion auf die Bedrohung durch den grausamen und<br />

rücksichtslosen Feind im Interesse der »nationalen Sicherheit« unumgänglich seien. Wenn sich die<br />

Politik aus taktischen Gründen ändert, die Bedrohung nicht mehr heraufbeschworen werden muß oder<br />

die Absurdität des behaupteten Szenarios allzu augenfällig wird, greift man zu einer Hilfskonstruktion.<br />

Nunmehr gelten die einstmals geschürten Ängste als Übertreibungen einer verständlichen, durch den<br />

Kalten Krieg hervorgerufenen Gefühlsverirrung. Nunmehr können und werden wir »den Kurs ändern«<br />

und realistischer sein - <strong>bis</strong> das alte Band von neuem abgespielt werden muß.<br />

Ein nützlicher Nebeneffekt dieser Konstruktion besteht darin, daß die Probleme, denen die Opfer<br />

unserer Verwüstungen konfrontiert sind - Vietnamesen, Kubaner, Nicaraguaner und viele andere -,<br />

von ihnen selbst gelöst werden müssen, weil unsere Taten und Untaten mittlerweile zu den<br />

geschichtlichen Akten gelegt worden sind. Ähnliches geschieht in dem Maße, wie ältere Formen des<br />

<strong>Kolonialismus</strong> durch wirksamere Methoden der Unterjochung ersetzt werden.<br />

Noch während die Sowjetunion in der Versenkung verschwand, folgte die Doktrin der westlichen<br />

Vormacht ihren bewährten Leitlinien. Der Kalte Krieg wurde in die Archive entsorgt und mit ihm<br />

Terror, Aggression, ökonomische Kriegführung und andere Verbrechen, denen so viele Menschen<br />

<strong>zum</strong> Opfer gefallen waren. Was immer auch geschehen war, hatte der Kalte Krieg verursacht; wir aber<br />

lassen die Vergangenheit hinter uns, denn wir müssen nichts aus ihr für uns oder für die Zukunft<br />

6


lernen, der wir erhobenen Hauptes entgegenmarschieren und mit Bestürzung bemerken, wie wenig<br />

unsere traditionellen Opfer es vermocht haben, unserem Lebensstandard und unseren hohen<br />

moralischen Maßstäben auch nur nahezukommen. Diskussionen über die moralische Verpflichtung<br />

zur humanitären Intervention - beileibe kein triviales Problem - sind nur selten von Reflexionen über<br />

Bedeutung, Einfluß und institutionelle Wurzeln der Rolle Amerikas in der Welt angekränkelt. Nur<br />

wenige haben darauf gedrängt, daß der Iran sein Angebot wahrmachen und in Bosnien humanitär<br />

eingreifen solle. Warum? Aufgrund seiner Vergehen in der Vergangenheit und der Fragwürdigkeit<br />

seiner Institutionen. Nicht nur im Hinblick auf den Iran ist es angemessen, solchen Fragen<br />

nachzugehen. Bei uns jedoch gilt derlei lediglich als »Radiogeschwätz und abfälliges Gerede über die<br />

historisch böse Außenpolitik«, schreibt Thomas Weiss, Spezialist für internationale Beziehungen,<br />

spöttisch, und könne daher »einfach ignoriert werden«. Ein nachdenklicher Kommentar, der die<br />

wertgeschätztesten Grundsätze der offiziellen Kultur enthüllt.<br />

Heute sind »die amerikanischen Motive weitgehend humanitär«, erklärt der Historiker David Fromkin.<br />

Die augenblickliche Gefahr besteht in übermäßiger Gutwilligkeit: Wir führen eine selbstlose Aktion<br />

nach der anderen durch, ohne zu begreifen, daß man »von außen nur begrenzt Einfluß nehmen kann«<br />

und daß »die von uns aus humanitären Gründen in ferne Länder entsandten Armeen« vielleicht nicht<br />

in der Lage sind, »die Menschen vor sich selbst oder anderen zu schützen«. Dieser Ansicht ist auch<br />

der Elder Statesman George Kennan, ein führender Kritiker der Politik des Kalten Kriegs, für den es<br />

ein Fehler war, daß die Vereinigten Staaten vierzig Jahre lang keinen Versuch unternommen haben,<br />

zusammen mit den Sowjets eine friedliche Einigung anzustreben. Immerhin kann man seit dem Ende<br />

des Kalten Kriegs solche Themen <strong>zum</strong>indest öffentlich diskutieren. Auch Kennan erneuert die<br />

traditionelle Haltung, wonach wir unser Engagement im Ausland beschränken sollten, weil »ein Land<br />

wie das unsrige vor allem durch das Beispiel, nicht aber durch Vorschriften den nützlichsten Einfluß<br />

jenseits der Grenzen ausübt«. Da mögen doch andere Länder, Länder, die anders sind als das unsrige,<br />

sich die Finger schmutzig machen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß »ein souveräner Staat« -<br />

und sei er noch so tugendhaft - »einem anderen nur in begrenztem Maße helfen kann«. Andere<br />

dagegen sind der Auffassung, es sei unfair, der leidenden Menschheit unsere gutwillige (was sonst?)<br />

Zuwendung zu entziehen. 1<br />

Natürlich unterscheiden sich, wie bereits erwähnt, die Kontrollmechanismen eines totalitären Staats<br />

von denen einer staatskapitalistischen Demokratie, doch gab es während der Nachkriegsära<br />

augenfällige Übereinstimmungen. Als die Sowjets ihre Panzer nach Ost-Berlin, Budapest oder Prag<br />

schickten oder Afghanistan verwüsteten, konnten sie die einheimische Bevölkerung und die<br />

Satellitenstaaten durch die Beschwörung des <strong>zum</strong> Atomschlag bereiten amerikanischen Teufels<br />

mobilisieren. Ebenso verfuhren sie, als sie einen brutalen staatlichen Unterdrückungsapparat<br />

errichteten, der zugleich der Nomenklatura, d. h. den Streitkräften, Geheimdiensten und der<br />

Militärindustrie <strong>Mac</strong>ht und Privilegien garantierte. Ähnliche Kontrollmethoden wurden in den<br />

Vereinigten Staaten angewandt, als diese weltweit Gewalt und Unterdrückung beförderten. Dabei war<br />

die eng mit dem Pentagon verknüpfte staatliche Industriepolitik einer der Hauptfaktoren<br />

ökonomischen Wachstums, während von der Bevölkerung »Opferbereitschaft und Disziplin« erwartet<br />

wurden. So jedenfalls lautete die Forderung des im April 1950 formulierten Memorandums NSC 68,<br />

in dem der Nationale Sicherheitsrat die »Notwendigkeit einer gerechten Unterdrückung« umriß, die er<br />

für einen entscheidenden Wesenszug der »demokratischen Verfahrensweise« hielt, um den »Dissens<br />

bei uns« zu marginalisieren und zugleich die öffentlichen Gelder den Bedürfnissen der High-Tech-<br />

Industrie zufließen zu lassen.<br />

Diese Muster sind <strong>bis</strong> heute intakt geblieben. Ein besonders bezeichnendes Beispiel ist die geläufige<br />

Interpretation des mit Massakern, Folter und Zerstörung durchgeführten Feldzugs, den die Vereinigten<br />

Staaten während der achtziger Jahre in Mittelamerika organisierten und lenkten, um die z. T. unter der<br />

Schirmherrschaft der Kirche sich herausbildenden bevölkerungsnahen Organisationen zu zerschlagen.<br />

Diese nämlich drohten zur Basis einer funktionierenden Demokratie zu werden und den Völkern der<br />

von den USA unterjochten Region größere Eigenständigkeit zu verschaffen, weshalb sie vernichtet<br />

werden mußten. Diese schändliche Episode imperialer Gewalt wird jetzt gewöhnlicherweise als<br />

leuchtendes Beispiel für unseren Idealismus hochgehalten, mit dem wir diesen primitiven Gegenden<br />

7


Demokratie und Achtung vor den Menschenrechten nahebrachten. Zwar gab es dabei, wie eingeräumt<br />

wird, einige Übergriffe, die jedoch dem Ost-West-Konflikt, der auch die dortigen Länder nicht<br />

verschonte, zugerechnet werden müssen. So zu argumentieren ist zwar absurd, aber ein immer wieder<br />

beliebter Griff in die bereitstehende politische Mottenkiste.<br />

Spannend zu verfolgen war dann, nachdem die sowjetische Bedrohung in den achtziger Jahren<br />

zunehmend dahinschwand, die verzweifelte Suche nach einem neuen Hauptfeind, sei es der<br />

internationale Terrorismus, der lateinamerikanische Drogenhandel, der islamische Fundamentalismus<br />

oder die »Instabilität« und allgemeine Verderbtheit der Dritten Welt. Dieses Projekt wurde mit der<br />

üblichen Sorgfalt durchgeführt: In der Kategorie »internationaler Terrorismus« tauchen die von den<br />

USA und ihren Vasallen begangenen Verbrechen nicht auf; sie werden von den Medien und der<br />

einschlägigen Wissenschaft gar nicht erwähnt. Die empörten Kommentare <strong>zum</strong> Drogenkrieg<br />

verschweigen, daß die CIA in führender Weise am Handel mit Betäubungsmitteln beteiligt war,<br />

während der Staat amerikanischen Banken und Konzernen die Realisierung beträchtlicher Gewinne<br />

aus dem Verkauf tödlicher Narkotika ermöglichte usw. 2<br />

Der Kalte Krieg ist für die Staatsbürokraten und Ideologiemanager von funktionellem Nutzen<br />

gewesen, denn er bot die willkommene Legitimation für Gewalt und Ungerechtigkeit. Auch deshalb<br />

sind Zweifel angebracht, ob das konventionelle Bild dieses Konflikts der Wirklichkeit entspricht. Die<br />

historischen Dokumente zeigen, daß diese Zweifel begründet sind.<br />

2. Weltordnungsstrategien<br />

Mit dem Ende des Kalten Kriegs wurden Forderungen nach einer neuen Weltordnung laut. Der<br />

früheste Entwurf stammte von der South Commission, einer von Julius Nyerere geleiteten Nicht-<br />

Regierungsorganisation, der Ökonomen, Regierungsbeamte, religiöse Führer und andere<br />

Persönlichkeiten aus Ländern der Dritten Welt angehörten. In einer 1990 veröffentlichten<br />

Untersuchung 3 beschäftigte sich die Kommission mit der jüngsten Entwicklung der Nord-Süd-<br />

Beziehungen, deren Höhepunkt die tiefe Krise des Kapitalismus war, die in den achtziger Jahren die<br />

ehemaligen Herrschaftsgebiete des <strong>Kolonialismus</strong> heimsuchte. Ausgenommen davon war nur der<br />

japanische Einflußbereich in Ostasien, wo die Staaten mächtig genug waren, über die Arbeiterschaft<br />

hinaus auch noch das Kapital zu kontrollieren, weshalb sie von den Turbulenzen des Weltmarkts<br />

einigermaßen verschont blieben. Während in Lateinamerika die Kapitalflucht nahezu das Ausmaß der<br />

Staatsschulden erreichte, konnten die ostasiatischen Länder ein ähnliches Debakel durch strenge<br />

Kontrollen und Regulierungen verhindern.<br />

Die Kommission merkt an, daß der Norden in den siebziger Jahren zunächst ein offenes Ohr für die<br />

Sorgen und Nöte der Dritten Welt hatte, was »zweifellos auf das neugewonnene selbstbewußte<br />

Auftreten des Südens nach dem Steigen der Ölpreise 1973« zurückzuführen war. Nachdem dieses<br />

Problem jedoch behoben war und sich die Handelsbeziehungen wie seit jeher wieder zugunsten der<br />

Industriegesellschaften verschoben hatten, verloren die führenden westlichen Mächte das Interesse<br />

und gingen zu einer »neuen Form des Neokolonialismus« über. Sie monopolisierten die Kontrolle über<br />

die Weltwirtschaft, unterminierten die demokratischeren Strukturen der Vereinten Nationen und<br />

machten sich ganz allgemein daran, den »zweitklassigen Status des Südens« auf Dauer zu stellen - was<br />

angesichts des mit beträchtlichem Zynismus ausgenutzten <strong>Mac</strong>htgefälles nicht verwundern kann.<br />

Angesichts des miserablen Zustands der ehemaligen kolonialen Herrschaftsgebiete forderte die<br />

Kommission eine »neue Weltordnung«, die das »Bedürfnis des Südens nach Gerechtigkeit, Gleichheit<br />

und Demokratie in der globalen Gesellschaft« berücksichtigen solle. Allerdings bieten die Analysen<br />

dafür wenig Hoffnung, wie schon die Reaktion des Nordens auf den Bericht zeigt, der, ebenso wie die<br />

Forderungen, lautlos in der Versenkung verschwand. Die mächtigen Industrienationen folgen lieber<br />

Winston Churchill, der schon nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Ordnung skizzierte:<br />

8


»Die Herrschaft über die Welt müßte den gesättigten Nationen anvertraut werden, die mit<br />

dem zufrieden wären, was sie besitzen. Würde die Welt von hungrigen Nationen regiert,<br />

gäbe es immer Gefahren. Von uns jedoch müßte keiner mehr wollen, als er hat. Der<br />

Frieden würde am besten von Völkern bewahrt, die auf ihre Weise leben und keine<br />

Ambitionen haben. Unsere <strong>Mac</strong>ht würde uns über die anderen stellen. Wir wären wie<br />

reiche Leute, die friedlich in ihren Behausungen leben.« 4<br />

Dem sind nur zwei Anmerkungen hinzuzufügen. Zum einen sind die Reichen keineswegs ohne<br />

Ambitionen; vielmehr streben sie ständig danach, <strong>Mac</strong>ht und Reichtum zu vergrößern, wozu sie allein<br />

schon durch das Wirtschaftssystem gezwungen werden. Zum anderen dient die Behauptung, Nationen<br />

seien die eigentlichen Akteure in der internationalen Arena, der ideologischen Verschleierung der<br />

Tatsache, daß in den reichen wie den hungrigen Staaten <strong>Mac</strong>ht und Privilegien höchst unterschiedlich<br />

verteilt sind. Wenn wir Churchills Vorschlag aller täuschenden Elemente entkleiden, lautet die<br />

Richtlinie für die Weltordnung, daß die reichen Leute der reichen Nationen die Welt regieren sollen,<br />

wobei sie untereinander um einen größeren Anteil an <strong>Mac</strong>ht und Reichtum konkurrieren und<br />

gnadenlos alle unterdrücken, die ihnen im Weg stehen. Unterstützt werden sie gehorsamst von den<br />

reichen Leuten der hungrigen Nationen, während die übrigen demütig dienen und leiden.<br />

Das sind Binsenweisheiten. Natürlich gibt es, wie bei jedem komplexen System, Nuancen und<br />

Nebeneffekte, aber es ist nicht falsch, sondern eher verdienstvoll, die alte und neue Weltordnung als<br />

»kodifizierte internationale Piraterie« zu beschreiben. 5<br />

Im übrigen ist London bei seiner loyalen Unterstützung des Projekts, die hungrigen Nationen unter<br />

Kontrolle zu halten, weniger als Washington mitsamt seinem Chor der Schönfärber darauf<br />

angewiesen, die Sache euphemistisch zu verschleiern. Großbritannien kann mit erfrischender<br />

Offenheit auf seine imperialen Traditionen verweisen, während sich die Vereinigten Staaten bei dem<br />

Unternehmen, alle im Weg stehenden Hindernisse niederzutreten, gern einen Heiligenschein<br />

verpassen. Sie nennen das »Wilsonianischen Idealismus« und ehren damit einen der bedeutenden<br />

Befürworter gewaltsamer militärischer Intervention und imperialer Unterdrückung, dessen Botschafter<br />

in London sich einst darüber beklagte, daß die Briten seiner Mission, »die moralischen Defizite<br />

ausländischer Nationen zu beheben«, nur wenig Verständnis entgegenbringen würden. 6<br />

Großbritannien hat immer »auf dem Recht, Nigger zu bombardieren, beharrt«. So jedenfalls<br />

formulierte es der distinguierte britische Staatsmann Lloyd George, nachdem er sichergestellt hatte,<br />

daß der Abrüstungsvertrag von 1932 dem Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung, Londons<br />

hauptsächlicher Methode zur Kontrolle des Nahen Ostens, keine Beschränkungen auferlegen würde.<br />

Der Grundgedanke war von Winston Churchill artikuliert worden. 1919, als er Kriegsminister war,<br />

suchte das Nahostkommando der Royal Air Force um die Erlaubnis nach, »gegen widerspenstige<br />

Araber chemische Waffen als Experiment einzusetzen«. Churchill gab die Genehmigung und hielt<br />

Bedenken für »unbegründet«: »Ich begreife dies Getue um den Einsatz von Gas überhaupt nicht. Ich<br />

bin sehr dafür, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme einzusetzen ... Dabei ist es keinesfalls notwendig,<br />

nur die tödlichsten Gase einzusetzen; man kann solche benutzen, die große Ungelegenheiten<br />

verursachen und lebhaften Schrecken verbreiten, ohne die Betroffenen dauerhaft zu schädigen.«<br />

Chemische Waffen seien lediglich »die Anwendung westlicher Wissenschaft auf die moderne<br />

Kriegführung«, erklärte er. »Wir können uns nicht in jedem Fall dazu bereit erklären, Waffen<br />

unbenutzt zu lassen, die in der Lage sind, den an der Front herrschenden Unruhen Einhalt zu<br />

gebieten.« Die Briten hatten bereits in Nordrußland Giftgas gegen die Bolschewisten eingesetzt und<br />

dabei, so die Kommandeure, beträchtliche Erfolge erzielt. Die »unzivilisierten Stämme« von 1919<br />

waren hauptsächlich Kurden und Afghanen, und die Luftangriffe dienten dem Schutz von britischen<br />

Soldaten. Man folgte damit einem Modell, das Woodrow Wilsons Marines entwickelt hatten, als sie<br />

die Schwarzen in Haiti niedermetzelten. 7<br />

Der britische Stil erwachte zu neuem Leben, als im Golfkonflikt von 1990/91 der Westen vom Fieber<br />

des Rassismus befallen wurde. John Keegan, ein prominenter britischer Journalist und<br />

Militärhistoriker, umriß die herrschende Meinung kurz und bündig: »Die Briten sind seit 200 Jahren<br />

daran gewöhnt, Expeditionsstreitkräfte nach Übersee zu schicken, um sie gegen Afrikaner, Chinesen,<br />

9


Inder und Araber kämpfen zu lassen. Das wird ganz einfach für selbstverständlich gehalten«, und der<br />

Krieg im Golf »löst bei den Briten sehr vertraute imperiale Gefühle aus.« Großbritannien ist darum gut<br />

gerüstet für eine Mission à la Churchill, für eine »neue Aufgabe« in der »Welt nach dem Kalten<br />

Krieg«, die der Chefredakteur des Sunday Telegraph, Peregrine Worsthorne, so skizzierte: »Es geht<br />

um die Schaffung und Aufrechterhaltung einer Weltordnung, die stabil genug ist, damit die<br />

entwickelten Wirtschaften ohne fortwährende Störungen und Drohungen seitens der Dritten Welt<br />

funktionieren können.« Diese Aufgabe erfordert »die sofortige Intervention der fortgeschrittenen<br />

Nationen«, möglicherweise sogar ein »präemptives Handeln«. Großbritannien kann, »wenn es um<br />

ökonomische Wertschöpfung geht, mit Japan und Deutschland nicht konkurrieren, noch nicht einmal<br />

mit Frankreich oder Italien. Aber wenn es darum geht, Verantwortung für die Welt zu übernehmen,<br />

sind wir sehr viel besser aufgestellt« - Verantwortung im Sinne Churchills, versteht sich.<br />

Großbritannien ist, merkt der Militärkorrespondent des Londoner Independent an, sozial und<br />

wirtschaftlich zwar im Niedergang begriffen, jedoch »als Söldner der internationalen Gemeinschaft<br />

gut qualifiziert, motiviert und militärisch ausgezeichnet profiliert«. 8<br />

Worsthornes »neue Aufgabe« ist tatsächlich aller Ehren wert; ein weiterer Hinweis darauf, daß die<br />

»Welt nach dem Kalten Krieg« den alten imperialen Mustern folgt.<br />

Zur selben Zeit wies die westliche Wirtschaftspresse den Vereinigten Staaten eine vergleichbare<br />

Aufgabe zu. Da Washington den globalen »Sicherheitsmarkt« ohnehin aufgekauft habe, sollten die<br />

USA, im Mafia-Stil, weltweiten Handel mit militärischem Schutz betreiben und diesen anderen<br />

reichen Mächten wie etwa Japan und dem von Deutschland angeführten Kontinentaleuropa, andienen,<br />

die dafür eine »Kriegsprämie« bezahlen. Auf diese Weise und im Hinblick auf die von ihnen<br />

beherrschte Ölproduktion der Golfstaaten können die USA als »willige Söldner ... unsere Kontrolle<br />

über das Weltwirtschaftssystem aufrechterhalten«. Diese Methode wurde im Golfkrieg mit großem<br />

Erfolg angewendet. Dort, so der Experte für internationale Wirtschaft, Fred Bergsten, »hieß<br />

„kollektive Führung" [collective leadership], daß die USA die Anführer waren und die Gewinne<br />

einsammelten [collected], indem sie ihre geringfügigen militärischen Kosten überfinanzierten und so<br />

aus dem Konflikt ökonomischen Gewinn schlugen« - gar nicht zu reden von profitablen Verträgen für<br />

den Wiederaufbau, umfangreiche Waffenverkäufe und andere den Siegern zugefallene Tribute. 9<br />

Kurz nachdem die South Commission eine auf Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie beruhende<br />

»neue Weltordnung« gefordert hatte, übernahm George Bush den Begriff, um damit seinen Golfkrieg<br />

rhetorisch zu verbrämen. Während auf Bagdad und Basra Bomben niederregneten und im Südirak<br />

Husseins Soldaten in Erdlöchern Schutz suchten, ließ der US-Präsident verlautbaren, daß die<br />

Vereinigten Staaten die Vorhut »einer neuen Weltordnung sind, in der unterschiedliche Nationen sich<br />

einer gemeinsamen Sache widmen, um die universellen Hoffnungen der Menschheit zu verwirklichen:<br />

Frieden und Sicherheit, Freiheit und die Herrschaft des Gesetzes«. Wir treten, verkündete<br />

Außenminister James Baker stolz, in eine »Ära voller Verheißungen ein« und erleben »einen der<br />

seltenen weltgeschichtlichen Augenblicke, der alles verändert«.<br />

Die Botschaft wurde von dem Auslandschefkorrespondenten der New York Times, Thomas Friedman,<br />

erläutert. Präsident Bush habe sich, so erklärte er, im Golfkrieg vom Grundsatz leiten lassen, »daß die<br />

Nichtachtung internationaler Grenzen zwischen souveränen Staaten ins Chaos führt« - vielleicht<br />

dachte er dabei an Panama, den Libanon, Nicaragua, Grenada usw. Aber der eigentliche Aspekt ist<br />

noch viel umfassender: »Amerikas Sieg im Kalten Krieg war ... ein Sieg für ganz bestimmte politische<br />

und wirtschaftliche Prinzipien: für Demokratie und den freien Markt.« Endlich begreift die Welt, daß<br />

»im freien Markt die Zukunft liegt - eine Zukunft, für die Amerika gleichermaßen Türhüter<br />

[gatekeeper] und Modell ist«. 10<br />

In den ideologischen Institutionen - den Medien, den Wissenschaften, der intellektuellen<br />

Gemeinschaft insgesamt - fand George Bushs Forderung lauten Widerhall, nicht aber die des Südens.<br />

Darin spiegeln sich die <strong>Mac</strong>htverhältnisse, pünktlich <strong>zum</strong> 500. Jahrestag jener Fahrten, mit denen die<br />

europäische Eroberung der Welt begann, die deren Opfern, so Adam Smith, »schreckliches Unglück«<br />

brachte.<br />

10


Wie schrecklich dieses Unglück war und die »grausame Ungerechtigkeit der Europäer« (noch einmal<br />

Adam Smith), offenbart ein Blick auf die frühesten Opfer, Haiti und Bengalen. Die Eroberer<br />

beschrieben diese Länder als wohlhabend, reich an Schätzen und dichtbevölkert. Sie wurden zu einer<br />

Quelle ungeheuren Reichtums für die französischen und britischen Ausbeuter und sind jetzt Symbole<br />

des Elends und der Verzweiflung. Nur ein Land des Südens hat es geschafft, in den Club der Reichen<br />

aufgenommen zu werden und der Kolonisierung zu entgehen, nämlich Japan, das sich, wie auch einige<br />

seiner ehemaligen Kolonien, allen von der westlichen Vormacht diktierten »Rezepten« für<br />

wirtschaftliche Entwicklung widersetzen konnte. Das war der »ersten Kolonie der modernen Welt«,<br />

Irland, nicht vergönnt. Es wurde deindustrialisiert und radikal entvölkert, 11 was auch an der rigiden<br />

Anwendung jener heiligen »Gesetze der politischen Ökonomie« lag, die während der um 1840<br />

grassierenden Hungersnöte sinnvolle Hilfe oder auch nur die Beendigung der Lebens-mittelexporte<br />

unmöglich machten. Darunter hat Irlands Wirtschaft noch <strong>bis</strong> weit ins 20. Jahrhundert hinein<br />

gelitten. 12 Was Adam Smith bereits deutlich erkannte, liegt heute offen zutage, man muß es nur sehen<br />

wollen.<br />

3. Testfall Irak<br />

Da jene, die den Beginn einer neuen Ära mit so viel Stolz verkündeten, ihre Grundsätze und Absichten<br />

vor allem anhand der westlichen Politik gegenüber dem Irak verdeutlichten, ist es angemessen, die<br />

Entwicklung dieser Politik genauer zu untersuchen. Was George Bushs »<strong>Neue</strong> Weltordnung« wirklich<br />

bedeutete, zeigte sich spätestens direkt nach dem Golfkrieg - für den übrigens der Terminus »Golf-<br />

Massaker« angemessener ist, denn Krieg kann man es nicht nennen, wenn eine Seite die andere aus<br />

sicherer Entfernung niedermetzelt und dabei die zivilen Strukturen der Gesellschaft zerstört. Danach<br />

sahen die Sieger gleichmütig zu, wie Saddam aufständische Schiiten und Kurden direkt vor den Augen<br />

von »Stormin' Norman« Schwartzkopf niederwarf, dessen Truppen rebellierenden irakischen<br />

Generälen sogar den Zugang zu erbeuteten Waffen verwehrten. David Howell, Vorsitzender des<br />

britischen Unterhauskomitees für auswärtige Beziehungen, meinte, die westliche Politik habe<br />

»Saddam zu verstehen gegeben: ›Alles in Ordnung, du kannst an Greueltaten verüben, was du willst.<br />

‹« Diese Greueltaten seien, versicherten uns die Regierung und die Medien, zwar nicht schön<br />

anzusehen, aber notwendig zwecks Sicherung der »Stabilität« - ein magischer Begriff, der für alles<br />

steht, was die Herrschenden für erforderlich halten. 13<br />

Nachdem Washington so geholfen hatte, Ruhe und Stabilität auf friedhofsmäßige Weise herzustellen,<br />

wandte es sich der nächsten Aufgabe zu und trat als wirtschaftlicher Würgeengel auf. Auch hier<br />

leistete Thomas Friedman wieder mediale Schützenhilfe: Die Bevölkerung des Irak werde in<br />

Geiselhaft genommen, um das Militär <strong>zum</strong> Sturz von Saddam zu bewegen. Würden die Irakis nur<br />

genügend leiden, könnte ein General die <strong>Mac</strong>ht an sich reißen, »und dann hätte Washington die beste<br />

aller Welten: eine Junta, die ohne Saddam Hussein den Irak mit eiserner Faust regiert« und, wie einst<br />

er selbst, »zur Zufriedenheit der amerikanischen Verbündeten Türkei und Saudiarabien das Land<br />

zusammenhält«. 14<br />

Der Süden, der in das Triumphgeheul nicht einstimmte, zeigte sich von dieser Politik keineswegs<br />

überrascht. Typisch war die Reaktion der Times of India, die dem Westen vorwarf, er suche »ein<br />

regionales Jalta, bei dem die mächtigen Nationen die ara<strong>bis</strong>chen Beutestücke unter sich aufteilen«.<br />

Das Verhalten der Westmächte habe »die westliche Zivilisation von ihrer schäbigsten Seite gezeigt:<br />

ihren ungezügelten Appetit auf Vorherrschaft, ihre morbide Vorliebe für hochtechnisierte militärische<br />

<strong>Mac</strong>ht, ihr Unverständnis für ›fremde‹ Kulturen, ihren abstoßenden Chauvinismus ...« Eine führende<br />

Monatszeitschrift in Malaysia verurteilte »den feigsten Krieg, der je auf diesem Planeten ausgetragen<br />

wurde«. Der Auslandsredakteur einer großen brasilianischen Tageszeitung schrieb: »Was im Golf<br />

praktiziert wird, ist reine Barbarei, die ironischerweise im Namen der Zivilisation verübt wird. Bush<br />

trägt dafür nicht weniger Verantwortung als Saddam ... Beide, hart und unbeugsam, wie sie sind,<br />

haben nur die kalte Logik geopolitischer Interessen im Auge, während Menschenleben ihnen nichts<br />

11


gelten.« Als der irakische Diktator im März 1991 die Aufstände der Kurden und Schiiten niederwarf,<br />

hielt ein führender Repräsentant der demokratischen Opposition, der in London beheimatete Bankier<br />

Achmed Tschaiabi, den USA vor, »darauf zu warten, daß Saddam die Aufständischen abschlachtet,<br />

weil sie die Hoffnung hegen, er könne später durch einen geeigneten Offizier gestürzt werden«; es sei<br />

schließlich ein Charakterzug der US-Politik, »Diktaturen zu unterstützen, um Stabilität zu sichern«.<br />

Das Ergebnis wäre »die schlechteste alle möglichen Welten« für die irakische Bevölkerung, jedoch, so<br />

Friedman, die beste für Washington, wenn Saddams eisernes Regime unter einem anderen und<br />

weniger irritierenden Etikett fortdauern könnte. 15<br />

Schon vorher hatten sich die Konturen von Bushs »<strong>Neue</strong>r Weltordnung« deutlich genug abgezeichnet.<br />

Saddams Einmarsch in Kuweit hatte zu einer plötzlichen und unerklärten Abweichung von der<br />

üblichen Vorgehensweise geführt: Statt, wie in anderen Fällen, die Aggression zu dulden, beschlossen<br />

die Bündnismächte USA und Großbritannien, dagegen vorzugehen, und zwar mit Gewalt, wobei sie,<br />

unter Hintansetzung diplomatischer Lösungsversuche, gegen das internationale Recht und die UN-<br />

Charta verstießen. Zwar wurde die Existenz diplomatischer Optionen eingeräumt, aber die USA mit<br />

ihrem Monopolanspruch auf Gewalt und der festen Absicht, ihre Vorherrschaft zu sichern, wollten sie<br />

nicht akzeptieren.<br />

Am 22. August 1990, drei Wochen nach dem irakischen Einmarsch, legte Thomas Friedman in der<br />

New York Times die Gründe für Bushs »harten Kurs« dar. Washington wolle den »diplomatischen<br />

Weg« blockieren, weil es befürchte, daß Verhandlungen »die Krise zugunsten einiger kleiner<br />

Landgewinne in Kuweit entschärfen« könnten (vielleicht »eine Insel oder kleinere Grenzkorrekturen«,<br />

die schon lange im Gespräch waren). Über die irakischen Rückzugsangebote, die Washington soviel<br />

Sorge bereiteten und von einem Nahostexperten der Regierung als »seriös« und »verhandlungsfähig«<br />

bezeichnet wurden, berichtete eine Woche später die New Yorker Vorstadtzeitung Newsday -<br />

augenscheinlich das einzige Blatt in den USA und Großbritannien, das jemals über die wesentlichen<br />

Tatsachen informiert hat, obwohl es überall genug Hinweise darauf gab. Die New York Times<br />

bemerkte im Kleingedruckten, man habe diese Informationen ebenfalls erhalten, jedoch auf den<br />

Abdruck verzichtet. Die Story verschwand ebenso schnell in der Versenkung wie spätere<br />

Gelegenheiten zur friedlichen »Entschärfung der Krise« mißachtet wurden. Die Bush-Administration<br />

machte deutlich, daß es keine Verhandlungen geben werde, und damit war die Sache erledigt. In<br />

Großbritannien schien man von alledem noch weniger Notiz genommen zu haben. 16<br />

Dagegen wurde die Diskussion über den möglichen Erfolg wirtschaftlicher Sanktionen geduldet -<br />

nicht aber die Tatsache, daß die Sanktionen vielleicht schon gewirkt haben könnten, wie die<br />

unerwähnt gebliebenen Rückzugsangebote vermuten ließen. Allerdings war die Debatte harmlos. Wer<br />

konnte schon wissen, was die Sanktionen bewirken würden? Angesichts dieser Ungewißheit verließ<br />

man sich lieber auf das Urteil der Politik. Der »diplomatische Kurs« war jedoch eine andere Sache.<br />

Ihn zu verfolgen, war zu gefährlich, befürchtete die US-Regierung doch, daß er <strong>zum</strong> Rückzug des Irak<br />

führen und damit die Chance, ein wehrloses Land nieder<strong>zum</strong>achen und ihm eine nützliche Lektion in<br />

Sachen Gehorsam zu verpassen, zerrinnen könnte.<br />

Wie wichtig die Kontrolle der öffentlichen Meinung war, zeigen Umfragen, nach denen <strong>bis</strong> <strong>zum</strong><br />

Beginn der Bombardements Mitte Januar 1991 die amerikanische Bevölkerung zu zwei Dritteln eine<br />

friedliche Regelung befürwortete, die sich durchaus im Rahmen der irakischen Vorschläge bewegte.<br />

Wäre bekannt gewesen, daß solche Vorschläge, die von Regierungsbeamten als realistisch<br />

eingeschätzt wurden, tatsächlich auf den Tisch gebracht worden waren, hätte sich noch eine weit<br />

größere Mehrheit dafür ausgesprochen und Washington möglicherweise dazu gezwungen, den<br />

diplomatischen Kurs einzuschlagen. Ob das Erfolg gehabt hätte, weiß keiner, aber Ideologen<br />

argumentieren gern im Sinne der <strong>Mac</strong>ht, und das gilt auch für das gegenwärtige Standardwerk <strong>zum</strong><br />

Golfkonflikt, dessen Autoren sich rühmen, »Beweismaterial aus allen verfügbaren Quellen«<br />

ausgewertet zu haben. 17 Zwar ist das genaue Gegenteil der Fall, aber für die Rezensenten hat dieses<br />

Buch dennoch die Fruchtlosigkeit diplomatischer Bemühungen erwiesen.<br />

Der UN-Sicherheitsrat ließ sich von Washingtoner Drohgebärden beeinflussen und die USA und<br />

Großbritannien schließlich gewähren, in Verletzung der UN-Charta, aber in Anerkenntnis der<br />

12


Tatsache, daß die dort festgeschriebenen Maßnahmen sich gegen die amerikanische Unbeugsamkeit<br />

nicht durchsetzen ließen. Die Regierung von Kuweit unterstützte die USA, indem sie einige hundert<br />

Millionen Dollar aufwendete, um Stimmen im Sicherheitsrat zu kaufen. Das jedenfalls behaupteten<br />

kuweitische Untersuchungsbeamte, die nach verschwundenen Investitionsgeldern in Höhe von etwa<br />

500 Millionen Dollar fahndeten.<br />

Während die Bomben fielen, sollte die amerikanische Bevölkerung die »standfeste Prinzipienhaftigkeit<br />

... die [George Bush] während seiner Jahre in Andover und Yale eingeprägt wurde, der<br />

zufolge Ehre und Pflicht es gebieten, dem Tyrannen ins Gesicht zu schlagen«, bewundern. Das<br />

jedenfalls meinte ein Reporter, der aus dem Weißen Haus berichtete und einige Tage zuvor einen<br />

internen Regierungsbericht, der durchgesickert war, veröffentlicht hatte. Er drehte sich um<br />

»Bedrohungen aus der Dritten Welt« und kam zu dem Schluß, daß in Fällen, »wo die USA sich mit<br />

sehr viel schwächeren Feinden konfrontiert sehen« - andere zu bekämpfen ist ja auch nicht sinnvoll -,<br />

»wir vor der Herausforderung stehen, sie nicht nur zu besiegen, sondern schnell und nachhaltig zu<br />

besiegen«; ein anderer Verlauf würde »Verwirrung stiften« und möglicherweise »die politische<br />

Unterstützung gefährden«, die, so wurde eingeräumt, dünn sei. 18<br />

Die zweite große US-Tageszeitung schloß sich den Lobeshymnen auf George Bush vorbehaltlos an<br />

und feierte den »sprituellen und intellektuellen Triumph« im Golfkrieg: »Kriegerische Werte, die der<br />

Ächtung anheimgefallen waren, wurden neu belebt« und »die seit Vietnam angegriffene Autorität des<br />

Präsidenten gestärkt« (so E. J. Dionne in der Washington Post). An der äußersten Grenze des<br />

amerikanischen Liberalismus verwarf der Boston Globe alle Rücksichten auf die Gefahren<br />

rhetorischen Überschwangs und pries den »Sieg für die Psyche« sowie das neue »National- und<br />

<strong>Mac</strong>htgefühl« unter der Führung eines Mannes, der als »zäher Hund« den Mut hat, »alles auf eine<br />

Karte zu setzen« und über ein »brennendes Pflichtgefühl« verfügt, eines Mannes, der »die Tiefe und<br />

stählerne Kernhaftigkeit seiner Überzeugungen« demonstrierte und daran glaubte, daß wir »ein<br />

auserwähltes Volk mit einer gerechten Mission« sind, eines Mannes, der in jene Reihe »edelgesinnter<br />

Missionare« gehört, die <strong>bis</strong> zu seinem Helden Teddy Roosevelt zurückreicht - also <strong>bis</strong> zu einem<br />

Präsidenten, der, wie wir uns gerne erinnern, »diesen Dagos zeigte, was anständiges Benehmen heißt«<br />

und den »wilden und unwissenden Völkern«, die den »vorherrschenden Weltrassen« im Weg stehen,<br />

einige Lektionen erteilte. Thomas Oliphant, Washington-Korrespondent des Boston Globe, lobte die<br />

»Großartigkeit von Bushs Triumph« und machte sich über den »uninformierten Müll« der Nörgler<br />

lustig. »Bushs Führungskraft hat das Vietnam-Syndrom in ein Golf-Syndrom verwandelt, bei dem die<br />

Losung „Raus, aber schnell!" sich gegen Aggressoren richtet, nicht aber gegen uns«, verkündete er<br />

stolz und zollte damit reflexhaft der Doktrin Tribut, daß in Vietnam die Vereinigten Staaten sich gegen<br />

die vietnamesischen Aggressoren verteidigen mußten. Nunmehr folgen wir »der ehren- und<br />

anspruchsvollen Forderung, daß Aggression bekämpft werden muß, in Ausnahmefällen auch mit<br />

Gewalt«. Seltsamerweise fordert Oliphant nicht, daß wir auch Jakarta, Tel Aviv, Damaskus, Ankara,<br />

Washington und eine ganze Reihe anderer Hauptstädte angreifen müßten. 19<br />

So geht die freudige Bejahung faschistischer Werte Hand in Hand mit einem selbstgerechten<br />

Moralismus - ein traditioneller Charakterzug der intellektuellen Kultur.<br />

Aber es läßt sich von den Reaktionen auf Bushs gewaltsames Vorgehen noch mehr lernen. Wer immer<br />

in die Jubelbotschaft von der neuen »verheißungsvollen Ära« einstimmte, mußte die Geschichte<br />

sorgfältig fälschen und wichtige Tatsachen beiseite lassen. Zum einen erging der Ruf nach einer<br />

<strong>Neue</strong>n Weltordnung, in der »Frieden und Sicherheit, Freiheit und Gesetz« herrschen sollten, vom<br />

Oberhaupt des einzigen Staats, der vom Weltgerichtshof wegen »gesetzwidriger Anwendung von<br />

Gewalt« - gemeint war der Terrorkrieg gegen Nicaragua - verurteilt worden war, was in den Augen<br />

der US-Medien jedoch nur den Gerichtshof diskreditierte. Des weiteren hatte der »edelgesinnte<br />

Missionar« die Ära nach dem Kalten Krieg im Dezember 1989 mit der Invasion Panamas (Operation<br />

Gerechte Sache) eröffnet und dort ein Marionettenregime aus Bankiers, Geschäftsleuten und<br />

Drogenhändlern errichtet, das allerdings, so der Lateinamerika-Spezialist Stephen Ropp, »von den<br />

USA gestützt werden mußte, sollte es nicht einem zivilen oder militärischen Umsturz <strong>zum</strong> Opfer<br />

fallen«. Vergessen mußte man auch das (natürlich von London unterstützte) US-Veto gegen zwei<br />

Resolutionen des Sicherheitsrats, die die Invasion verurteilten, sowie eine Resolution der Voll-<br />

13


versammlung, die von einer »flagranten Verletzung internationalen Rechts und der Unabhängigkeit,<br />

Souveränität und territorialen Integrität von Staaten« sprach und den Rückzug »der bewaffneten<br />

Invasionsstreitkräfte« forderte. Unerwähnt blieb schließlich, daß die »Gruppe der Acht« (die<br />

demokratischen Staaten Lateinamerikas) am 30. März 1990 Panama aus dem Verband ausschloß, weil<br />

»der Prozeß der demokratischen Legitimation in Panama die öffentliche Diskussion ohne fremde<br />

Einmischung erforderlich macht, da nur so das Recht des Volks auf freie Wahl der Regierung<br />

gewährleistet ist«. Das war eine klare Absage an das Marionettenregime unter Endara. 20<br />

Als Saddam Hussein in Kuweit einmarschierte, bekam Bush es vor allem deshalb mit der Angst zu<br />

tun, weil er befürchtete, der irakische Diktator könne dort das erreichen, was den Amerikanern in<br />

Panama mit der Operation Gerechte Sache gelungen war. Der investigative Journalist<br />

Bob Woodward von der Washington Post hat einen Bericht über Washingtons Pläne verfaßt, den<br />

William Quandt, der Nahostexperte der Regierung, als »insgesamt überzeugend« bezeichnete. Danach<br />

habe Bush befürchtet, daß die Saudis nach einem irakischen Rückzug »sich noch in letzter Minute<br />

davonmachen und in Kuweit ein Marionettenregime akzeptieren würden«. Der Irak wiederum würde<br />

»jede Menge Spezialeinheiten in Zivilkleidung« in Kuweit lassen und die zwei unbewohnten<br />

Inselflecken besetzen, die Kuweit einst von den Briten erhalten hatte, damit dem Irak der Zugang <strong>zum</strong><br />

Meer verwehrt blieb. Stabschef Colin Powell wies darauf hin, daß sich der Status quo durch irakischen<br />

Einfluß auch nach dem Rückzug verändern würde. Freedman und Karsh, die sich alle Mühe geben,<br />

das britisch-amerikanische Vorgehen in möglichst positiven Farben zu schildern, kommen zu dem<br />

Schluß, daß<br />

»bei diesem Lehrbuchfall für eine Aggression Saddam offensichtlich nicht die Absicht<br />

hatte, das kleine Emirat offiziell zu annektieren und dort auch keine permanente<br />

Militärpräsenz aufrechterhalten wollte. Statt dessen strebte er die Hegemonie über Kuweit<br />

an, um das Land in finanzieller, politischer und strategischer Hinsicht seinen Wünschen<br />

dienstbar zu machen.«<br />

All das erinnert sehr genau an das - erfolgreiche - Vorgehen der Vereinigten Staaten in Panama.<br />

Saddams Plan sei, so Freedman und Karsh weiter, aufgrund der internationalen Reaktion fehlgeschlagen.<br />

Tatsächlich haben diesmal Großbritannien und die USA nicht, wie in anderen<br />

»Lehrbuchfällen für eine Aggression« - Vietnam, Türkei vs. Zypern, Indonesien vs. Ost-Timor, Israel<br />

vs. Libanon usw. - ihr Veto eingelegt. 21<br />

Historisch gesehen waren die von Freedman und Karsh beschriebenen Absichten Saddams ähnlich<br />

gelagert wie die britische Einflußnahme in Kuweit 1958: Um die Gefahr des Nationalismus zu bannen,<br />

wurde dort eine Dependenz unter britischer Kontrolle eingerichtet. Aber diese Zusammenhänge<br />

werden nicht nur von Freedman und Karsh ignoriert. 22<br />

In den Reaktionen auf das britisch-amerikanische Vorgehen im Golf spiegelten sich die traditionellen<br />

kolonialen Beziehungen recht genau wieder, was uns zu weiteren Einsichten in die Realitäten der<br />

<strong>Neue</strong>n Weltordnung verhilft. Aber die Verurteilung des Angriffs in vielen Ländern des Südens wurde<br />

bestenfalls als potentielles Problem wahrgenommen: Würden die Diktaturen, wie alle rechtgesinnten<br />

Demokraten hofften, ihre Bevölkerungen daran hindern können, den Kreuzzug aufzuhalten?<br />

Ansonsten war man an authentischen Meinungsäußerungen aus der Dritten Welt nicht weiter<br />

interessiert. Das zeigte sich auch am Umgang mit der irakischen demokratischen Opposition, die,<br />

mochte sie auch noch so konservativ und respektabel sein, keinen direkten Kontakt zur US-Regierung<br />

erhielt und in den Medien kaum wahrgenommen wurde. Sie schlug leider immer das Falsche vor: Vor<br />

dem Einmarsch in Kuweit forderte sie demokratische Verhältnisse, während Washington und seine<br />

Verbündeten Saddam hofierten; nach dem Einmarsch plädierte sie für eine friedliche Lösung, während<br />

die USA auf Gewalt setzten; und nach dem Krieg wollte sie den irakischen Widerstand gegen Saddam<br />

unterstützen, während Washington im Interesse der »Stabilität« weiterhin auf die »eiserne Faust« des<br />

Diktators setzte. 23<br />

14


Bemerkenswert war auch, welche Rolle Rassismus und Heuchelei bei dem Unternehmen spielten.<br />

Saddams Angriff auf die Kurden im Nordirak fand ein breites Echo in den Medien, so daß Washington<br />

sich zu einigen zögernden Schritten gezwungen sah, um die Opfer zu schützen, während sein noch<br />

härteres Vorgehen gegen die schiitischen Araber im Süden von den US-Medien nahezu unbemerkt<br />

blieb, wie übrigens auch die türkischen Greueltaten gegen die Kurden in Ostanatolien. 24<br />

Allerdings ließ mit dem öffentlichen Druck auch die Besorgnis um die irakischen Kurden sehr schnell<br />

nach. Die kurdischen Gebiete sind den Sanktionen gegen den Irak und zudem noch einem irakischen<br />

Embargo ausgesetzt. Der Westen weigert sich, selbst die geringfügigen Summen zu zahlen, mit deren<br />

Hilfe die Grundbedürfnisse der Kurden befriedigt werden könnten. »Kurdische und westliche<br />

Spezialisten schätzen, daß etwa 50 Millionen Dollar benötigt würden, um soviel [kurdischen] Weizen<br />

zurückkaufen zu können, daß die ärmsten Kurden geschützt und Bagdad daran gehindert werden<br />

könnte, die Wirtschaft im Nordirak zu untergraben«, berichtet die Washington Post, aber <strong>bis</strong>lang sind<br />

nur knapp sieben Millionen aufgetrieben worden, ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach der<br />

Rückkehr von einer zweimonatigen Reise durch die Vereinigten Staaten, Europa und Saudi-Arabien,<br />

die dem Versuch galt, Gelder locker zu machen, aber ergebnislos verlief, meinte der Führer der<br />

Demokratischen Partei der Kurden, Massud Barsani, seine Leute müßten entweder »erneut im Iran<br />

und der Türkei Zuflucht suchen« oder »sich Saddam Hussein ergeben«. Unterdessen hält, wie der<br />

Leiter von Middle East Watch mitteilt, die UN im Südirak, wo die Lage höchst gespannt ist, keine<br />

Dauerpräsenz mehr aufrecht, und eine UN-Mission, die im März 1993 das Land besuchte, bat nicht<br />

einmal um Erlaubnis, jene Gebiete zu kontrollieren, in denen die Schiiten drangsaliert wurden. Die<br />

UN-Abteilung für humanitäre Probleme bereitete für die Kurden, Schiiten und die hungerleidenden<br />

Sunniten im Mittelirak ein Hilfsprogramm im Umfang von 500 Millionen Dollar vor, UN-Mitglieder<br />

sagten stolze 50 Millionen zu, und die Regierung Clinton bot 15 Millionen an, die »vom Beitrag zu<br />

einem vorherigen UN-Programm im Nordirak übriggeblieben waren«. 25<br />

So wird die irakische Bevölkerung zur Geisel einer Politik der ökonomischen Kriegführung, in der<br />

Washington durch vorangegangene Embargo-Strafaktionen gegen Kuba, Nicaragua und Vietnam<br />

reichlich Erfahrung besitzt. Das Embargo gegen den Irak hat Saddams <strong>Mac</strong>ht unangetastet gelassen,<br />

aber in der Bevölkerung für mehr Opfer gesorgt als die Bombardierungen. Eine von amerikanischen<br />

und ausländischen Spezialisten durchgeführte Untersuchung schätzte, daß »zwischen Januar und<br />

August 1991 über 46 900 Kinder gestorben sind«; die Zahl dürfte sich seitdem noch beträchtlich<br />

erhöht haben.<br />

Der Vertreter der UNICEF im Irak, Thomas Ekvall, berichtete, daß sich 1993 die Kindersterblichkeit<br />

verdreifacht habe und auf 92 Promille gestiegen sei, während fast ein Viertel aller Säuglinge bei der<br />

Geburt untergewichtig seien (1990 waren es noch fünf Prozent gewesen). Zudem hätten die<br />

Sanktionen »bei Kleinkindern zu Zehntausenden von Todesfällen geführt und die Bevölkerung noch<br />

weiter in die Armut gestürzt«. Das UNICEF-Hilfsprogramm krankt an akutem Geldmangel, weil<br />

<strong>bis</strong>lang nur sieben Prozent der in einem Aufruf vom April geforderten 86 Millionen Dollar<br />

eingegangen sind. Ekvalls Bericht blieb ebenso unbeachtet wie die spätere UNICEF-Studie über den<br />

Fortschritt der Nationen, die zu dem Schluß kam, daß »die Sterblichkeitsrate bei irakischen Kindern<br />

mit 14,3 Prozent nur noch von der in afrikanischen Ländern übertroffen wird« (AP). Als Tarn Dalyell<br />

(britischer Labour-Parlamentarier) und Tim Llewellyn (Nahostkorrespondent) im Mai 1993 aus dem<br />

Irak zurückkehrten, war die Todesrate bei Kindern schon auf über 100 000 gestiegen. Diese vom<br />

irakischen Gesundheitsminister genannte Zahl wurde später von der UNICEF bestätigt. Hinzu kamen<br />

wachsende Unterernährung, gefährlich niedrige Geburtsraten, Todesfälle infolge fehlender Impfung<br />

und durch verseuchtes Wasser, Ausbreitung von Malaria und anderen Krankheiten, die eigentlich<br />

längst besiegt waren, Krankenhäuser, die nicht betrieben werden konnten, weil der Irak keine<br />

Kinderbetten und Chemikalien für Arzneimittel mehr importieren durfte, weil daraus möglicherweise<br />

Vernichtungswaffen hergestellt werden könnten. 26<br />

Unterdessen fuhren die USA fort, den Irak nach Belieben zu bombardieren. Noch bevor Bush im<br />

Januar 1993 von Clinton abgelöst wurde, befahl er, einen Industriekomplex in der Nähe von Bagdad<br />

anzugreifen. Von 45 Tomahawk-Raketen trafen 35 das Ziel, eine jedoch das Raschid-Hotel, wobei<br />

zwei Menschen ums Leben kamen. Nach fünf Monaten im Amt demonstrierte Bill Clinton, daß auch<br />

15


er in der Lage ist, das Pentagon zu Angriffen auf schutzlose Ziele zu veranlassen. Für diesen Mut<br />

erhielt er viel Lob und bewies erneut, daß sein (von Eisenhower erborgter) Slogan »Mandat für den<br />

Wandel« eigentlich »Schema 08/15« hätte heißen müssen, trotz aller Illusionen, die man sich in<br />

Europa und Teilen der Dritten Welt machte. Werfen wir einen näheren Blick auf diesen Vorfall.<br />

Am 26. Juni 1993 befahl Clinton einen Raketenangriff auf den Irak. 27 Auf ein Hauptquartier des<br />

Geheimdienstes in Bagdad wurden 23 Tomahawk-Marschflugkörper abgefeuert. Sieben verfehlten ihr<br />

Ziel und schlugen in ein Wohngebiet ein. Acht Zivilisten wurden getötet, ein Dutzend verwundet,<br />

berichtet Nora Boustany aus Bagdad. Unter den Toten waren die bekannte Künstlerin Laila al-Attar<br />

und ein Mann, der noch sein kleines Kind in den Armen hielt. Ein Raketenangriff kann immer mit<br />

technischen Fehlern behaftet sein, aber sein »hauptsächlicher Vorzug« besteht, wie Verteidigungsminister<br />

Les Aspin erklärte, darin, daß er, im Gegensatz zu einer zielgenaueren Bombardierung, »die<br />

US-Piloten keinem Risiko aussetzte«. Das müssen dann eben die irakischen Zivilisten tragen.<br />

Clinton zeigte sich über die Ergebnisse des Angriffs erfreut. »Ich bin sehr zufrieden mit dem Verlauf<br />

der Ereignisse, und ich denke, das amerikanische Volk kann es auch sein«, teilte er am anderen Tag<br />

auf dem Weg <strong>zum</strong> Gottesdienst mit. Mit ihm freuten sich führende Vertreter der Taubenfraktion im<br />

Kongreß, die den Angriff für »angemessen, vernünftig und notwendig« hielten; »wir müssen diesen<br />

Leuten zeigen, daß wir uns nicht zu Zielscheiben des Terrorismus machen lassen«, meinten Barney<br />

Frank und Joseph Moakley, Liberale aus Massachussetts. 28<br />

Der Angriff wurde als Vergeltungsschlag für einen angeblichen Versuch des Irak ausgegeben, Ex-<br />

Präsident Bush zu ermorden, als dieser im April Kuweit besucht hatte. Zum Zeitpunkt des Angriffs<br />

gab es dort einen Prozeß gegen die Angeklagten, der unter zweifelhaften Umständen durchgeführt<br />

wurde. Öffentlich behauptete Washington, »sichere Beweise« für die Schuld des Irak zu besitzen,<br />

insgeheim jedoch räumte man ein, daß dies nicht zutreffend sei. »Regierungsbeamte, die ungenannt<br />

bleiben wollten«, hatten die Presse davon in Kenntnis gesetzt, daß es sich »eher um Indizien und<br />

Mutmaßungen handelt, als um wasserdichte geheimdienstliche Erkenntnisse«, hieß es in einem<br />

Kommentar der New York Times. Ansonsten erregte der Vorfall wenig Aufmerksamkeit und war<br />

schnell vergessen. 29<br />

Im UN-Sicherheitsrat verteidigte die amerikanische Botschafterin, Madeleine Albright, den Angriff<br />

mit dem Hinweis auf Artikel 51 der UN-Charta, der die Anwendung von Gewalt zur<br />

Selbstverteidigung gegen einen »bewaffneten Angriff« erlaubt, <strong>bis</strong> der Sicherheitsrat sich der Sache<br />

annimmt. Die Notwendigkeit einer solchen Verteidigungsmaßnahme muß »unmittelbar gegeben und<br />

dringend geboten sein und darf keinen Raum für die Erwägung anderer Mittel lassen, wobei die<br />

Maßnahme sich streng im Rahmen dieser Notwendigkeit zu halten hat«. Das dürfte auf eine<br />

Bombardierung, die zwei Monate nach einem angeblichen Attentatsversuch stattfindet, wohl kaum<br />

zutreffen. Die Kommentatoren aber sahen über diese Absurdität großzügig hinweg. 30<br />

Die Washington Post versicherte den nationalen Eliten, daß dieser Fall »ganz eindeutig« auf Artikel<br />

51 zutreffe.<br />

»Jeder Präsident hat die Pflicht, militärische Gewalt anzuwenden, um die Interessen der Nation zu<br />

schützen«, fügte die New York Times hinzu, gab sich dabei aber skeptisch. »In diplomatischer Hinsicht<br />

wurde hier der richtige Weg eingeschlagen«, erklärte der Boston Globe: »Clintons Berufung auf die<br />

UN-Charta brachte den amerikanischen Wunsch <strong>zum</strong> Ausdruck, das internationale Recht zu<br />

respektieren.« Auch der Christian Science Monitor bot eine sehr kreative Interpretation des Artikels<br />

51, dieser nämlich erlaube es Staaten, »militärisch zu reagieren, wenn sie von einer feindlichen <strong>Mac</strong>ht<br />

bedroht werden«. Ähnlich äußerte sich der britische Außenminister Douglas Hurd vor dem Unterhaus,<br />

als er Clintons »gerechtfertigte und ausgewogene Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung«<br />

unterstützte. Die Welt wäre, fuhr er fort, »gefährlich paralysiert«, wenn die Vereinigten Staaten erst<br />

die Entscheidung des UN-Sicherheitsrats abwarten müßten, ehe sie einen Feind mit Raketen<br />

beschießen, der zwei Monate zuvor möglicherweise den Versuch unternommen hatte, einen<br />

ehemaligen Präsidenten zu töten.<br />

16


Den Vogel jedoch hatte Washington selbst abgeschossen, als UN-Botschafter Thomas Pickering<br />

anläßlich der Invasion in Panama den Sicherheitsrat darüber informierte, daß Artikel 51 »die<br />

Anwendung bewaffneter Gewalt vorsieht, um ein Land zu verteidigen, um unsere Interessen zu<br />

verteidigen« (Hervorhebung von mir). Das Justizministerium fügte hinzu, die Vereinigten Staaten<br />

hätten das Recht, Panama zu besetzen, um »dessen Territorium davor zu bewahren, als Basis für den<br />

Drogenschmuggel in die Vereinigten Staaten benutzt zu werden«. 31<br />

Ein paar Jahre später räumte das Außenministerium übrigens ein, daß das »mittlerweile demokratische<br />

Panama das aktivste Zentrum für mit dem Kokainhandel verbundene „Geldwäsche" in der westlichen<br />

Hemisphäre ist«, was das Weiße Haus herunterspielt, um, wie die Washington Post unter Berufung auf<br />

Kritiker mutmaßt, »den demokratischen Führern Panamas zu längerer Amtsdauer zu verhelfen«. Daß<br />

der Drogenhandel sich lohnt, ist »deutlicher wahrzunehmen als zur Zeit von Präsident Noriega«,<br />

vermerkt der Economist, und das gilt auch für harte Drogen. 32<br />

Viele Kommentatoren sahen in der Entscheidung, den Irak anzugreifen, einen politisch raffinierten<br />

Schachzug, mit dem der Präsident in einem schwierigen Augenblick die Unterstützung der<br />

Öffentlichkeit gewinnen wollte und sie deshalb um die Fahne scharte - unter der sie sich, genau<br />

genommen, verkroch -, was in Krisenzeiten eine übliche Reaktion ist. Aus einer ganz anderen<br />

Perspektive, nämlich aus London, fragte der amerikanische Fernsehkorrespondent Charles Glass:<br />

»Worin besteht die Verbindung zwischen einer irakischen Künstlerin namens Laila al-Attar und<br />

Rickey Ray Rector, einem Schwarzen, der 1992 in Arkansas wegen Mordes hingerichtet wurde?«<br />

Beide Male wollte, so lautet die Antwort, Bill Clinton seine Umfrageergebnisse verbessern, <strong>zum</strong> einen<br />

durch die Bombardierung Bagdads, <strong>zum</strong> anderen, indem er mitten im Wahlkampf in Arkansas die<br />

Hinrichtung eines geistig behinderten Gefangenen mit ansah, um zu beweisen, »daß auch ein<br />

Demokrat bei Verbrechern Härte zeigen kann«. 33<br />

Cintons PR-Spezialisten legen ihre Finger auf den Puls der Nation. Sie wissen, daß mehr Menschen<br />

als je zuvor skeptisch, enttäuscht und besorgt sind - wegen ihrer Lebensverhältnisse, ihrer<br />

offenkundigen <strong>Mac</strong>htlosigkeit und des Zerfalls der demokratischen Institutionen. Diese Gefühle haben<br />

sich nach acht Jahren Reagan noch beträchtlich verstärkt. Ebenso wissen die Image-Spezialisten, daß<br />

die Regierung Clinton sich den Problemen der Durchschnittsbürger nicht annehmen wird, weil<br />

grundlegende Maßnahmen die Vorrechte der hauptsächlichen Wählerschichten beschneiden würden,<br />

was nicht in Frage kommt. Für die Manager transnationaler Konzerne und andere privilegierte<br />

Vertreter der <strong>Mac</strong>htstruktur muß die Welt ihren Bedürfnissen entsprechend diszipliniert sein, während<br />

die entwickelten Industriesektoren auch weiterhin auf öffentliche Fördermittel angewiesen sind und<br />

die Reichen sich in Sicherheit wiegen wollen. Folglich kann das öffentliche Erziehungs- und<br />

Gesundheitswesen dem Verfall anheimgegeben werden, können überflüssige Bevölkerungsschichten<br />

in Slums und Gefängnissen verrotten und die Grundlagen für eine lebenswerte Gesellschaft noch<br />

weiter erodieren. Diese Politik betreibt die gegenwärtige Regierung, und darin unterscheidet sie sich<br />

nicht von ihren Vorgängerinnen.<br />

Einige Kommentatoren betonten, daß Clinton durchaus eine sehr viel stärkere Bombardierung<br />

Bagdads hätte anordnen können, dies jedoch nicht im Interesse Washingtons gewesen wäre. Der<br />

Präsident »wollte keine ernsthaften Verluste in der Zivilbevölkerung riskieren«, bemerkte Thomas<br />

Friedman. Ein solcher Schlag »hätte vermutlich keine derart weitreichende Unterstützung für<br />

Washington, sondern eher Mitgefühl für den Irak ausgelöst«, und wäre daher unklug gewesen. 34<br />

Trotz dieses starken Arguments gegen einen Massenmord wurde Clintons Zurückhaltung nicht überall<br />

mit Beifall begrüßt. In der New York Times kritisierte William Safire den »armseligen Schlag aufs<br />

Handgelenk«, während ein richtiger Angriff auf »Saddams Kriegsmaschinerie und wirtschaftliche<br />

Basis die Hoffnung auf Erholung um Jahre zurückgeworfen hätte«. Auch der New Republic, eine<br />

führende Stimme des amerikanischen Liberalismus, bedauerte Washingtons Vorsicht, zeigte sich<br />

jedoch erfreut über das »Schweigen der ara<strong>bis</strong>chen Welt«, die damit dem entschiedenen Handeln des<br />

Präsident ihre Zustimmung erteilt habe. 35<br />

17


Natürlich wußten die Leitartikler genau, daß die Bombardierung in der ganzen ara<strong>bis</strong>chen Welt und<br />

sogar von Washingtons Verbündeten kritisiert wurde. Die Ara<strong>bis</strong>che Liga sprach von einem Akt der<br />

Aggression, und in der bahrainischen Tageszeitung Akhbar al-Khalij hieß es: »Die ara<strong>bis</strong>chen Länder<br />

sind für Amerika ein so leichtes Spiel geworden, daß Clinton es noch nicht einmal für nötig hielt, die<br />

jüngste Aggression vernünftig zu begründen«, <strong>zum</strong>al der UN-Sicherheitsrat »mittlerweile kaum mehr<br />

ist als ein bloßes Anhängsel des US-Außenministeriums«. Tatsächlich »erniedrigt Amerika die<br />

ara<strong>bis</strong>chen Völker, wo immer sich die Gelegenheit dazu bietet«. Der Angriff auf den Irak war, »um es<br />

kurz zu fassen, der klare Fall eines internationalen Schurken, der auf einen regionalen eindrischt und<br />

dabei erwartet, daß andere sich nicht einmischen«, fügte ein Reporter in Bahrain hinzu. In Marokko<br />

warf die offizielle Presse Clinton vor, die neue Weltordnung dazu zu benutzen, »die Länder und<br />

Völker der Welt zu versklaven« und aus dem Sicherheitsrat »ein Organ der amerikanischen<br />

Außenpolitik zu machen«. Das Schweigen der Familiendiktaturen am Golf wurde als Distanzierung<br />

von einer Handlung, die in der ara<strong>bis</strong>chen Welt Verbitterung hervorgerufen habe, erklärt. 36<br />

Mithin sind die amerikanischen Kommentare zwar völlig falsch, werden aber verständlich, wenn man<br />

sich die ideologischen Normen, denen sie gehorchen, ins Gedächtnis ruft. So erinnerten sie ihre Leser<br />

daran, daß Präsident Bush, als er im Januar 1991 den Krieg gegen den Irak führte, »die Meinung der<br />

Weltöffentlichkeit gegen Saddam aufbringen konnte«. Das ist zwar falsch, wenn zur<br />

Weltöffentlichkeit auch die Bevölkerung der jeweiligen Länder gehört, richtig jedoch, wenn wir<br />

lediglich die reichen Weißen und die gehorsamen Oberschichten der Dritten Welt dazu zählen. Und<br />

natürlich hat »die ara<strong>bis</strong>che Welt« Clintons Raketenangriff zugestimmt, wenn diese Welt nur aus<br />

jenen Arabern besteht, die den Kriterien der westlichen Eliten gerecht werden.<br />

Der geplante Anschlag auf Bush sei »verachtenswürdig und feige« gewesen, erklärte Clinton. Der<br />

Raketenangriff »war notwendig, um unsere Souveränität zu schützen« und »zu zeigen, daß man<br />

zivilisierten Umgang der Nationen untereinander erwartet«. Die großen Presseorgane stimmten zu und<br />

sprachen von einem »empörenden Verbrechen« (Washington Post) und einer »Kriegshandlung« (New<br />

York Times). William Safire führte aus: »Es ist eine Kriegshandlung ... wenn ein Staatsoberhaupt ein<br />

anderes umzubringen trachtet. Hätte es klare Beweise für einen Befehl Castros gegeben, Kennedy zu<br />

ermorden, hätte Präsident Johnson zweifellos dem Regime in Havanna mit militärischer Gewalt ein<br />

Ende bereitet.« 37<br />

Ein höchst aufschlußreiches Beispiel. Natürlich weiß Safire ganz genau, daß er damit die historischen<br />

Tatsachen ins Gegenteil verkehrt, und auch seine Leser kennen die wiederholten Versuche der<br />

Regierung Kennedy, Fidel Castro zu ermorden. Der letzte dieser Versuche wurde noch am Tag des<br />

Attentats auf Kennedy selbst durchgeführt. Doch mit imperialer Arroganz wird das Gegenteil<br />

behauptet, und man vertraut darauf, daß niemand den naheliegenden Schluß zieht und die<br />

amerikanischen Attentatsversuche als »verachtenswürdige und feige Kriegshandlungen« bezeichnet,<br />

die Castro zu einem militärischen Schlag gegen das Regime in Washington und zur Bombardierung<br />

der Hauptstadt als Vergeltung für Kennedys »empörendes Verbrechen« berechtigt hätten.<br />

Daß ein geachteter Kolumnist eine derartige Analogie zu Castro und Kennedy herstellen kann, ist<br />

schon bemerkenswert genug. Aber die Korruption der Intellektuellen reicht noch viel tiefer. Während<br />

dieser ganzen Farce blieben die großen Medien und meinungsbildenden Zeitschriften sorgfältig von<br />

allen entscheidenden Tatsachen abgeschirmt, die jeder halbwegs gebildeten Person sofort in den Sinn<br />

gekommen wären: Schließlich hält Washington den Weltrekord an Attentatsversuchen auf<br />

ausländische Politiker wie etwa Castro (das Church-Komitee des Senats listete acht solcher von der<br />

CIA zwischen 1960 und 1965 geplanten Anschläge auf) und Patrice Lumumba und spielte eine<br />

führende Rolle bei der Ermordung von Salvador Allende und Ngo Dinh Diem, dem<br />

südvietnamesischen Verbündeten. Kennedy selbst lancierte den Putsch gegen Diem und<br />

beglückwünschte einige Tage später den US-Botschafter in Saigon für die gelungene Durchführung<br />

des Mords. Eine freie und unabhängige Presse hätte auf diese Beispiele verwiesen, jedoch waren<br />

offensichtlich nur Leserbriefschreiber in der Lage, zwei und zwei richtig zusammenzuzählen.<br />

18


In diesem Zusammenhang sollte man sich auch an die Rechtfertigungen erinnern, die vor dem Church-<br />

Komitee für die Attentatsversuche auf Castro gegeben wurde, als der Senat die Sache 1975<br />

untersuchen ließ. John McCone, unter Kennedy Leiter der CIA, bezeichnete Castro als jemanden, der<br />

»jedes Mikrophon und jeden Fernsehauftritt nutzte, um die Vereinigten Staaten auf<br />

höchst gewaltsame, unfaire und unglaubliche Weise zu beleidigen und zu kritisieren. Er<br />

tat sein Äußerstes, um jeden verfügbaren Kommunikationskanal jedes lateinamerikanischen<br />

Landes dazu zu verwenden, diese Länder den Prinzipien, für die wir<br />

eintraten, abspenstig zu machen und sie dem Kommunismus in die Arme zu treiben. Er<br />

war derjenige, der 1962 die geheiligte Erde Kubas den Sowjets zur Installierung von<br />

atomaren Kurzstreckenraketen überließ«.<br />

Allerdings sollten diese Raketen der Verteidigung gegen einen erwarteten Angriff der USA auf Kuba<br />

dienen (der aus kubanischer und sowjetischer Sicht durchaus plausibel erschien, wie Verteidigungsminister<br />

Robert McNamara später einräumte). Überdies hatte die CIA zuvor terroristische Angriffe auf<br />

Kuba lanciert. 38<br />

Ebenso entlarvend war der Verweis der Medien auf Reagans Luftschlag gegen Libyen im Jahre 1986,<br />

bei dem Dutzende von Zivilisten getötet wurden. Thomas Friedman vermerkt: »Oberst Ghaddafi<br />

persönlich war das Ziel, Mitglieder seiner Familie kamen ums Leben, und er selbst wäre beinahe<br />

mitsamt seinem Zelt in die Luft gesprengt worden.« Insofern ist der Mordversuch an Ghaddafi ein<br />

ehrenwerter Vorläufer für Clintons Raketenangriff auf Bagdad. 39<br />

Hier nun betreten wir eine wahrlich surreale Welt, deren Normen zu begreifen man erst einmal lernen<br />

muß: Mordanschläge, Terrorismus, Folter und Aggression sind hart zu bestrafende Verbrechen, wenn<br />

sie sich gegen Personen von vordringlicher Bedeutung richten; begeht sie jedoch der Mafiaboß<br />

höchstpersönlich, sind sie keiner Erwähnung wert oder sogar lobenswerte Akte der Selbstverteidigung.<br />

Diese Wahrheiten gelten als so selbstverständlich, daß nahezu einhundert Prozent der Berichte und<br />

Kommentare über Clintons Angriff daran festhielten, wobei sogar Mordanschläge auf ausländische<br />

politische Führer als Rechtfertigung für die Bombardierung Bagdads herhalten mußten. Von dieser<br />

Leistung wären Diktatoren höchst beeindruckt.<br />

Thomas Friedman erläuterte, warum Clinton Saddam Hussein nicht persönlich angegriffen hatte: »Die<br />

amerikanische Politik ist immer davon ausgegangen, daß Mr. Hussein nützlich ist, weil er den Irak mit<br />

eiserner Faust zusammenhält«, womit, wie Regierungsbeamte privatim versichern, »die Vereinigten<br />

Staaten besser bedient sind als mit einem Land, das in seine Bestandteile - kurdische, schiitische und<br />

sunnitische Regionen - auseinanderbricht und dadurch vielleicht den ganzen Nahen Osten<br />

destabilisiert«. 40 Diese Erwägungen galten natürlich auch schon, als Saddam noch der große Freund<br />

Washingtons und Londons war, die ihn zusammen mit ihren Verbündeten nach Kräften unterstützten,<br />

während er Giftgas gegen die Kurden einsetzte und Dissidenten foltern ließ. Nach dem Golfkrieg<br />

schauten die Sieger zu, wie er die Schiiten und die Kurden niedermetzelte und hofften, jedoch<br />

vergeblich, auf »die beste aller Welten: eine Junta mit eiserner Faust und ohne Saddam Hussein«. Sie<br />

begnügten sich dann mit der zweitbesten Lösung.<br />

Die Taktik der Regierung Clinton wurde auch durch die Erwägung des Verteidigungsministers<br />

bestimmt, das Leben von amerikanischen Soldaten nicht aufs Spiel zu setzen, nur um die Zahl der<br />

zivilen Opfer möglichst gering zu halten. Dahinter steht indes ein umfassenderes Prinzip:<br />

Menschliches Leben ist von Wert, insofern es Reichtum und <strong>Mac</strong>ht der Privilegierten vermehrt.<br />

Letztlich bestimmen die Interessen der Reichen die grundlegenden Konturen der Politik.<br />

Das zeigt sich auch im Umgang mit Saddam Hussein, Noriega und zahlreichen anderen Tyrannen: Es<br />

sind prima Typen, solange sie unseren Interessen dienen, wenn sie uns jedoch in die Quere kommen,<br />

müssen sie beseitigt werden, wie Unkraut. Diese moralischen Leitlinien berechtigen die Vereinigten<br />

Staaten dazu, den Invasoren von Kuweit zu bombardieren und seine Untertanen auszuhungern,<br />

während Indonesiens viel schlimmere Verbrechen, die bei der Annektierung von Ost-Timor begangen<br />

wurden, unbeachtet bleiben. Statt Djakarta zu bombardieren, leisteten Washington und London,<br />

19


unterstützt von anderen Staaten, die hier Profit witterten, entscheidende militärische und diplomatische<br />

Hilfe. Und während das indonesische Militär in Ost-Timor wütete, bewahrten die Medien<br />

Stillschweigen oder verbreiteten die von offizieller Seite verkündeten Lügen. Ein Jahrzehnt vor der<br />

Okkupation wurde der damalige indonesische Führer Suharto, der gerade das größte Massaker seit der<br />

Shoah veranstaltet hatte, von den westlichen Mächten als »gemäßigter« und »wohlwollender«<br />

Politiker gefeiert. Das »kochende Blutbad« (so das Magazin Time) wurde mit großer Euphorie<br />

beschrieben. Die New York Times sah in den Ereignissen »ein Licht am asiatischen Horizont«. Andere<br />

nutzten es als Rechtfertigung für die amerikanische Invasion von Vietnam, die die indonesischen<br />

Generäle dazu ermuntert habe, ihr Land auf bewährte Weise zu säubern. 41<br />

In ähnlicher Weise werden die Massenmorde im Hochland von Guatemala und in Bosnien nicht<br />

verhindert, sondern - wie in Guatemala - eher noch begünstigt, wenn es den Weltherrschern so gefällt.<br />

In Bosnien hält man sich zurück, während in Somalia UN-Truppen (de facto sind es amerikanische)<br />

massive Vergeltungsschläge ausführen dürfen, die viele Opfer in der Zivilbevölkerung kosten. 42 In<br />

Bosnien nämlich würde den Westen ein Eingreifen teuer zu stehen kommen, während er in Somalia<br />

leichtes Spiel hat. Darum gibt es hier auch US-Bodentruppen, nicht aber dort. Die Greueltaten in Haiti<br />

hätten mit einer Handbewegung gestoppt werden können, aber die USA und ihre Partner hatten es<br />

nicht eilig, den demokratisch gewählten Präsidenten der Armen, Jean-Bertrand Aristide, an die <strong>Mac</strong>ht<br />

zurückzubringen. Vielmehr wurden seine Versuche, der großen Mehrheit der Bevölkerung zu helfen,<br />

als »spalterisch« und »Klassenkrieg« verurteilt, weil sie nicht dem Muster der brutalen Ausbeutung<br />

durch die Kleptokratie folgten, die geduldet werden, solange nur der Pöbel ruhig bleibt. Washington<br />

stellte klar, daß der durch einen Militärputsch gestürzte Aristide nur dann ins Amt zurückkehren kann,<br />

wenn die tatsächliche <strong>Mac</strong>ht in den Händen eines »gemäßigten« Politikers liegt, der den<br />

Wirtschaftssektor repräsentiert.<br />

Hier wie sonst auch ist das Leitmotiv politischen Handelns das Eigeninteresse. Die Grundfrage lautet:<br />

»Was ist für uns drin?« So jedenfalls beschrieb die New York Times das Ergebnis einer<br />

Ausschußsitzung, die sich unter Leitung von Clinton mit dem Problem der Intervention beschäftigte.<br />

Wir lassen uns nicht länger vom Altruismus leiten (wie in jenen Zeiten, als wir große Teile der Welt in<br />

Friedhöfe und Wüsten verwandelten), sondern einzig und allein von unserem ureigensten<br />

wohlverstandenen Interesse, das auch in dieser humanen Ära liberaler Demokratie so interpretiert<br />

werden muß, wie Adam Smith es mit Churchills Doktrin von den »wohlhabenden Nationen« getan<br />

hätte.<br />

Diesem Grundsatz folgend können die Vereinigten Staaten in großem Umfang Bodentruppen nach<br />

Somalia schicken, allerdings erst nach dem Abebben der Hungerkatastrophe und in der Erwartung,<br />

daß von Teenagern mit Gewehren kein großer Widerstand mehr ausgeht. Das gilt jedoch nicht für<br />

Bosnien, wo die Massaker sich bereits dem Völkermord nähern, und auch nicht für Angola, wo es<br />

noch schlimmer zu sein scheint. Aber dort sind die Interessen des Westens nicht gefährdet, und die<br />

führende politische Figur, Jonas Sawimbi, schon seit geraumer Zeit ein Handlanger der USA, wird<br />

sogar <strong>zum</strong> »Freiheitskämpfer« stilisiert und von Jeane Kirkpatrick als »einer der wenigen<br />

tatsächlichen Helden unserer Zeit« gefeiert, nachdem seine Truppen sich mit dem Abschuß von<br />

Passagierflugzeugen, der Hunderte von Toten forderte, gebrüstet hatten, ganz zu schweigen von<br />

anderen Mordtaten, die sie mit amerikanischer und südafrikanischer Hilfe verübten. Das läßt man am<br />

besten ebenso im Dunkeln wie die Greuel, die in Afghanistan von einem anderen Favoriten der CIA,<br />

dem fanatischen islamischen Fundamentalisten Gulbuddin Hekmatjar, begangen werden. 43<br />

Es ist durchaus begreiflich, daß die Ideologen Washingtons Irak-Politik <strong>zum</strong> Testfall für die <strong>Neue</strong><br />

Weltordnung küren. Aus dieser Politik lernen wir zweierlei: Zum einen, daß die USA auch weiterhin<br />

ein gesetzloser und gewalttätiger Staat sind, was auch ihre Verbündeten und Satelliten anerkennen,<br />

indem sie begreifen, daß das internationale Recht nur dann beachtet wird, wenn die Mächtigen einen,<br />

und sei's noch so durchsichtigen, Schleier für ihre Handlungen benötigen. Zum zweiten, daß ein<br />

solches Verhalten in einer intellektuellen Kultur, deren Willfährigkeit gegenüber der <strong>Mac</strong>ht kaum<br />

Schranken kennt, ungestraft bleibt. Wir müssen uns schon Diktaturen in der Dritten Welt zuwenden,<br />

um die Binsenweisheiten zu vernehmen, die bei uns unterdrückt werden: Die <strong>Neue</strong> Weltordnung ist<br />

nur insofern »neu«, als sie die estraditionelle Politik von Herrschaft und Ausbeutung veränderten<br />

20


Umständen anpaßt. Der Westen schätzt diese Politik, weil sie sich ausgezeichnet dazu eignet, »die<br />

Länder und Völker der Welt« in Schach zu halten.<br />

Die Schläuche sind neu, der Wein in ihnen aber ist höchst bejahrt.<br />

4. Ein Rückblick auf den Kalten Krieg<br />

Im folgenden soll die Konfrontation zwischen West und Ost einerseits, zwischen Nord und Süd<br />

andererseits daraufhin befragt werden, wie diese Teilungen in der Weltordnung sich zueinander<br />

verhalten. Ferner geht es um die absehbaren Folgen, die das Ende des Kalten Kriegs und andere<br />

Veränderungen der Weltordnung mit sich bringen.<br />

Konventionellerweise wird behauptet, daß der Ost-West-Konflikt das 20. Jahrhundert spätestens seit<br />

1945 entscheidend geprägt und in militärischer, wirtschaftlicher und ideologischer Hinsicht den innenwie<br />

außenpolitischen Rahmen abgesteckt habe. In diesem Konflikt hat sich der Westen rein defensiv<br />

verhalten und auf das verbrecherische Vorgehen des Feindes, seine weltweiten aggressiven,<br />

expansionistischen, terroristischen und subversiven Bestrebungen lediglich reagiert, um mit<br />

»Abschreckung« und »Eindämmung« oder der umfassenderen Strategie des »Rollback« die<br />

Hauptquellen der Aggression auszutrocknen. Dabei steht die Frage, ob es auch eine »Eindämmung«<br />

US-amerikanischer Aktivitäten gegeben habe, natürlich nicht zur Debatte, und auch die<br />

Untersuchungen zur Strategie der Abschreckung lassen deren bemerkenswertesten Erfolg, die<br />

Verhinderung einer zweiten amerikanischen Invasion Kubas durch die Sowjetunion, unerwähnt.<br />

Dieses Bild wurde in starken Strichen von den Reaganisten skizziert; neu ist es jedoch nicht. Das erste<br />

Dokument des Kalten Kriegs, NSC [National Security Coucil] 68 vom April 1950, stammt von Paul<br />

Nitze, dem Dean Acheson bei der Abfassung über die Schulter sah. Es wurde von der liberalen<br />

Regierung Truman angenommen und ist in seinem Fanatismus und seiner exaltierten Rhetorik nur<br />

schwer zu übertreffen. Indes zeigt es sehr gut die mentale Verfassung hoch geachteter politischer<br />

Strategen und Intellektueller. 44<br />

Das Dokument klingt wie ein Märchen von bestürzender geistiger Einfachheit: Das absolut Böse (die<br />

anderen) wird der ebenso absoluten Vollkommenheit (wir) entgegengesetzt. Der »Sklavenstaat« hat<br />

den »unwiderstehlichen Drang«, die »vollständige Untergrabung oder gewaltsame Zerstörung der<br />

Regierungsmaschinerie und Gesellschaftsstruktur« in allen Regionen der Welt herbeizuführen, die<br />

noch nicht »vom Kreml kontrolliert werden und ihm dienstbar sind«. »Unversöhnlich« verfolgt er das<br />

Ziel, überall »die Herausforderung der Freiheit zu beseitigen«, indem er auf seinem eigenen Gebiet<br />

»die totale <strong>Mac</strong>ht über alle Menschen« und »absolute Herrschaftsgewalt über den Rest der Welt«<br />

gewinnt. Seinem Wesen nach ist er »unweigerlich militant«. Insofern ist ein friedliches<br />

Zusammenleben mit ihm unmöglich. Wir müssen also handeln, um »die Keime der Zerstörung<br />

innerhalb des Sowjetsystems zur Entfaltung zu bringen« und »seinen Zerfall« durch Einsatz aller<br />

Mittel <strong>bis</strong> auf den Krieg (der zu gefährlich für uns wäre) beschleunigen. Wir müssen diplomatische<br />

Verfahrensweisen und Verhandlungen vermeiden oder nur <strong>zum</strong> Schein betreiben, um die öffentliche<br />

Meinung zu beschwichtigen, denn Abkommen jeglicher Art »würden den gegenwärtigen Zustand<br />

widerspiegeln und wären daher für die Vereinigten Staaten und die übrige freie Welt unannehmbar,<br />

wenn nicht gar verheerend«. Allerdings könnten wir nach dem Erfolg einer »Rollback«-Strategie »mit<br />

der Sowjetunion (oder einem Nachfolgestaat bzw. mehreren Nachfolgestaaten) in Verhandlungen<br />

eintreten«.<br />

Die Autoren räumen zwar ein, daß der teuflische Feind in jeder Hinsicht viel schwächer ist als seine<br />

Gegner, doch gereicht ihm selbst das noch <strong>zum</strong> Vorteil: Er kann, Zwerg und Superman in einem,<br />

»mehr aus weniger machen«. Unsere Lage ist demnach verzweifelt.<br />

21


Da das »Streben des Kremls nach der Weltherrschaft« eine notwendige Eigenschaft des Sklavenstaats<br />

ist, muß man die Folgerungen, die für die Vereinigten Staaten und die ganze Welt von so großer<br />

Bedeutung sind, nicht auch noch beweisen. Substantielle Tatsachen hat die Analyse von Nitze nicht zu<br />

bieten. 45<br />

Wie abgrundtief böse der Sklavenstaat ist, erhellt aus dem Vergleich mit den Vereinigten Staaten,<br />

einer Nation von fast unvorstellbarer Vollkommenheit. Ihr »grundlegendes Ziel« ist es, »die Integrität<br />

und Lebensfähigkeit unserer freien Gesellschaft zu sichern, die auf der Würde und dem Wert des<br />

Individuums beruht«. Diese Werte sind auch in der übrigen Welt zu schützen. Unsere freie<br />

Gesellschaft ist gekennzeichnet durch »wunderbare Vielfalt«, »tiefe Toleranz«, »Gesetzestreue«<br />

(unsere Städte sind Zonen der Ruhe, und Wirtschaftsverbrechen unbekannt), sowie die Verpflichtung,<br />

»eine Umwelt zu schaffen und zu erhalten, in der jedes Individuum seine schöpferischen Kräfte<br />

entfalten kann«. Die vollkommene Gesellschaft »fürchtet die Vielfalt nicht, sondern begrüßt sie« und<br />

»zieht ihre Stärke aus der Gastfreundschaft, die sie selbst Ideen gewährt, die ihr zuwiderlaufen«, wie<br />

es sich an der McCarthy-Hysterie der damaligen Zeit ablesen läßt. Zu dem »Wertesystem, das unsere<br />

Gesellschaft mit Leben erfüllt« gehören »die Prinzipien von Freiheit, Toleranz, Individualität und des<br />

Vorrangs der Vernunft vor dem Willen«. Die »wesenhafte Toleranz unserer Weltauffassung, unsere<br />

großzügigen und konstruktiven Impulse wie auch das Fehlen von Habgier in unseren internationalen<br />

Beziehungen sind Aktivposten von potentiell enormer Bedeutung«, was vor allem diejenigen<br />

bestätigen können, die all das aus erster Hand erfahren durften, wie etwa die Staaten Lateinamerikas,<br />

die von »unseren seit langem währenden Bemühungen, das interamerikanische System zu entwickeln<br />

und jetzt ins Leben zu rufen« so beträchtlich profitieren konnten. Auch hier handelt es sich um unserer<br />

Gesellschaft inhärente Qualitäten, die keines Beweises bedürfen. Fairerweise muß man jedoch sagen,<br />

daß Dean Acheson sich der Notwendigkeit bewußt war, die kommunistische Bedrohung in die Köpfe<br />

der Massen zu hämmern, um für die geplanten Aufrüstungs- und Interventionsprogramme die<br />

notwendige Zustimmung zu erhalten. 46<br />

An diesem Diskurs hat sich <strong>bis</strong> in die Gegenwart wenig geändert. In der (nüchtern-wissenschaftlichen)<br />

Zeitschrift International Security vom Frühjahr 1993 informiert uns der berühmte Harvard-Professor<br />

Samuel Huntington darüber, daß die Vereinigten Staaten <strong>zum</strong> Vorteil der Welt ihre »internationale<br />

Vorherrschaft« aufrechterhalten müssen, weil nur bei ihnen die nationale Identität »durch eine Reihe<br />

bestimmter politischer und wirtschaftlicher Werte von universeller Gültigkeit« definiert ist, als da sind<br />

»Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Privateigentum und Märkte«. Huntington bemerkt: »In keinem<br />

anderen Land steht die Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Märkten so sehr im<br />

Mittelpunkt der Politik wie in Amerika.« Da dies per definitionem gilt, sind Beweise erneut<br />

überflüssig. Man muß bei Washingtons Förderung von Menschenrechten ja nicht an die enge Verbindung<br />

von Entwicklungshilfe (auch militärischer) und Folter denken, die in diversen Untersuchungen<br />

festgestellt wurde und sich auch für die Jahre unter Carter nachweisen läßt. 47 Solche Erwägungen<br />

gehören in die Provinz von Kleingeistern, die unfähig sind, Höhere Wahrheiten zu würdigen.<br />

In allgemeinerer Hinsicht ist es einfach ein logischer Fehler, die Hymnen auf unsere politische<br />

Großherzigkeit mit dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte zu vergleichen. Wer Mühe hat, das zu<br />

begreifen, kann sich bei der »realistischen« Denkweise von Hans Morgenthau, dem bedeutsamsten<br />

Vertreter der neueren Politikwissenschaft in den USA, eines Besseren belehren lassen. Für<br />

Morgenthau liegt der »transzendente Zweck« der Vereinigten Staaten in der »Herstellung von<br />

Gleichheit in Freiheit« in Amerika und der gesamten Welt, weil »der Kampfplatz, auf dem die<br />

Vereinigten Staaten ihren Daseinszweck verteidigen und fördern müssen, sich auf die gesamte Welt<br />

ausgedehnt hat«. Morgenthau, ein kompetenter Gelehrter und, gemessen an dem, was in der<br />

Elitenkultur üblich ist, eine außergewöhnlich anständige und geistig unabhängige Persönlichkeit,<br />

erkannte, daß die historischen Dokumente mit dem »transzendenten Zweck« unvereinbar sind. Aber er<br />

versichert uns, daß Tatsachen für notwendige Wahrheiten ohne Bedeutung sind: Wenn man Tatsachen<br />

ins Feld führt, »verwechselt man den Mißbrauch der Realität mit der Realität selbst« und wiederholt<br />

damit nur »den Irrtum des Atheismus, der die Gültigkeit der Religion aus ähnlichen Gründen leugnet«.<br />

Realität ist der <strong>bis</strong>lang unerreichte »nationale Zweck«, den »die geschichtliche Evidenz, so wie unser<br />

22


Bewußtsein sie reflektiert, enthüllt«. Dagegen ist der tatsächliche geschichtliche Verlauf nur der<br />

Mißbrauch der Realität, ein bedeutungsloses Artefakt. 48<br />

Solche Doktrinen sind also, wie bei den extremeren Formen des religiösen Fundamentalismus, gegen<br />

Kritik und Bewertung immun. Man kann sich kaum vorstellen, daß diese Bekundungen ernst gemeint<br />

sind, und vielleicht sind sie es nicht, wie Achesons zynischer Kommentar vermuten läßt. Ähnlich hatte<br />

Huntington einmal erklärt: »Man muß wahrscheinlich [die Intervention oder andere militärische<br />

Aktionen] so verkaufen, daß man den falschen Eindruck erweckt, man bekämpfe die Sowjetunion. So<br />

sind die Vereinigten Staaten seit der Truman-Doktrin verfahren.« Mit dieser Logik »können auch<br />

Gorbatschows PR-Strategien als für die amerikanischen Interessen in Europa ebenso bedrohlich gelten<br />

wie Breschnews Panzer.« Damit bietet Huntington weitere Einblicke in die Realität des Kalten<br />

Kriegs. 49<br />

Die Hysterie des Dokuments NSC 68 hielt sich auch während der Präsidentschaft von Eisenhower und<br />

wurde danach von Kennedy und dessen Umfeld aus liberalen Intellektuellen bedient. Kennedy warnte<br />

eindringlich vor der »monolithischen und rücksichtslosen Verschwörung«, deren Ziel die Eroberung<br />

der Welt sei. Seine engsten Mitarbeiter teilten diese Ansichten. Verteidigungsminister McNamara<br />

sagte in der Anhörung anläßlich seiner Ernennung vor dem Kongreß:<br />

»Es gibt keine historische Parallele <strong>zum</strong> Drang des sowjet-kommunistischen<br />

Imperialismus, die Welt zu kolonisieren ... Des weiteren ist die sowjetische Aggression so<br />

allumfassend, daß man, um sie zu verstehen, auf die frühe Geschichte zurückgreifen muß,<br />

in der kriegerische Stämme den Feind nicht nur besiegen, sondern gänzlich auslöschen<br />

wollten ... Der Sowjetkommunismus will die sorgsam gehegten Traditionen und<br />

Institutionen der freien Welt mit dem gleichen Fanatismus auslöschen, der früher<br />

siegreiche Armeen dazu brachte, Dörfer niederzubrennen und die Felder zu versalzen,<br />

damit sie nie wieder Früchte tragen würden. Diesen primitiven Plan totaler Auslöschung<br />

können die Kommunisten mit den Mitteln der modernen Technologie und Wissenschaft<br />

in die Tat umsetzen. Diese Kombination ist furchteinflößend. Das Wissen des 20.<br />

Jahrhunderts wird, wenn es aller moralischen Beschränkungen entledigt ist, zur<br />

gefährlichsten Gewalt, die jemals auf die Welt losgelassen wurde. Und in der gesamten<br />

Literatur des Sowjetkommunismus findet sich nicht der geringste Hinweis auf moralische<br />

Beschränkungen.«<br />

McNamara schloß mit den Worten: »In diesem Geist sollte das Bildungsprogramm unserer<br />

Verteidigungsinstitutionen durchgeführt werden.«<br />

Kennedys zweitwichtigster Berater in Sicherheitsfragen, General Maxwell Taylor, drängte auf eine<br />

radikale Erhöhung des Militärhaushalts. »Ich kann zwar keine genaue Schätzung abgeben«, meinte er,<br />

»doch wird die Gesamtsumme alle Friedensbudgets in der Geschichte der Vereinigten Staaten<br />

übertreffen.« 50 Das konnte angesichts »unserer« Vollkommenheit und »ihrer« Bösartigkeit nur klug<br />

sein.<br />

Die Intellektuellen um Kennedy betrieben also eine gigantische Aufrüstung, die sie mit dem Hinweis<br />

auf die »Raketenlücke« rechtfertigten. Das war insofern gelogen, als es sie zwar gab, aber zugunsten<br />

der Vereinigten Staaten. Unter Kennedy vollzog sich der zweite Aufrüstungsschub des Kalten Kriegs;<br />

den ersten hatte die Regierung Truman in Übereinstimmung mit NSC 68 ins Werk gesetzt. Als<br />

Vorwand diente damals der Koreakrieg, der kurz nach der Überreichung des Memorandums ausbrach<br />

und die These vom sowjetischen Streben nach Weltbeherrschung zu bestätigen schien. Diese<br />

Schlußfolgerung war damals so wenig plausibel wie heute, paßte aber in den Rahmen der politischen<br />

Erfordernisse. Die Reaganisten erfanden ein »Fenster der Verwundbarkeit«, als sie Präsident Carters<br />

Aufrüstungspläne in die Tat umsetzten, entdeckten dann aber, daß das Fenster geschlossen war, weil<br />

die Geschäftswelt sich über die Folgen des ausufernden Militärkeynesianismus Sorgen zu machen<br />

begann. Unterdessen erfanden Intellektuelle aus allen politischen Lagern Märchen über die immer<br />

stärker werdende Sowjetunion, die schon dabei sei, solche <strong>Mac</strong>htzentren wie Mosambik und Grenada<br />

sich einzuverleiben, während die freie Welt hilf- und machtlos zuschauen müsse. 51 Selbstverständlich<br />

23


führte der Zusammenbruch dieser Phantasievorstellungen nicht zu einer Überprüfung oder<br />

Neubewertung, sondern bewies vielmehr, daß die Weltuntergangspropheten recht gehabt hatten und<br />

das Unheil in letzter Minute noch gerade hatte abgewendet werden können.<br />

1980 ging es im wesentlichen darum, einen Grund für erneuerte Wirtschaftsanreize und eine<br />

aggressivere Haltung in der Außenpolitik zu finden. Das führte binnen kurzer Zeit zu einer neuen<br />

Phase des US-amerikanischen Terrorismus und anderer subversiver Tätigkeiten, und das war<br />

Begründung genug. Ähnliches gilt für die beiden anderen Fälle militärischer Aufrüstung (1950 und<br />

1961).<br />

Schon ein beiläufiger Blick auf die Tatsachen zeigt, daß das konventionelle Bild vom Kalten Krieg<br />

erhebliche Risse aufweist, was sich bei einer genaueren Untersuchung bestätigt. Erörtern wir einige<br />

Fragen, die ein am wahren Wesen des Ost-West-Konflikts interessierter Mensch vernünftigerweise<br />

stellen würde.<br />

Nationale Sicherheit<br />

Die erste Frage betrifft die Rolle der nationalen Sicherheit bei der Ausrichtung der politischen<br />

Strategie. Natürlich wird immer wieder auf die Gefährdung dieser Sicherheit verwiesen, und<br />

möglicherweise glaubt die Regierung sogar daran (vgl. Anm. 51); das gehört gewissermaßen zu den<br />

politischen Universalien. Folglich ist dieses Sicherheitsbedürfnis nicht besonders aussagekräftig, vor<br />

allem dann nicht, wenn wir den Begriff »Sicherheit« sehr weit fassen. In einigen höchst sorgfältigen<br />

und gründlichen wissenschaftlichen Untersuchungen neueren Datums wird »nationale Sicherheit« zu<br />

der Auffassung überdehnt, daß in einer fernen Zukunft kein potentieller Feind im Besitz der<br />

notwendigen Ressourcen sei, um die USA zu bedrohen. Und wenn der unabhängige politische Kurs<br />

eines Staats dazu führen kann, daß er in das <strong>Mac</strong>ht- und Einflußfeld des Feindes gerät, dann stellt auch<br />

der Neutralismus eine echte Gefahr für die »nationale Sicherheit« dar. Auf diese Weise wird die<br />

Behauptung, Politik sei von Sicherheitsinteressen geleitet, leer und unwiderlegbar, wohingegen andere<br />

Vorstellungen, mögen sie vielleicht auch falsch sein, <strong>zum</strong>indest einen Gehalt besitzen, wie etwa die<br />

These, Politik diene der Handlungsfreiheit US-amerikanischer Konzerne in der internationalen<br />

Wirtschaft (wobei der Einfluß von Großkonzernen auf die Politik unbestritten ist). Abgesehen davon<br />

müßte die Logik der nationalen Sicherheit jedem Staat das Recht auf die Kontrolle der globalen<br />

Gesellschaft einräumen. Mit diesem Begriff landen wir also im Nirgendwo. 52<br />

Die Vorstellung, Sicherheit erfordere die totale Beherrschung der Welt, konnte den Strategen des<br />

Kalten Kriegs auch deshalb so geläufig sein, weil ihnen die Grundelemente vertraut waren. Die Praxis,<br />

auf übermächtige Feinde zu verweisen, die bereits vor den Toren stehen, zieht sich durch die gesamte<br />

amerikanische Geschichte. »Seit mindestens einhundert Jahren«, schreibt der Historiker John<br />

Thompson, »ist in den Auseinandersetzungen über die amerikanische Außen- und Verteidigungspolitik<br />

immer wieder die Verletzbarkeit Amerikas - in der grundlegenden Bedeutung der<br />

Verletzbarkeit des nord-amerikanischen Heimatlands gegen direkte Angriffe von außen - auf<br />

übertriebene Weise betont worden.« In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der Ausbau<br />

der Kriegsflotte mit »angsteinflößenden Bildern britischer, chilenischer, brasilianischer und sogar<br />

chinesischer Kriegsschiffe« begründet, die amerikanische Städte unter Beschuß nahmen. Die<br />

Annektierung von Hawaii war notwendig, um britische Angriffe gegen Festlandshäfen abzuwehren,<br />

die »vollständig der Gnade englischer Kreuzer ausgeliefert sind« (Senator Henry Cabot Lodge). Vor<br />

dem Ersten Weltkrieg waren Karibik und Heimatland von der deutschen Kriegsmarine bedroht. Um<br />

das Land im Oktober 1941 auf den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg vorzubereiten, beschrieb<br />

Präsident Roosevelt eine »geheime Landkarte, die in Deutschland von Hitlers Regierung« angefertigt<br />

worden sei und den Plan enthalte, »den ganzen Kontinent unter deutsche Herrschaft zu bringen«. Die<br />

Karte gab es tatsächlich, sie stammte vom britischen Geheimdienst. Auch Ronald Reagans<br />

Redenschreiber griffen auf diese Tradition zurück, wenn sie ihn warnend darauf hinweisen ließen, daß<br />

die Sandinisten nur »zwei Stunden Flugzeit von unseren Grenzen« und »nur zwei Tage Fahrzeit von<br />

Harlingen, Texas« entfernt sind. Überlegen sein zu wollen ist so amerikanisch wie apple pie. 53<br />

24


Auch der ideologische Rahmen, der diesem Drang nach Überlegenheit seine Richtung vorgibt, war<br />

schon lange vor dem Kalten Krieg verfertigt worden. Da die Vereinigten Staaten sich als so groß- und<br />

einzigartig begriffen, war es ein höchst ehrenwertes Unterfangen, den Kontinent von einem »der<br />

Auslöschung bestimmten« Volk, einer »der Erhaltung unwerten Rasse«, die »der angelsächsischen<br />

Rasse ihren Wesen nach unterlegen ist«, zu säubern, handelt es sich doch um ein »unverbesserliches<br />

Gezücht«, dessen »Verschwinden aus der Familie der Menschen kein großer Verlust wäre«. Das<br />

jedenfalls meinte Präsident John Quincy Adams, der später diese Äußerungen bereute und die von ihm<br />

betriebene Politik zu den »scheußlichen Sünden dieser Nation« rechnete, »für die sie, wie ich glaube,<br />

eines Tages vor Gottes Richterstuhl wird treten müssen«. Er hoffe, meinte er weiter, daß diese späte<br />

Einsicht »der unglücklichen Rasse der amerikanischen Eingeborenen, die wir mit so gnadenloser und<br />

perfider Grausamkeit vernichten« irgendwie helfen könnte. Indes verkündete Präsident Monroe die<br />

Ausrottung für legal, weil die unterlegene Rasse »dem Recht nach« der »dichteren und kompakteren<br />

Form und der größeren Kraft der zivilisierten Bevölkerung« weichen müsse, weil »die Erde der<br />

Menschheit überlassen wurde, um die größtmögliche Anzahl zu ernähren, und kein Stamm oder Volk<br />

hat das Recht, dem Begehren anderer mehr zu entziehen als für den je eigenen zufriedenstellenden<br />

Lebensunterhalt nötig ist«. Folglich »verlangen die Rechte der Natur, was niemand verhindern kann«,<br />

nämlich die »schnelle und enorme« Ausweitung der weißen Siedlungstätigkeit auf das Gebiet der<br />

Indianer, der die gerechte Ausrottung unvermeidlich folgt.<br />

Solche Ideen, bei denen sich frühe Ideologen auf John Locke beriefen, finden auch heute noch ihr<br />

Echo, wobei sie mit feinsinniger Trennschärfe verwendet werden.<br />

Nachdem der Kontinent von der Indianerplage befreit worden war, konnte der Rest der Welt ins Visier<br />

genommen werden. Die Eroberung des Westens sollte <strong>zum</strong> Sprungbrett für die »Emanzipation der<br />

Welt« durch Amerikas »pekuniäre und moralische <strong>Mac</strong>ht« werden, erklärte der einflußreiche<br />

Geistliche Lyman Beecher 1835 in jener religiös getönten Sprache, die sich, etwas gröber, auch bei<br />

seinen weltlichen Nachfolgern in NSC-68 und vielen öffentlichen Diskursen findet. 54<br />

Während des Kalten Kriegs wurden diese ideologischen Fäden zur Forderung nach amerikanischer<br />

Vorherrschaft zusammengeknüpft. Sie ist unser Recht und unser Bedürfnis - unser Recht aufgrund des<br />

uns per definitionem innewohnenden Adels, und unser Bedürfnis aufgrund der unmittelbaren<br />

Bedrohung, die von vernichtungswütigen Feinden ausgeht. Der konventionelle Begriff, der das alles<br />

abdeckt, heißt »Sicherheit«.<br />

Nun, nach dem Ende des Kalten Kriegs, kann die Maske ein wenig gelüftet werden, und elementare<br />

Wahrheiten, die in der seriösen Forschung hier und da bereits ihren Ausdruck fanden, dürfen an die<br />

Öffentlichkeit gelangen.<br />

Dazu gehört die Tatsache, daß die Berufung auf Sicherheit großenteils geheuchelt war. Die Doktrin<br />

diente im wesentlichen dazu, den unabhängigen Nationalismus zu unterdrücken, sei es in Europa,<br />

Japan oder der Dritten Welt. »Nach dem Verschwinden der UdSSR ... sind die außenpolitischen Eliten<br />

der USA gezwungen, bei der Formulierung der amerikanischen Strategie sich freimütiger zu äußern«,<br />

heißt es in einem Leitartikel in Foreign Policy. Wir können nicht länger verhehlen, daß »die<br />

amerikanische Weltordnungsstrategie auf der Annahme beruht, daß Amerika in wirtschaftlich<br />

kritischen Regionen im wesentlichen ein Militärprotektorat aufrechterhalten muß, damit seine<br />

lebenswichtigen Handels- und Finanzbeziehungen nicht durch politische Unruhen gefährdet werden«.<br />

Diese »von Wirtschaftsinteressen determinierte Strategie, die von der außenpolitischen<br />

Führungsschicht vertreten wird, entspricht (vielleicht unwissentlich) einer quasi-marxistischen,<br />

genauer gesagt, leninistischen Interpretation der amerikanischen Außenpolitik«. Zudem bestätigt sie<br />

die oft geschmähten »linksradikalen« Analysen von William Appleman Williams und anderen<br />

linksorientierten Historikern. 55<br />

Dem ist nur der bereits zitierte Vorbehalt von Adam Smith hinzuzufügen: Die schützenswerten<br />

Handels- und Finanzbeziehungen sind »lebenswichtig« für die Architekten der Politik und die<br />

staatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen, denen diese Baumeister dienen. Für die allgemeine<br />

Bevölkerung sind sie oftmals durchaus nicht »lebenswichtig«, sondern eher schädlich, wie es etwa der<br />

25


Fall ist, wenn die Internationalisierung der Produktion ihr den Status von überflüssigen Bewohnern der<br />

Dritten Welt zuweist, eine Konsequenz, die sich mit der Logik der »wirtschaftlichen Rationalität«<br />

rechtfertigen läßt, wenn auch nicht mehr so einfach durch Verweis auf »Sicherheit«.<br />

Um uns mit diesem Begriff auf vernünftigere Weise zu befassen, sollten wir fragen, in welchem<br />

Ausmaß er als eigenständiger Faktor an der Herausbildung politischer Strategien beteiligt war. Rufen<br />

wir uns noch einmal die drei hauptsächlichen militärischen Aufrüstungsphasen (unter Truman,<br />

Kennedy und Reagan) ins Gedächtnis. In allen drei Fällen war die Begründung schwach oder<br />

schlichtweg erfunden, was vermuten läßt, daß jeweils unterschiedliche Motive handlungsleitend<br />

waren. Diese Vermutung wird durch die Tatsache verstärkt, daß wirkliche Bedrohungen der Sicherheit<br />

gar nicht zu interessieren schienen. Immerhin gab es 1950 bereits Interkontinentalraketen mit<br />

atomaren Sprengköpfen. Aber die amerikanischen Politstrategen unternahmen keine Anstrengungen,<br />

die weitere Entwicklung von Waffen, die für die Sicherheit der USA bedrohlich werden konnten, zu<br />

verhindern, und auch der spätere Verlauf des Kalten Kriegs war durch Aufrüstungspolitik bestimmt. 56<br />

Andere Aspekte der politischen Strategiebildung zeigen das gleiche Desinteresse an effektiver<br />

Sicherheit. Zwar sprach man fortwährend von der sowjetischen Gefahr, aber die Vorstellung, daß die<br />

Russen Westeuropa angreifen könnten, wurde nicht ernsthaft erwogen. Allerdings galt die sowjetische<br />

Militärmacht in zweierlei Hinsicht als Bedrohung: Zum einen diente sie zur Abschreckung<br />

amerikanischer Interventionen in der Dritten Welt, und <strong>zum</strong> anderen gab es die Möglichkeit, daß die<br />

UdSSR auf die Einbindung seiner traditionellen Feinde, Deutschland und Japan, in ein von den USA<br />

geführtes Militärbündnis reagieren könnte. Dieses Szenario wurde wiederum von Moskau, wie<br />

westliche Strategen erkannten, als echte Bedrohung der eigenen Sicherheit empfunden. Die Gründung<br />

der NATO scheint weniger auf einen befürchteten sowjetischen Angriff auf Westeuropa<br />

zurückzugehen, als auf die Angst vor einem neutralistischen Europa, das Acheson für den »kürzesten<br />

Weg <strong>zum</strong> Selbstmord« hielt. In der Vorbereitung auf die Treffen in Washington, die zur Bildung der<br />

NATO führten - worauf Moskau dann mit dem Warschauer Pakt reagierte -, gewannen US-Strategen<br />

die Überzeugung, »daß die Sowjets tatsächlich an einem politischen Handel interessiert sein könnten,<br />

indem sie Deutschland wiedervereinigen und die Spaltung Europas beenden«, schreibt Melvyn Leffler<br />

in seiner umfassenden Studie. Aber in Washington wurde das nicht als »gute Gelegenheit« begriffen,<br />

sondern als Bedrohung des »ersten Ziels der nationalen Sicherheit«, nämlich »in Deutschland das<br />

wirtschaftliche und militärische Potential für die Atlantische Gemeinschaft zu schaffen« und somit<br />

selbstmörderische Neutralitätsbestrebungen zu verhindern. 57<br />

»Nationale Sicherheit« bezieht sich hier nicht auf die Sicherheit einer Nation, die nur durch den<br />

Ausbruch eines erbitterten Ost-West-Konflikts in Europa beschädigt werden könnte, sondern auf<br />

langfristige wirtschaftliche und politische Ziele ganz anderer Art, wie Leffler vermerkt. Auch bezieht<br />

sich der Ausdruck »Atlantische Gemeinschaft« nicht auf die Bevölkerung der darunter befaßten<br />

Staaten, sondern, wie gewöhnlich, auf die Reichen, denen die Herrschaft zugedacht ist. Gerade die<br />

Stärke und Anziehungskraft demokratischer Massenbewegungen waren für die amerikanischen und<br />

britischen Politstrategen ein ernstes Problem und einer der Faktoren, die aus ihrer Sicht für ein<br />

geteiltes Deutschland sprachen, dessen Wiedervereinigung unter dem Vorzeichen der Neutralität, so<br />

fürchteten sie, der europäischen Arbeiterbewegung und demokratischen Tendenzen allgemein<br />

Vorschub leisten würde. Das amerikanische Außenministerium hielt, wie auch das britische, einen<br />

sowjetischen Angriff für wenig wahrscheinlich und sorgte sich mehr wegen der »wirtschaftlichen und<br />

ideologischen Infiltration« aus dem Osten, in der man »etwas der Aggression sehr Ähnliches«<br />

erblickte; wenn die falschen Leute politische Erfolge erzielen, gilt das gewöhnlich als »Aggression«.<br />

In einem vereinigten Deutschland, wurde von britischer Seite gewarnt, »könnte die Waage der <strong>Mac</strong>ht<br />

sich zugunsten der Russen neigen« und auf die Arbeiterbewegung Einfluß nehmen. Die Teilung<br />

Deutschlands aber würde jede Mitbestimmung der Sowjetunion über die industrielle Kernregion an<br />

Rhein und Ruhr ausschließen und die Arbeiterbewegung schwächen. Damit aber wurde der Kalte<br />

Krieg noch kälter und entsprechend wuchs die wirkliche Bedrohung der Sicherheit.<br />

Aus ähnlichen Gründen verwarfen die USA Stalins Vorschläge von 1952 für ein vereinigtes und<br />

entmilitarisiertes Deutschland, in dem es freie Wahlen geben würde. Auch wurden weitere Vorstöße,<br />

die Mitte der fünfziger Jahre erfolgten, abgeblockt, gerade weil man sie für ernstgemeint hielt. In einer<br />

26


internen Botschaft vom Januar 1956 unterstrich das US-Außenministerium die Notwendigkeit,<br />

»Deutschland organisch in die westliche Gemeinschaft einzubinden, um die Gefahr zu verringern, daß<br />

ein neu entstehender deutscher Nationalismus bereit ist, die Wiedervereinigung um den Preis der<br />

Neutralität zu erlangen, mit der Perspektive, eine kontrollierende Position zwischen Ost und West<br />

einnehmen zu können«. Das waren, wie Geoffrey Warner anhand von neuerdings freigegebenen<br />

Geheimdokumenten erläutert, »keineswegs die Ausgeburten einer überhitzten Phantasie«: Die Russen<br />

»hatten auf der Genfer Konferenz der Außenminister angedeutet, daß sie bereit sein könnten, in einem<br />

neutralen Deutschland freie Wahlen zuzulassen«. 1955 waren Geheimverhandlungen zwischen Westund<br />

Ostdeutschland geplant und möglicherweise schon im Gange. Noch bedeutsamer ist, daß Kennedy<br />

Chruschtschows Forderung, seinen radikalen Kürzungen im Militärhaushalt der Jahre 1961 <strong>bis</strong> 1963<br />

mit einer vergleichbaren Initiative zu entsprechen, ignorierte. Ebenso blieben Gorbatschows<br />

weitreichende Vorschläge <strong>zum</strong> Abbau der Spannungen unberücksichtigt, weil man sie als bedrohlich<br />

empfand. 58<br />

Die untergeordnete Rolle der Sicherheit für die westlichen Strategen des Kalten Kriegs ist nicht<br />

unbemerkt geblieben. In seinem Standardwerk über die Eindämmungspolitik stimmt John Lewis<br />

Gaddis der Einschätzung George Kennans vom Oktober 1947 zu - die von rationalen Politikern und<br />

Beobachtern, darunter auch Präsident Eisenhower, geteilt wurde -, daß wir »nicht von der<br />

militärischen <strong>Mac</strong>ht der Russen bedroht werden, sondern von ihrer politischen <strong>Mac</strong>ht«. Gaddis<br />

bemerkt: »Die Eindämmung ist in bemerkenswertem Ausmaß nicht so sehr eine Reaktion auf die<br />

russische Politik oder Ereignisse in anderen Teilen der Welt gewesen, sondern das Produkt von<br />

Kräften innerhalb der Vereinigten Staaten ... Überraschend ist das Primat, das wirtschaftlichen<br />

Erwägungen [vor allem staatlichen Wirtschaftsdirektiven] bei der Formung der Eindämmungspolitik<br />

eingeräumt wurde, und zwar <strong>bis</strong> hin <strong>zum</strong> Ausschluß anderer Erwägungen« (Hervorhebung von<br />

Gaddis). 59 Aber wie die meisten anderen Kommentatoren sieht Gaddis in diesem strategischen Muster<br />

lediglich eine Merkwürdigkeit, nicht jedoch ein politisches Handlungsprinzip, und so sagt er denn<br />

auch nichts darüber, inwieweit die Politik der »Abschreckung« und »Eindämmung« der politischen<br />

Weltlage überhaupt angemessen war. »Überraschend« ist allerdings, wie schwierig eine rationale<br />

Analyse im Hinblick auf die Außenpolitik der USA zu sein scheint, während sie in anderen<br />

Forschungsgebieten, auch bei der Erörterung der Politik uns feindlich gesonnener Staaten, Routine ist.<br />

Zudem betrachtet Gaddis nur die innenpolitische Komponente des Kalten Kriegs, nicht aber die bereits<br />

erwähnte Strategie, derzufolge »Amerika in wirtschaftlich kritischen Regionen im wesentlichen ein<br />

Militärprotektorat aufrechterhalten muß, damit seine lebenswichtigen Handels- und Finanzbeziehungen<br />

nicht durch politische Unruhen gefährdet werden«.<br />

Die politischen Strategien des Kalten Kriegs werden also plausibel, wenn wir »nationale Sicherheit«<br />

so umfassend interpretieren, daß diese bereits als gefährdet erscheint, sobald im amerikanischen<br />

Interessenbereich irgend etwas außer Kontrolle gerät, und sei es eine winzige Insel in der Karibik.<br />

Folglich mußte, um ein Beispiel zu geben, Grenada mit Gewalt in die Herde zurückgebracht werden,<br />

und die Reaganisten wollten, wie sie stolz verkündeten, daraus ein »Vorzeigeexemplar für den<br />

Kapitalismus« machen, was Großbanken und anderen Hilfsorganisationen denn auch gelang: Schon<br />

bald war die Insel »ein schnell wachsendes Paradies für Geldwäscher, Steuerflüchtlinge und<br />

Finanzbetrüger aller Art« (Wall Street Journal). 60 Wenn unsere Sicherheit durch jegliche<br />

Beschränkung unserer Kontrolle über Ressourcen und Märkte bedroht ist, sind Eindämmung und<br />

Abschreckung natürlich sinnvolle Strategien.<br />

Aus dieser Perspektive können wir auch verstehen, warum Gaddis in einem anderen einflußreichen<br />

Werk, das sich mit der Geschichte des Kalten Kriegs beschäftigt, die Invasion Rußlands durch einige<br />

Westmächte im Jahr 1918 als defensive Maßnahme rechtfertigt. Sie sei nämlich »die Reaktion auf eine<br />

tiefgreifende und potentiell weitreichende Intervention der neuen sowjetischen Regierung in die<br />

inneren Angelegenheiten nicht nur des Westens, sondern praktisch aller Staaten der Welt« gewesen, d.<br />

h. die »Kampfansage der Revolution - die kategorischer nicht hätte sein können - gegen das Überleben<br />

der kapitalistischen Ordnung«. Mithin war die Sicherheit der Vereinigten Staaten bereits 1917 »in<br />

Gefahr« gewesen und nicht erst 1950, und die Intervention durfte als Verteidigung gegen den Wandel<br />

der gesellschaftlichen Ordnung in Rußland und die Verkündung revolutionärer Absichten für<br />

27


gerechtfertigt gelten. 61 Unter Berücksichtigung der bereits erwähnten stillschweigenden<br />

Voraussetzungen ist Gaddis' Analyse unumstritten. Gemäß dieser Logik sind »Eindämmung« und<br />

»Abschreckung« Decknamen für die von den USA und ihren Verbündeten betriebenen Interventionen<br />

und Subversionen.<br />

Ironischerweise warf man der UdSSR vor, ihr Begriff von »Sicherheit« sei so allumfassend, daß er für<br />

alle anderen Staaten Unsicherheit bedeute. Genau das behaupten Strategieexperten heute von der<br />

amerikanischen Politik, halten diese Auffassung jedoch für gerechtfertigt.<br />

Die Folgerungen liegen auf der Hand. Die konventionelle Interpretation des Kalten Kriegs ist<br />

plausibel, wenn wir den Vereinigten Staaten eben die Haltung zuschreiben, die das Dokument NSC-68<br />

dem Kreml und seinem »Drang nach Weltbeherrschung« unterstellte. Natürlich werden westliche<br />

Kommentatoren schnell bei der Hand sein, auf die offensichtlichen Unterschiede hinzuweisen: Da wir<br />

die Guten sind und die anderen die Bösen, ist es nur gerecht und richtig, daß wir die Nase vorn haben,<br />

ungeachtet aller Katastrophen, die wir, in Verteidigung unserer »Sicherheit«, in vielen Teilen der Welt<br />

anzurichten vermochten. Wer auf die geschichtlichen Tatsachen verweist, ist ohnehin nur Opfer<br />

»politischer Korrektheit« oder »moralischer Gleichmacherei«.<br />

Der Beginn des Kalten Kriegs<br />

Eine zweite Frage, die sich vernünftigerweise stellen läßt, lautet: Wie begann der Konflikt und<br />

warum? Eine Antwort darauf haben wir schon gehört: Der Kalte Krieg begann, als die Bolschewisten<br />

ihre aggressive »Kampfansage ... gegen das Überleben der kapitalistischen Ordnung« formulierten und<br />

so den Westen zu jener defensiven Haltung zwangen, die er von der Invasion Rußlands <strong>bis</strong> zur<br />

Rollback-Strategie und darüber hinaus eingenommen hat. Gaddis' Datierung der Ursprünge des<br />

Konflikts ist realistisch und wird von anderen seriösen Historikern befürwortet.<br />

Zu ihnen gehört George Kennan, einer der führenden Architekten der internationalen Ordnung nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, der zudem eine vielbeachtete Studie über die sowjetisch-amerikanischen<br />

Beziehungen verfaßt hat. Er datiert die Ursprünge des Kalten Kriegs auf Januar 1918, als die<br />

Bolschewisten die Konstituierende Versammlung auflösten. Das führte »mit gewisser Endgültigkeit«<br />

<strong>zum</strong> Bruch mit dem Westen. Der britische Botschafter in Moskau, Sir George Buchanan, war »zutiefst<br />

schockiert« und empfahl eine bewaffnete Intervention. Die folgte schon bald und war durchaus<br />

ernstgemeint; die Briten setzten, wie erwähnt, sogar Giftgas ein, was so kurz nach dem Ende des<br />

Ersten Weltkriegs keine geringfügige Sache war. Winston Churchill, damals Außenminister, notierte,<br />

daß er »es sehr gern für die Bolschewiken hätte, wenn wir uns leisten können, zu zeigen, daß wir im<br />

Besitz [dieser Waffe] sind«. Der idealistische Woodrow Wilson zeigte sich von der Auflösung der<br />

Versammlung besonders betroffen, was, wie Kennan meint, die starke Bindung der amerikanischen<br />

Öffentlichkeit an die Verfassungsmäßigkeit zeigt und die Ablehnung einer Regierung, deren Mandat<br />

sich nur auf die »Bajonette der Roten Garden« stützte. 62<br />

Glücklicherweise hält die Geschichte ein kontrolliertes Experiment bereit, anhand dessen sich die<br />

Ernsthaftigkeit dieser erhabenen Gefühle überprüfen läßt. Einige Monate nach den Ereignissen in<br />

Rußland löste Wilsons Armee die Nationalversammlung in Haiti auf, wobei sie, wie<br />

Marinekommandeur Smedley Butler bemerkte, »echte Marinekorps-Methoden« zur Anwendung<br />

brachte. Die Nationalversammlung hatte sich nämlich geweigert, einer von den Invasoren oktroyierten<br />

Verfassung zuzustimmen, die es US-Konzernen ermöglichen sollte, Ländereien in Haiti aufzukaufen.<br />

Ein von der Marine durchgeführtes Ple<strong>bis</strong>zit löste das Problem: Die Verfassung wurde mit einer<br />

Zustimmung von 99,9 Prozent angenommen, die Beteiligung an der Abstimmung betrug fünf Prozent.<br />

Soviel zur starken Bindung an die Verfassungsmäßigkeit angesichts einer Regierung, deren Mandat<br />

sich auf die Bajonette der Invasoren stützte.<br />

Amüsanterweise gelten diese Ereignisse in der amerikanischen Geschichtsschreibung als Beispiel für<br />

eine »humanitäre Intervention« mitsamt all ihren Schwierigkeiten (die sie natürlich nur uns bereitet).<br />

»Haitis tragische Geschichte sollte jene zur Vorsicht mahnen, die jetzt so eifrig die Operation Restore<br />

Hope in Somalia betreiben«, warnt Robert Kaplan unter Hinweis auf die Probleme, denen wir<br />

28


konfrontiert sind, wenn wir »die politische Struktur eines Landes zu reparieren suchen, dem die<br />

Grundlagen einer modernen politischen Kultur fehlen«. Und Elaine Sciolino von der New York Times<br />

erinnert daran, daß die Marines »für Ordnung sorgten, Steuern einzogen, Auseinandersetzungen<br />

schlichteten, Lebensmittel und Medizin verteilten und sogar Pressezensur betrieben und politische<br />

Gegner vor Militärgerichte stellten«. Dem Harvard-Historiker David Landes zufolge führte die<br />

wohlwollende Okkupation »zur dringend benötigten Stabilität, damit das politische System arbeiten<br />

und der Außenhandel erleichtert werden konnte«. Auch Professor Hewson Ryan von der Fletcher<br />

School of Law and Diplomacy ist voll des Lobes für das, was die USA in »zwei Jahrhunderten<br />

gutgemeinten Engagements« in Haiti erreicht haben, seit sie 1791 Frankreichs Versuch, den<br />

Sklavenaufstand gewaltsam niederzuschlagen, unterstützten. »Nur wenige Nationen haben über einen<br />

so langen Zeitraum so viel an gutgemeinter Beratung und Hilfe bekommen«, schreibt er. Haitis<br />

gegenwärtiger Zustand muß also einigermaßen rätselhaft erscheinen. Besonders beeindruckt ist Ryan<br />

von Wilsons »freundlichem Beharren« auf der Beseitigung »unfortschrittlicher« Vorkehrungen der<br />

Verfassung, wie etwa dem Verbot des Landerwerbs durch Ausländer. Mit dem »freundlichen<br />

Beharren« bezieht er sich auf die gewaltsame Auflösung der Nationalversammlung. 63<br />

Die Haitianer haben etwas andere Erinnerungen an diese Zeiten amerikanischer Fürsorge. So meint<br />

der Anthropologe Michel-Rolph Trouillot: »Die meisten Beobachter sind sich darin einig, daß die<br />

Errungenschaften der Okkupation geringfügiger Art waren; Uneinigkeit besteht nur in der Frage, wie<br />

groß der angerichtete Schaden war.« Jedenfalls beschleunigte die Besatzung die wirtschaftlichen,<br />

militärischen und politischen Zentralisierungsprozesse, die ökonomische Abhängigkeit und die<br />

scharfen Klassenteilungen, die Ausbeutung der Bauernschaft, die innerethischen Konflikte, die durch<br />

den Rassismus der Besatzer noch verschärft wurden, und, was wohl das Schlimmste war, die<br />

Errichtung einer »Armee, deren Aufgabe es war, das Volk zu bekämpfen«. 64 Aber, tröstet Landes,<br />

»selbst eine gutgemeinte Okkupation ruft... bei den Nutznießern Widerstand hervor«.<br />

Nicht nur die gewaltsame Auflösung der Nationalversammlung ist aus der Geschichte verschwunden,<br />

sondern auch die praktische Wiedereinführung der Sklaverei, die von den Marines verübten Massaker,<br />

die Bildung einer staatsterroristischen Armee (der Nationalgarde), die seither die Bevölkerung eisern<br />

im Griff hat, sowie die Übernahme des Landes durch US-Konzerne. In der benachbarten<br />

Dominikanischen Republik spielte sich das alles ähnlich ab, auch wenn Wilsons Armeen dort nicht<br />

ganz so schlimm wüteten.<br />

Und da dies alles vergessen ist, gilt Wilson als großer moralischer Lehrmeister und Apostel von<br />

Selbstbestimmung und Freiheit. Zu seinem hochfliegenden Idealismus können wir jetzt zurückkehren.<br />

Die Bolschewisten dagegen haben sich, indem sie die Konstituierende Versammlung gewaltsam<br />

auflösten, gegen unsere hehrsten Ideale vergangen.<br />

Der Kalte Krieg begann mit Lügen und Täuschungsmanövern, und das sollte sich auch im weiteren<br />

Verlauf nicht ändern.<br />

Der Verlauf des Kalten Kriegs<br />

Eine dritte Frage, um das Wesen des Kalten Kriegs zu verstehen, lautet: Welche Ereignisse<br />

charakterisieren ihn?<br />

Hier müssen wir zwei Phasen unterscheiden. Die erste reicht von der Russischen Revolution <strong>bis</strong> <strong>zum</strong><br />

Zweiten Weltkrieg, die zweite, mit der Erneuerung des Konflikts, vom Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

<strong>bis</strong> <strong>zum</strong> endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion. Betrachten wir zuerst die dortige Entwicklung.<br />

Die erste Phase war durch die rasche Zerschlagung der beginnenden sozialistischen Tendenzen, die<br />

Institutionalisierung eines totalitären Staats sowie, vor allem unter Stalin, außergewöhnliche<br />

Greueltaten gekennzeichnet. Außenpolitisch war die Sowjetunion kein Hauptakteur; allerdings<br />

bemühten sich ihre Führer nach Kräften darum, sozialistische und andere nicht-orthodoxe linke<br />

Bewegungen zu untergraben, wofür die Rolle der Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg ein<br />

29


eindrückliches Beispiel gibt. Niemand jedoch hielt die Sowjetunion für eine militärische Bedrohung.<br />

Trotzdem war die westliche Politik schon damals auf Vorherrschaft und Eindämmung ausgerichtet.<br />

Ihre ideologischen Facetten sollen hier <strong>zum</strong>indest kurz erwähnt werden. Von vielen Teilen der Linken<br />

wurde die bolschewistische <strong>Mac</strong>htergreifung sehr bald als Angriff auf den Sozialismus erkannt. Dazu<br />

gehörten prominente Marxisten wie Anton Pannekoek und Rosa Luxemburg ebenso wie unabhängige<br />

Sozialisten à la Bertrand Russell und natürlich die anarchistische Linke ganz allgemein.<br />

Möglicherweise haben auch Lenin und Trotzki ihre Politik so gesehen und, in orthodox-marxistischer<br />

Weise, als Übergangsmaßnahme begriffen, <strong>bis</strong> die Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen<br />

Ländern (vor allem Deutschland) sich durchgesetzt haben würde. Die Erben der bolschewistischen<br />

Konterrevolution jedoch sahen in ihrer Herrschaft den demokratischen Sozialismus verwirklicht. Der<br />

Anspruch auf Demokratie wurde vom Westen natürlich scharf zurückgewiesen, während man die<br />

ebenso lächerliche Behauptung der Sowjets, den Sozialismus eingeführt zu haben, gern dazu nutzte,<br />

linke Bewegungen im eigenen Land und ihren Kampf gegen die autoritären Institutionen des<br />

Staatskapitalismus zu denunzieren. Aufgrund ihrer globalen Vorherrschaft gelang es der westlichen<br />

Propaganda, die Bedingungen festzulegen, unter denen der ideologische Diskurs auch innerhalb der<br />

Linken geführt wurde. Die frühe Kritik am bolschewistischen Feldzug gegen sozialistische Initiativen<br />

der vorrevolutionären Epoche wurde bald an den Rand gedrängt, und selbst bekennende linke<br />

Antistalinisten, ja sogar Antimarxisten sahen nun, <strong>zum</strong>indest in ihren öffentlichen Bekundungen, im<br />

drohenden Ende der Sowjetunion den Tod des Sozialismus statt die Chance zu seiner Verwirklichung.<br />

Die sowjetischen Verbrechen spielten bei der wachsenden Feindseligkeit des Westens keine Rolle.<br />

Wie aus der Geschichte bekannt ist, können die USA und ihre Bündnispartner Greueltaten durchaus<br />

tolerieren oder gar selbst verüben, sofern sie den Interessen der Reichen und Mächtigen dienen. Zu<br />

verbrecherischen Handlungen werden sie erst, wenn sie diesen Interessen zuwiderlaufen. Als man die<br />

Sowjetunion brauchte, damit sie die Schläge von Hitlers Kriegsmaschinerie abfing, war Stalin der<br />

liebenswerte »Onkel Joe«. In der Diskussion mit seinen engsten Beratern verteidigte Roosevelt Stalins<br />

Pläne für die Baltenstaaten und Finnland ebenso wie die Verschiebung der polnischen Grenze nach<br />

Westen. Churchill unterschrieb seine Noten an Stalin mit »Ihr Freund und Kriegskamerad«, während<br />

die britische Botschaft betonte, daß vor dem Hintergrund gemeinsamer britisch-sowjetischer<br />

Interessen aus dem »guten Start zur Bildung einer Atmosphäre größeren Vertrauens mit unserem<br />

schwierigen Verbündeten« ein engeres Bündnis werden könnte. Vielleicht hoffte London dadurch<br />

auch, gewisse amerikanische Nachkriegspläne zu verhindern, die britische Politiker mit einiger<br />

Unsicherheit erfüllten. Bei den Treffen der Großen Drei pries Churchill Stalin als »großen Mann,<br />

dessen Ruhm sich über Rußland hinaus in die ganze Welt verbreitet hat«, und sprach mit warmer<br />

Empfindung von seiner »freundschaftlichen und engen« Beziehung <strong>zum</strong> Tyrannen. »Meine<br />

Hoffnungen«, sagte er, »ruhen auf dem illustren Präsidenten der Vereinigten Staaten und auf<br />

Marschall Stalin, in denen wir die Meister des Friedens finden, die uns nach der Zerschmetterung des<br />

Feindes führen werden, um den Kampf gegen Armut, Verwirrung, Chaos und Unterdrückung<br />

fortzusetzen.« Stalin sei, erklärte Churchill seinem Kabinett nach der Konferenz von Jalta, ein Mann<br />

von großer Stärke, in den er völliges Vertrauen setze. Es sei wichtig, daß er im Amt bleibe. Besonders<br />

beeindruckt war Churchill von Stalins Unterstützung bei der brutalen Unterdrückung des von<br />

Kommunisten geleiteten antifaschistischen Widerstands in Griechenland.<br />

Auch für Truman waren Stalins Verbrechen kein Stein des Anstoßes. Truman mochte und bewunderte<br />

Stalin, den er für »aufrichtig« und »höllisch schlau« hielt; sein Tod wäre eine »echte Katastrophe«. Im<br />

Privatgespräch bemerkte er, daß er mit Stalin »klarkomme«, solange die USA in 85 Prozent aller Fälle<br />

ihren Willen durchsetzen könnten. Was in der UdSSR selbst geschehe, gehe ihn nichts an. 65<br />

In der zweiten Phase, ab 1945, gab es von russischer Seite wiederholte Interventionen bei<br />

osteuropäischen Satellitenstaaten und die Invasion von Afghanistan, das einzige Mal, daß die Armee<br />

außerhalb der traditionellen Einmarschrouten ihrer Gegner, von denen sie im 20. Jahrhundert dreimal<br />

überfallen und an den Rand der Vernichtung gebracht worden war, operierte. Zudem suchte die<br />

Sowjetführung außenpolitische Tätigkeitsfelder, indem sie <strong>bis</strong>weilen Opfern amerikanischer Angriffe<br />

half, <strong>bis</strong>weilen Killer und Diktatoren wie die argentinischen Neonazigeneräle oder den äthiopischen<br />

Herrscher Mengistu unterstützte. Repression und Gewalt im Innern ließen nach und erreichten nicht<br />

30


mehr das Ausmaß wie in typischen amerikanischen Satellitenstaaten, wo westliche Anstandsnormen ja<br />

ohnehin nicht gelten.<br />

In einem Kommentar zur »samtenen Revolution« in der Tschechoslowakei bemerkte der<br />

guatemaltekische Journalist Julio Godoy, der sein Land ein Jahr zuvor hatte verlassen müssen,<br />

nachdem sein neueröffnetes Redaktionsbüro von Staatsterroristen in die Luft gesprengt worden war,<br />

daß die Osteuropäer »in gewisser Weise mehr Glück gehabt haben als die Mittelamerikaner«:<br />

»Die von Moskau eingesetzte Regierung in Prag hat die Reformer unterdrückt und<br />

erniedrigt, aber die von Washington eingesetzte Regierung in Guatemala hat sie getötet<br />

und tut es immer noch. Es läuft auf Genozid hinaus, der schon mehr als 150 000 Opfer<br />

gekostet hat... Amnesty International spricht von einem „Regierungsprogramm für<br />

politischen Mord"«.<br />

In den Satellitenstaaten der Sowjets, meint Godoy, waren die Armeen »unpolitisch und ihrer<br />

nationalen Regierung gehorsam«, während in den US-Satellitenstaaten »die Armee die <strong>Mac</strong>ht ist« und<br />

das tut, was ihr seit Jahrzehnten von der Vormacht beigebracht worden ist. »Man möchte fast glauben,<br />

daß einige Leute im Weißen Haus die Götter der Azteken verehren und ihnen das Blut der<br />

Mittelamerikaner <strong>zum</strong> Opfer darbringen.« 66<br />

Auch in der zweiten Phase des Kalten Kriegs bieten die sowjetischen Taten und Untaten kein<br />

zureichendes Motiv für die westliche Feindseligkeit. Wir müssen also nach anderen Gründen<br />

Ausschau halten.<br />

Wenden wir uns nun der amerikanischen Seite der Ereignisse zu. In der ersten Phase, die USA waren<br />

noch keine Weltmacht, reagierten sie auf die bolschwistische Revolution so, wie Gaddis es<br />

retrospektiv beschreibt. 67 »Das Haupthindernis« für die Anerkennung der UdSSR, meinte der Leiter<br />

der Osteuropa-Abteilung im Außenministerium, »sind die weltrevolutionären Ziele und Praktiken der<br />

Herrscher dort.« Zu diesen Praktiken gehörte natürlich nicht die Aggression im direkten Sinn, aber die<br />

sowjetische Politik kam den Plänen des Westens in die Quere, was einer Aggression schon fast<br />

gleichgesetzt werden kann. Die Regierung Wilson jedenfalls nahm die »Ziele und Praktiken« <strong>zum</strong><br />

Anlaß, eine große Kommunistenhatz, die »Red Scare«, zu inszenieren und dadurch demokratische<br />

Politik, Gewerkschaften, Pressefreiheit und unabhängiges Denken zu untergraben, <strong>Mac</strong>ht und Einfluß<br />

der privatwirtschaftlichen Interessen dagegen zu sichern. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte man<br />

diese Sache, ebenfalls unter dem Vorwand einer kommunistischen Verschwörung, mit McCarthy noch<br />

einmal durch. In beiden Fällen begrüßten Wirtschaft, Medien und liberale Intellektuelle die<br />

Repression, die für eine Periode der Ruhe und Passivität sorgte, <strong>bis</strong> die Wirtschaftskrise von 1929 und<br />

nach der McCarthy-Ära die Bürgerbewegungen der sechziger Jahre den Bann brachen.<br />

Im Zuge ihrer gegen die Sowjetunion gerichteten Eindämmungspolitik unterstützten die USA<br />

Mussolini schon seit dessen Marsch auf Rom 1922 mit aller Kraft. Der amerikanische Botschafter<br />

nannte den Triumph des Faschismus eine »schöne junge Revolution«. Ein Jahrzehnt später pries<br />

Präsident Roosevelt den »bewundernswerten italienischen Gentleman«, der das parlamentarische<br />

System zerschlagen hatte und die Arbeiterbewegung, gemäßigte Sozialisten sowie die kommunistische<br />

Partei gewaltsam unterdrückte. Die faschistischen Verbrechen seien legitim, weil sie, so erklärte das<br />

Außenministerium, ein zweites Rußland verhindern würden. Aus diesen Gründen wurde auch Hitler<br />

unterstützt. 1937 sah das Außenministerium im Faschismus die natürliche Reaktion der »reichen und<br />

mittleren Klassen«, die sich verteidigten, als die »enttäuschten Massen sich, das Beispiel der<br />

russischen Revolution vor Augen, nach links wandten«. Nationalsozialismus und Faschismus müssen<br />

»erfolgreich sein, weil sonst die Massen, jetzt verstärkt durch die desillusionierten Mittelschichten,<br />

erneut nach links driften«. Zur selben Zeit lobte der britische Sondergesandte in Deutschland, Lord<br />

Halifax, Hitler, weil dieser die Ausbreitung des Kommunismus gestoppt habe. England begreife sein<br />

Wirken jetzt sehr viel besser als vorher, meinte der Lord, an den Diktator gewandt. Die amerikanische<br />

Geschäftswelt dachte nicht anders. Italien unter Mussolini war bei Investoren sehr beliebt, und große<br />

US-Konzerne beteiligten sich an der Kriegsproduktion der Nationalsozialisten. Einige bereicherten<br />

sich sogar an der Plünderung jüdischen Besitzes während des NS-»Arisierungsprogramms«. »US-<br />

31


amerikanische Investitionen zogen erheblich an«, vermerkt Christopher Simpson in einer Studie.<br />

»Zwischen 1929 und 1940 stiegen sie um 48,5 Prozent, während sie in anderen kontinentaleuropäischen<br />

Ländern stark zurückgingen« und in Großbritannien annähernd stabil blieben. 68<br />

In einer Untersuchung britischer Regierungsdokumente kommt Lloyd Gardner zu dem Schluß, daß für<br />

die Briten noch während des Hitler-Stalin-Pakts (der <strong>bis</strong> Juni 1941 in Kraft blieb) die Sowjetunion<br />

»das unmittelbare Problem« war, nicht aber Deutschland. Hohe britische Regierungsbeamte hielten<br />

den Krieg für notwendig und »konzentrierten sich nicht auf die deutschen Bestrebungen zur Teilung<br />

[Polens], die London bereits für akzeptabel erklärt hatte, sondern auf den Pakt zwischen Nazis und<br />

Sowjets, der inakzeptabel war«. 69<br />

Die Unterstützung für den Faschismus fand ihr Ende, als man die Gefahr erkannte, die er für die<br />

Interessen des Westens darstellte. Aber schon bald darauf entdeckte man erneut seinen Wert. In Italien<br />

restaurierten amerikanische Besatzungstruppen ab 1943 die konservative Ordnung und setzten auch<br />

faschistische Kollaborateure wieder in Amt und Würden ein, während der anti-faschistische<br />

Widerstand zerschlagen wurde. Der Aushöhlung der italienischen Demokratie widmete sich die CIA<br />

mindestens <strong>bis</strong> 1970 (spätere Dokumente liegen nicht vor). In Griechenland kam es zur ersten<br />

Kampagne, die in der Nachkriegszeit gegen Aufständische geführt wurde. Sie kostete erhebliche<br />

Opfer.<br />

Die maßgebenden Werte der britischen und amerikanischen Politik zeigten sich mit besonderer<br />

Klarheit in Norditalien, das von der Widerstandsbewegung kontrolliert wurde. Als die Armeen der<br />

Alliierten dort eintrafen, fanden sie eine funktionierende soziale und wirtschaftliche Ordnung vor. Der<br />

britische Attaché, W. H. Braine, der die Unterstützung der Labour Party genoß, war besonders besorgt<br />

über eigenständige Initiativen der italienischen Arbeiter. Sie hatten erfolgreich gegen Entlassungen<br />

gekämpft und, schlimmer noch, Räte gegründet, d. h., »willkürlich« Firmeneigner und Geschäftsführer<br />

durch eigene Repräsentanten ersetzt. Braine ergriff sofort die Initiative, um diesen Prozeß rückgängig<br />

zu machen. Zwar war die Arbeitslosigkeit, wie er erkannte, das vordringlichste Problem, aber das<br />

mußte Italien selbst lösen, während die Alliierten sich um die Wiederherstellung der alten Ordnung zu<br />

kümmern hatten. Folglich wurden Enteignungen aufgehoben, die Widerstandskräfte entwaffnet und<br />

ihr »Komitee zur nationalen Befreiung« zur Ordnung gerufen, wie der Historiker Federico Romero<br />

beifällig vermerkt. Die Widerstandsbewegung, schreibt er, »war aus militärischer Sicht zwar nützlich<br />

gewesen, hatte bei den Alliierten jedoch immer schon Mißtrauen hervorgerufen, weil sie eine freie<br />

politische und soziale Bewegung war, die sich nur schwer kontrollieren ließ«. Sie war »zu einer<br />

Quelle unabhängiger <strong>Mac</strong>ht [geworden], und das mußte geändert werden«. Danach konnte die<br />

Militärregierung, wie der Leiter der Alliierten Kontrollkommission, US-Admiral Ellery Stone,<br />

erklärte, ihr Augenmerk darauf richten, »die Italiener im Geist der demokratischen Lebensweise zu<br />

erziehen«. Sein Bericht wurde vom Außenministerium übrigens als »ausgezeichnet« gelobt.<br />

Vor allem die Alliierte Militärregierung wandte sich gegen die Arbeiterräte und befand sich damit »im<br />

Einklang mit den Ansichten der Industriellen und der gemäßigten politischen Kräfte«, bemerkt<br />

Romero, wobei er das Wort »gemäßigt« im konventionellen Sinn benutzt. Ziel war es, die <strong>Mac</strong>ht<br />

wieder in die Hände des Managements zu legen, »ideologische Vorstellungen zu einer<br />

Neustrukturierung der Gesellschaftsordnung« zu überwinden, die traditionelle »soziale Hierarchie« zu<br />

bewahren und den Kampf gegen »Privateigentum und Hierarchie in der Industrie« sowie »von<br />

Klassenkriterien geleitete antifaschistische Säuberungsaktionen« zu verhindern. Unter einer Mitte-<br />

Rechts-Regierung, mit gespaltenen und marginalisierten Gewerkschaften sowie »Ordnung, Disziplin<br />

und der Kontrolle des Managements am Arbeitsplatz« gäbe es eine willkommene Rückkehr zur<br />

»Normalität«, wobei die »industriellen Verhältnisse auf der dreigeteilten Kooperation zwischen<br />

Regierung, Industrie und Gewerkschaften beruhen«. Der Militärregierung gelang es, »das Streben der<br />

Arbeiterklasse nach politischer <strong>Mac</strong>ht in Schach zu halten, die radikalsten Impulse des siegreichen<br />

Antifaschismus zu zügeln und die Strukturen der industriellen <strong>Mac</strong>ht unter Kontrolle zu bringen, um<br />

so die Vorrechte der Unternehmer zu sichern«.<br />

Überhaupt stellten die Arbeiter ein ziemliches Problem dar, weil sie in den Gewerkschaften »sehr<br />

einflußreich« waren und die Ordnung untergruben, kommentiert Romero. Man mußte ihnen den<br />

32


apolitischen Stil der amerikanischen Gewerkschaften beibringen. Das Modell war die AFL [American<br />

Federation of Labor; der Gewerkschaftsdachverband], in der ein »kleiner Kreis von Funktionären«,<br />

der seine Politik auf Versammlungen pauschal absegnen ließ, »enge Verbindungen« <strong>zum</strong> US-<br />

Geheimdienst und dem Außenministerium pflegte und sich »vorwiegend auf politisch-strategische<br />

statt rein gewerkschaftliche« Operationen konzentrierte. Leider genossen die italienischen<br />

Kommunisten aufgrund ihrer »persönlichen Integrität« und »unzweideutigen antifaschistischen<br />

Haltung« das Vertrauen der Bevölkerung, bemerkte der amerikanische Gewerkschaftsattache John<br />

Adams und fügte hinzu: »Die Kommunistische Partei ist eine echte Massenpartei, deren Hauptziel die<br />

Verbesserung der materiellen Bedingungen der Arbeiter ist.« Die Arbeiter schätzten die<br />

Kommunisten, weil nur sie »in der Lage waren, die Interessen der Arbeiter wirksam zu verteidigen<br />

und ihnen die Aussicht auf die Verbesserung ihrer Lage in der Zukunft zu verschaffen« (so umschreibt<br />

Romero Adams' Äußerungen). Folglich mußte auch die Kommunistische Partei im Interesse der<br />

»gemäßigten Kräfte« und der »Demokratie« untergraben werden. Die USA machten deutlich, daß es<br />

keine Hilfsleistungen geben werde, solange die italienischen Wähler nicht ihren Verpflichtungen<br />

nachkamen, was sie dann, solchem Druck ausgesetzt, auch taten. Noch sehr viel nachdrücklichere<br />

Maßnahmen waren für den Fall geplant, daß die Arbeiter sich den Ergebnissen des »demokratischen<br />

Prozesses« widersetzen sollten. 70<br />

In diesem Sinne machten die Vereinigten Staaten bei der Errichtung der <strong>Neue</strong>n Weltordnung weiter.<br />

1953 ließen sie die konservativ-nationalistische Regierung Mossadegh im Iran stürzen und den Schah<br />

an die <strong>Mac</strong>ht zurückkehren; in Guatemala zerstörten sie ein zehn Jahre währendes demokratisches<br />

Zwischenspiel, an dessen Stelle sie eine Versammlung von Massenmördern setzten, die den Beifall<br />

von Himmler und Göring gewonnen hätten und deren Verbrechen in den achtziger Jahren von der<br />

damaligen US-Regierung direkt unterstützt wurden; Frankreich halfen sie bei dem Bestreben, ihre<br />

ehemaligen Kolonien in Indochina zurückzugewinnen und errichteten dann, in Verletzung des Genfer<br />

Abkommens von 1954, in Südvietnam einen Terrorstaat nach lateinamerikanischem Muster, dessen<br />

Bevölkerung, als sie nicht mehr kontrolliert werden konnte, unter Kennedy mörderischen Angriffen<br />

ausgesetzt wurde, was schließlich zu einem Krieg führte, in dessen Verlauf Millionen von Menschen<br />

starben und drei Länder verwüstet wurden; in Lateinamerika verhalfen sie Neonazi-Generälen zur<br />

<strong>Mac</strong>ht, und in Mittelamerika sorgten sie in den achtziger Jahren für Massaker und Zerstörungen<br />

größten Ausmaßes.<br />

Ein Rückblick auf die Ereignisse des Kalten Kriegs bietet, in einer ersten Annäherung, folgendes Bild.<br />

In Rußland errichteten die Bolschewiki sofort eine totalitäre militärisch-bürokratische Diktatur, die in<br />

den dreißiger Jahren unglaubliche Greueltaten verübte. Im Ausland halfen sie während der ersten<br />

Phase des Kalten Kriegs bei der Unterdrückung sozialistischer und freiheitlicher Bestrebungen,<br />

während der zweiten Phase malträtierten sie ihre Satellitenstaaten, oft mit brutaler Gewalt, besetzten<br />

Afghanistan und pflegten auch sonst den Zynismus einer Großmacht. Die Vereinigten Staaten<br />

ihrerseits nutzten während der ersten Phase die »bolschewistische Bedrohung«, um daheim und im<br />

Ausland die <strong>Mac</strong>ht der Privatwirtschaft zu sichern. In der zweiten Phase errichteten sie im eigenen<br />

Land einen militärisch-industriellen Komplex, mittels dessen die Konzerne weiter gestärkt und die<br />

Arbeiterorganisationen geschwächt wurden; im Ausland, insbesondere in der Dritten Welt, sorgten sie<br />

für umfangreiche Subversion, Terrorkampagnen und Aggression und achteten ansonsten darauf, daß<br />

die Industriegesellschaften dem System tradierter Herrschaft treu blieben. Damit legten sie das<br />

Fundament für ein von transnationalen Konzernen und Finanzgesellschaften beherrschtes Weltsystem.<br />

Bei den entscheidenden Ereignissen des Kalten Kriegs spielte der Ost-West-Konflikt nur eine<br />

marginale Rolle, hatte aber gleichwohl bestimmte Auswirkungen und Folgen. Er diente beiden<br />

Supermächten dazu, die jeweils eigene Bevölkerung bei der Stange zu halten und die Pläne des<br />

Gegners zu stören, indem mögliche Angriffsziele unterstützt und die Abschreckung durch militärische<br />

Aufrüstung gefördert wurde. Allerdings übertrafen globale Reichweite und Gewalt der Vereinigten<br />

Staaten die Mittel der anderen Supermacht bei weitem, während die innerstaatliche Repression in der<br />

Sowjetunion ungleich umfassender war als in den USA, in der zweiten Phase jedoch nicht so stark wie<br />

in den Satellitenstaaten der USA. Möglicherweise hätte die Sowjetunion ihr Abschreckungspotential<br />

noch wirksamer gegen die Ambitionen ihres Rivalen ins Feld führen können, aber für diese<br />

Mutmaßung fehlen Beweise aus den sowjetischen Archiven.<br />

33


Wenn also der Kalte Krieg im wesentlichen oder <strong>zum</strong>indest großenteils aus diesen Ereignissen besteht,<br />

gleicht das konventionelle Bild eher einem Zerrbild.<br />

Davor und danach<br />

Erörtern wir eine letzte Frage, die offensichtlich für das Wesen des Kalten Kriegs von Bedeutung ist:<br />

Welche Veränderungen hat er in der politischen Strategie bewirkt? Wie unterscheiden sich die<br />

Ereignisse des Kalten Kriegs von denen, die ihm vorausgingen und die ihm folgten? Für die UdSSR<br />

kann die Frage nicht sinnvoll beantwortet werden, weil die Gesellschaft sich 1917 und dann erneut seit<br />

1990 radikal gewandelt hat, wohl aber für die Vereinigten Staaten.<br />

Kurz vor der bolschewistischen <strong>Mac</strong>htergreifung besetzte Woodrow Wilson Mexiko, Haiti und die<br />

Dominikanische Republik, in den letzten beiden Fällen mit tiefgreifenden, für Haiti sogar<br />

schrecklichen Folgen. Ein Grund lag im extremen Rassismus der Regierung Wilson und ihrer<br />

Militärkräfte, der sich in Haiti ganz unverhüllt zeigte. Ein hoher Beamter des Außenministeriums<br />

erklärte Wilsons Außenminister Robert Lansing:<br />

»Man tut gut daran, die dominikanische Bevölkerung von der haitianischen zu<br />

unterscheiden. Erstere ist zwar in vielfacher Hinsicht für die höchste Form der<br />

Selbstregierung nicht weit genug entwickelt, doch überwiegt bei ihr der Anteil an weißem<br />

Blut und weißer Kultur. Die Haitianer jedoch sind <strong>zum</strong> größten Teil negroid und befinden<br />

sich, abgesehen von ein paar hochgebildeten Politikern, noch fast im Zustand der<br />

Wildheit und völligen Unwissenheit.«<br />

Folglich müssen die amerikanischen Okkupanten in Haiti »für lange Zeit ... eine so umfassende<br />

Herrschaft wie nur möglich« ausüben, während in der Dominikanischen Republik weniger starke<br />

Kontrollen vonnöten sind. 71 Lansing war der gleichen Ansicht. Er sprach der »afrikanischen Rasse«<br />

jegliche Befähigung zu »politischer Organisation und Regierungstalent« ab. »Fraglos besitzt sie eine<br />

innere Neigung, zur Wildheit zurückzukehren und die Fesseln der Zivilisation, die ihrer physischen<br />

Natur ein Hemmnis sind, abzustreifen.« Diese Tatsache macht das »Negerproblem auch in den<br />

Vereinigten Staaten praktisch unlösbar«. Allerdings hielt Lansing ohnehin nicht viel von der<br />

menschlichen Rasse insgesamt, von einzelnen Elementen einmal abgesehen.<br />

Dem von Marines besetzten Nicaragua diktierte Wilson einen Vertrag, der den Vereinigten Staaten auf<br />

ewige Zeiten das Recht garantierte, einen Kanal zu bauen. Sinn und Zweck dieser Sache war es,<br />

möglichen Mitbewerbern um den Panama-Kanal das Wasser abzugraben. Der Vertrag war, wie sogar<br />

der damalige Außenminister Elihu Root erkannte, ein vollständiger Betrug, denn die Regierung eines<br />

Landes unter militärischer Besatzung habe, so Root, nicht die Legitimität und ganz sicher nicht das<br />

Recht, einen Vertrag mit derart weitreichenden Folgen abzuschließen. Costa Rica und El Salvador<br />

führten Klage, weil der Vertrag ihre Rechte beschnitt, was der Mittelamerikanische Gerichtshof, der<br />

auf Initiative der Vereinigten Staaten 1907 ins Leben gerufen worden war, bestätigte. Die Regierung<br />

Wilson reagierte darauf, indem sie den Gerichtshof zur nachhaltigen Wirkungslosigkeit verurteilte; nur<br />

wenigen fiel die Parallele zu 1986 auf, als die USA den Weltgerichtshof, der die Angriffe auf<br />

Nicaragua verurteilte, einfach ignorierten. Einige Jahre später erkannte Wilson eine gefälschte Wahl in<br />

Nicaragua an, ebenso in Kuba 1916/17 und 1921 und in Honduras 1919. 72<br />

Solche Aktionen waren jedoch mit den von Wilson gepredigten idealistischen Grundsätzen der<br />

Selbstbestimmung keineswegs unvereinbar, galten diese doch nicht für Völker »auf niedriger<br />

Zivilisationsstufe«, die »freundlichen Schutz, Führung und Hilfe« seitens der Kolonialmächte<br />

brauchen. In Wilsons »Vierzehn Punkten« hieß es [unter Punkt 5], daß in »Fragen der Souveränität die<br />

Interessen der betroffenen Bevölkerungen gleiches Gewicht haben müssen wie die dem<br />

Billigkeitsrecht gehorchenden Ansprüche der Regierung, über deren Rechtsanspruch entschieden<br />

werden soll«, d. h. des Kolonialherren. Damit hatte Wilson sich kaum von der bereits erwähnten<br />

Doktrin Churchills entfernt. 73<br />

Die wesentlichen Leitlinien der US-Politik waren, um es kurz zu sagen, nach der <strong>Mac</strong>htergreifung der<br />

Bolschewiki unverändert geblieben. Anpassungen waren vorwiegend taktisch motiviert, wenn man die<br />

34


egeisterte Unterstützung für faschistische und andere Diktaturen (wie etwa in Venezuela mit seinen<br />

reichen Ölvorräten) mit diesem milden Ausdruck belegen will.<br />

Sein Ende fand der Kalte Krieg mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989. George Bush<br />

feierte die Ereignisse, indem er in Panama einmarschierte und im übrigen erklärte, es werde sich<br />

nichts ändern. Das verdeutlichten dann auch die Reaktionen Londons und Washingtons auf den<br />

zweiten Fall von Aggression nach dem Ende des Kalten Kriegs, die irakische Besetzung Kuweits.<br />

Ebenso umstandslos zeigte Washington, daß die Verachtung der Demokratie, seit langem ein<br />

Charakterzug der amerikanischen Politik und intellektuellen Kultur, weiter bestehen würde. Ein<br />

typisches Beispiel, noch aus der Zeit vor dem Ende des Kalten Kriegs, waren die Wahlen von 1984 in<br />

Panama, die der Gangster und Mörder Manuel Noriega, damals noch Freund und Verbündeter der<br />

USA, mit Betrug und Gewalt beeinflußt hatte. Sein Erfolg wurde von der Regierung Reagan, die den<br />

designierten Wahlgewinner insgeheim mit Geldern unterstützt hatte, lebhaft begrüßt. Schon sieben<br />

Stunden vor der Bekanntgabe des Endergebnisses erhielt er ein Glückwunschtelegramm, und<br />

Außenminister George Shultz besuchte ihn anläßlich seiner Amtseinführung, wobei er den »Beginn<br />

des Demokratisierungsprozesses« lobte und die Sandinisten in Nicaragua aufforderte, sich daran ein<br />

Beispiel zu nehmen. Noriegas Eingreifen in den Wahlkampf verhinderte den Sieg von Arnulfo Arias,<br />

den das US-Außenministerium als »unerwünschten Ultranationalisten« betrachtete, während der<br />

Gewinner, ein ehemaliger Student von Shultz, Amerikas gehorsamer Diener war. In Panama jedoch<br />

nannte man ihn fortan fraudito, kleiner Betrüger.<br />

1989 stahl Noriega, diesmal mit weniger Gewalt, eine weitere Wahl, was indes nicht mehr den Beifall<br />

Washingtons und der US-Medien fand. Er hatte nämlich inzwischen ein bedenkliches<br />

Unabhängigkeitsstreben an den Tag gelegt und allzu wenig Begeisterung für Reagans Terrorkrieg<br />

gegen Nicaragua gezeigt. Damit war er, wie der prominente Fernsehkommentator Ted Koppel<br />

psalmodierte, »jener besonderen Bruderschaft internationaler Schurken wie Ghaddafi, Idi Amin und<br />

Ajatollah Khomeini, die zu hassen die Amerikaner geradezu lieben«, beigetreten. Koppels Kollege bei<br />

der ABC, Anchorman Peter Jennings, bezeichnete Noriega als »eine der eher widerwärtigen<br />

Kreaturen, zu denen die Vereinigten Staaten eine Beziehung hatten«. Dan Rather vom CBS setzte ihn<br />

»an die Spitze der Liste aller Drogendiebe der Welt« - alles Einsichten, die 1984 offenbar nicht<br />

vorhanden gewesen waren. Als die ›widerwärtige Kreatur‹, nachdem sie von US-Truppen bei der<br />

Besetzung Panamas gekidnappt worden war, in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestellt wurde,<br />

datierten die Anschuldigungen fast alle aus der Zeit, da Noriega noch zu unseren Lieblingen gehört<br />

hatte. 74<br />

Im November 1989 wurden in Honduras, einer Basis für US-Terror in der mittelamerikanischen<br />

Region, Wahlen abgehalten. Die beiden Kandidaten repräsentierten Großgrundbesitzer und reiche<br />

Industrielle. Ihre politischen Programme waren praktisch identisch, und keiner stellte die tatsächlichen<br />

Herrscher, das von den USA kontrollierte Militär, in Frage. Der Wahlkampf hatte sich auf einige<br />

Schlammschlachten und sonstige Unterhaltungen beschränkt. Vor dem Wahltermin übten sich die<br />

Sicherheitskräfte noch in einigen Menschenrechtsverletzungen, die jedoch nicht so schlimm waren wie<br />

in El Salvador und Guatemala. Armut und Hunger grassierten, was vor allem auf die von US-Beratern<br />

angepriesenen Agroexport-Programme und andere Hilfestellungen zurückzuführen war. 75 Außerdem<br />

grassierten Kapitalflucht, Gewinne ausländischer Investoren und die Schuldenlast. Es kann also nicht<br />

erstaunen, daß Präsident Bush die Wahlen als »inspirierendes Beispiel des demokratischen<br />

Versprechens, das sich gegenwärtig in den Amerikas ausbreitet« bezeichnete.<br />

Im selben Monat, im November 1989, wurde der Wahlkampf in Nicaragua eröffnet. Washington<br />

betonte sofort, daß Terror und Wirtschaftskrieg fortgesetzt würden, <strong>bis</strong> der von den USA gewünschte<br />

Kandidat gewählt sei, was dann im Februar 1990 auch geschah. In Lateinamerika wurde das allgemein<br />

als Sieg für George Bush interpretiert, während die Medien in den USA von einem »Sieg für das<br />

Fairplay der Vereinigten Staaten« sprachen. Die Amerikaner seien, verkündete eine Schlagzeile der<br />

New York Times stolz, »in Freude vereint«, und Anthony Lewis sprach von Washingtons noblem<br />

»Experiment in Sachen Frieden und Demokratie« und sah darin »ein neues Beispiel für die Kraft von<br />

Jeffersons Idee: Regieren mit der Zustimmung der Regierten ... Das klingt romantisch, aber vielleicht<br />

35


leben wir in einem romantischen Zeitalter.« Auch Time freute sich über die »demokratische<br />

Überraschung, schilderte aber mit bewundernswerter Offenheit, wie es dazu kam: Es ging darum, »die<br />

Wirtschaft zu zerstören und einen langen und tödlichen Stellvertreterkrieg zu führen, <strong>bis</strong> die<br />

erschöpften Einwohner die ungewünschte Regierung mit eigenen Händen beseitigen würden«. Für uns<br />

sind die Kosten »minimal«, während die Opfer mit »zerstörten Brücken und Kraftwerken und<br />

ruinierten Landwirtschaftsbetrieben« leben müssen. Das verhalf Washingtons Kandidat <strong>zum</strong> Sieg, und<br />

damit endet die »Verarmung des nicaraguanischen Volks«. 76<br />

Wir leben wahrhaftig in einem romantischen Zeitalter, wenn Wahlsiege mit derart jeffersonianischen<br />

Mitteln gewonnen werden können.<br />

Die Geschichte mit Nicaragua entwickelte sich ganz nach vertrautem Muster. Am 15. März 1994<br />

verkündete Alexander Watson, seines Zeichens stellvertretender Außenminister, daß »die Regierung<br />

Clinton, da die Konflikte der Vergangenheit hinter uns liegen, die Sandinisten als legitime politische<br />

Kraft in Nicaragua anerkennt, die alle Rechte und Pflichten einer demokratischen Partei besitzt und<br />

sich, wie man erwarten darf, nur friedlicher und legitimer Methoden bedient«. So wie die USA in den<br />

achtziger Jahren. Der kurze Reuters-Bericht vermerkte, daß »die Vereinigten Staaten die Contra-<br />

Rebellen gegen die von der Sowjetunion unterstützte Sandinisten-Regierung finanzierten«. In die<br />

Sprache der Tatsachen übertragen, besagt der Satz, daß die USA gemäß ihrem Standardverfahren alles<br />

daransetzten, Nicaragua zu hindern, sich der Bewegung der blockfreien Länder anzuschließen. Es<br />

gelang ihnen, die Sandinisten in die Arme der Sowjets zu treiben und den Angriff als Bestandteil des<br />

Kalten Kriegs, der nun auch in unserem Hinterhof tobte, auszugeben. Hier zeigt sich die wahre<br />

Bedeutung des Kalten Kriegs für die US-amerikanische Politik. 77<br />

Ansonsten nahm die demokratische Revolution in Mittelamerika ihren Verlauf. Im November 1993<br />

gingen die Honduraner erneut zur Wahl, <strong>zum</strong> vierten Mal seit 1980. Sie stimmten gegen die<br />

neoliberalen Strukturanpassungsprogramme und das mit diesen angeblich vermachte<br />

»Wirtschaftswunder«; aber die Geste wird umsonst sein, denn die Reichen-und-Mächtigen lassen<br />

nichts anderes zu. »Die Wähler haben keine wirkliche Option zur Verbesserung ihres sich Tag für Tag<br />

verschlechternden Lebensstandards«, vermeldete die mexikanische Zeitung Excelsior. Die Kaufkraft<br />

der Honduraner ist geringer als in den siebziger Jahren, und die Generäle sitzen fester im Sattel als je<br />

zuvor. Nutznießer ist vor allem, meint ein wirtschaftswissenschaftliches Institut (das College of<br />

Economists), »eine Gruppe privilegierter Exporteure und lokaler Investoren, die mit dem<br />

Finanzkapital und multinationalen Konzernen verbunden sind«. Sie alle konnten ihr Kapital<br />

vervielfachen, während »die wachsende wirtschaftliche Polarisierung zu immer schärferen Kontrasten<br />

zwischen den Reichen, die sich nicht scheuen, ihr moralisches Elend prächtig herauszustreichen, und<br />

den Armen, die immer tiefer ins Elend versinken, führt«. »Mindestens einer von zwei Dollars, die in<br />

den letzten drei Jahren [1991-93] nach Honduras flossen, verließ das Land wieder, um Zinsen für die<br />

drei Milliarden Dollar umfassende Schuldenlast abzutragen«, fährt Excelsior fort. 40 Prozent der<br />

Exporte gehen für die Schuldentilgung drauf, und obwohl fast 20 Prozent der Gesamtsumme erlassen<br />

wurden, ist sie seit 1990 schon wieder um 10 Prozent angestiegen. 78<br />

Im März 1994 erreichte das Projekt »Demokratieförderung« El Salvador. In den achtziger Jahren<br />

hatten die Wahlen dort die Aufgabe, den Terrorstaat zu legitimieren und galten als beeindruckende<br />

Schritte hin zur Demokratie.<br />

Jetzt aber herrschen in der US-Politik andere Imperative, und so sollen die Wahlen von 1994 den<br />

Triumph der demokratischen Revolution à la Washington repräsentieren.<br />

Die Wahlen stellten tatsächlich insofern eine <strong>Neue</strong>rung dar, als die Formen einigermaßen gewahrt<br />

blieben. »Zehntausende Wähler mit Wahlkarten konnten nicht wählen, weil sie auf keiner Wahlliste<br />

verzeichnet waren«, berichtete die Financial Times, »während an die 74 000 Menschen, mehrheitlich<br />

aus Regionen, die, so nahm man an, mit der [oppositionellen] FMLN sympathisierten, ausgeschlossen<br />

wurden, weil sie keine Geburtsurkunden hatten.« Nicht nur führende Politiker der FMLN warfen der<br />

regierenden Arena-Partei, die fast die Hälfte der Stimmen auf sich vereinigen konnte, massive<br />

Wahlfälschung vor und kritisierten das schlechte Management der UN-Beobachtermission. 79<br />

36


Dennoch sind, <strong>zum</strong>indest auf der formellen Ebene, Fortschritte erzielt worden, was u. a. auch das<br />

Schicksal des kirchlichen Radiosenders zeigt. 1980 wurde der Sender, nachdem Erz<strong>bis</strong>chof Oscar<br />

Romero in einigen Predigten die Regierung - auch damals schon von Arena gestellt - kritisiert hatte,<br />

zweimal aus der Luft bombardiert und der Erz<strong>bis</strong>chof wenig später auf Befehl von Roberto<br />

D'Aubuisson, dem Begründer der Arena-Partei, umgebracht. 1994 waren die Regierenden ebenfalls<br />

nicht begeistert, als Romeros Nachfolger, Rivera Damas, dies alles verurteilte, ließen ihm aber bei der<br />

entscheidenden Predigt am Sonntag vor den Wahlen über die staatliche Telefongesellschaft einfach<br />

den Strom abdrehen, so daß die Predigt nicht im Rundfunk übertragen wurde. Nach dem Ende der<br />

Messe funktionierten die Leitungen dann natürlich wieder. 80<br />

Bei den Wahlen von 1994 unterstützten die Vereinigten Staaten Arena, die Partei der<br />

Todesschwadronen, was aus Propagandagründen jedoch geleugnet wurde. Schon im Februar 1985<br />

berichtete die CIA über das »terroristische Netzwerk« hinter Arena, das von »reichen<br />

salvadorianischen Auslandsbürgern, die ihren Wohnsitz in Guatemala und den Vereinigten Staaten<br />

haben, finanziert wird«. Ebenso deckte der Geheimdienst die engen Verbindungen zwischen dem<br />

regulären Militär und den Todesschwadronen auf, während die Regierung Reagan diese Beziehungen<br />

leugnete und nur von rechtsgerichteten Extremisten sprach.<br />

Aber Militär- und Polizeikräfte gehörten selbst <strong>zum</strong> Terrornetzwerk, das die Greueltaten gegen die<br />

Zivilbevölkerung beging. Und alles wurde von Washington finanziert, ausgebildet und instruiert. Die<br />

freigegebenen Dokumente enthüllen, daß die Arena-Partei noch <strong>bis</strong> 1990 in den Terror involviert war,<br />

auch der Präsidentschaftskandidat von 1994. 81<br />

Je näher die Wahlen rückten, desto häufiger wurden Morde und Morddrohungen im Stil der<br />

Todesschwadronen, die sich vor allem gegen die FMLN richteten, stellte die<br />

Menschenrechtsorganisation Americas Watch fest, die darin eine tiefgreifende »Bedrohung des<br />

Friedensprozesses« sah. Überdies gebe es »verläßliche« Beweise für die Verstrickung von Armee und<br />

nationaler Polizei in das Organisierte Verbrechen. 82<br />

Der politischen Opposition, die hauptsächlich von Rubén Zamoras Linkskoalition gebildet wurde,<br />

fehlte es nicht nur an Ressourcen für den von der Arena-Partei praktisch monopolisierten Wahlkampf,<br />

sondern sie konnte auch keine »Unterstützer oder Sympathisanten für Anzeigenkampagnen gewinnen,<br />

weil allgemein Angst vor Vergeltungsaktionen der Rechten herrschte« (New York Times). Das war<br />

angesichts des Terrors nicht unbegründet, und Jose Maria Mendez, von drei renommierten juristischen<br />

Organisationen zu El Salvadors »Anwalt des Jahrhunderts« ernannt, floh ins Exil, nachdem er mit dem<br />

Tod bedroht worden war, falls er nicht den Vizepräsidentschaftskandidaten der Linken <strong>zum</strong> Verzicht<br />

bewegen konnte.<br />

Ausländische Beobachter waren über das Desinteresse der Bevölkerung an den »Jahrhundertwahlen«<br />

erstaunt. Der Christian Science Monitor berichtete von Angst und Apathie. Viele befürchteten, daß der<br />

Krieg zurückkehren werde, wenn die Arena-Partei die Wahlen verlöre. Mit 45 Prozent lag der<br />

Nichtwähleranteil so hoch wie vor zehn Jahren, als die Gewalt am schlimmsten wütete. Die New York<br />

Times zitierte den Politologen Hector Dada, der die niedrige Beteiligung auf eine »bewußte<br />

Entrechtung der Bürger und ein Gefühl der Apathie bei den Wählern« zurückführte. Wer zur Wahl<br />

ging, stimmte, so Luis Cardenal, »in erster Linie für Ruhe und Sicherheit«. So interpretierte auch<br />

David Clark Scott vom Christian Science Monitor den Ausgang. Das ist durchaus plausibel, denn ein<br />

anderes Ergebnis hätte sehr wahrscheinlich zu neuem Aufflammen des Terrors geführt. 83<br />

»Ohne eine [starke] Zivilgesellschaft«, faßte Hector Dada die Lehre, die aus den Vorgängen gezogen<br />

werden konnte, zusammen, »gibt es keine freien und demokratischen Wahlen. Dieser Schluß liegt auf<br />

der Hand.« 84 Insbesondere für die herrschenden Mächte, die formaldemokratische Prozeduren am<br />

liebsten auf Situationen beschränken, in denen die Zivilgesellschaft zerstört wurde oder hinreichend<br />

eingeschüchtert ist, um das gewünschte Ergebnis zu gewährleisten. Die bereits erwähnten Ereignisse<br />

in Italien sprechen eine deutliche Sprache.<br />

37


Ein höchst lehrreiches Beispiel für die Beharrlichkeit der US-Außenpolitik wird so gut wie gar nicht<br />

diskutiert, nämlich Kolumbien. Das Land gehört mittlerweile zu den führenden Terrorstaaten in<br />

Lateinamerika und, was kaum überraschen dürfte, zu den führenden Empfängern amerikanischer<br />

Militärhilfe. Außerdem empfängt es viel Lob für seine glänzenden Errungenschaften. So schreibt der<br />

Lateinamerika-Spezialist John Martz: »Kolumbien darf sich mittlerweile freuen, eine der gesündesten<br />

und florierendsten Volkswirtschaften in Lateinamerika zu haben. Politischerseits gehören seine<br />

demokratischen Strukturen, von unvermeidlichen Fehlern einmal abgesehen, zu den stabilsten auf dem<br />

Kontinent.« Besonders beeindruckt zeigte sich die Regierung Clinton von Präsident Cesar Gaviria, der<br />

aus dem Amt schied, um, von Washington gefördert, den Posten des Generalsekretärs der<br />

Organisation amerikanischer Staaten (OAS) zu übernehmen. Der US-Vertreter bei der OAS erklärte,<br />

Gaviria habe sich »beim Aufbau demokratischer Institutionen in einem Land, wo dies <strong>bis</strong>weilen mit<br />

Gefahren verbunden war, als sehr vorausschauend erwiesen« und auch »die Wirtschaftsreformen in<br />

Kolumbien sowie die wirtschaftliche Integration in die Hemisphäre« vorangetrieben. Was das heißt,<br />

ist nicht schwer zu erahnen. 85 Daß der Aufbau demokratischer Institutionen in Kolumbien gefährlich<br />

war, verdankt sich nicht zuletzt Präsident Gaviria, seinen Vorgängern und deren Helfershelfern in<br />

Washington.<br />

Die »unvermeidlichen Fehler« wurden en detail von Americas Watch und Amnesty International<br />

aufgelistet. 86 Seit 1986 sind demnach mehr als 20 000 Personen aus politischen Gründen umgebracht<br />

worden, die meisten von Militär- und Polizeikräften und den ihnen eng verbundenen paramilitärischen<br />

Einheiten. Zu diesen zählt auch die Privatarmee des Smaragd- und Drogenhändlers Victor Carranza,<br />

die als landesweit größte gilt und sich in erster Linie dem Kampf gegen die linksgerichtete Patriotische<br />

Union (UP) widmet. Das Department Meta, in dem Carranza operiert, gehört mit 35 000 Mann starken<br />

Truppen und Tausenden von Polizisten zu den am stärksten militarisierten Regionen. Dennoch können<br />

dort paramilitärische Kräfte und Auftragskiller ungehindert Massaker und politische Morde ausführen.<br />

Eine zu Beginn der achtziger Jahre durchgeführte regierungsoffizielle Untersuchung kam zu dem<br />

Ergebnis, daß mehr als ein Drittel der in Kolumbien an Terrorakten beteiligten Mitglieder<br />

paramilitärischer Einheiten aktive Armeeoffiziere sind.<br />

Seit Gründung der UP im Jahre 1985 sind an die 1500 ihrer Führer, Mitglieder und Unterstützer<br />

ermordet worden. Diese »systematische Ausrottung der Führungsschicht« ist, so Amnesty, »der<br />

sichtbarste Ausdruck politischer Intoleranz in den vergangenen Jahren«. Es ist eben gefährlich,<br />

»demokratische Institutionen aufzubauen«, was auf andere Weise auch die Wahlen von 1994 zeigen,<br />

die, wie Kritiker vermuten, großenteils vom mächtigen Kokainkartell von Cali gekauft waren;<br />

schließlich ist Stimmenkauf in dieser »stabilen Demokratie« gang und gäbe. 87<br />

Als Vorwand für Terroroperationen dient der Kampf gegen Guerillatruppen und Drogenhändler. Das<br />

erste ist, Amnesty und anderen zufolge, eine höchst »partielle Wahrheit«, das zweite ein »Mythos«,<br />

der fabriziert wurde, um das Auslaufmodell »kommunistische Bedrohung« durch ein anderes zu<br />

ersetzen. In Wirklichkeit arbeiten die offiziellen Sicherheitskräfte und ihre paramilitärischen<br />

Verbündeten Hand in Hand mit den Drogenbossen, den Großgrundbesitzern und dem organisierten<br />

Verbrechen. Die von der Regierung eingesetzte Kommission zur Überwindung der Gewalt hielt die<br />

»Kriminalisierung des sozialen Protests« für einen der Hauptfaktoren bei der von den Ordnungskräften<br />

betriebenen Verletzung der Menschenrechte.<br />

Vor allem während Präsident Gavirias Amtszeit haben sich die Probleme noch weiter zugespitzt,<br />

wobei die »Gewalt nie zuvor gekannte Ausmaße« annahm, berichtet das Washingtoner<br />

Lateinamerikabüro (WOLA). 1992 und '93 erwiesen sich als die schlimmsten Jahre, mit<br />

Hunderttausenden von Opfern, 88 zu denen vor allem Menschenrechtsaktivisten, Sozialarbeiter,<br />

Gewerkschafter, Studenten, Angehörige religiöser Jugendorganisationen, junge Leute in Favelas,<br />

vorwiegend aber Bauern gehören. So wurden, um nur ein Beispiel zu nennen, von August 1992 <strong>bis</strong><br />

August 1993 217 Gewerkschafter ermordet, was, wie eine übernationale Juristenkommission rügte,<br />

»die Unduldsamkeit des Staats gegenüber Gewerkschaftsaktivitäten« zeige. 89 Der offizielle Begriff<br />

»Terrorismus« ist, wie Menschenrechtsorganisationen anführen, mittlerweile auf fast alle Opponenten<br />

der Regierungspolitik ausgeweitet worden.<br />

38


Zu den Aufgaben der Sicherheitskräfte gehören »soziale Säuberungsaktionen«, d. h. die Ermordung<br />

von Obdach- und Arbeitslosen, Straßenkindern, Prostituierten, Homosexuellen und anderen<br />

unerwünschten Personen. Das Verteidigungsministerium formulierte die offizielle Haltung in der<br />

Antwort auf ein Entschädigungsbegehren: »Es gibt in diesem Fall für die Nation nichts an Entschädigungen<br />

zu zahlen, weil das Individuum weder für die Gesellschaft noch für seine Familie nützlich<br />

oder produktiv gewesen ist.«<br />

Eine weitere in den US-Hinterhöfen gängige Praxis ist die Ermordung von Menschen für den<br />

Organhandel auf dem Schwarzen Markt, wobei man nicht weiß, ob dies Verfahren in Kolumbien auch<br />

auf Kinder ausgedehnt worden ist wie anderswo in der Region. 90<br />

Das kolumbianische Modell entspricht, wie Menschenrechtsorganisationen nachgewiesen haben, dem<br />

von El Salvador und Guatemala. Die von US-Beratern und Ausbildern weitergegebenen Lehren<br />

können Michael McClintocks bedeutsamer, in den Vereinigten Staaten jedoch ignorierter<br />

Untersuchung zufolge direkt zu den Nationalsozialisten zurückverfolgt werden. Britische, deutsche<br />

und israelische Söldner haben Mörder ausgebildet und waren den Drogenkartellen beim Kampf gegen<br />

Bauern und linke Aktivisten noch anders behilflich. An diesen Operationen waren, wie<br />

kolumbianische Geheimdienste berichten, auch Nordamerikaner beteiligt. 91<br />

Eine 19 92 von Kirchen- und Menschenrechtsorganisationen durchgeführte Untersuchung kommt zu<br />

dem Schluß, daß »der Staatsterrorismus in Kolumbien eine Realität ist: Er besitzt Institutionen,<br />

Lehren, Strukturen, rechtliche Vorkehrungen, Mittel und Instrumente, Opfer und vor allem<br />

verantwortliche Behörden«. Sein Ziel ist die »systematische Eliminierung der Opposition, die<br />

Kriminalisierung umfassender Sektoren der Bevölkerung, massive Anwendung von politischem Mord<br />

und Entführung, extreme <strong>Mac</strong>htbefugnisse für die Sicherheitskräfte, gesetzliche Ausnahmeregelungen<br />

usw.«92 Die moderne Version wurzelt in den Sicherheitsdoktrinen, die von der Regierung Kennedy<br />

vorangetrieben wurden, als 1962 die Aufgabe des lateinamerikanischen Militärs von der<br />

»Verteidigung der Hemisphäre« zur »inneren Sicherheit« verlagert wurde, d. h. <strong>zum</strong> Krieg gegen den<br />

»inneren Feind«, also gegen all jene, die der traditionellen Ordnung von Herrschaft und Kontrolle den<br />

Kampf angesagt haben.<br />

Die Doktrinen wurden in US-Handbüchern für Guerillabekämpfung und Kriegführung niederer<br />

Intensität erläutert und von lokalen Sicherheitsbehörden weiterentwickelt, die von amerikanischen<br />

Beratern und Experten lernten, wie man neue Unterdrückungsmethoden zur Aufrechterhaltung von<br />

»Stabilität« und Gehorsam einsetzt. Daraus resultierte ein hocheffizienter Terrorapparat, mit dem die<br />

Staatsmacht im »politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich den totalen Krieg« führen konnte,<br />

wie der kolumbianische Verteidigungsminister 1989 erläuterte. Offiziell richtete er sich gegen die<br />

Guerillaorganisationen, doch waren diese, wie ein hochrangiger Militär 1987 erklärte, von minderer<br />

Bedeutung, »die wahre Gefahr« liege in dem, »was die Aufständischen den politischen und<br />

psychologischen Krieg ... zur Kontrolle der Bürgerbewegungen ... und zur Manipulation der Massen<br />

genannt haben«. Die »subversiven Elemente« wollten Gewerkschaften, Universitäten, Medien usw.<br />

beeinflussen. Deshalb umfaßt, wie die oben erwähnte Untersuchung feststellt, der »innere Feind« des<br />

staatsterroristischen Apparats auch »Arbeiterorganisationen, Bürgerbewegungen, Organisationen der<br />

Ureinwohner, die politische Opposition, Bauernbewegungen, intellektuelle und religiöse Strömungen,<br />

Jugend- und Studentengruppen« usw. Sie alle müssen vor unliebsamen Einflüssen geschützt, d. h.<br />

notfalls zerschlagen werden. »Jedes Individuum, das auf die eine oder andere Weise die Ziele des<br />

Feindes unterstützt, muß als Verräter angesehen und als solcher behandelt werden«, heißt es in einem<br />

Militärhandbuch von 1963, als die von Kennedy angestoßenenen Initiativen in Gang kamen.<br />

Die Ideologie des Kriegs gegen »subversive Elemente« findet sich bereits in dem weiter oben<br />

erwähnten Dokument NSC 68. Dort wird darauf hingewiesen, daß wir Schwachpunkte in unserer<br />

Gesellschaft, wie etwa »eine allzu übertriebene Offenheit des Geistes«, »übermäßige Toleranz« und<br />

»Uneinigkeit« überwinden müssen. Es gilt, »zwischen der Notwendigkeit von Toleranz und der<br />

Notwendigkeit gerechter Unterdrückung zu unterscheiden«, letztere ist ein entscheidendes Merkmal<br />

der »demokratischen Verfahrensweise«. Besonders wichtig ist es, unsere »Gewerkschaften,<br />

Zivileinrichtungen, Schulen, Kirchen und alle meinungsbildenden Medien« vor dem bösen Einfluß des<br />

39


Kremls zu schützen, der darauf aus ist, sie zu unterwandern, damit sie »in unserer Wirtschaft, unserer<br />

Kultur und unseren politischen Institutionen Verwirrung stiften«. Heute verfolgen mit erheblichen<br />

Mitteln ausgestattete »konservative« Stiftungen das gleiche Ziele. In den Vereinigten Staaten setzen<br />

wir natürlich keine Todesschwadronen ein, um die Demokratie durch »gerechte Unterdrückung« zu<br />

erhalten. Dafür lassen wir unseren Satellitenstaaten in der Dritten Welt freiere Hand im Kampf gegen<br />

die »Subversion«.<br />

In Kolumbien eskalierte der Krieg gegen den »inneren Feind« in den achtziger Jahren, als Reagan die<br />

Kennedy-Doktrinen aktualisierte. Aus der »legalen« Unterdrückung wurde nun die »systematische<br />

Indienstnahme des politischen Mords und des Verschwindenlassens von Personen, später kam es auch<br />

zu Massakern« (so die Untersuchung über den Staatsterror). 1988 erlaubten neue gesetzliche<br />

Regelungen »die umfassende Kriminalisierung der politischen und sozialen Opposition«, damit, so die<br />

offizielle Version, der »totale Krieg gegen den inneren Feind« geführt werden konnte. Es kam zur<br />

»Konsolidierung des Staatsterrors«, vermerkt die Untersuchung.<br />

Wie eifrig die USA den »Antidrogenkrieg« unterstützten, verdeutlicht die Reaktion auf eine Anfrage<br />

der kolumbianischen Regierung betreffend die Einrichtung eines Radarsystems zur Überwachung von<br />

Flügen aus dem Süden, der Hauptversorgungsquelle für die Kokainhändler. Die US-Regierung kam<br />

dem Ansinnen nach, indem sie ein Radarsystem auf der Karibikinsel San Andres installierte, 500<br />

Meilen vom kolumbianischen Festland und so weit wie möglich von den Schmuggelrouten entfernt,<br />

aber gut plaziert für die Überwachung von Nicaragua, das im Terrorkrieg eine wichtige Rolle spielte,<br />

als Washington den von den mittelamerikanischen Präsidenten betriebenen »Friedensprozeß«<br />

torpedierte. Eine ähnliche Anfrage von Costa Rica wurde auf die gleiche Weise beantwortet. 93<br />

Von 1984 <strong>bis</strong> Ende 1992 wurden insgesamt 6844 kolumbianische Soldaten im Rahmen des USamerikanischen<br />

Internationalen Militärischen Ausbildungsprogramms unterwiesen, allein 2000<br />

zwischen 1990 und 1992. US-Berater halfen beim Aufbau von Militärstützpunkten, die offiziell dem<br />

Kampf gegen Guerillatruppen und den Drogenhandel dienten. Zudem unterstützte Washington die<br />

Gerichte zur Aufrechterhaltung der »öffentlichen Ordnung«, die unter Bedingungen arbeiteten, bei<br />

denen Bürgerrechte wenig Beachtung fanden.<br />

Im Juli 1989 lobte das US-Außenministerium in einem Bericht, der u. a. den Verkauf militärischer<br />

Ausrüstung an Kolumbien <strong>zum</strong> Zweck der Bekämpfung des Drogenhandels rechtfertigte, die<br />

»demokratische Regierungsform« und die weitgehende Einhaltung der Menschenrechte. Einige<br />

Monate zuvor hatte die kirchlich geförderte Organisation Justicia y Paz in einem Bericht für die erste<br />

Hälfte des Jahres 1988 über 3 000 politisch motivierte Tötungsaktionen dokumentiert, 273 davon in<br />

Kampagnen zur »sozialen Säuberung«. 94 Abgesehen von den im Kampf Getöteten gab es pro Tag acht<br />

politische Morde, wobei sieben Opfer zu Hause oder auf der Straße umgebracht wurden und eine<br />

Person »verschwand«. Besonders viele Opfer gab es unter den Bürgermeisterschaftskandidaten der UP<br />

(29 von 87 wurden ermordet) und der 1986 gegründeten Gewerkschaftskoalition, von der 230<br />

Mitglieder nach brutaler Folterung ihr Leben lassen mußten. Mit der verschärften Kriminalisierung der<br />

Opposition, die 1988 einsetzte, steigerte sich der Terror: Von 1988 <strong>bis</strong> 1992 wurden 9500 Personen<br />

aus politischen Gründen umgebracht, 830 »verschwanden« und es gab (zwischen 1988 und 1990) 313<br />

Massaker an Bauern und Armen. 95<br />

Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich die Situation also keinesfalls verbessert, im Gegenteil. Als<br />

sich Präsident Gaviria im Mai 1992 in der kolumbianischen Presse zu Greueltaten des Militärs<br />

äußerte, begründete er sie damit, daß »der Krieg gegen die Guerillagruppen unter ungleichen<br />

Bedingungen geführt wird. Die Verteidigung der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien<br />

könnte sich dabei als Hindernis erweisen.« 96<br />

Während der Präsidentschaft von George Bush hat die US-Botschaft »keine einzige öffentliche<br />

Stellungnahme abgegeben, um die Regierung zur Zügelung politischer oder militärischer Übergriffe<br />

zu bewegen«, bemerkt WOLA, sondern die Zuwendungen an Militär und Polizei verstärkt. 97 Das war<br />

unter Clinton nicht anders: Die von ihm verkündete Änderung der Politik bestand in einer Erhöhung<br />

40


der Gelder für Militärmaterial und -ausbildung um mehr als zwölf Prozent. Damit erhielt Kolumbien<br />

fast die Hälfte dessen, was für ganz Lateinamerika vorgesehen war.<br />

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kümmern sich vorwiegend um die<br />

politische Situation, sagen jedoch wenig zu den in der Menschenrechtserklärung ebenfalls erwähnten<br />

sozialen und wirtschaftlichen Rechten. Gerade diese aber sind im Fall Kolumbiens besonders wichtig,<br />

wenn wir die Wurzeln der außerordentlichen Gewalt entdecken wollen. Der Präsident des<br />

kolumbianischen Komitees für Menschenrechte, der frühere Außenminister Alfredo Vásquez<br />

Carrizosa, schreibt, daß »Armut und unzureichende Landreform Kolumbien zu einem der tragischsten<br />

Länder Lateinamerikas gemacht haben«. Hier liegen auch die Gründe für die Gewalttaten, die schon in<br />

den vierziger und frühen fünfziger Jahren Hunderttausende von Menschenleben kosteten. Zwar wurde<br />

1961 ein Gesetz zur Landreform verabschiedet, gelangte aber nicht zur Ausführung, weil die<br />

Großgrundbesitzer »die <strong>Mac</strong>ht hatten, ihm Einhalt zu gebieten«. Quelle der Gewalt ist die Zweiteilung<br />

der Gesellschaft in eine »wohlhabende Minderheit und eine verarmte, ausgeschlossene Mehrheit, mit<br />

großen Unterschieden im Hinblick auf Reichtum, Einkommen und politische Einflußmöglichkeiten«.<br />

Diese in ganz Lateinamerika präsente Gewalt ist »durch äußere Faktoren noch verschärft worden«, in<br />

erster Linie »durch die Initiativen der Regierung Kennedy, die zur Umwandlung der regulären Armeen<br />

in Antiguerilla-Brigaden und zur Strategie des Einsatzes von Todesschwadronen führte«. Die Doktrin<br />

von der Nationalen Sicherheit ließ das Militär von der Verteidigung gegen einen äußeren Feind<br />

abrücken und »machte die Vertreter des militärischen Establishments zu den Herren der Politik ... die<br />

nun, wie in Brasilien, Argentinien, Uruguay und Kolumbien das Recht besaßen, gegen den inneren<br />

Feind vorzugehen, also gegen Sozialarbeiter, Gewerkschafter, alle möglichen Dissidenten und<br />

sonstige angebliche kommunistische Extremisten«. 98<br />

Genau in diesem Sinn hat der Kalte Krieg die Politik der USA in den uns unterstellten Regionen<br />

geleitet. Das Ergebnis war eine, wie WOLA bemerkt, »völlig unbalancierte Einkommensverteilung«.<br />

So besitzen die obersten drei Prozent der kolumbianischen Großgrundbesitzer 70 Prozent des<br />

wirtschaftlich nutzbaren Landes, während 57 Prozent der ärmsten Bauern sich mit weniger als drei<br />

Prozent zufriedengeben müssen. 40 Prozent der Kolumbianer leben in »absoluter Armut«, 18 Prozent<br />

sogar in »absolutem Elend«, d. h. ohne die Möglichkeit, sich ausreichend zu ernähren, heißt es in<br />

einem 1986 veröffentlichten Bericht der Nationalen Behörde für Statistik. Das Institut für familiäre<br />

Wohlfahrt schätzt, daß viereinhalb Millionen Kinder unter vierzehn Jahren Hunger leiden, also die<br />

Hälfte von allen; ein wahrer Triumph des Kapitalismus in diesem an Ressourcen so reichen Land,<br />

dessen Wirtschaft »zu den gesündesten und blühendsten in Lateinamerika gehört« (Martz). 99<br />

Die »stabile Demokratie« existiert dort tatsächlich, aber als eine, wie Jenny Pearce es nennt,<br />

»Demokratie ohne Bevölkerung«, die mehrheitlich und seit Mitte der achtziger Jahre in zunehmendem<br />

Maß vom politischen System ausgeschlossen ist. Für die Eliten, die internationalen Geldgeber und die<br />

ausländischen Investoren funktioniert die »Demokratie« freilich, nicht aber für die »wirtschaftlich und<br />

politisch marginalisierte« Öffentlichkeit. Für diese »hat der Staat den „Belagerungszustand"<br />

ausgerufen und alle möglichen, auch gesetzgeberischen, repressiven Maßnahmen vorgesehen, die<br />

Ordnung garantieren, wenn andere Mechanismen versagen«, fährt Pearce fort. Daran hat sich unter<br />

Clinton nichts geändert.<br />

Natürlich hat auch der Kalte Krieg selbst sich auf die US-Politik ausgewirkt. Die sowjetische <strong>Mac</strong>ht<br />

hielt, wie etwa im Falle Kubas, Washingtons Aggressionsstreben in Grenzen und verhalf Castro, trotz<br />

Terror und Embargo, <strong>zum</strong> Überleben. Aber der Kalte Krieg hat bloß die Rahmenbedingungen der<br />

langfristigen politischen Strategien verändert, deren grundlegendes Muster im übrigen fortbesteht.<br />

Diese Rahmenbedingungen hatten für die USA positive und negative Aspekte. In positiver Hinsicht<br />

bot er die Gelegenheit, wirksame Mechanismen zur Kontrolle der Bevölkerung zu entwickeln. Vor der<br />

bolschewistischen <strong>Mac</strong>htergreifung mußte man die Leute gegen Hunnen, Briten und andere<br />

ausländische und einheimische Teufel mobilisieren, danach wurde die Lage übersichtlicher. In<br />

negativer Hinsicht führte der Kalte Krieg zur Entwicklung der Bewegung blockfreier Staaten und <strong>zum</strong><br />

Neutralismus; Realitäten, denen auch die Weltherrscher sich anbequemen mußten. Ebenso<br />

41


schrumpften die Möglichkeiten zu globaler Intervention und Vorherrschaft, was im übrigen auch für<br />

die zweite, mittlerweile dahingeschiedene, Supermacht galt.<br />

Diese Charakteristika des Kalten Kriegs wurden gleich nach seinem Ende sichtbar. Die Invasion<br />

Panamas war eine reine Routineangelegenheit, aber sie durchbrach das strategische Muster in<br />

zweierlei Hinsicht. Zum einen mußte ein neuer Vorwand gefunden werden: An die Stelle der<br />

sowjetischen Bedrohung traten Noriega und die Drogenhändler. Zum anderen konnten, wie Reagans<br />

Lateinamerika-Spezialist Elliott Abrams bemerkte, die Vereinigten Staaten jetzt aktiv werden, ohne<br />

eine sowjetische Reaktion befürchten zu müssen. Diese Faktoren bestimmten auch das Vorgehen<br />

gegen Saddam Hussein, der mit der Besetzung Kuweits das Modell Panama nachzuahmen suchte.<br />

Statt der kommunistischen Teufel wurde Saddam jetzt <strong>zum</strong> neuen Hitler, der drauf und dran war, die<br />

Welt zu erobern. Seine unzweifelhaft gigantischen Verbrechen, über die man hinwegsah, als er noch<br />

Verbündeter der Amerikaner und Briten war, konnten dazu benutzt werden, das Kriegsfieber<br />

anzuheizen. Und die USA und Großbritannien hatten die Möglichkeit, eine halbe Million Soldaten in<br />

der Wüste zu stationieren und nach Belieben militärische Gewalt auszuüben.<br />

Mit dem Ende des Kalten Kriegs konnten auch seine Realitäten unverhüllter wahrgenommen werden.<br />

Ein Beispiel dafür bot die New York Times, die zu jedem Jahresende wichtigen Themen einen Essay<br />

widmet. Im Dezember 1988 schrieb Dimitri Simes von der Carnegie-Stiftung für Internationalen<br />

Frieden über den Kalten Krieg. Er bemerkte, daß sich nun, da die Sowjetunion nicht mehr existiert, die<br />

Möglichkeit bietet, »die amerikanische Außenpolitik von der Zwangsjacke der Feindschaft zwischen<br />

den Supermächten zu befreien«. 100 Das geschieht auf dreierlei Weise. Erstens kann Washington die<br />

Kosten der NATO auf die europäischen Konkurrenten verlagern. Zweitens kann es »die Manipulation<br />

Amerikas durch Nationen der Dritten Welt« beenden, indem es in der Schuldenfrage und bei<br />

»unbegründeten Forderungen nach Unterstützung« einen härteren Kurs fährt. Drittens schließlich, was<br />

am wichtigsten ist, »macht der sichtbare Niedergang der sowjetischen Bedrohung ... die militärische<br />

Stärke der USA zu einem nützlicheren Instrument der Außenpolitik ... gegen all jene, die sich<br />

wichtigen amerikanischen Interessen entgegenstellen«. Als Beispiel führt Simes das Ölembargo von<br />

1973 an, als führende Politikwissenschaftler zur Übernahme der Ölfelder aufriefen (Walter Laqueur<br />

nannte das »Internationalisierung«), Washington aber leider die Hände »gebunden« waren. Auch die<br />

»Sandinisten und ihre kubanischen Sponsoren« könnten »ein wenig nervös werden«, wenn Amerika<br />

»schließlich angesichts ihrer Übeltaten die Geduld verliert«, ohne daß Gorbatschow reagiert.<br />

Die USA können jetzt also, um es klar zu sagen, Gewalt, Terror, Räuberei und Ausbeutung betreiben,<br />

ohne die von der offiziellen Kultur als »globale Pläne« des Kremls bezeichneten Hindernisse<br />

berücksichtigen zu müssen.<br />

Das Ende des Kalten Kriegs machte auch eine neue Rechtfertigung des Pentagon-Systems notwendig.<br />

In jedem Jahr übermittelt das Weiße Haus dem Kongreß einen Bericht, worin erklärt wird, warum die<br />

militärische Bedrohung, der wir konfrontiert sind, die Erhöhung des Verteidigungshaushalts erfordert -<br />

der im übrigen die einheimische High-Tech-Industrie am Leben erhält und im Ausland für »gerechte<br />

Unterdrückung« sorgt. Die erste Ausgabe dieses Berichts nach dem Kalten Krieg erfolgte im März<br />

1990. Der Tenor war unverändert: Wir sehen uns schrecklichen Bedrohungen gegenüber und dürfen in<br />

unserer Wachsamkeit nicht nachlassen. Aber die Argumentation lautete anders: Die amerikanische<br />

Militärmacht muß sich auf die Dritte Welt konzentrieren, insbesondere auf den Nahen Osten, wo »die<br />

Bedrohung unserer Interessen ... nicht dem Kreml in die Schuhe geschoben werden kann«. Nun also<br />

werden, nach jahrzehntelangem Betrug, die Realitäten anerkannt. Wir müssen, hieß es in dem Bericht<br />

weiter, unsere Militärstützpunkte ausweiten und Kapazitäten für den Antiterrorkampf und die<br />

Kriegführung niederer Intensität entwickeln sowie, angesichts »der wachsenden technologischen<br />

Verfeinerung der Konflikte in der Dritten Welt« die »defensiv orientierte Industrie« stärken - ein<br />

Euphemismus für Elektronik und Raumflug, Metallurgie und entwickelte Industrie allgemein -, um<br />

mit staatlichen Subventionen und Anreizen »für Investitionen in neue Produktionsanlagen und<br />

Ausrüstungen wie auch in Forschung und Entwicklung« zu sorgen. 101<br />

Es geht also weiter wie gehabt, nur daß der Feind jetzt realistischer benannt wird, während die<br />

Militärstrategie taktische Änderungen erfährt.<br />

42


Diese Faktoren können mancherlei Konsequenzen haben. Eine von ihnen betrifft staatliche<br />

Interventionen in die einheimische Wirtschaft. Geläufig ist die Behauptung, andere Länder betrieben<br />

»Industriepolitik«, während die Vereinigten Staaten getreu den Maximen des freien Marktes, solchen<br />

Ketzereien abhold seien. Das hat natürlich nie gestimmt, aber während des Kalten Kriegs konnte die<br />

amerikanische Industriepolitik sich hinter dem Schleier der »Sicherheit« verbergen und die öffentliche<br />

Subventionierung als »Verteidigungsausgaben« maskiert werden. Seit dem Ende der Sowjetunion läßt<br />

sich diese Maskerade nicht mehr so einfach aufrechterhalten.<br />

Eine andere Konsequenz ist der Wandel der Militärstrategie. Durch alle politischen Lager hindurch<br />

herrschte Einverständnis darüber, daß die Vereinigten Staaten über ein möglichst einschüchterndes<br />

Drohpotential verfügen mußten, um ihre globale Politik der Intervention und Subversion ohne Furcht<br />

vor Vergeltungsschlägen betreiben zu können. Strategische Kernwaffen »bilden eine Garantie für<br />

unsere Interessen in vielen Teilen der Welt und ermöglichen uns die Verteidigung dieser Interessen<br />

durch Diplomatie oder den Einsatz taktischer Militärkräfte«, bemerkte Eugene Rostow kurz vor<br />

seinem Eintritt in die Regierung Reagan. Zur gleichen Zeit teilte Carters Verteidigungsminister Harold<br />

Brown dem Kongreß mit, daß unsere strategischen Kernwaffen »unsere anderen Kräfte zu sinnvollen<br />

Instrumenten militärischer und politischer Kontrolle« machen. Diese Denkweise geht auf die frühe<br />

Nachkriegszeit zurück. 102<br />

Mit dem Verschwinden der sowjetischen Abschreckungsmacht sind diese Motive für die Beibehaltung<br />

strategischer Kernwaffen nicht mehr so zwingend. In seiner »ersten Skizze der außenpolitischen<br />

Visionen der Regierung [Clinton]« wies Anthony Lake, der Sicherheitsberater des Präsidenten, auf die<br />

Tatsache hin, »daß in einer Welt, in der die Vereinigten Staaten sich nicht mehr tagtäglich Sorgen<br />

wegen der sowjetischen Bedrohung durch Kernwaffen machen müssen, die Frage, wo und wie sie<br />

intervenieren, zunehmend eine Sache der freien Entscheidung wird«. Mit diesen Worten gibt Thomas<br />

Friedman in der New York Times unter der Überschrift »Visionäre Wende in der US-Außenpolitik«<br />

Lakes Rede wieder und suggeriert einen tiefgreifenden Wandel. Dies sei, betont Friedman, das<br />

»Wesen« der neuen Doktrin; einer Doktrin, die doch explizit davon ausgeht, daß US-Interventionen<br />

nicht möglich waren, weil es die Bedrohung durch sowjetische Kernwaffen gab. Ohne diese<br />

Bedrohung werden Interventionen wieder möglich, was fünf Jahre zuvor bereits von Simes bemerkt<br />

worden war.<br />

Im tatsächlichen Wortlaut beginnt Lakes Rede mit folgender Bemerkung: »Während des Kalten<br />

Kriegs haben wir eine Eindämmungspolitik gegen die globale Bedrohung für Marktdemokratien<br />

betrieben; jetzt sollten wir deren Reichweite vergrößern.« Von der Eindämmung zur Ausweitung -<br />

eine in der Tat aufgeklärte »Vision«, von der die Kommentatoren sich gebührend beeindruckt zeigten.<br />

Eine vernünftige Person, die daran interessiert ist, was die Sowjets während des Kalten Kriegs zu tun<br />

beabsichtigten, würde fragen, was sie wirklich taten, vor allem in den von ihnen kontrollierten<br />

Regionen. Auch hinsichtlich der politischen Führung der USA würde eine vernünftige Person diese<br />

Frage stellen, wobei Lateinamerika ein auf der Hand liegender Testfall ist. Wir müssen also begreifen,<br />

daß wir, als die Regierung Kennedy in Brasilien den Sturz der demokratisch gewählten Regierung in<br />

Angriff nahm und an ihre Stelle ein Regime neofaschistischer Mörder und Folterknechte setzte, »die<br />

globale Bedrohung für Marktdemokratien« abwehrten. Behauptet wurde das auf jeden Fall: Kennedys<br />

Botschafter Lincoln Gordon, der den Putsch mit vorbereitete und später Karriere im<br />

Außenministerium machte, lobte die Generäle wegen ihrer »demokratischen Rebellion« und sprach<br />

von einem »großen Sieg für die freie Welt«, weil »Brasiliens Demokratie nicht zerstört, sondern<br />

bewahrt wurde«. Anderenfalls nämlich wären »alle Republiken Südamerikas für den Westen verloren<br />

gewesen«, während jetzt »ein stark verbessertes Klima für private Investitionen herrscht«. Die letzte<br />

Bemerkung gibt <strong>zum</strong>indest einen Blick auf die tatsächliche Welt frei.<br />

In Guatemala, Chile und anderen Ländern spielte sich die gleiche Geschichte ab. Die »globale<br />

Bedrohung« war, wie auch eingeräumt wurde, so gut wie inexistent; allerdings gab es viele<br />

»Kommunisten« im amerikanischen Wortsinn, d. h. Politiker, die ihrem Land eine von ausländischen<br />

Investoren unabhängige, der Bevölkerung dienende Entwicklung gönnen wollten.<br />

43


Vor uns liegt also eine große Zukunft, die noch größer wird, wenn wir die Einlassungen des Weißen<br />

Hauses <strong>zum</strong> Problem von Interventionen berücksichtigen. Mit unserem <strong>bis</strong>herigen altruistischen<br />

Verhalten ist es nämlich vorbei; wenn wir - wo auch immer - intervenieren, stellen wir fortan die<br />

Frage: »Was ist für uns drin?« So führt die Clinton-Doktrin zu einer neuen und humaneren Ära<br />

liberaler Demokratie, angemessen gekleidet in rhetorische Floskeln über die Ausweitung der freien<br />

Gemeinschaft von Marktdemokratien. 103<br />

Trotz der neuen Vision dürfte der Verteidigungshaushalt keine signifikanten Einbußen erleiden. An<br />

realem Wert liegt er, wie Clinton vorsieht, über dem zu kalten Kriegszeiten üblichen Durchschnitt und<br />

soll 1997 sogar leicht steigen. Von den großen Rüstungsprojekten - F-22-Bomber, B-2-Bomber,<br />

Trident-II-Raketen - wurde kein einziges gestoppt, allerdings liegt die Betonung jetzt nicht mehr so<br />

sehr auf großen Kernwaffen und Bodentruppen, sondern auf »strategischer Mobilität und militärischer<br />

Präsenz« in der Dritten Welt, erklärte das Verteidigungsministerium <strong>zum</strong> neuen Haushalt im März<br />

1993. Der zuständige Minister, Les Aspin, skizzierte in diesem Zusammenhang ein »Doppelkriegs-<br />

Szenario«, das, wie der Militärexperte David Evans betont, »praktisch die Garantie für einen Haushalt<br />

ist, der näher bei 300 Milliarden Dollar liegt als bei den 234 Milliarden, die das Pentagon für das<br />

Fiskaljahr 1998, gemessen am Dollarwert von 1994, vorsieht«. Das Szenario geht von einem<br />

Zusammentreffen von Konflikten aus, wie z. B. einem Angriff des Irak auf die Ölfelder Saudi-<br />

Arabiens und einem gleichzeitigen Einmarsch Nordkoreas in den Südteil.<br />

Wir müssen in der Lage sein, gegen »Führer von Schurkenstaaten« vorzugehen, die es »auf regionale<br />

Vormachtstellungen abgesehen haben« und fortgeschrittene Waffensysteme entwickeln oder<br />

»umfangreiche Angriffshandlungen« planen, verkündete Aspin. Bedrohlich sind nicht nur »größere<br />

Regionalmächte mit uns zuwiderlaufenden Interessen, sondern auch kleinere, oft interne Konflikte, die<br />

auf ethnischen oder religiösen Animositäten, staatlich gefördertem Terrorismus und der<br />

Unterwanderung befreundeter Regierungen beruhen«. All diese potentiellen Probleme müssen<br />

weltweit von US-Militärkräften entschärft werden, und deshalb sind diese unter allen Umständen »in<br />

Kampfbereitschaft zu halten«. Und darum müssen wir auch »die einzige Nation der Welt bleiben, die<br />

große, kostspielig bewaffnete Kräfte einzig für die Intervention in die Angelegenheiten ausländischer<br />

Nationen unterhält«, was uns jährlich an die 200 Milliarden Dollar kostet. Das ist es, was »den<br />

Umfang des Verteidigungshaushalts wirklich bestimmt«, meint Aspin, und das erklärt auch, warum<br />

das Ende des Kalten Kriegs nicht mit einer Senkung des Militärbudgets einhergeht. »Wir sind Führer,<br />

weil Natur und Geschichte uns diese Verpflichtung auferlegt haben«, meinte General Powell und<br />

wiederholte damit die seit der Kindheit eingeübten rituellen Phrasen.<br />

Zwar dürften die Pläne der Clinton-Strategen unter den obwaltenden wirtschaftlichen Bedingungen<br />

kaum Zustimmung finden, doch spiegeln sie das Denken militärischer Planungsexperten wider. 104<br />

Kernwaffen werden nicht verschrottet, aber ihre Aufgabe ändert sich. Man braucht sie nicht mehr als<br />

»Schild« für die globale Intervention, sondern für den Umgang mit »Schurkenstaaten«. Dick Cheney,<br />

unter Bush Verteidigungsminister, verabschiedete sich aus dem Amt mit einem Bericht an den<br />

Kongreß über eine »Defensivstrategie für die neunziger Jahre«, in dem die Forderung nach »neuen,<br />

nicht-strategischen Nuklearwaffen« erhoben wird. Dieses Programm wird von der Regierung Clinton<br />

fortgesetzt und entspricht einer »neuen, vom Golfkrieg geprägten Denkweise, die auf die Entwicklung<br />

einer Generation kleiner Kernwaffen abzielt, mit denen Kriege in der Dritten Welt geführt werden<br />

können«. Allerdings hatten die alten, strategischen Waffen eine vergleichbare Funktion: Sie bildeten<br />

den Schutzschild für die Verwendung von konventionellen Streitkräften gegen »sehr viel schwächere<br />

Feinde«.<br />

Eine 1992 veröffentlichte Studie des Kernwaffenlabors in Los Alamos forderte »Kernwaffen mit<br />

äußerst niedriger Strahlung«, die »sehr wirksam und glaubhaft gegen zukünftige nukleare<br />

Bedrohungen aus der Dritten Welt eingesetzt werden könnten«, weil sie die Kapazität besitzen,<br />

»Einheiten in Kompaniestärke« ebenso zu zerstören wie unterirdische Kommandobunker. Außerdem<br />

könnten sie den »aufrührerischen Mob neutralisieren«. Ein Jahr zuvor war unter Leitung von General<br />

Lee Butler, der später <strong>zum</strong> Chef des Strategischen Kommandos ernannt wurde, eine Untersuchung<br />

erstellt worden, in der es hieß, man solle die Kernwaffen als Absicherung gegen einen möglichen<br />

44


»russischen Imperialismus« beibehalten und Pläne für ein »nukleares Einsatzkommando« schaffen,<br />

das vorwiegend auf »China und andere Staaten der Dritten Welt« ziele, wobei die Waffen von Trägern<br />

aus kurzer Reichweite abgeschossen werden könnten. Rußland verfolgt ganz offensichtlich ähnliche<br />

Pläne und erörtert gemeinsam mit den Vereinigten Staaten die Idee, gegen Länder der Dritten Welt<br />

vorzugehen, die den Versuch unternehmen, eigene Kernwaffen zu entwickeln. Die jeweiligen Listen<br />

sind nahezu identisch: Nordkorea, dahinter Iran, Irak, Indien und Pakistan. 105 Israel fehlt<br />

bezeichnenderweise, ist es doch, als Instrument amerikanischer <strong>Mac</strong>ht, ebenso vor Kritik geschützt<br />

wie sein Patron. Aus ähnlichen Gründen gehört für Washington auch Saudi-Arabien nicht zu jenem<br />

islamischen Fundamentalismus, der als Feind den sowjetischen Teufel beerben soll. Aber auch die<br />

Vasallen der CIA in Afghanistan waren Freunde, <strong>bis</strong> sie ihre Bomben auf die falschen Ziele<br />

abzuwerfen begannen.<br />

5. Der Nord-Süd-Konflikt<br />

Aus dem <strong>bis</strong>lang Gesagten erhellt, daß das konventionelle Bild des Kalten Kriegs zwar für die<br />

<strong>Mac</strong>htinteressen in Ost und West überaus funktional war, jedoch einer näheren Untersuchung nicht<br />

standhält. Ein realistischeres Verständnis gewinnen wir, wenn wir den Kalten Krieg aus längerfristiger<br />

Perspektive als eine bestimmte Phase in der seit fünfhundert Jahren währenden Geschichte der<br />

Eroberung der Welt durch die europäischen Großmächte sehen, einer von Aggression, Subversion,<br />

Terror und Herrschaft bestimmten Geschichte, die jetzt unter dem Namen »Nord-Süd-Konflikt«<br />

firmiert. Natürlich hat es in dieser Epoche gewaltige Veränderungen gegeben, zu denen auch und vor<br />

allem die durch soziale Kämpfe erreichte Ausweitung von Freiheit und Gerechtigkeit in den reichen<br />

Gesellschaften selbst gehört. Und von Bedeutung ist auch der Ausgang des Zweiten Weltkriegs, der<br />

den Vereinigten Staaten so viel <strong>Mac</strong>ht und Reichtum verschaffte, daß ihre Strategen realistischerweise<br />

eine weltumspannende Politik entwerfen und durchsetzen konnten. Aber die großen Linien haben sich<br />

nicht verändert, und insbesondere Churchills Vision von der Vorherrschaft der reichen Nationen lebt<br />

unverändert fort.<br />

Diese Linien bestimmen den Umriß des Nord-Süd-Konflikts, dessen Logik die Entwicklung des<br />

Kalten Kriegs diktierte, der tatsächlich ein Krieg gegen den unabhängigen Nationalismus vor allem<br />

der Dritten Welt war. 106<br />

Zum einen nämlich ist dieser unabhängige Nationalismus - auch »Ultranationalismus«, »Wirtschaftsnationalismus«<br />

oder »radikaler Nationalismus« genannt - nicht akzeptabel, wie immer er politisch<br />

eingefärbt sein mag. Die Dritte Welt hat nun einmal die Aufgabe, Dienstleistungen für die reichen<br />

Nationen zu erbringen: billige Arbeitskräfte, Rohstoffe, Märkte, Investitionsmöglichkeiten, Export<br />

von Umweltverschmutzung, Drogengeldwäsche, Tourismus usw.<br />

Zum anderen ist der unabhängige Nationalismus, falls er insofern erfolgreich ist, als er die Lage der<br />

armen Bevölkerungsschichten verbessert, ein noch schlimmeres Verbrechen, nämlich ein »Virus«, der<br />

sich anderswohin ausbreiten, ein »fauler Apfel«, der das ganze »Faß verderben kann«. So sahen die<br />

USA das Guatemala unter Arbenz, das Chile unter Allende und das Nicaragua unter den Sandinisten<br />

und viele andere um Unabhängigkeit kämpfende Länder. Genau diese Angst vor einer „Ansteckung"<br />

verbarg sich hinter der Domino-Theorie.<br />

Gelegentlich werden solche Befürchtungen recht deutlich ausgesprochen. So warnte Henry Kissinger,<br />

daß die Regierung Allende mit ihrem Beispiel nicht nur Lateinamerika, sondern sogar Südeuropa<br />

»anstecken«, präziser gesagt, in Italien für einen Sieg der Eurokommunisten sorgen könnte (der sogar<br />

Moskau mit Sorge erfüllte). Andere Propagandabemühungen sind vulgärer, zielen aber in die gleiche<br />

Richtung. So setzte das US-Außenministerium gegen die Sandinisten die Operation Wahrheit in Gang,<br />

um den Kongreß dazu zu bewegen, 100 Millionen Dollar für die Unterstützung der Contras<br />

locker<strong>zum</strong>achen. Zu diesem Zweck wurde eine angeblich von den Übeltätern in Nicaragua<br />

ausgerufene »Revolution ohne Grenzen« erfunden, die bei den üblichen Eliten das übliche Entsetzen<br />

45


auslöste und den Contra-Terror zu legitimieren half. Ausgeschlachtet wurde dazu eine Äußerung des<br />

Sandinistenführers Tomas Borge. In einer Rede hatte er erklärt, daß die Sandinisten »nicht ihre<br />

Revolution« exportieren könnten, sondern »nur ihr Beispiel«, während die anderen Völker »ihre<br />

Revolution selber machen müssen«; in diesem Sinne überschreite die nicaraguanische Revolution<br />

»nationale Grenzen«. Die Propagandisten im Außenministerium machten daraus gleich eine Drohung,<br />

die gesamte Hemisphäre zu erobern; die Medien spielten das Spiel natürlich mit, und der Terror gegen<br />

die Nicaraguaner wurde verschärft, <strong>bis</strong> die Sandinisten endlich abgewählt werden konnten. 107<br />

Die globalen Herrscher haben solches Fehlverhalten noch nie auf die leichte Schulter genommen.<br />

Metternich und der Zar reagierten höchst besorgt auf die Bedrohung zivilisatorischer Werte, die von<br />

den republikanischen Lehren aus <strong>Neue</strong>ngland auf den alten Kontinent übergriff. Als jedoch die<br />

befreiten Ex-Kolonien <strong>Mac</strong>ht gewannen, reagierten sie nicht anders als die monarchistischen<br />

Konservativen. Schon 1791 unterstützten die USA Frankreich im Kampf gegen die Aufständischen in<br />

Haiti, und als die Sklavenrevolte trotzdem Erfolg hatte, reagierte man mit Gewalt, aus Angst, die<br />

Befreiungsbewegung könnte auf die eigenen Sklaven in den Südstaaten übergreifen. Die Invasion<br />

Floridas 1818 entsprang auch der Furcht vor »Horden gesetzloser Indianer und Neger« (John Quincy<br />

Adams), die Freiheit von Tyrannen und Eroberern suchten. Ein mögliches »Bündnis zwischen Weißen<br />

und Indianern« sollte durch die Annektierung von Texas verhindert werden.<br />

Selbst die geringste Abweichung vom rechten Pfad führt zu Furcht und Zittern. Eisenhowers gegen<br />

Guatemala verhängte Blockade diente der »Selbstverteidigung und Selbsterhaltung« der Vereinigten<br />

Staaten; gerechtfertigt wurden diese Ängste, wie die Geheimdokumente zeigen, mit einer<br />

»Streiksituation« in Honduras, »die von der guatemaltekischen Seite der honduranischen Grenze aus<br />

inspiriert und unterstützt« worden sein könnte. Und Reagan rief angesichts der »ungewöhnlichen und<br />

außerordentlichen Bedrohung« durch die Sandinisten den nationalen Notstand aus.<br />

Darin, daß es keine Abweichungen geben darf, besteht Einigkeit quer durch alle politischen Lager.<br />

Robert Pastor, Carters Lateinamerika-Berater und ein so friedfertiger wie respektierter Gelehrter,<br />

schrieb: »Die Vereinigten Staaten wollten weder Nicaragua noch die anderen Staaten in der Region<br />

kontrollieren, aber sie wollten auch nicht zulassen, daß die Entwicklung dort außer Kontrolle geriet.<br />

Nicaragua sollte unabhängig handeln, außer wenn es damit die US-Interessen negativ<br />

beeinträchtigte.« (Hervorhebung von R. P.) 108<br />

Insofern kann der Kalte Krieg als Phase des Nord-Süd-Konflikts verstanden werden, die einen so<br />

ungewöhnlichen Umfang annahm, daß sie ein Eigenleben entwickelte, auch wenn sie der gleichen<br />

Logik gehorchte.<br />

Sie gilt nämlich auch für die Anfänge des Kalten Kriegs, die bolschewistische <strong>Mac</strong>htübernahme in<br />

Rußland, die sofort als »ultranationalistisch« begriffen und entsprechend verdammt wurde, <strong>zum</strong>al der<br />

Virus schnell auf die Heimatländer des Kapitalismus übergriff. Robert Lansing warnte sofort davor,<br />

daß die »Proletarier aller Länder, die Unwissenden und geistig Minderbemittelten schon durch ihre<br />

zahlenmäßige Übermacht zur Herrschaft drängen«, und Wilson war besorgt, daß die »amerikanischen<br />

Neger, die nach Hause zurückkehren«, d. h. die schwarzen Soldaten, vom Beispiel der Arbeiter- und<br />

Soldatenräte in Deutschland angesteckt worden sein könnten. In Großbritannien stellte Lloyd George<br />

1917 eine Kommission zur Untersuchung von Unruhen in der Industriearbeiterschaft auf die Beine,<br />

die herausfand, daß die Feindschaft gegen den Kapitalismus unter den walisischen Bergarbeitern weit<br />

verbreitet war und dort die noch vor der Oktoberrevolution in Rußland errichteten Räte hohes Ansehen<br />

genossen. 109<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Situation noch bedrohlicher. Nach dem Sieg gegen Hitler<br />

hatte sich der »faule Apfel« auf ganz Osteuropa ausgedehnt, und dem Westen war der Zugang zu<br />

seinen traditionellen Ressourcen verbaut. In vielen Ländern Europas waren die konservativen<br />

Herrschaftseliten durch ihre Verbindungen <strong>zum</strong> Faschismus diskreditiert, während der<br />

antifaschistische, oftmals radikaldemokratische <strong>bis</strong> kommunistische Widerstand großes Ansehen<br />

genoß. Dagegen mußten Freiheit und Demokratie mit den bewährten Mitteln verteidigt werden.<br />

46


In vielen Ländern entstanden bevölkerungsnahe Bewegungen, die sich im Kampf gegen die tradierten<br />

<strong>Mac</strong>htstrukturen mit den lokalen Kommunisten sowjetischer oder, später, chinesischer Provenienz<br />

verbündeten. Selbst eingefleischte Antikommunisten hielten das sowjetische Entwicklungsmodell für<br />

übertragbar auf die Dritte Welt. Die USA sahen das alles mit großer Sorge und waren darauf bedacht,<br />

jene Doktrinen, die zunächst nur in ihrer Einflußsphäre gegolten hatten, nunmehr weltweit<br />

durchzusetzen: Demokratie und soziale Reformen sind akzeptabel, wenn dadurch tiefgreifenderer<br />

Wandel vermieden werden kann. Aber die Reformen müssen von oben nach unten durchgesetzt<br />

werden und die Vasallen an der <strong>Mac</strong>ht bleiben. Aus diesen Erwägungen heraus wurde in Westeuropa<br />

und Asien die traditionelle Ordnung wiederhergestellt.<br />

Im Juli 1945 warnte eine vom US-Außen- und Kriegsministerium durchgeführte Untersuchung vor der<br />

russischen Gefahr. Überall auf der Welt strebe, so hieß es, der gemeine Mann nach Höherem, und man<br />

wisse nicht, ob Rußland vielleicht mit dem Gedanken spiele, sich mit diesen gefährlichen Strömungen<br />

zu verbünden und »expansionistische Bestrebungen« zu hegen. Folglich gehen wir kein Risiko ein,<br />

umgeben die Sowjetunion mit einem Kordon von Militärstützpunkten und gestatten ihr keine<br />

Kontrolle über ihren einzigen Zugang zu südlichen Gewässern bei den Dardanellen.<br />

Natürlich hatte man nicht unbedingt Angst vor der Militärmacht Sowjetunion. Im Juni 1956 sagte US-<br />

Außenminister John Foster Dulles zu Konrad Adenauer, daß die wirtschaftliche Gefahr, die von der<br />

Sowjetunion ausgehe, möglicherweise größer sei als die militärische. Die UdSSR verwandle sich mit<br />

großer Geschwindigkeit in einen modernen und effizienten Industriestaat, während Westeuropa immer<br />

noch stagniere. Zur gleichen Zeit wies ein Bericht des Außenministeriums darauf hin, daß »die<br />

wirtschaftlichen Erfolge der UdSSR für die weniger entwickelten Länder Asiens von großer<br />

Bedeutung sind, weil das Land offenbar in der Lage war, aus dem Stand sich sehr schnell zu<br />

industrialisieren«. 1961 meinte der britische Premierminister Harold <strong>Mac</strong>millan zu Präsident<br />

Kennedy: »Die Russen haben eine florierende Wirtschaft und werden die kapitalistische Gesellschaft<br />

bei der Jagd nach materiellem Reichtum bald hinter sich gelassen haben.« Zur gleichen Zeit galt China<br />

als möglicherweise attraktives Entwicklungsmodell für Drittweltländer wie etwa Nordvietnam.<br />

Die von Rußland und China ausgehende Infektionsgefahr wurde noch vergrößert durch die unfairen<br />

Vorteile, die Kommunisten in den Staaten der Dritten Welt genossen, waren sie doch fähig, »direkt an<br />

die Massen zu appellieren«, wie sich Präsident Eisenhower beschwerte, was »wir«, wie Außenminister<br />

Dulles monierte, leider »nicht nachmachen können«. Die Kommunisten wenden sich nämlich »an die<br />

armen Leute, und sie waren immer schon darauf aus, die Reichen auszuplündern« - das große Problem<br />

der Weltgeschichte. Es wäre eine erstrangige Aufgabe der PR-Industrie, die Ausplünderung der<br />

Armen durch die Reichen als wohlfahrtsstaatliches Highlight zu verkaufen. 110<br />

In einer Diskussion mit seinem Stab über Schwierigkeiten mit der ara<strong>bis</strong>chen Welt jammerte<br />

Eisenhower: »Das Problem ist, daß gegen uns eine Haßkampagne läuft, die nicht von den<br />

Regierungen, sondern von der Bevölkerung ausgeht.« Die nämlich stand »auf Nassers Seite«, und<br />

Nasser war, wie John Foster Dulles im August 1956 verlauten ließ, »ein äußerst gefährlicher<br />

Fanatiker«, weil er eigensinnig auf einem neutralistischen Kurs beharrte. Immerhin war er noch nicht<br />

so schlimm wie Chruschtschow, der »Hitler mehr gleicht als irgendein russischer Führer vor ihm«,<br />

meinte Dulles ein Jahr später vor dem Nationalen Sicherheitsrat. 111<br />

Eisenhowers Besorgnisse manifestierten sich am 15. Juli 1958, als 10 000 Marines vor Beirut an Land<br />

wateten, nachdem ein Putsch im Irak das anglo-amerikanische Erdölmonopol im Nahen Osten<br />

durchbrochen und in London und Washington für Entgeisterung gesorgt hatte. Die Briten waren<br />

daraufhin entschlossen, »rücksichtslos zu intervenieren«, falls sich die nationalistische Fäulnis <strong>bis</strong><br />

nach Kuweit ausbreiten sollte. Die USA unterstützten diese Haltung, waren sie doch hinsichtlich der<br />

sehr viel reicheren, von ihnen kontrollierten Regionen derselben Auffassung. Eisenhowers Problem<br />

wurde 1990/91 erneut virulent. Von Marokko <strong>bis</strong> Indonesien reichte die Opposition gegen den von<br />

Washington und London geführten Golfkrieg, die in den halbwegs demokratisierten ara<strong>bis</strong>chen<br />

Staaten kaum einzudämmen war. Insofern ist die Abneigung der amerikanischen und britischen<br />

Führung gegen eine Demokratie in der ara<strong>bis</strong>chen Welt durchaus verständlich. 112<br />

47


Natürlich war die Sowjetunion ungleich gefährlicher als die von Nicaragua oder Guatemala<br />

ausgehende Bedrohung, und sei es nur deshalb, weil sie, wie schon das zaristische Rußland, eine nicht<br />

zu unterschätzende Militärmacht war. Dennoch bildete der Nord-Süd-Konflikt ein substantielles<br />

Element des Kalten Kriegs.<br />

Das läßt sich auch an den Analysen über Wachstum und Entwicklung in den sozialistischen Staaten<br />

ablesen. Von Zeit zu Zeit hat die Weltbank das Pro-Kopf-BIP der osteuropäischen Staaten im<br />

prozentualen Verhältnis zu den OECD-Ländern untersucht und fand heraus, daß es <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> Ersten<br />

Weltkrieg ständig absank, dann <strong>bis</strong> 1950 stark anstieg, <strong>bis</strong> 1973 leicht und <strong>bis</strong> 1989 stärker<br />

zurückging. Ein Bericht der Weltbank von 1990 kommt zu dem Ergebnis, daß »die Sowjetunion und<br />

die Volksrepublik China <strong>bis</strong> vor kurzem zu den hervorstechendsten Beispielen relativ erfolgreicher<br />

Länder gehörten, die sich aus eigenem Entschluß von der Weltwirtschaft abgesondert hatten«. Sie<br />

verließen sich auf ihre »immense Größe«, um eine »nach innen gerichtete Entwicklung zu<br />

ermöglichen, die den meisten anderen Ländern versagt blieb«, <strong>bis</strong> sie sich »zu einer Änderung ihrer<br />

Politik entschlossen und aktiver an der Weltwirtschaft teilnahmen«. Ab 1989 befanden sich die<br />

Volkswirtschaften der osteuropäischen Staaten im freien Fall, mit den bekannten Folgen, die wir im<br />

nächsten Kapitel erörtern. 113<br />

Die Sowjetunion erreichte den Höhepunkt ihrer <strong>Mac</strong>ht in den späten fünfziger Jahren, lag aber immer<br />

weit hinter dem Westen zurück. Mitte der sechziger Jahre geriet ihre Wirtschaft in Schwierigkeiten;<br />

die entsprechenden Indikatoren zeigten sinkenden Lebensstandard an. Eine umfassende, von der<br />

kubanischen Raketenkrise 1962 ausgelöste Aufrüstungsoffensive ging in den späten siebziger Jahren<br />

zuende. Die Wirtschaft stagnierte, und die Gesellschaft wies an den Rändern erste Auflösungserscheinungen<br />

auf. In den achtziger Jahren brach das System zusammen und die seit jeher reicheren<br />

und mächtigeren Industrienationen des Westens »gewannen den Kalten Krieg«. Jetzt können große<br />

Regionen des ehemaligen Sowjetimperiums wieder zu ihrem ehemaligen Drittweltstatus<br />

zurückkehren.<br />

Aus dieser Perspektive lassen sich die vier Fragen <strong>zum</strong> Kalten Krieg relativ eindeutig beantworten.<br />

Zum ersten waren echte Sicherheitsbedenken tatsächlich sekundärer Natur, auch wenn sie angesichts<br />

der Ostblockstaaten weniger lächerlich erscheinen als im Hinblick auf die viel schwächeren Länder<br />

der Dritten Welt, obwohl sie hier ebenfalls geltend gemacht wurden. Überraschen kann auch nicht,<br />

daß die »Eindämmungsstrategien« vor allem von innenpolitischen wirtschaftlichen Erwägungen<br />

geleitet wurden; ob die Führung wirklich glaubte, die nationale Sicherheit schützen zu müssen, ist<br />

dabei ohne Belang. Schließlich wissen wir aus der alltäglichen Erfahrung, daß Überzeugungen<br />

zunächst geschaffen werden, um Interessen zu verbergen und sich dann verfestigen, so daß die<br />

rationale Analyse die Quellen der Überzeugungen aufsuchen muß, was wir bei anderen Themen<br />

durchaus begreifen; nur bei den <strong>Mac</strong>htstrukturen des eigenen Landes tun wir uns schwer. Zum zweiten<br />

ist es sinnvoll, den Beginn des Konflikts auf 1917/18 zu datieren, also auf die Zeit der ersten<br />

Konfrontation zwischen Ost und West. Die Vorwände für die Intervention damals entsprechen denen,<br />

die später bei Eingriffen in die Entwicklung von Drittweltländern üblich wurden. Zum dritten machen<br />

die den Kalten Krieg konstituierenden Ereignisse aus dem Puzzle ein vollständiges Bild. Und <strong>zum</strong><br />

vierten müssen wir angesichts der Dauerhaftigkeit der politischen Strategien vor, während und nach<br />

dem Kalten Krieg nicht überrascht sein.<br />

Die ableitbaren Folgerungen liegen also auf der Hand: Der Feind aller Feinde ist und bleibt die Dritte<br />

Welt, die unter Kontrolle gehalten werden muß. Jener Teil der Dritten Welt, der seiner<br />

Dienstleistungsrolle entkommen konnte, war militärisch mächtig, war es seit Jahrhunderten gewesen -<br />

mächtig genug, die uns »von der Natur und der Geschichte auferlegte Verpflichtung«, die Welt zu<br />

kontrollieren, einschränken und als »fauler Apfel« eine, <strong>zum</strong>indest aus Sicht der US-Strategen, für<br />

andere Länder und sogar für die eigene Bevölkerung attraktive Alternative bieten zu können. Die<br />

mörderischen Führer dieser Staaten waren feine Kerle, solange sie uns freie Hand ließen, was sie indes<br />

nicht immer und nicht allzu gern taten. Außerdem bot schon ihre bloße Existenz dem »Neutralismus«<br />

gewisse Optionen, in Europa und in der Dritten Welt, was natürlich mit dem Anspruch auf totale, auch<br />

auf die Zukunft sich erstreckende Kontrolle kollidieren mußte. Das alles ist jetzt Vergangenheit, und<br />

48


wir können ganz nach Gusto intervenieren und dabei fragen: »Was ist für uns drin?« Die Sowjetunion<br />

ist vergangen, aber die Geschichte unserer Heucheleien ist noch nicht an ihr Ende gelangt.<br />

Kriege, seien sie heiß oder kalt, sind keine einfache Angelegenheit, bei der ein Antagonist (z. B. ein<br />

Nationalstaat) gegen einen anderen antritt. Sie haben immer viele Dimensionen, und die Interessen der<br />

»Baumeister der Politik« (Adam Smith) sind selten die der allgemeinen Bevölkerung. Ein Blick<br />

darauf, wer den Sieg feiert und davon profitiert, und wer darunter leidet, läßt uns häufig genug<br />

erkennen, wer die wahren Sieger und die wahren Verlierer sind und worum der Krieg geführt wurde.<br />

Gemäß diesem Kriterium gehören zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs auch jene Finanz- und<br />

Industrieorganisationen, die den Faschismus in allen seinen Formen unterstützten und von den<br />

offiziellen Siegern wieder in Amt und Würden eingesetzt wurden, während zu den Verlierern die<br />

führenden Organisationen und Personen des antifaschistischen Widerstands von den Radikaldemokraten<br />

<strong>bis</strong> hin zu den Kommunisten zu rechnen sind. Sie wurden von den offiziellen Siegern<br />

vernichtet oder vertrieben und marginalisiert.<br />

Die Sieger des Kalten Kriegs wiederum sind die privilegierten Eliten der staatskapitalistischen<br />

Industrienationen, einige ihrer Verbündeten in den Dienstleistungsregionen und große Teile der<br />

herrschenden Klasse im Osten, die sich jetzt den Siegern angeschlossen haben, während die<br />

Bevölkerung zwar das Ende der Tyrannei begrüßte, nicht aber die neuen Verhältnisse, in denen sie<br />

sich als Verlierer empfinden muß. Für die Dritte Welt verschlimmert sich die Situation, von wenigen<br />

Ausnahmen abgesehen, weiter. Und für die Bevölkerungsmehrheit im Westen bricht eine ganz neue<br />

Zeit an: das Ende der luxuriösen Verhältnisse für die gehätschelten Arbeiter.<br />

Der Süden darf jetzt, nach dem Ende des Kalten Kriegs, für die Mehrheit der Bevölkerung seiner<br />

Länder mit verstärkter Unterdrückung und Ausbeutung rechnen, während die Trittbrettfahrer der<br />

Weltwirtschaft sich bereichern. Die Vereinigten Staaten und ihre Vasallen können sich, nach dem<br />

Verschwinden der konkurrierenden Supermacht, ungehinderter der Gewalt bedienen und müssen<br />

lediglich neue Rechtfertigungen dafür finden, weil die politischen Kosten von Interventionen mit den<br />

Veränderungen in der politischen Kultur gewachsen sind. Allerdings bietet die Entwicklung der<br />

internationalen Wirtschaft kostengünstigere Techniken für die Ausübung von Herrschaft und<br />

Kontrolle. Osteuropa schließlich mag hier und da Anschluß an die entwickelten<br />

Industriegesellschaften des Westens finden, im großen und ganzen jedoch <strong>zum</strong> traditionellen<br />

Drittweltstatus zurückkehren, was wiederum als Waffe gegen die arbeitende Bevölkerung in den<br />

Staaten Westeuropas eingesetzt werden kann. Dazu mehr im nächsten Kapitel.<br />

49


II: DIE WELTWIRTSCHAFTSPOLITIK<br />

Im vorigen Kapitel erörterte ich einige politische Strategien, die über Jahrhunderte hinweg<br />

kontinuierlich betrieben wurden, zunächst von europäischen Ländern bei ihrer Eroberung der Welt,<br />

dann von einer abtrünnig gewordenen Kolonie und schließlich von Japan, das niemals kolonisiert<br />

wurde und, wie ein paar kleinere Staaten, unter Vermeidung des neoliberalen Modells, mit dessen<br />

Hilfe die Dritte Welt in Abhängigkeit gehalten werden konnte, seinen eigenen Kurs zu steuern<br />

vermochte. 114<br />

Während dieser langen Epoche hat es viele tiefgreifende Veränderungen gegeben, von denen einige<br />

bereits erörtert wurden. Besonders einschneidend war der Wandel, der sich mit dem Zweiten<br />

Weltkrieg vollzog: Zum ersten Mal in der Geschichte erlangte ein einzelner Staat so viel <strong>Mac</strong>ht und<br />

Reichtum, daß seine Strategen eine globale politische Vision entwerfen und in die Tat umsetzen<br />

konnten. Gegen Ende des Kriegs verfügten die Vereinigten Staaten über die Hälfte des gesamten<br />

Reichtums der Welt und genossen aufgrund ihrer militärischen <strong>Mac</strong>ht eine nie zuvor gekannte<br />

Sicherheit; die Nation hatte keine unmittelbar benachbarten Feinde, beherrschte den pazifischen und<br />

den atlantischen Ozean sowie die reichsten und am weitesten entwickelten Regionen in Übersee,<br />

kontrollierte die größten Energiereserven und andere wichtige Ressourcen. Die USA waren zur<br />

führenden Industriemacht aufgestiegen und konnten, im Gegensatz zu den vom Krieg verheerten<br />

Ländern, ihre Produktion nahezu vervierfachen.<br />

Schon in den Anfangsstadien des Zweiten Weltkriegs erkannten amerikanische Strategen, daß sie in<br />

der Lage sein würden, vielen Gebieten der Welt ihre Ordnung aufzuprägen. Diese Gelegenheit wollten<br />

sie nicht ungenutzt lassen. Zwischen 1939 und 1945 wurden im Council on Foreign Relations<br />

umfangreiche Studien zur Nachkriegsordnung betrieben. Diesem auslandspolitisch orientierten Rat<br />

gehörten Konzern- und Finanzkreise sowie hochrangige Vertreter des Außenministeriums an. Sie<br />

entwarfen den Plan einer, wie sie es nannten, »Grand Area«, einer integrierten Weltwirtschaftsregion,<br />

die den Anforderungen der US-Ökonomie Genüge tun und ihr den Freiraum verschaffen würde, »den<br />

sie brauchte, um ohne größere Umstrukturierungen überleben zu können«, d. h. ohne die einheimische<br />

Verteilung von <strong>Mac</strong>ht, Reichtum, Eigentum und Kontrolle antasten zu müssen. Ebenso ging es diesen<br />

Strategen um »nationale Sicherheit«, jedoch in dem bereits erörterten expansiven Sinn, der mit der<br />

Sicherheit der Nation nur wenig zu tun hat.<br />

Zuerst nahm man an, daß Deutschland als wichtiges <strong>Mac</strong>htzentrum überleben werde (an Japan wurde<br />

noch nicht gedacht). Die »Grand Area« wurde also anfänglich, unter Ausschluß Deutschlands, als<br />

Block konzipiert, dem <strong>zum</strong>indest die westliche Hemisphäre, der Ferne Osten und das ehemalige<br />

britische Empire, das zusammen mit anderen Regionalsystemen der US-amerikanischen Kontrolle<br />

unterstellt werden würde, angehören sollten. Unterdessen erweiterten die USA ihre eigenen regionalen<br />

Einflußsphären in Lateinamerika und dem Pazifikraum auf Kosten der traditionellen Kolonialmächte.<br />

Als sich die Niederlage Hitlers abzuzeichnen begann, wurde auch Deutschland der »Grand Area«<br />

zugeschlagen. Sorge bereitete die Sowjetunion, später auch China, für die »Eindämmungs-« und<br />

»Rollback«-Strategien vorgesehen wurden.<br />

Die Struktur der »Grand Area« wurde mit einiger Sorgfalt durchdacht und später in Planungsstudien<br />

der Regierung weiterentwickelt. An oberster Stelle der Liste standen die reichen<br />

Industriegesellschaften, auf deren Bedürfnisse die Rolle der traditionellen Kolonialregionen<br />

zugeschnitten wurde. Kernproblem des Kalten Kriegs war die Existenz der kommunistischen Staaten,<br />

die ihren Drittweltstatus hatten abwerfen können; allerdings sind Rußland und China mittlerweile<br />

wieder in die Weltwirtschaft integriert. Bedacht wurde immer auch die Zukunft der USA selbst. Ihre<br />

Gesellschaft sollte auf eine Weise neu gestaltet werden, die, so hoffte man, <strong>zum</strong> Modell für alle<br />

Industrienationen werden konnte. Dieses Thema gestattet einen näheren Blick auf die vorherrschenden<br />

gesellschaftlichen Kräfte und ihre Denkart. Wir werden uns zunächst damit auseinandersetzen, dann,<br />

50


nach einem geschichtlichen Zwischenspiel, den globalen Kontext und schließlich die gegenwärtige<br />

Entwicklung und ihren möglichen weiteren Verlauf erörtern.<br />

1. Der Kampf an der Heimatfront<br />

Der Feind im Inneren<br />

Die innenpolitischen Probleme waren teils sozialer und ideologischer, teils ökonomischer Natur. Die<br />

Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre hatte sich zur Herausforderung, gar Infragestellung der<br />

Privatwirtschaft entwickelt. Das wurde als Schock empfunden, glaubte man doch, die<br />

Arbeiterbewegung und Forderungen nach mehr Demokratie ein für alle Mal erledigt zu haben. Aber<br />

1935 wurde das Wagner-Gesetz verabschiedet, das den Arbeitern Rechte einräumte, die in England<br />

und anderswo schon seit 50 Jahren selbstverständlich waren. Gleich warnte die National Association<br />

of Manufacturers, eine Industriellenorganisation, vor der Gefahr, die für die Wirtschaft von der »neu<br />

entstandenen politischen <strong>Mac</strong>ht der Massen« ausgehe. Deren Denken müsse in geeignete Bahnen<br />

gelenkt werden, sonst »steht uns eine Konfrontation ins Haus«.<br />

Die Konzerne starteten eine rasche Gegenoffensive, die weniger auf staatliche Gewaltmaßnahmen als<br />

auf Gedankenkontrolle setzte: »Wissenschaftliche Streikbrechermethoden« und »Human Relations«-<br />

Kampagnen sollten die Öffentlichkeit gegen »Außenseiter« mobilisieren, die »Kommunismus und<br />

Anarchie« predigten und das Gemeinschaftsgefühl nüchterner Arbeiter und Farmer, treusorgender<br />

Mütter und Hausfrauen, hart für das Wohl der Menschen arbeitender Manager - also jenen<br />

»Amerikanismus«, der uns alle in Harmonie und Freude vereint - vergiften wollten. Das Projekt griff<br />

auf frühere Erfolge der Public-Relations-Industrie zurück, einer amerikanischen Erfindung, die schon<br />

zu Beginn des Jahrhunderts und dann nach dem Ersten Weltkrieg der Geschäftswelt zu ideologischen<br />

Siegen verholfen hatte.<br />

Dazu beigetragen hatten Erfahrungen mit der ersten regierungsoffiziellen Propagandaagentur,<br />

Woodrow Wilsons Creel-Kommission, die während des Ersten Weltkriegs die Amerikaner von<br />

Pazifisten zu kriegsbegeisterten Nationalisten machen konnte. Wilsons Propagandamaschinerie<br />

beeindruckte die amerikanische Geschäftswelt, aber auch einen Adolf Hitler, der Deutschlands<br />

Niederlage auch propagandistischer Unterlegenheit im Vergleich zu den angloamerikanischen<br />

Anstrengungen zurechnete. Harold Lasswell, einer der führenden Politikwissenschaftler, der seine<br />

Karriere mit Untersuchungen zur Verwendung von Propaganda im Westen begonnen hatte, nannte<br />

Wilson den »großen Generalissimus an der Propagandafront«. Wie andere seriöse Wissenschaftler<br />

erkannte er, daß die Propaganda sich besonders gut für freiere und demokratischere Gesellschaften<br />

eignet, in denen die Bevölkerung nicht mit der Peitsche im Zaum gehalten werden kann. Folglich<br />

empfahl er den Einsatz dieses Instruments, um den Erhalt der Ordnung, den er aufgrund »der Ignoranz<br />

und des Aberglaubens ... der Massen« gefährdet sah, zu gewährleisten. In der Encyclopaedia of the<br />

Social Sciences erklärte er, wir sollten nicht »dem demokratischen Dogma« anhängen, daß »die<br />

Menschen selbst ihre Interessen am besten beurteilen könnten«; das ist vielmehr Sache der Eliten, so<br />

wie für Churchill nur die »reichen Leute in den reichen Nationen« wissen, was für die Welt gut ist.<br />

Mit der Geschäftswelt und führenden Intellektuellen teilte Lasswell Robert Lansings Furcht vor der<br />

»ignoranten und unfähigen Masse der Menschheit« und der Gefahr ihrer möglichen Vorherrschaft, die,<br />

wie Lansing irrtümlich annahm, von den Bolschewisten angestrebt wurde. Auch Walter Lippmann,<br />

eine der großen Gestalten des amerikanischen Journalismus und ein hoch geschätzter<br />

Demokratietheoretiker des progressiven Lagers, schloß sich diesen Bedenken an. »Die<br />

Öffentlichkeit«, meinte er, »muß auf den ihr zugehörigen Platz verwiesen werden«, damit die<br />

»verantwortlichen Männer ... von dem Getrampel und Gebrüll einer verwirrten Herde« nicht gestört<br />

werden. In einer Demokratie haben diese »ignoranten und aufdringlichen Außenseiter« lediglich die<br />

Funktion, »interessierte Zuschauer« in der politischen Arena zu sein, nicht aber »direkt Beteiligte«,<br />

außer, wenn sie alle Jahre wieder ihre Stimme einem Mitglied der Führungsschichten geben.<br />

51


Lippmann zählte, wie gesagt, zu den fortschrittlichen Geistern. Am reaktionären Ende finden wir<br />

gerade heute jene sogenannten Konservativen (eine völlig falsche Bezeichnung), die der Öffentlichkeit<br />

sogar die Zuschauerrolle absprechen wollen. Kein Wunder, daß die Reaganisten sich so für geheime<br />

Terroroperationen, für Zensur- und Agitpropmaßnahmen begeisterten, mittels derer die Bevölkerung<br />

unwissend gehalten werden konnte. 115<br />

Bereits Thomas Jefferson sah in seinen späteren Jahren mit Sorge, auf welch wackligen Füßen das<br />

demokratische Experiment stand. Er unterschied zwischen »Aristokraten« und »Demokraten«. Die<br />

Aristokraten »fürchten das Volk und mißtrauen ihm und wollen sämtliche <strong>Mac</strong>ht in den Händen der<br />

oberen Klassen versammeln«. Die Demokraten dagegen »identifizieren sich mit dem Volk, vertrauen<br />

ihm, betrachten und würdigen es als ehrlichen und sicheren, wenn auch vielleicht nicht höchstweisen<br />

Ort, an dem das öffentliche Interesse seine Bewahrung findet«. Die Aristokraten waren die<br />

Befürworter des entstehenden kapitalistischen Staats, den Jefferson mit großer Abneigung betrachtete,<br />

weil er sich im Widerspruch zur Demokratie entwickelte, je mehr die modernen Formen, vor denen er<br />

gewarnt hatte, also die »Bankinstitutionen und wohlhabenden Korporationen«, begünstigt von<br />

juristischen Entscheidungen, an <strong>Mac</strong>ht gewannen. Heute gehören fortschrittliche Intellektuelle à la<br />

Lasswell und Lippmann zu Jeffersons »Aristokraten« und können nur vor dem Hintergrund des<br />

sonstigen politischen Spektrums noch demokratisch genannt werden. Jeffersons schlimmste<br />

Befürchtungen dürften sich bestätigt haben.<br />

Natürlich ist das demokratische Ideal nicht völlig zusammengebrochen; es wurde marginalisiert, blieb<br />

aber in Bürgerbewegungen und bei einigen Intellektuellen lebendig. Zu diesen gehört John Dewey,<br />

einer der bedeutendsten amerikanischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Für Dewey ist »Politik der<br />

Schatten, den das big business auf die Gesellschaft wirft«, und solange das so bleibt, »wird auch die<br />

Abschwächung des Schattens nichts an der Substanz ändern«. Reformen sind von begrenztem Wert;<br />

sollen demokratische Verhältnisse herrschen, muß der Verursacher des Schattens entfernt werden,<br />

nicht nur wegen seiner Vorherrschaft in der politischen Arena, sondern weil allein schon die<br />

Institutionen privater <strong>Mac</strong>ht Demokratie und Freiheit untergraben. Dewey benannte die antidemokratische<br />

<strong>Mac</strong>ht, die er im Sinn hatte, sehr deutlich: »Heute liegt die <strong>Mac</strong>ht in der Kontrolle über<br />

die Mittel, mit denen Produktion, Handel, Publikationswesen, Transport und Kommunikation<br />

betrieben werden. Wer sie besitzt, beherrscht das Leben der Gesellschaft.« Trotz aller Restbestände<br />

demokratischer Formen ist »die Privatwirtschaft, die Gewinne macht mittels privater Kontrolle über<br />

Bankwesen, Ländereien, Industrie, verstärkt durch Befehlsgewalt über Presseorgane, Presseagenten<br />

und andere Publikations- und Propagandamittel« die eigentliche Quelle von <strong>Mac</strong>ht, Zwang und<br />

Kontrolle, und solange dieses System Bestand hat, können wir nicht ernsthaft von Demokratie und<br />

Freiheit reden. In einer freien und demokratischen Gesellschaft hätten die Arbeiter »ihr industrielles<br />

Schicksal selbst in der Hand« und wären keine von Unternehmern gemieteten Werkzeuge. Diese Ideen<br />

reichen <strong>bis</strong> <strong>zum</strong> klassischen Liberalismus eines Adam Smith und Wilhelm von Humboldt zurück. Die<br />

Industrie muß »von einer feudalistischen in eine demokratische gesellschaftliche Ordnung überführt<br />

werden«, und das »letzte Ziel« der Produktion sollte nicht die Herstellung von Gütern sein, sondern<br />

»die Produktion freier, einander in Gleichheit verbundener menschlicher Wesen«. Diese Konzeption,<br />

die sich auch im Gildensozialismus und bei Anarchisten und unorthodoxen Marxisten finden läßt, ist<br />

mit dem modernen Industriesystem staatskapitalistischer oder staatssozialistischer Provenienz<br />

unvereinbar. 116<br />

Mittlerweile ist das ideologische Spektrum so eng geworden, daß bewährte libertäre Grundsätze<br />

exotisch und extremistisch, ja, gar »unamerikanisch« klingen, obwohl sie so amerikanisch sind wie<br />

Truthahnbraten und in einem traditionellen Denken wurzeln, das gern gelobt, noch lieber aber entstellt<br />

und vergessen wird. Auch hierin zeigt sich der Verfall der Demokratie, den wir im Augenblick, auf<br />

der institutionellen wie der intellektuellen Ebene, miterleben.<br />

Die Propaganda im Interesse der Privatwirtschaft trägt das ihre dazu bei, wie aus einem Essay von<br />

Michael Joyce erhellt. Joyce ist Präsident der rechtsorientierten Bradley Foundation, die, wie andere<br />

ihrer Art, das Ziel verfolgt, vor allem in Schulen und Universitäten das ideologische Spektrum noch<br />

weiter nach rechts zu rücken. Seine Argumentation klingt zunächst libertär; er kritisiert den seiner<br />

Meinung nach zu engen Begriff der citizenship [der Bürgerlichkeit im politischen Sinne; d. Ü.], der die<br />

52


Beteiligung der Bürger an der Politik auf den gelegentlichen Akt des Wählens reduziere, wonach dann<br />

wieder die Experten das Sagen haben. Er dagegen möchte darunter die Beteiligung an der<br />

Zivilgesellschaft »außerhalb der politischen Sphäre« verstehen. Hier nämlich »vollzieht sich die<br />

Aktivität der Bürger ... nicht episodisch oder gelegentlich, wie beim Wählen, sondern konstant und<br />

regelmäßig«: auf dem Markt, bei der Arbeit, im Familienleben, bei kirchlichen, schulischen und<br />

anderen Versammlungen. Hier finden »anständige Bürger« ihre »Aufgabe«.<br />

Und die »politische Sphäre« ? Sie verschwindet aus dem Blickfeld, bleibt unbekannten, unsichtbaren<br />

Mächten überlassen. Allerdings nicht ganz: Joyce warnt vor »arroganten, paternalistischen<br />

Sozialwissenschaftlern, Therapeuten, Freiberuflern und Bürokraten, die das ausschließliche Recht<br />

beanspruchen, von feindseligen sozialen Mächten geschlagene Wunden zu heilen«. Sie bilden die<br />

»aufgeblähten, korrupten, zentralisierten Bürokratien« des »Fürsorgestaats«. »Korrupte intellektuelle<br />

und kulturelle Eliten in den Universitäten, den Medien und anderswo ... fordern noch mehr<br />

Regierungsprogramme - und noch mehr bürokratische Experten zur Heilung der Wunden, die hilflosen<br />

Opfern angeblich vom Industrialismus, Rassismus, Sexismus usw. geschlagen wurden - und berauben<br />

dabei die Bürger und ihre Institutionen immer weiterer Befugnisse.«<br />

Während die Bürger sich um ihre Arbeit kümmern und zur Kirche gehen, muß der »Fürsorgestaat«<br />

von Therapeuten und Sozialwissenschaftlern, die im Augenblick noch alle Fäden in der Hand halten,<br />

befreit werden. In wessen Händen aber liegt er dann? Bezeichnenderweise klammert Joyce die<br />

tatsächlichen Zentren, in denen <strong>Mac</strong>ht und Reichtum sich ballen, aus, nämlich jene Personen und<br />

Institutionen, die entscheiden, was in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft geschieht, sei es, daß sie<br />

direkt an der <strong>Mac</strong>ht beteiligt sind, sei es, daß sie die politischen Alternativen auf ein Minimum<br />

beschränken und so einen mächtigen, interventionsbereiten »Fürsorgestaat« schaffen, der sich ihrer<br />

Bedürfnisse bereitwillig annimmt. Joyces PR-Operation gleicht einer Analyse der Sowjetunion, in der<br />

Kreml, Militär und Kommunistische Partei keine Rolle spielen. Daß diese Farce überhaupt möglich<br />

ist, zeigt, wie wirksam die von der Privatwirtschaft betriebene Gedankenkontrolle sein muß. 117<br />

In den freieren Gesellschaft übt der Staat nur selten direkte Kontrolle aus. »Wirklich düster an der<br />

Pressezensur in England«, schrieb George Orwell, »ist die Tatsache, daß sie weitgehend freiwillig<br />

ausgeübt wird. Unpopuläre Ideen können <strong>zum</strong> Schweigen gebracht und unangenehme Tatsachen im<br />

Dunkeln gehalten werden, ohne daß es dazu eines offiziellen Bannspruchs bedürfte.« Das verdankt<br />

sich u. a. der Konzentration der Presse in den Händen von »reichen Leuten, die bei bestimmten<br />

Themen alle möglichen Motive für ihre Unaufrichtigkeit haben«. Deshalb »wird jeder, der die<br />

vorherrschende Orthodoxie in Frage stellt, mit überraschender Effektivität <strong>zum</strong> Schweigen gebracht«.<br />

Schon ein Jahrzehnt früher hatte sich John Dewey ganz ähnlich über »unsere unfreie Presse« geäußert:<br />

»Die einzig wahre und grundlegende Methode, mit diesem Problem umzugehen, besteht in der<br />

Erforschung der notwendigen Auswirkungen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems auf das gesamte<br />

System des Pressewesens; auf die Beurteilung dessen, was eine Nachricht eigentlich ist, auf die<br />

Auswahl dessen, was zur Veröffentlichung ansteht, auf den Umgang mit Nachrichten in Kommentaren<br />

und Berichten.« Wir sollten fragen, »ob unter dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Regime wirkliche<br />

intellektuelle Freiheit und soziale Verantwortung in größerem Umfang überhaupt möglich sind«. Das<br />

sei, meinte Dewey, wohl kaum der Fall. 118<br />

Der australische Sozialwissenschaftler Alex Carey, der sich eingehend mit dem Problem<br />

privatwirtschaftlicher Propaganda befaßt hat, kommt zu dem überzeugenden Schluß, daß »das 20.<br />

Jahrhundert durch drei Entwicklungen von großer politischer Bedeutung gekennzeichnet ist: durch den<br />

Zuwachs an Demokratie, den Zuwachs an konzernspezifischer <strong>Mac</strong>ht und den Zuwachs an<br />

konzernspezifischer Propaganda als Mittel <strong>zum</strong> Schutz dieser <strong>Mac</strong>ht vor der Demokratie«. Die von<br />

den Konzernen in den dreißiger Jahren betriebene Gegenoffensive ist eins von vielen einleuchtenden<br />

Beispielen für seine These.<br />

Diese Offensive mußte aufgrund des Kriegseintritts dann eingestellt werden, wurde nach 1945 dann<br />

aber wiederbelebt. In großen Kampagnen, bei denen Radiosender, das Kino und andere Medien<br />

eingespannt wurden, verkaufte man das »freie Unternehmertum« - d. h. die staatlich subventionierte<br />

Herrschaft des privaten Managements - als den »amerikanischen Weg«, der von gefährlichen<br />

53


subversiven Elementen bedroht sei. Natürlich war den PR-Spezialisten die Methode, Furcht und Haß<br />

zu erzeugen, die gegen »Ausländer«, »Kommunisten« und »Anarchisten« gerichtet wurden, seit<br />

langem vertraut, und dies um so mehr, als die politische Kultur selbst seit ihren frühesten Tagen Züge<br />

von Manichäismus gezeigt hatte, wovon allein schon Begriffe wie »unamerikanisch« oder<br />

»antiamerikanisch« zeugen. 119<br />

Im Wissen um diese Besonderheiten der politischen Kultur in Amerika verteilte die US-<br />

Handelskammer gleich nach dem Krieg Pamphlete in millionenstarker Auflage mit Titeln wie<br />

»Kommunistische Infiltration in die Vereinigten Staaten« und »Kommunisten in der Regierung«. Im<br />

April 1947 kündigte der Werberat (Advertising Council) eine 100 Millionen Dollar teure Kampagne in<br />

allen Medien an, um der Bevölkerung das amerikanische Wirtschaftssystem zu »verkaufen«; offiziell<br />

wurde das Programm als »Großprojekt zur Unterrichtung des amerikanischen Volks über die<br />

Tatsachen des Wirtschaftslebens« beschrieben. Konzerne »starteten umfangreich Programme zur<br />

Indoktrinierung der Angestellten«, wußte das Wirtschaftsmagazin Fortune zu berichten, während die<br />

Management-Organisation AMA (American Management Association) herausfand, daß in den<br />

Führungsetagen vielfach »Propaganda« und »wirtschaftliche Unterrichtung« für Synonyme gehalten<br />

wurden: »Wir wollen, daß unsere Leute das Richtige denken.« Außerdem berichtete die AMA, daß<br />

Kommunismus, Sozialismus sowie bestimmte politische Parteien und Gewerkschaften »zu den<br />

Angriffszielen dieser Kampagnen gehören«, die »manche Arbeitgeber ... als eine Art „Kampf um<br />

Loyalität" mit den Gewerkschaften betrachten« - was angesichts der Ressourcenverteilung ein höchst<br />

ungleicher Kampf gewesen sein dürfte. 120<br />

Andere führten diesen Kampf auf ihre Weise. Bekanntlich sind die Vereinigten Staaten die einzige<br />

Industrienation, die über kein gesellschaftlich umfassendes Gesundheitssystem verfügt. Trumans<br />

Versuche, hier Anschluß an die Moderne zu finden, wurden von der American Medical Association<br />

als »erster Schritt hin ... zu jener Reglementierung« angegriffen, »die in Deutschland <strong>zum</strong><br />

Totalitarismus und <strong>zum</strong> Niedergang dieser Nation führte«. Die Zeitschrift der Vereinigung warnte vor<br />

»medizinischen Sowjeträten« und den »Gauleitern«, die sie führen würden, und unterstellte den<br />

Befürwortern einer nationalen Gesundheitsvorsorge Tendenzen zu einer sozialistischen Revolution.<br />

Ihre Werbeagentur lancierte die <strong>bis</strong> dahin größte Anzeigenkampagne in der amerikanischen<br />

Geschichte, um die Gesetzesvorhaben zu verhindern. Mit gefälschten Lenin-Zitaten wurde an<br />

protestantische Geistliche appelliert und der Eindruck erweckt, Politiker wollten an der »Heiligkeit des<br />

Lebens« rütteln. 54 Millionen Exemplare einer Propagandaschrift wurden verteilt. Die Kampagne<br />

stand unter dem Slogan »Freiwilligkeit ist der amerikanische Weg«; ihr Leitmotiv hieß: »Die<br />

amerikanische Medizin steht im Brennpunkt eines fundamentalen Kampfs, dessen Ausgang vielleicht<br />

darüber entscheidet, ob Amerika frei bleibt, oder ob wir ein sozialistischer Staat werden.« Trumans<br />

Vorhaben scheiterte.<br />

Weil die Kosten des höchst ineffizienten und bürokratisierten kapitalistischen Gesundheitssystems für<br />

die Geschäftswelt zur Last wurden, kam das Thema in den neunziger Jahren erneut zur Sprache. Nun<br />

machten sich die Mainstream-Medien über die damaligen Kampagnen lustig, und die Regierung<br />

Clinton versuchte sich an Gesundheitsreformen, beachtete dabei aber zwei wesentliche Bedingungen:<br />

Zum einen mußte das Ergebnis streng regressiv sein, was bei Programmen, die auf steuerlichen<br />

Belastungen oder Lohnabzügen beruht hätten, nicht der Fall gewesen wäre; <strong>zum</strong> andern durfte den<br />

großen Versicherungsfirmen nicht die Kontrolle entzogen werden. Diese aber tragen mit ihren teuren<br />

Anzeigenkampagnen, hohen Managergehältern, Gewinnen und den Kosten ihres bürokratischen<br />

Apparats, der darauf achtet, daß die Leistungen auf ein Minimum beschränkt bleiben, ebenso zur<br />

Verteuerung des Gesundheitswesens bei wie der umfangreiche Regulierungsapparat der Regierung,<br />

dem es obliegt, die Interessen der Allgemeinheit wenigstens einigermaßen mit dem<br />

privatwirtschaftlichen Profitstreben in Einklang zu bringen. Das Ganze wird »geregelter Wettbewerb«<br />

genannt, ein Euphemismus, der die Hindernisse verbergen soll, die einer ausgewogeneren und<br />

effizienteren Gesundheitsvorsorge, welche in den Händen der Regierung läge, im Wege stehen.<br />

Gerade diese aber ist, trotz aller Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit, »politisch nicht<br />

durchsetzbar«.<br />

54


Die Berichterstattung der Medien bewegte sich innerhalb der auch sonst üblichen Grenzen. Ein<br />

Aufmacher der New York Times <strong>zum</strong> Thema erwähnte en passant, daß bei einer Umfrage 59 Prozent<br />

der Befragten ein »von Clinton verworfenes Modell« befürworteten: »ein dem kanadischen ähnliches<br />

System der Krankenversicherung, die aus Steuergeldern bezahlt wird«. Ein sehr hoher Prozentsatz,<br />

angesichts der ablehnenden Haltung von Regierung und Medien. Der Boston Globe zitierte Experten,<br />

die sich über die »verwirrende« Komplexität der Vorschläge im Vergleich »zu dem einfacheren, von<br />

der Regierung zu betreibenden System« wunderten und meinte dazu: »Es ist schwer, Komplexität zu<br />

vermeiden, wenn man, wie Clintons Befürworter und Kritiker gleichermaßen, von der Prämisse<br />

ausgeht, daß ein einfacheres, von der Regierung bezahltes Gesundheitssystem keine Option ist.«<br />

Möglicherweise sind ja alle, die das »einfachere System« befürworten, einfach »antiamerikanisch«.<br />

Eine Woche zuvor hatte der Boston Globe ausführlich über eine gemeinsam mit der Harvard School of<br />

Public Health durchgeführte Untersuchung berichtet, in der es darum ging, wie die Bevölkerung drei<br />

unterschiedliche Optionen einschätzte: Staatlich-privatwirtschaftliche Vorsorge, individuell-private<br />

Vorsorge und schließlich Medicare, das staatliche System für die älteren Bürger. Während sich im<br />

Hinblick auf die ersten beiden Optionen kaum Unterschiede finden, gewinnt Medicare in allen zur<br />

Diskussion stehenden Bereichen wie etwa Qualität, Effizienz und Kostengünstigkeit: »Ins Auge fiel<br />

die Tatsache, daß die bei Medicare Versicherten in jeder Hinsicht zu den zufriedensten von allen<br />

versicherten Amerikanern zählten«, was von »manchen« als Argument für eine nationale<br />

Krankenversicherung interpretiert wird. Aber da Qualität, Effizienz und Kostengünstigkeit nicht im<br />

Interesse der Privatversicherer liegen, werden die Mittel für Medicare beschnitten, was immerhin den<br />

Vorteil hat, daß man bei späteren Untersuchungen die Zufriedenheit der Versicherten nicht mehr<br />

berücksichtigen muß. 121<br />

Ebenso muß man die hohe Zustimmung in der Bevölkerung für ein nationales Gesundheitssystem, die<br />

Anfang der neunziger Jahre bei fast 70 Prozent lag, berücksichtigen. Die hohen Verwaltungskosten<br />

und die mangelnde Leistungsfähigkeit des gegenwärtigen Systems resultieren jedoch nicht, wie immer<br />

wieder behauptet wird, aus einem merkwürdigen Charakterzug der amerikanischen Kultur, sondern<br />

aus der von Konzernen betriebenen Propaganda und, nicht zu vergessen, der Schwäche der<br />

Arbeiterbewegung. 122<br />

Die Propagandakampagnen der Nachkriegszeit konnten noch viele andere Erfolge vorweisen. Ein<br />

Beispiel ist das Schicksal der Preisregulierungsbehörde OPA (Office of Price Administration), die<br />

während der Kriegsjahre für eine moderate Preisgestaltung zuständig gewesen war. Eine massive<br />

Kampagne von Industriellenvereinigung und Handelskammer sorgte dafür, daß die öffentliche<br />

Befürwortung der OPA von 80 Prozent im Februar 1946 auf 26 Prozent acht Monate später<br />

zurückging. Präsident Truman mußte die Behörde schließen lassen und sprach von einem Feldzug »für<br />

die Aufhebung der Gesetze, die den Konsumenten vor Ausbeutung schützen sollten«. 1947 bemerkte<br />

ein PR-Beauftragter des Innenministeriums hämisch, daß sich »gerissene Public Relations wieder<br />

einmal ausgezahlt hat«. Die öffentliche Meinung »bewegt sich nicht nach rechts, sondern ist - auf<br />

schlaue Weise - nach rechts bewegt worden«: Während »die übrige Welt sich nach links bewegt und<br />

Arbeiterparteien an die Regierung gebracht hat, befinden sich die USA in der Gegenbewegung: gegen<br />

sozialen Wandel, gegen wirtschaftlichen Wandel, gegen die Arbeiterbewegung «.<br />

Ein paar Jahre später bemerkte der Soziologe Daniel Bell, damals Mitherausgeber von Fortune: »In<br />

den Nachkriegsjahren war es der Industrie vor allem darum zu tun, das von der Wirtschaftskrise ...<br />

hervorgerufene Meinungsklima zu verändern. Die Kampagne für „freies Unternehmertum" hat zwei<br />

hauptsächliche Ziele: die Loyalität der Arbeiter zurückzugewinnen, die jetzt den Gewerkschaften<br />

verpflichtet sind, und den schleichenden Sozialismus aufzuhalten.« Mit »Sozialismus« meinte Bell<br />

den sanft reformorientierten Kapitalismus von Roosevelts New Deal. Der Umfang dieser Kampagnen<br />

war, so Bell, »erstaunlich«. Sie führten u. a. zu einer Gesetzgebung, die die Aktivitäten der<br />

Gewerkschaften stark einschränkte und zu deren <strong>bis</strong> heute währendem Verfall entscheidend beitrug.<br />

Selbst Clintons Arbeitsminister Robert Reich, eher ein Liberaler, teilt uns mit, daß »noch keine<br />

Klarheit darüber besteht, ob die traditionelle Gewerkschaft für die neuen Arbeitsplätze noch<br />

notwendig ist«, womit er auf die vom Staatskapitalismus programmierten »leistungseffizienten<br />

Arbeitsplätze der Zukunft« anspielt. »Gewerkschaften sind dort in Ordnung, wo es sie gibt. Und wo es<br />

55


sie nicht gibt« - also mittlerweile kaum noch irgendwo - »ist noch nicht klar, welche Art von<br />

Organisation die Arbeiter repräsentieren sollte«, führt Robert Brown, Handelsminister und auch so ein<br />

»neuer Demokrat«, aus.<br />

Parallel zu den erwähnten Nachkriegskampagnen gab es noch einen erfolgreichen Angriff auf jede<br />

offene Infragestellung privatwirtschaftlicher Vorherrschaft, an dem sich große Teile der<br />

Intellektuellenschicht ebenso begeistert beteiligten wie die Gewerkschaftsbürokratie. Dieser Feldzug<br />

wurde fälschlicherweise »McCarthyismus« genannt; tatsächlich aber stieß Senator McCarthy erst sehr<br />

spät dazu und nutzte lediglich das bereits bestehende Klima der Repression aus, konnte jedoch<br />

beträchtlichen Schaden anrichten, bevor er abserviert wurde. Diese Kampagne stellte im wesentlichen<br />

die Atmosphäre der zwanziger Jahre wieder her, <strong>bis</strong> die Gärungen der sechziger Jahre neue Hysterie<br />

und neue Versuche zur Rückgewinnung der ideologischen Vorherrschaft entfachten.<br />

Eine vom Kongreß in Auftrag gegebene Untersuchung kam 1978 zu dem Ergebnis, daß die<br />

amerikanische Geschäftswelt pro Jahr eine Milliarde Dollar für »Grassrootspropaganda«, also<br />

Propaganda für die breiten Bevölkerungsschichten ausgab. Ergänzt wurden diese Bemühungen durch<br />

das, was Alex Carey »Baumwipfelpropaganda« nennt. Sie zielte auf die Bildungsschichten und wollte<br />

deren Angehörigen das »freie Unternehmertum« schmackhaft machen. Zu diesem Zweck wurden<br />

entsprechende Professuren gestiftet und Kampagnen gegen die üblichen verdächtigen Ziele lanciert:<br />

gegen Steuererhöhungen, wirtschaftliche Regulierungsmaßnahmen, Wohlfahrt (für die Armen),<br />

»bürokratische« Behinderungen des kreativen Unternehmers, gewerkschaftliche Korruption und<br />

Gewalt, Apologeten unserer Feinde usw. 123<br />

Das hatte tiefgreifende Auswirkungen insofern, als nach dem »S«-Wort (»sozialistisch«) nun auch das<br />

»L«-Wort (»liberal«) der Verdammnis anheimfiel. Allerdings hat die Rechte die ideologischen<br />

Institutionen noch nicht vollständig erobert, weshalb es in Großbritannien und den USA auch zu<br />

diesen so heftigen wie leicht komischen Aufrufen führt, das Allerheiligste gegen den Ansturm der<br />

»linken Faschisten« zu verteidigen, die sich leider, wie auch die Arbeiterorganisationen, immer noch<br />

regen.<br />

Sind funktionierende Demokratien schon in ausländischen Gesellschaften ein Greuel, so erst recht im<br />

eigenen Land. Als in den sechziger Jahren <strong>bis</strong>lang marginalisierte Schichten der Bevölkerung den<br />

Versuch unternahmen, die politische Arena zu betreten, sprachen liberale Eliten angstschlotternd von<br />

einer »Krise der Demokratie« und beschworen das Gespenst der »Unregierbarkeit« herauf. Passivität<br />

und Gehorsam müßten, so befand die von David Rockefeller gegründete Trilaterale Kommission in<br />

ihrer ersten Studie mit dem Titel Die Krise der Demokratie, wiederhergestellt werden. Der<br />

Kommission gehörten Vertreter von Eliten aus den USA, Europa und Japan an; Jimmy Carter war<br />

Mitglied, und seine Regierung rekrutierte sich fast ausschließlich aus dieser Kommission. Ihr<br />

amerikanischer Berichterstatter, Samuel Huntington von der Universität Harvard, blickte mit einiger<br />

Nostalgie auf das goldene Zeitalter zurück, als »Truman das Land mit der Kooperation einer Handvoll<br />

von Anwälten und Bankiers der Wall Street regieren konnte«. Damals gab es natürlich keine »Krise«.<br />

Freies Unternehmertum, freie Märkte<br />

Neben sozialen und ideologischen Problemen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg gravierende<br />

wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Weltwirtschaftskrise hatte die Überlebensfähigkeit des<br />

Kapitalismus in Frage gestellt, die Maßnahmen des New Deal waren nur begrenzt wirksam gewesen,<br />

und erst die massiven Kriegsausgaben konnten, verbunden mit staatlich gelenkter Wirtschaft, zu einem<br />

neuen Boom führen. Nach dem Krieg hielt der Nachholbedarf an Konsum die Wirtschaft<br />

einigermaßen über Wasser, doch schon gegen Ende der vierziger Jahre ging man von einer<br />

Wiederkehr der Rezession aus. Einflußreiche Kreise in Politik und Wirtschaft hielten eine abermalige<br />

Intervention des Staats zur Rettung des privaten Unternehmertums für selbstverständlich.<br />

Die Unternehmer erkannten, daß eine Erhöhung des Sozialbudgets die Wirtschaft ankurbeln könnte,<br />

doch zogen viele die militärkeynesianische Variante vor, was nicht »ökonomischer Rationalität«<br />

entsprang, sondern einem Denken in <strong>Mac</strong>ht- und Privilegienkategorien. Also erhöhte man den<br />

56


Rüstungshaushalt, wobei der Kalte Krieg als Rechtfertigung diente. Als 1948 die Rezession einsetzte,<br />

wurden Trumans Ausgaben für den Kalten Krieg von der Wirtschaftspresse als »Zauberformel für fast<br />

endlos gute Zeiten« (Steel) und als Methode für den »allgemeinen Aufschwung« (Business Week)<br />

gepriesen; nur die Russen mußten mitmachen. 1949 notierte man mit einiger Erleichterung, daß<br />

Stalins »Friedensfühler« von Washington <strong>bis</strong>lang mit Nichtachtung gestraft worden seien, machte sich<br />

aber weiterhin Sorgen, ob die »Aussicht auf ständige Erhöhung der Militärausgaben« nicht gefährdet<br />

werden könnte. Zum Glück blieb es beim Kalten Krieg, und einige Jahre später bemerkte das Wall<br />

Street Magazine: »Offensichtlich hängen mittlerweile auch ausländische Wirtschaften hauptsächlich<br />

vom Umfang der fortgesetzten Rüstungsausgaben in diesem Land ab« - was sich auf den mittlerweile<br />

international gewordenen Militärkeynesianismus bezog, mit dem der Wiederaufbau der vom Krieg<br />

geschädigten staats-kapitalistischen Industriegesellschaften gelang. Das war zugleich die Grundlage<br />

für die <strong>zum</strong>eist von den USA ausgehende Entwicklung der transnationalen Konzerne.<br />

Das Pentagon-System galt für diese Zwecke als ideal. Über die eigentlich militärischen Behörden<br />

hinaus umfaßt es auch das Energieministerium, das Kernwaffen produziert, sowie die<br />

Weltraumbehörde NASA, die von der Regierung Kennedy zu einer wichtigen Komponente der<br />

staatlich dirigierten öffentlichen Subventionen für die High-Tech-Industrie umgemodelt wurde. Diese<br />

Arrangements bürden der öffentlichen Hand erhebliche, für Forschung und Entwicklung (kurz: R&D,<br />

research & development) anfallende Kosten auf, während sie dem Management der Konzerne einen<br />

garantierten Markt für die Überschußproduktion verschaffen. Zudem hat diese Art der Industriepolitik<br />

nicht die unerwünschten Nebeneffekte wie Sozialausgaben, die sich an menschlichen Bedürfnissen<br />

orientieren. Hier kann eine Umverteilung von Reichtümern die Folge sein, und überdies werden<br />

gewisse Vorrechte privatwirtschaftlichen Managements in Frage gestellt. Gesellschaftlich nützliche<br />

Produktion kann private Gewinne schmälern, während staatlich subventionierte Ausschußproduktion<br />

(Waffen, bemannte Mondraketen usw.) der Industrie wie ein Geschenk in den Schoß fällt, weil dabei<br />

immer vermarktbare Produkte abfallen. Sozialausgaben könnten auch das Interesse der Öffentlichkeit<br />

an politischer Partizipation und damit die Möglichkeit demokratischer Drohgebärden erhöhen, und die<br />

Öffentlichkeit interessiert sich für Krankenhäuser, Straßenbau, Kindergärten usw., nicht aber für<br />

Raketen und Jagdbomber. Aus diesen Gründen gibt es, wie Business Week erklärte, »einen gewaltigen<br />

Unterschied zwischen militärischer und wohlfahrtsstaatlicher Wirtschaftsankurbelung«. Welche Variante<br />

vorzuziehen ist, dürfte nicht schwer zu erraten sein.<br />

Als die Strategen aus Wirtschaft und Politik nach dem Zweiten Weltkrieg die Rolle des Staats in der<br />

Wirtschaft zu vergrößern suchten, konnten sie sich auf historische Erfahrungen berufen. Von Anfang<br />

an hatten die USA auf Interventionismus und Protektionismus gesetzt: zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

in der Textil-, gegen Ende in der Stahlindustrie, heute bei Computern, Elektronik und Biotechnologie.<br />

Das gilt im übrigen für jede erfolgreiche industrielle Gesellschaft, was für den Süden zu bedenken<br />

wichtig sein könnte.<br />

Auch nach dem Kalten Krieg muß das Pentagon-System aufrechterhalten werden, was u. a. durch<br />

Waffenverkäufe in die Dritte Welt geschieht. Die Regierung Bush legte sehr viel Wert auf die<br />

Erweiterung dieser Verkäufe und hatte dabei vor allem den Nahen Osten im Auge. Andere Staaten<br />

sollten sich dabei natürlich zurückhalten - schließlich war es eine Krisenregion. Vielleicht deshalb<br />

nahm die Regierung <strong>zum</strong> ersten Mal in der Geschichte eine aktive Rolle bei der Erschließung neuer<br />

Märkte für die Rüstungsindustrie ein und nutzte dazu den Golfkrieg von 1991. Im Juni wurden<br />

anläßlich der Pariser Luftfahrtschau die Waffen, die den Irak zerstört hatten, mit sichtbarem Stolz<br />

ausgestellt, auch mit Hoffnung auf gute Geschäfte. In diesen Jahren waren die Vereinigten Staaten der<br />

größte Waffenverkäufer in Länder der Dritten Welt; 1992 beherrschten sie 57 Prozent dieses Marktes<br />

(Rußland hielt 9 Prozent). Allein Saudi-Arabien hatte Verträge mit US-Waffenhändlern im Wert von<br />

30 Milliarden Dollar abgeschlossen, die <strong>zum</strong> riesigen Aufrüstungsprogramm dieses Landes gehörten,<br />

das dessen Wirtschaft untergrub und den mit dem Öl gewonnenen Reichtum in den Westen<br />

zurückspülte.<br />

Die Regierung Clinton erweiterte die Programme ihrer Vorgängerinnen. »Die erwarteten 28 <strong>bis</strong> 30<br />

Milliarden Dollar an Rüstungsverkäufen ins Ausland in diesem Fiskaljahr sind die größte <strong>bis</strong>lang<br />

erreichte Gesamtsumme«, meldete AP im August 1993. Das meiste war für den Nahen Osten<br />

57


estimmt. Zum ersten Mal wurde der Handelsminister zur Luftfahrtschau nach Paris und zu<br />

potentiellen Kunden in der Dritten Welt - Malaysia und Saudi-Arabien - geschickt, »um Jagdbomber<br />

an den Mann zu bringen«, wie ein Spezialist für die Luftfahrtindustrie zustimmend bemerkte. Die<br />

Sorgen der Industrie, Clinton könnte die Weiterverbreitung von Waffen und den Einsatz von Gewalt<br />

einschränken, erwiesen sich als unbegründet. »Das schmutzige kleine Geheimnis der Großen Fünf bei<br />

ihren Gesprächen über Waffentransfers« war, wie Lee Feinstein von der Arms Control Association in<br />

Washington kommentierte, »daß die Gespräche die US-amerikanischen Waffenverkäufe nicht<br />

tangieren.« 124<br />

Auch ohne den Vorwand einer sowjetischen Bedrohung bleiben die Rüstungsausgaben ein wichtiges<br />

Stimulans für umfangreiche Sektoren der Wirtschaft, insbesondere der High-Tech-Industrie.<br />

»Friedensdividenden« werden erst dann gezahlt, wenn ein anderer Mechanismus entdeckt ist, um die<br />

Reichen am Trog der öffentlichen Hand zu füttern. Um das zu verschleiern, werden Slogans mit dem<br />

Namen »Sicherheit« oder »Arbeitsplätze« ausgegeben; und wir sehen mit Begeisterung, wie<br />

Konzernmanager und Politiker sich abmühen, »Arbeitsplätze« zu schaffen, wobei diese tatsächlich in<br />

Billiglohnländer verlegt werden, was auch gern im Rahmen von Programmen zur »Entwicklungshilfe«<br />

geschieht. 125 Während George Bush bei jeder Gelegenheit mehr »Arbeitsplätze, Arbeitsplätze,<br />

Arbeitsplätze« forderte, wurden unter seiner Ägide so viele wegrationalisiert wie nie zuvor.<br />

Auch Clintons »neue Demokraten« verstehen sich auf die Technik der rhetorischen Verschleierung.<br />

Zu diesem Zweck veröffentlichte Clintons Denkfabrik, das Progressive Policy Institute, ein für<br />

breitere Schichten gedachtes Buch mit dem Titel Mandate for Change (Auftrag für den Wandel),<br />

dessen erstes Kapitel, »Enterprise Economics«, das Hauptgewicht auf »nationale Investitionen« legt,<br />

mit deren Hilfe »amerikanische Firmen und ihre Arbeiter Schubkraft erhalten sollen«, weil nämlich<br />

die »entscheidenden Kräfte in einem freien Land ... die unternehmerischen Kräfte aller Arbeiter und<br />

jener Unternehmen sind, in denen sie die Güter und Dienstleistungen produzieren, die unseren<br />

nationalen Reichtum ausmachen«. Diese neue, unternehmerisch orientierte Ökonomie »dient einem<br />

einzigen Ziel: Amerikas Arbeiter und Firmen sollen in die Lage versetzt werden, hochbezahlte<br />

Arbeitsplätze, steigenden Lebensstandard und höhere Gewinne zu sichern«. Das Wort »Gewinne«<br />

(profits) taucht sonst nirgendwo auf, auch kennt das Buch keine Firmeneigner, Manager, Arbeitgeber,<br />

Finanziers usw.; beklagt wird nur, daß »reiche Investoren« in den bösen Reagan-Jahren zu viel<br />

verkonsumiert haben. Gelegentlich werden »Unternehmer« (entrepreneurs) erwähnt - das sind Leute,<br />

die »neue Geschäftsideen kreieren«, um dann, nachdem sie den Arbeitern und ihren Firmen geholfen<br />

haben, wieder zu verschwinden. Ansonsten sind die Arbeiter, ihre Familien und ihre Firmen<br />

gemeinsam für das Wohl Aller tätig, und angesichts dieser harmonischen, an kommunitaristischen<br />

Werten ausgerichteten Arbeitsplätze der Zukunft sind Gewerkschaften nun wirklich überflüssig.<br />

Diese Runderneuerung von Standardthemen der Wirtschaftsprogaganda bezeichnet sich selbst als<br />

»progressiv«, um keinen Raum für die klassisch-liberalen Ideale - soziale Gerechtigkeit und<br />

Menschenrechte - zu lassen, denen lediglich zynischer Lippendienst erwiesen wird.<br />

Die Umsetzung dieser Rhetorik in politisches Handeln machte deutlich, wohin der Hase lief.<br />

Staatliche Förderprgramme, die unter Bush kontinuierlich zugenommen und die von der Regierung<br />

Reagan durchgesetzten Kürzungen wenigstens teilweise revidiert hatten, wurden zurückgefahren, was<br />

sich besonders stark bei den Investitionen in »Humankapital«, d. h. Bildungsprogramme, auswirkte;<br />

aber auch die Forschungs- und Entwicklungsgelder für den Zivilbereich gingen zurück, während<br />

Steuermaßnahmen vorwiegend die Reichen begünstigten: »Eine wichtige Tatsache bleibt: Die<br />

mittleren und oberen Einkommensschichten sind die hauptsächlichen Nutznießer des verborgenen<br />

Wohlfahrtsstaats«, meint der Politologe Christopher Howard. »Über 80 Prozent der<br />

Steuervergünstigungen für Eigenheimfinanzierungen, Wohltätigkeitsspenden und Immobilien<br />

kommen denen zugute, die mehr als 50 000 Dollar« pro Jahr verdienen. Dazu kommt dann natürlich<br />

noch das Pentagon-System, Export- und Leistungssubventionierungen für die Privatwirtschaft in Höhe<br />

von 51 Milliarden Dollar jährlich, sowie über 53 Milliarden Dollar an Steuervergünstigungen für<br />

Konzerne (eine Summe, die die gesamten Wohlfahrtsprogramme für die Armen um fast 30 Milliarden<br />

Dollar übersteigt). All das natürlich, um »Arbeitsplätze« zu sichern. 126<br />

58


Eingriffe der Regierung in die Wirtschaft im Interesse privater <strong>Mac</strong>ht können noch viele andere<br />

Formen annehmen. Eines der interessantesten Beispiele ist die Motorisierung und Suburbanisierung<br />

Amerikas. Diese von Staaten und Konzernen gemeinsam betriebene Kampagne begann mit einer<br />

illegalen Verschwörung dreier Großkonzerne, nämlich General Motors, Firestone Rubber und<br />

Standard Oil of California. Sie wollten in 45 Städten die elektrisch betriebenen öffentlichen<br />

Transportmittel aufkaufen und durch Busse ersetzen. Die drei wurden wegen krimineller<br />

Verschwörung angeklagt und mußten 5000 Dollar Strafe zahlen. Dann nahm sich die Bundesregierung<br />

der Sache an und setzte die von GM-Chef Alfred Sloan entwickelten Pläne in die Tat um. In den Citys<br />

zerstörte man die Infrastruktur und vernichtete das Aktienkapital und verlagerte alles in die<br />

Stadtrandgebiete. Dann wurden große Schnellstraßen gebaut, die Interstate Highways, wobei, wie<br />

üblich, »Verteidigungszwecke« als Vorwand dienten. Die Eisenbahn wurde zugunsten der vom Staat<br />

finanzierten Beförderungsmittel Luft- und Straßenverkehr verdrängt. Mitte der sechziger Jahre war ein<br />

Sechstel aller Unternehmen direkt von der Automobilindustrie abhängig. Dieses umfangreiche<br />

Regierungsprogramm war ein weiteres Mittel, um das moribunde System der Privatwirtschaft, das in<br />

den dreißiger Jahren zusammengebrochen war, zu stützen. Außerdem beruhigte es Eisenhower, der<br />

eine nach dem Koreakrieg einsetzende Wirtschaftskrise befürchtete. Einer der Architekten des<br />

Straßenbauprogramms, ein Kongreßabgeordneter, bemerkte, man habe damit »der Wirtschaft in Zeiten<br />

der Rezession ein schön solides Fundament verschafft«. Die Auswirkungen auf Kultur, Wirtschaft und<br />

Gesellschaft waren enorm und sind, was die Zukunft angeht, nach wie vor umstritten. 127<br />

Heute gehören neben Agrarwirtschaft und Dienstleistungen vor allem Pharmazie und Biotechnologie<br />

zu den aus Steuermitteln geförderten Bereichen der Ökonomie, die zudem darauf angewiesen sind,<br />

daß der Staat ihnen im Ausland Märkte verschafft, sei es durch »Entwicklungshilfe« oder Gewalt.<br />

Industriepolitik für die neunziger Jahre<br />

Nach dem Ende des Kalten Kriegs werden die traditionellen Formen industrieller Subventionierung<br />

problematisch. Es ist also nicht verwunderlich, daß im Augenblick ganz offen über die Notwendigkeit<br />

einer »Industriepolitik« diskutiert wird, d. h. über neue Formen, die sich nicht mehr hinter dem<br />

Pentagon-System verbergen. Dessen Nachteile konnten verkraftet werden, als die USA noch den<br />

Weltmarkt beherrschten; jetzt aber stoßen die US-Konzerne auf Konkurrenten, die direkt für den<br />

Markt produzieren können und nicht auf Nebenprodukte aus der Herstellung von High-Tech-Waffen<br />

und Weltraumraketen warten müssen. Außerdem verlagert sich die Speerspitze der industriellen<br />

Entwicklung auf biotechnologische Industrien, deren staatliche Subventionierung sich nicht mehr so<br />

einfach hinter dem Pentagon-System verstecken kann. Im Wahlkampf von 1992 zeigten Clintons<br />

Manager, daß sie bei diesen Themen konkretere Vorstellungen hatten als die Reagan-Ideologen,<br />

weshalb große Teile der Industrie die Demokraten favorisierten.<br />

Natürlich war die Regierung Reagan keineswegs zimperlich, wenn es darum ging, die Reichen vor den<br />

Unwägbarkeiten des Marktes zu schützen, wobei sie sich insbesondere der üblichen<br />

militärkeynesianischen Mittel bediente. Auch das Verteidigungsprogramm SDI, genannt »Star Wars«,<br />

war für solche Zwecke vorgesehen. Auf diese Weise hatte die Regierung bereits 1983 den Staatsanteil<br />

am Bruttosozialprodukt auf 35 Prozent erhöht; 1973 hatte er noch bei etwa 27 Prozent gelegen. Zudem<br />

wurden die Importbeschränkungen mit 23 Prozent fast verdoppelt, mehr als bei allen<br />

Nachkriegsregierungen zusammengenommen. Außerdem hatten sich die Reaganisten, wie Fred<br />

Bergsten vom Institute for International Economics bemerkt, auf »Vereinbarungen zur freiwilligen<br />

Exportbeschränkung« spezialisiert, also die »heimtückischste Form des Protektionismus«, die »Preise<br />

nach oben treibt, den Wettbewerb vermindert und zur Kartellbildung animiert«.<br />

Das britische Parlamentsmitglied Phillip Oppenheim wies darauf hin, daß »eine Untersuchung der<br />

Weltbank über nicht-zollgebundene Handelsschranken in Japan 9 Prozent aller Güter betraf, in den<br />

USA dagegen 34 Prozent«. Diese Handelsschranken, die Konkurrenten den Weg verlegen sollen,<br />

wurden unter Reagan in immer neuen Varianten erfunden. Dadurch wurde, wie Patrick Low vom<br />

GATT-Sekretariat erklärt, ein Gutteil der positiven Auswirkungen, die die Reduzierung von Zöllen auf<br />

die Handelspolitik der Nachkriegszeit hatte, wieder zunichte gemacht. OECD-Daten zeigen, daß in<br />

59


den USA die staatliche Förderung nicht-militärischer Forschung ein Drittel der insgesamt dafür<br />

ausgegebenen Mittel beträgt, während es in Japan ganze zwei Prozent sind. 128<br />

Unter Reagan wurde mit der Sanierung der Continental Illinois Bank auch die größte Verstaatlichung<br />

in der US-Geschichte durchgeführt. Deregulierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit staatlichen<br />

Garantien zur Risikominderung von Investoren führten bei den Sparkassen- und Kreditinstituten zu<br />

einer Orgie von Korruption und faulen Krediten, die den Steuerzahler mit Hunderten von Milliarden<br />

Dollar belasteten. Er muß darüber hinaus die Kosten für faule Schulden tragen, die von<br />

Handelsbanken in der Dritten Welt angehäuft wurden. Susan George kommt zu dem Schluß, daß in<br />

der OECD wohl nur Japan das einzig wirklich kapitalistische Land sei, weil es sich »an den<br />

kapitalistischen Grundsatz hält, daß der Steuerzahler nicht für die Fehler von Handelsbanken haftbar<br />

gemacht werden kann«. 129<br />

Wie gut der »freie Markt« funktioniert, zeigt auch ein Blick auf das Chile unter Pinochet, wo die<br />

Wirtschaft nach zehn ungezügelten Jahren zusammenbrach, was zur »schlimmsten Krise seit 50<br />

Jahren« führte (so der Wirtschaftswissenschaftler Patricio Meiler). Die Regierung mußte massiv<br />

eingreifen, um das sinkende Schiff vor dem Untergang zu bewahren. Für diese Intervention sprach<br />

sich vor allem ein Institut aus, das, wie David Felix vermerkt, »normalerweise Hayekschen<br />

Wirtschaftsliberalismus predigt und die führende Denkfabrik der Pinochet-Eliten ist«. Sein Präsident,<br />

Carlos Cáceres, wies als Finanzminister 1983 »ausländische Banken darauf hin, daß die Regierung die<br />

Verantwortung für ihre Darlehen an chilenische Privatfirmen« übernehme. Im übrigen sieht das<br />

Programm der neuen Zivilregierung, ganz im Gegensatz zur klassischen Ökonomie, »eine umfassende<br />

Steuererhöhung zur Finanzierung neuer Sozialprogramme« und eine erhebliche Anhebung der<br />

Minimallöhne vor (schreibt Nathaniel Nash in der New York Times). So viel <strong>zum</strong> Erfolg der »Chicago<br />

Boys« in Chile. 130<br />

Unter Reagan vollzog sich auch der Wiederaufbau der Stahlindustrie, indem Importe praktisch<br />

ausgesetzt und durch Druck auf die Gewerkschaften die Lohnkosten gesenkt wurden. Als die<br />

Regierung aus dem Amt schied, hinterließ sie weitreichende Beschränkungen für Stahlimporte aus der<br />

EG, die aus europäischer Sicht internationale Handelsabkommen verletzen. Gerechtfertigt wurde das<br />

mit angeblichen EG-Dumpingpreisen, woraufhin die Europäer konterten, daß die Gesamtquote der<br />

Stahlexporte bereits das freiwillig vereinbarte Minimum der nicht-zollbedingten<br />

Handelsbeschränkungen unterschritten habe. Außerdem wurde der Export durch entsprechende<br />

Bankkredite gefördert, was, wie der Vorsitzende der Export-Import-Bank John <strong>Mac</strong>omber einräumte,<br />

»gegen die GATT-Bestimmungen verstieß«. 131<br />

Trotz dieser und anderer Erfolge bei der Unterminierung freier Märkte und internationaler<br />

Handelsabkommen blieben die Regierungen Reagan und Bush innerhalb der Grenzen eines<br />

ideologischen Extremismus, der sie für die gegenwärtigen Probleme industrieller Politik blind machte.<br />

Clinton dagegen war offensichtlich gut beraten, als er Laura Tyson zur Vorsitzenden des<br />

Wirtschaftsrats berief. Tyson war Begründerin und Kodirektorin des Berkeley Roundtable on the<br />

International Economy, eines von Konzernen finanzierten Instituts zur Handels- und Technologieforschung,<br />

das unverhüllte staatliche Industriepolitik befürwortet. Tyson hat »seit langem bestehende<br />

Beziehungen zu den Firmen in Silicon Valley, die von der von ihr vertretenen Politik profitieren<br />

dürften«, schreibt die Wirtschaftskorrespondentin Sylvia Nascar in der New York Times. Tysons<br />

Kollege Michael Borrus, der sich ebenfalls für diese Politik stark macht, zitiert eine Studie des<br />

Handelsministeriums aus dem Jahr 1988, in der gezeigt wird, »daß fünf der sechs US-Industrien, die<br />

zwischen 1972 und 1988 am schnellsten gewachsen sind, direkt oder indirekt durch Investitionen des<br />

Bundes gefördert wurden«. 132<br />

»Amerika kann nicht weiterhin darauf warten, daß Nebenprodukte militärischer Produktion langsam in<br />

den Zivilbereich durchsickern«, hieß es in einem Dokument aus Clintons Wahlkampfhauptquartier im<br />

September 1992. »Präsident Clinton will an die 76 Milliarden Dollar jährlich in Bundesforschungsvorhaben<br />

umdirigieren, damit die industrielle Innovation Schubkraft erhält«, schreibt William Broad<br />

in der New York Times. Aus dem Forschungsbudget des Pentagon werden für diese Zwecke über vier<br />

Jahre als Minimum 30 Milliarden Dollar abgezweigt - eine »Friedensdividende«. Diese Initiative,<br />

60


emerkt Broad weiter, würde dieselbe Summe wie Star Wars, nämlich 30 Millionen, in der Hälfte der<br />

Zeit verbrauchen. 133<br />

»Wir werden auf ganz ähnliche Weise eine ökonomische Strategie entwickeln, wie wir eine<br />

Sicherheitsstrategie für den Kalten Krieg entwickelt haben«, verkündete Kent Hughes, Präsident von<br />

Clintons »Rat für wirtschaftlichen Wettbewerb«. Das zeigt, wie alte politische Strategien neuen<br />

Bedingungen angepaßt werden; man muß nur die Begriffe »Kalter Krieg« und »Sicherheit« realistisch<br />

interpretieren.<br />

Und man muß erkennen, inwieweit die Reaganisten, obwohl sie alle möglichen Handelsabkommen<br />

zugunsten von US-Konzernen verletzten, doch nicht weit genug gingen, um die Bedürfnisse der<br />

Privatwirtschaft zu befriedigen. Clinton zögerte nicht, diesen Spielraum noch zu erweitern. Zum einen<br />

wurde das höchst unpopuläre und sehr protektionistische NAFTA-Abkommen unterzeichnet, <strong>zum</strong><br />

anderen eine neue Exportstrategie entwickelt, die, weit über die »weniger koordinierten Bemühungen«<br />

von Reagan und Bush hinaus, die Ausweitung von Darlehen für die Export-Import-Bank vorsieht, was<br />

gegen das GATT verstößt. Eigentlich ist die Regierung gegen die von ihr eingeleiteten Maßnahmen,<br />

weil diese, wie die Presse berichtet, »auf staatliche Subventionen hinauslaufen, die den internationalen<br />

Markt verzerren«. Tatsächlich aber gibt es keinen Widerspruch. Kenneth Brody, der Präsident der Ex-<br />

Im-Bank, erklärte: »Durch die Umsetzung eines solchen Programms in den Vereinigten Staaten hätte<br />

die Regierung Clinton mehr Einfluß bei der Bestimmung internationaler Grenzen für solche<br />

Darlehen.« Brody befürwortete auch ein weiteres Programm zur Bereitstellung von drei Milliarden<br />

Dollar in Darlehensgarantien für in- und ausländische Käufer von in den USA gebauten Schiffen - was<br />

wiederum dazu dienen soll, andere zur Beendigung solcher Praktiken zu bewegen, wie das Wall Street<br />

Journal mitteilte.<br />

Die Logik ist bekannt: Krieg bringt Frieden, Verbrechen führen zu Gesetzlichkeit, Waffenproduktion<br />

und -handel zu Abrüstung und Nichtverbreitung usw. Anders gesagt: Anything goes, solange es eine<br />

gute Antwort gibt auf die Frage: »Was ist für uns drin?«<br />

Diese einfachen Wahrheiten unterstrich Clintons Finanzminister Lloyd Bentsen: »Ich habe keine Lust<br />

mehr auf ein nivelliertes Spielfeld«, sagte er. »Wir sollten es kippen, um US-Firmen Vorteile zu<br />

verschaffen. Wir hätten es schon vor 20 Jahren tun sollen.« Tatsächlich haben »wir«, d. h. die<br />

Staatsmacht, damit schon vor 200 Jahren begonnen und im letzten halben Jahrhundert ganz besonders<br />

kräftige Kippbewegungen vollführt. Aber wer interessiert sich schon für das Tatsächliche? Die für ihre<br />

Sorge um die arbeitende Bevölkerung bekannte Wirtschaftspresse schilderte die Programme als<br />

Maßnahmen zur Schaffung neuer »Arbeitsplätze«. Von »Profiten« war selbstverständlich nicht die<br />

Rede. 134<br />

Natürlich bedienen sich nicht nur die Vereinigten Staaten solcher Praktiken. Die Europäische<br />

Gemeinschaft, Japan und die Schwellenländer achten ebenfalls darauf, wirtschaftliche Entwicklung<br />

auf Kosten von Marktprinzipien zu fördern. Eine Studie der OECD aus dem Jahre 1992 kommt zu<br />

dem keineswegs überraschenden Schluß, daß »oligopolistischer Wettbewerb und strategische<br />

Interaktionen zwischen Firmen und Regierungen in den hochtechnologischen Industrien sehr viel<br />

stärker das Ringen um Wettbewerbsvorteile und die internationale Arbeitsteilung bestimmen als die<br />

unsichtbare Hand von Marktkräften«. 135<br />

Allerdings ist die Methode, den Staat (also letztlich die Öffentlichkeit) für jene Infrastruktur - von<br />

Straßen <strong>bis</strong> zu Schulen - bezahlen zu lassen, die der Privatwirtschaft dann zu ihren Gewinnen verhilft,<br />

nicht ohne Tücken. Selbst das Wall Street Journal beklagt mittlerweile den von der Regierung Reagan<br />

in Gang gesetzten Verfall des staatlichen Bildungssystems: »Die öffentlichen höheren<br />

Bildungsanstalten - einer der wenigen Bereiche, in denen Amerika noch ganz vorn liegt - leiden unter<br />

der Kürzung staatlicher Gelder«, was der Geschäftswelt, die »auf einen ständigen Zustrom an<br />

Graduierten angewiesen ist«, Sorge bereitet. Indes war diese Folge der verheerenden Finanzpolitik der<br />

Regierung Reagan seit langem absehbar. 136<br />

Der Klassenkrieg bedarf eben fortwährender Feinabstimmung.<br />

61


Die reaganistische Politik hat dem Land einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen. Hätte man die<br />

Gelder für produktive Investitionen verwendet oder in Forschungsund Entwicklungsprogramme<br />

gesteckt, ließe sich das noch rechtfertigen, aber sie wurden für den Konsum von Luxusgütern, für<br />

Finanzmanipulationen und Schwindeleien verschwendet, ähnlich wie in Großbritannien unter<br />

Thatcher. Unter Reagan sanken bei Firmen, die sich mit Fusionen und Akquisitionen befaßten, die<br />

Ausgaben für Forschung und Entwicklung um fünf Prozent, während sie bei anderen um eben diesen<br />

Betrag stiegen. 137 Zugleich gingen die Reallöhne zurück, breiteten sich Hunger und Armut aus und<br />

wuchs die Dritte Welt im eigenen Land. Angesichts der Schulden dürfte selbst Clintons »moderate<br />

Zunahme der Ausgaben für infrastrukturelle Maßnahmen« auch ohne den Einspruch des Kongresses<br />

nicht machbar gewesen sein. 138<br />

Problematisch sind darüber hinaus die Auswirkungen der anti-etatistischen Propagandakampagnen der<br />

Privatwirtschaft. Antigouvernementale Gefühle nehmen zu: Im Mai 1992 befürwortete die Hälfte der<br />

Bevölkerung eine neue Partei, die Demokraten und Republikaner ersetzen könnte. Allerdings ist der<br />

damit einhergehende Haß auf »Bürokraten« und »Politiker« vor dem Hintergrund der Überzeugung<br />

von 80 Prozent der Bevölkerung zu sehen, die das Wirtschaftssystem für seinem Wesen nach unfair<br />

halten. Jedoch kommen Vorschläge zu einer faireren Gestaltung bestenfalls von jenen »Antiamerikanern«,<br />

die dem »amerikanischen Weg« kritisch gegenüberstehen und den Führern des Landes<br />

nicht mit der nötigen Ehrfurcht begegnen. 139<br />

2. Geschichtliche Lektionen<br />

Wie bereits erwähnt, konnten sich die Politstrategen der Nachkriegszeit bei der Rettung<br />

privatwirtschaftlicher Strukturen durch staatliche <strong>Mac</strong>ht auf Kosten der ökonomisch und politisch<br />

Schwachen auf eine solide historische Praxis stützen. Erfolgreiche Industriegesellschaften waren<br />

erfolgreich, weil sie selbst jene Marktdisziplin, die sie anderen auferlegten, vermissen ließen. 140<br />

Das Fundament für die britischen Auslandsinvestitionen und -verbindungen wurde, wie John Maynard<br />

Keynes einmal bemerkte, von den Piraten und Plünderern der Elisabethanischen Zeit gelegt, die heute<br />

möglicherweise als Terroristen gelten würden. Mitte des 17. Jahrhunderts wurde Englands<br />

Vorherrschaft im Mittelmeer durch militärische Überlegenheit, Handelsmonopole und staatliche<br />

Unterstützung abgesichert. Das waren die Voraussetzungen für den Aufstieg zur Handelsmacht ein<br />

Jahrhundert später. Eben diese Faktoren schufen auch eine solide Basis für die Überlegenheit im<br />

Indischen Ozean, von wo aus dann Südasien in Angriff genommen werden konnte. Durch den Einsatz<br />

staatlich geförderter <strong>Mac</strong>ht konnten die handelsmäßig weiter entwickelten, aber militärisch<br />

schwächeren Holländer aus dem Nordatlantik vertrieben werden, was englischen Kauffahrtei-<br />

Abenteurern zuvor schon mit der Hanse sowie mit italienischen und flämischen Konkurrenten<br />

gelungen war. Die Eroberung Indiens im 18. Jahrhundert erwies sich als äußerst profitabel, und das<br />

Staatswesen entwickelte sich, im Gegensatz zu den Rivalen auf dem Kontinent, zu <strong>bis</strong>lang<br />

ungekannter Wirksamkeit und Umfänglichkeit. 141<br />

In den amerikanischen Kolonien vollzog sich eine ganz ähnliche Entwicklung, die von der Piraterie<br />

der Kolonialzeit zu massiven staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft nach der Unabhängigkeit führte,<br />

um die lokale Produktion, insbesondere vor billigen britischen Importen, zu schützen. So gelang es,<br />

»die Würfel zugunsten der Unternehmer rollen zu lassen und zugleich ihre Unternehmungen und<br />

Gewinne vor demokratischer Einmischung zu bewahren«, bemerkt der Historiker Charles Seilers. 142<br />

Das Baumwollkönigreich im Süden, das schon Großbritanniens industrielle Entwicklung gefördert<br />

hatte, war sicher kein Beitrag zu den Wundern des freien Markts. Es beruhte auf Sklaverei und der<br />

massenhaften Vertreibung und Ermordung der Urbevölkerung. Die Annexion von Texas sollte das<br />

Baumwollmonopol erzwingen - damals war Baumwolle das, was heute das Erdöl ist. 143<br />

62


Großbritannien pflegte <strong>zum</strong> Wirtschaftsliberalismus ebenfalls ein taktisches Verhältnis, d. h. es<br />

befürwortete ihn, wenn es stark genug war, verwarf die reine Lehre aber sofort, wenn es sich Vorteile<br />

verschaffen wollte, wie etwa in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegen Japan. Das von<br />

London 1932 im Fernen Osten eingerichtete Präferenzsystem trug nicht unwesentlich zur Entstehung<br />

des Pazifikkriegs bei. Kolonisierte Länder wurden gewaltsam »deindustrialisiert«, mit Folgen, die sich<br />

an Irland und Indien besonders gut ablesen lassen. 144 So wurde zunächst Bengalen »destabilisiert und<br />

in Armut gestürzt«, schreibt John Keay in seiner Geschichte der Ostindischen Handelskompanie. 1757<br />

beschrieb der Eroberer, Robert Clive, die Textilstadt Dacca als »so ausgedehnt, bevölkert und reich<br />

wie London«. Schon 1840 war die Einwohnerzahl von 150 000 auf 30 000 gefallen, wie Sir Charles<br />

Trevelyan vor dem Oberhaus bezeugte. Dacca, das »Manchester Indiens«, verkam und verarmte und<br />

ist heute die Hauptstadt von Bangla Desh.<br />

Zur Zeit der Eroberung durch die Briten war Indien in seiner industriellen Entwicklung so weit<br />

fortgeschritten wie England. Aber die indische Industrie wurde durch britische Regelungen und<br />

Einmischungen zerstört. Ohne diese Maßnahmen, schrieb Horace Wilson in seiner History of British<br />

India, hätten »die Mühlen von Paisley und Manchester gar nicht erst ihr Werk beginnen können, noch<br />

nicht einmal nach Erfindung der Dampfkraft. Sie verdanken ihre Existenz der Vernichtung der<br />

indischen Baumwollfabrikanten «.<br />

Zeitgenossen beschreiben diesen Prozeß der »Unterdrückung und Monopolisierung«, mit dem die<br />

Eroberer den Reichtum Bengalens ruinierten, das Land mit Leichen übersäten und »reiche Felder, die<br />

Reis oder andere Frucht trugen, umpflügten ... um Mohn auszusäen«, wenn das Opium außergewöhnliche<br />

Gewinne abzuwerfen versprach (Adam Smith). Die »dauerhafte Besiedlung« (Permanent<br />

Settlement) von 1793 dehnte das Experiment von Bengalen auf ganz Indien aus. Die Privatisierung<br />

von Ländereien verschaffte den britischen Verwaltern und ihren lokalen Statthaltern große<br />

Reichtümer, während »fast die gesamten unteren Schichten schwerer Unterdrückung ausgesetzt sind«,<br />

wie eine britische Untersuchungskommission 1832 befand. Auch der Direktor der Ostindischen<br />

Handelskompanie gab zu, daß »das Elend in der Geschichte des Handels seinesgleichen sucht. Die<br />

Ebenen Indiens sind übersät mit den Knochen der Baumwollweber«.<br />

Die von heutigen Theoretikern entworfenen Experimente von Weltbank und Weltwährungsfonds sind<br />

also nicht ohne historische Vorbilder.<br />

Immerhin war das indische Experiment kein vollständiger Fehlschlag, denn es schuf, wie Lord<br />

Bentinck, Generalgouverneur von Indien ausführte, »eine umfangreiche Schicht von Großgrundbesitzern,<br />

die am Fortbestand des britischen Dominions interessiert waren und die Massen in Schach<br />

halten konnten«.<br />

Im 19. Jahrhundert finanzierte Indien mehr als zwei Fünftel des britischen Handelsdefizits, war ein<br />

Markt für britische Waren und stellte Truppen für weitere koloniale Eroberungen und den<br />

Opiumhandel, die Grundlage der Beziehungen zu China. Bengalen wurde <strong>zum</strong> Exportland für Indigo<br />

und Jute gemacht, die man andernorts verarbeitete; die Briten bauten dort nicht eine einzige Fabrik.<br />

Als Indien endlich nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig wurde, war es ein armes, überwiegend<br />

agrarisches Land mit hohen Sterblichkeitsraten, das sich jedoch mit den Kolonialherren zugleich der<br />

langen Stagnation entledigte und in den fünfziger und sechziger Jahren dreimal so schnell wuchs wie<br />

unter britischer Herrschaft. 145 Allerdings wuchs Indien in eine bereits von viel mächtigeren<br />

Konkurrenten beherrschte Welt hinein.<br />

In einer erhellenden Studie über das moderne Ägypten sieht Afaf Lutfi Al-Sajjid Marsot in der<br />

Geschichte ihres Landes Parallelen zu Indien. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, als<br />

Muhammad Ali mit dem Aufbau einer Baumwollindustrie begann, »hatte sich England auch gerade<br />

darauf eingestellt und die industrielle Revolution auf der Grundlage dieser einen Ware« und mit<br />

reichlich Protektionismus betrieben. Schon 1817 wies der französische Konsul darauf hin, daß »die<br />

Seidenfabriken, die in Ägypten aufgebaut werden, den italienischen und sogar unseren den Todesstoß<br />

versetzen werden«.<br />

63


Großbritannien brauchte Märkte und keine Konkurrenz, schon gar nicht von Ägypten. Und es brauchte<br />

keinen »neuen, unabhängigen Staat am Mittelmeer, der zudem noch militärisch und wirtschaftlich<br />

mächtig und in der Lage sein würde, den britischen Interessen in der Region und am Persischen Golf<br />

einiges entgegenzusetzen«, schreibt Marsot. Britanniens Außenminister Lord Palmerston gab denn<br />

auch seinem »Haß« auf den »unwissenden Barbaren« Muhammad Ali Ausdruck und hielt dessen<br />

Pläne zu einer Zivilisierung Ägyptens für »äußersten Humbug«, während er die britische Flotte und<br />

Finanzmacht in Bewegung setzte, um Ägypten den Weg zu Unabhängigkeit und wirtschaftlicher<br />

Entwicklung zu verlegen. »Die Industrialisierung schlug fehl«, bemerkt Marsot weiter, »nicht weil die<br />

Ägypter unfähig dazu gewesen wären, sondern weil europäischer Druck, der sich der ottomanischen<br />

Kontrolle über Ägypten bediente, alle potentiellen Rivalen, die der eigenen industriellen Entwicklung<br />

gefährlich werden konnten, aus dem Feld schlug.« 146<br />

Allerdings gehen mächtige Staaten mit ihrer <strong>Mac</strong>ht durchaus unterschiedlich um. Ein Symposium der<br />

Universität Stanford, bei dem sowjetische und US-amerikanische Dependenzen miteinander<br />

verglichen wurden, kam zu dem Schluß, daß »Lateinamerikaner vorwiegend von ökonomischer<br />

Ausbeutung reden«, während »die sowjetische Ausbeutung Osteuropas hauptsächlich politisch und<br />

sicherheitsorientiert ist«. Das hatte u. a. zur Folge, daß der Lebensstandard in Osteuropa höher war als<br />

in der UdSSR, was auf umfangreiche Subventionen zurückzuführen ist, die sich, US-amerikanischen<br />

Regierungsquellen zufolge, in den siebziger Jahren auf 80 Milliarden Dollar beliefen. Der sowjetische<br />

Herrschaftsbereich bildete, so Lawrence Weschler, »in historisch einzigartiger Weise ein Imperium,<br />

bei dem das Zentrum sich selbst zugunsten seiner Kolonien, oder besser, zugunsten politischer Ruhe in<br />

diesen Kolonien, verausgabte«. 147<br />

Japan schlug einen anderen Kurs ein. Seine Kolonialpolitik in Südkorea und Taiwan war brutal, schuf<br />

aber die Grundlage für eine spätere industrielle Entwicklung. Die chinesischen Nationalisten der<br />

Kuomintang, die nach ihrer Vertreibung vom Festland sich auf Taiwan niederließen, »profitierten<br />

außerordentlich von den japanischen Staatsmonopolen, die sie übernahmen«, schreibt Alice Amsden.<br />

Taiwans bemerkenswertes Nachkriegswachstum entsprach dem Wachstum unter japanischer<br />

Herrschaft, während derer sich im Agrarsektor trotz eines Bevölkerungszuwachses von 43 Prozent das<br />

Prokopfeinkommen fast verdoppelte. Amsden geht sogar davon aus, »daß es den taiwanesischen<br />

Bauern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besser ging als den japanischen«. 148<br />

In der Mandschurei sah das Bild jedoch ein bißchen anders aus. Japans gegen die Aufständischen<br />

gerichteten Operationen nahmen das Vorgehen der US-Truppen in Vietnam vorweg, und die Japaner<br />

führten sich auch sonst recht besatzungsmachtmäßig auf, was mit der üblichen, auch vom Westen gern<br />

benutzten, Rhetorik bemäntelt wurde. 149 Japans Weigerung, sich für seine Kriegsverbrechen unzweideutig<br />

zu entschuldigen, wurde in den USA hart kritisiert; dafür ist man hierzulande unter gewissen<br />

Umständen bereit, Vietnam seine Verbrechen zu vergeben; Amerika ist eben eine großzügige Nation,<br />

im Unterschied zu Japan.<br />

Allerdings machte die in Japan regierende Liberaldemokratische Partei als Reaktion auf die US-<br />

Vorwürfe eine andere Rechnung auf: Die einst von Japan beherrschten Gebiete haben sich<br />

nachträglich als ökonomische Erfolge erwiesen, während die von den USA bevormundeten<br />

Philippinen in dieser Hinsicht eine einzige Katastrophe sind. 150<br />

Natürlich kann, wie auch ein Blick auf die europäische Geschichte zeigt, die globale Eroberung<br />

unterschiedliche Formen annehmen. Es gibt Differenzen zwischen traditionellem und neuem (eher<br />

indirektem) <strong>Kolonialismus</strong>, zwischen »informellem Empire«, »Freihandelsimperialismus« und den<br />

Interventionen des Weltwährungsfonds. Aber bestimmte Muster sind über die Jahrhunderte hinweg<br />

gleichgeblieben, und auch die Opfer des gegenwärtigen neoliberalen Fundamentalismus wissen, woran<br />

sie sind.<br />

Die Analyse dieser Muster sollte nicht mit einer Version jener »Dependenztheorie« verwechselt<br />

werden, die die Unvermeidlichkeit einer »Entwicklung der Unterentwicklung« zu beweisen sucht.<br />

Historische Faktoren sind zu vielschichtig und zu variabel für eine Theorie, die universelle Geltung<br />

beanspruchen dürfte. Unter bestimmten Bedingungen hielten es die Beherrscher der Welt für<br />

64


angeraten, eine Art von »Wirtschaftsnationalismus«, verbunden mit öffentlichen Investitionen, zu<br />

fördern, auch wenn sie von ihren Grundsätzen her dagegen waren. Abgesehen davon ist auch<br />

hochkonzentrierte <strong>Mac</strong>ht nicht total und allumfassend. Was sich gleich bleibt, ist eine Reihe von<br />

Binsenweisheiten: die Befolgung der Maxime »Alles für uns und nichts für die anderen«, die<br />

Ausrichtung der Politik an den Interessen ihrer »hauptsächlichen Architekten«, Churchills Doktrin von<br />

den »reichen Nationen« sowie die Märchen über Altruismus, gute Absichten und Naivität, die von den<br />

»verantwortlichen Männern« erzählt werden, damit sie ihr Gewissen beruhigen, die Öffentlichkeit<br />

besänftigen und den Boden für das nächste »Experiment« bereiten können.<br />

3. »Die Welt regieren«<br />

Die erste Aufgabe, die die Geschäftswelt den Planungsstrategen 1945 stellte, war der Wiederaufbau<br />

der reichen, vom Krieg jedoch geschädigten Industriegesellschaften. Frühe Vorschläge, Deutschland<br />

in eine Agrarnation zu verwandeln, wurden ebenso schnell verworfen wie versprochene<br />

Reparationszahlungen für das verwüstete Osteuropa. Deutschland und Japan sollten die »großen<br />

Werkstätten« und zukünftigen industriellen Kernländer innerhalb des übergreifenden Rahmens der<br />

amerikanischen Weltmacht werden.<br />

Verschiedene miteinander verknüpfte Probleme mußten angegangen werden: Zunächst war der<br />

antifaschistische Widerstand zugunsten der traditionellen, durch ihre Verbindungen mit dem<br />

Faschismus diskreditierten <strong>Mac</strong>hthaber zurückzudrängen, sodann der Sozialismus im Osten<br />

einzudämmen, und schließlich das Gespenst einer neutralistischen, ihrem Charakter nach sozialdemokratischen<br />

dritten <strong>Mac</strong>ht zu bannen. Der schlimmste geopolitische Alptraum der US-Strategen war ein<br />

mehr oder weniger vereinigtes Europa, das sich Washingtons Kontrolle entziehen würde; die Furcht<br />

vor einer möglichen Einheit der europäischen Kontinentalstaaten hatte schon die britische Politik der<br />

vergangenen Jahrhunderte bestimmt.<br />

Vor allem aber galt es, die »Dollarlücke« zu schließen, damit die Industriemächte amerikanische<br />

Waren und Landwirtschaftsprodukte kaufen konnten. Ohne diese Märkte würde, wie Dean Acheson<br />

und andere befürchteten, die US-Wirtschaft in die Depression zurückfallen oder staatliche Eingriffe in<br />

die ökonomischen Privatsektoren hinnehmen müssen. Zudem hatten die Kriegsgewinne den<br />

Wirtschaftsbossen große Kapitalreserven verschafft, die sie vor allem in die reichen Länder des<br />

Westens investieren wollten. Schon aus diesen Gründen stand der Wiederaufbau der Industrienationen<br />

gemäß US-Interessen ganz oben auf der Tagesordnung.<br />

Zunächst wurde Ende der vierziger Jahre ein gewaltiges Hilfsprogramm (zu dem auch der Marshall-<br />

Plan gehörte) in Gang gesetzt, das jedoch nur begrenzte Ergebnisse lieferte. Erfolgreicher war der<br />

Militärkeynesianismus, der sich durch seine umfangreichen Wiederaufrüstungsbemühungen und den<br />

Koreakrieg als kräftiges Stimulans für die westeuropäische und japanische Wirtschaft erwies. Später<br />

verhalf der Vietnamkrieg Europa zu Reichtum, machte Japan zu einer führenden Industrienation und<br />

beflügelte auch die ostasiatischen Schwellenländer, verursachte jedoch für die USA Kosten, die<br />

schließlich nicht mehr als tragbar erschienen.<br />

Die traditionellen Dienstleistungsgebiete fanden innerhalb dieses Rahmens ihren natürlichen Platz.<br />

Ihre Bedeutung wurde noch größer, weil der Westen die Kontrolle über die landwirtschaftlichen<br />

Gebiete und Energiereserven Osteuropas verloren hatte. Die Strategen in Washington wiesen jeder<br />

Region ihren Status und ihre »Funktion« zu. Die Vereinigten Staaten sollten sich der westlichen<br />

Hemisphäre annehmen und die französische und britische Konkurrenz daraus verdrängen. Die<br />

Monroe-Doktrin wurde auf den Nahen Osten ausgeweitet, wo die Briten Hilfestellung leisten durften.<br />

Afrika würde für den Wiederaufbau Westeuropas »ausgebeutet« werden, während Südostasiens<br />

»hauptsächliche Funktion darin besteht, für Japan und Westeuropa als Quelle von Rohstoffen zu<br />

dienen«. So sahen es 1948/49 die Pläne von George Kennan und seinen Strategen im<br />

Außenministerium vor. Die USA würden Rohstoffe aus den ehemaligen Kolonien beziehen und<br />

65


dadurch dreiseitige Handelsbeziehungen wiederbeleben, bei denen die Industriegesellschaften Waren<br />

aus den USA beziehen und durch den Export von Rohstoffen aus ihren traditionellen Kolonialgebieten<br />

Dollar verdienen. Dadurch könnte, wurde feinsinnig argumentiert, den ehemaligen Kolonien<br />

<strong>zum</strong>indest die nominelle politische Selbstbestimmung gewährt werden, allerdings nur selten mehr als<br />

das. 151<br />

Für diese ehemaligen Kolonien planten die globalen Strategien die Unterdrückung<br />

»ultranationalistischer« Tendenzen. Die amerikanischen Interessen galten als durch »radikale und<br />

nationalistische Regimes« bedroht, die den Forderungen der Bevölkerung nach »sofortiger<br />

Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen« und einer Wirtschaftsentwicklung zugunsten<br />

einheimischer Bedürfnisse Tribut zollten. Solche Tendenzen stehen natürlich im Widerspruch zur<br />

notwendigen Herstellung »eines politischen und wirtschaftlichen Klimas, das private Investitionen<br />

begünstigt«, die »angemessene Rückführung von Gewinnen« (NSC 5432/1, 1954) und den »Schutz<br />

unserer Rohstoffe« gewährleistet. So argumentierte damals George Kennan, der 1948 in einem<br />

Geheimbericht an die Regierung davor warnte, ȟber vage ... und irreale Zielsetzungen wie<br />

Menschenrechte, Verbesserung der Lebensbedingungen und Demokratisierung« zu reden. Statt dessen<br />

empfahl er eine strikte <strong>Mac</strong>htpolitik, die sich »von idealistischen Slogans ... über Altruismus und<br />

Weltverbesserung« nicht beeindrucken läßt. Immerhin müssen wir die »Position der Disparität«, den<br />

Unterschied zwischen unserem Reichtum und der Armut der anderen, aufrecht-erhalten.<br />

Ergebnis dieser und ähnlicher Überlegungen war die antidemokratische Stoßrichtung der US-Politik in<br />

der Dritten Welt, wozu auch die terroristische Vernichtung »linker«, d. h. bevölkerungsorientierter<br />

Bewegungen gehörte.<br />

Diese Politik wurde ganz unabhängig von den Strategien, die der Kalte Krieg hervorrief, betrieben und<br />

dürfte auch weiterhin fortbestehen.<br />

Der »unabhängige Nationalismus« wird um so mehr zur Bedrohung für die »nationale Sicherheit« der<br />

Vereinigten Staaten, je mehr die »Stabilität« durch die von den Strategen befürchteten positiven<br />

Auswirkungen unabhängiger Entwicklung in Gefahr gerät. Auch hier sprechen Geheimdokumente<br />

eine eindeutige Sprache. 1954 wies das Außenministerium darauf hin, daß Guatemala sich »zu einer<br />

ernsthaften Bedrohung für die Stabilität von Honduras und El Salvador entwickelt hat. Seine<br />

Agrarreform ist eine wirksame Propagandawaffe; sein umfassendes Sozialprogramm für die Arbeiter<br />

und Bauern, das <strong>zum</strong> Sieg über die Oberschichten und ausländischen Unternehmen beitragen soll,<br />

besitzt große Anziehungskraft für die Bevölkerung der mittelamerikanischen Nachbarn, wo ähnliche<br />

Bedingungen herrschen.« Will man die »Stabilität« bewahren, muß man die »Oberschichten und<br />

ausländischen Unternehmen« schützen, d. h., das »nationale Interesse« berücksichtigen. Das tat<br />

Washington und machte mit dem demokratischen Experiment in Guatemala kurzen Prozeß.<br />

Auf diese Weise war der Konflikt zwischen der amerikanischen Außenpolitik und<br />

Unabhängigkeitsbestrebungen in der Dritten Welt vorprogrammiert. Ebenso absehbar war, daß die<br />

USA im Konfliktfall zu militärischen Gewaltmaßnahmen und ökonomischer Kriegsführung bereit sein<br />

würden.<br />

Besonders deutlich zeigten sich diese Verwerfungslinien in Lateinamerika, wo es den USA schon<br />

gleich nach dem Krieg gelang, ihre seit langem bestehenden Ziele durchzusetzen, nämlich die<br />

Konkurrenten auszubooten und die Monroe-Doktrin auszuweiten. Robert Lansings diesbezügliche<br />

Argumente fand schon Präsident Wilson »unwiderlegbar«, hielt es aber nicht für »politisch opportun«,<br />

sie an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Lansing meinte, die USA würden in Lateinamerika ihre<br />

eigenen Interessen verfolgen, wobei die Integrität anderer Nationen kein Zweck an sich sein dürfe.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Lateinamerika, so der Historiker Stephen Rabe, die Funktion,<br />

»seine Rohstoffe zu verkaufen« und überschüssiges US-Kapital aufzusaugen. 152<br />

Die Bewohner Lateinamerikas hatten andere Vorstellungen. Sie wollten ihre Wirtschaft entwickeln,<br />

um den Reichtum gerechter verteilen und den Lebensstandard der Massen erhöhen zu können. Das<br />

entsprach natürlich nicht den Plänen Washingtons. In einer Konferenz vom Februar 1945 legten die<br />

66


USA ihre »Wirtschaftscharta für die Amerikas« vor, in der sie ein Ende des Wirtschaftsnationalismus<br />

»in all seinen Formen« forderten. Die Nutznießer der Ressourcen eines Landes müßten die US-<br />

Investoren und ihre Verbündeten vor Ort sein, nicht aber »die jeweilige Bevölkerung«.<br />

Angesichts der <strong>Mac</strong>htverhältnisse konnte Washingtons Position sich durchsetzen. Die Folge ist, daß in<br />

Lateinamerika »die Einkommensverhältnisse so ungleich verteilt sind wie sonst nirgendwo auf der<br />

Welt«, berichtete die Weltbank im September 1993 und sagte »Chaos« vorher, falls die Regierungen<br />

nicht »aggressive Maßnahmen gegen die Armut« ergriffen. 153<br />

Schon die Regierungen Truman und Eisenhower richteten sich gegen eine »exzessive industrielle<br />

Entwicklung« in Lateinamerika, die den US-Wirtschaftsinteressen zuwiderlaufen würde. Die Länder<br />

des Südens sollten die Wirtschaft des Nordens ergänzen und nicht etwa mit ihr konkurrieren. Das galt<br />

natürlich auch für andere Weltregionen, wo jedoch die Interessen der Industrienationen berücksichtigt<br />

werden mußten, weshalb die USA »aus eigenem Interesse die Verantwortung für das Wohlergehen des<br />

kapitalistischen Systems übernahmen«, bemerkt der Historiker Gerald Haines.<br />

Für Asien sah eine Studie des Nationalen Sicherheitsrats aus dem Jahre 1949 eine Politik<br />

»gegenseitigen Austauschs zu beiderseitigem Vorteil« vor. Die Aussichten für eine unabhängige<br />

industrielle Entwicklung hielt man für gering: »Keines [dieser Länder] besitzt ausreichende Rohstoffe<br />

für eine allgemeine Industrialisierung«, befand die Studie, obwohl Indien, China und Japan »sich<br />

seiner solchen Entwicklung annähern könnten«. Allerdings galten gerade Japans Aussichten für<br />

ziemlich begrenzt; das Land könne, meinten US-Experten 1950, bestenfalls Nippsachen für die<br />

unterentwickelten Staaten herstellen. Dahinter steckte natürlich einiger Rassismus, ganz unrealistisch<br />

war die Annahme jedoch nicht, denn erst nach dem Koreakrieg kam Japans stagnierende Wirtschaft in<br />

Schwung.<br />

Die wirtschaftlichen Hilfsprogramme folgten denselben Prioritäten. Der Marshall-Plan entsprach den<br />

bereits erwähnten strategischen Imperativen. Westeuropa konnte wirtschaftlich davon profitieren,<br />

mußte dafür aber die Arbeiterorganisationen in Schach halten und durfte weltpolitisch nur die zweite<br />

Geige spielen. Mehr als zehn Prozent der Gelder des Marshall-Plans wurden für Ölimporte verwendet,<br />

was dem Zweck diente, die westeuropäische Wirtschaft stärker auf diesen Rohstoff zu gründen, um<br />

die als politisch unzuverlässig geltenden Gewerkschaften der Kohlearbeiter zu schwächen und den<br />

USA, die die Erdölreserven kontrollierten, stärkere Einflußmöglichkeiten zu verschaffen. Von den<br />

<strong>zum</strong> Wiederaufbau Europas vergebenen Krediten der Weltbank profitierten US-Konzerne. Zwischen<br />

1946 und 1953 dienten 77 Prozent dieser Kredite dem Kauf amerikanischer Waren und<br />

Dienstleistungen; die Finanzpolitik »war darauf bedacht, direkt oder indirekt private Investitionen und<br />

Unternehmen zu fördern«. 154 Die amerikanischen Steuerzahler finanzierten diese Leistungen, während<br />

die Konzerne auf doppelte Weise Gewinn machten, nämlich durch Exporte sowie durch verbesserte<br />

Investitionsbedingungen.<br />

Wie der Marshall-Plan wird auch das Programm »Lebensmittel für Frieden« (Food for Peace, PL 480)<br />

gerne als »eine der größten humanitären Taten, die jemals von einer Nation für die Bedürftigen<br />

anderer Nationen vollführt wurden« beschrieben. Trotz dieser hehren Worte Ronald Reagans sah die<br />

Wirklichkeit anders aus: Das Programm war eine öffentliche Subventionierung der USamerikanischen<br />

Landwirtschaft und diente darüber hinaus der Durchsetzung politischer Ziele, indem<br />

die Bevölkerungen der betreffenden Länder von diesen Lebensmittellieferungen abhängig gemacht<br />

werden sollten, wie Senator Hubert Humphrey in schöner Offenheit betonte. Humphrey war eine der<br />

führenden Persönlichkeiten des amerikanischen Liberalismus und vertrat im Senat die Interessen<br />

seiner Wähler, überwiegend Farmer aus Massachussetts. Und noch andere Zwecke erfüllte das<br />

Programm: Indem es die einheimische Landwirtschaft und deren Produktion für den Binnenmarkt<br />

untergrub, zwang es die Länder der Dritten Welt <strong>zum</strong> Agrarexport, wovon die transnationalen US-<br />

Lebensmittelkonzerne ebenso profitierten wie die Hersteller von Düngemitteln und Chemikalien;<br />

ferner trug es zur Finanzierung von Antiguerilla-Operationen bei, indem in einheimischer Währung<br />

angelegte Ausgleichsfonds (»counterpart funds«) für Militär- und Aufrüstungsausgaben verwendet<br />

wurden; dadurch konnte im Endeffekt »ein globales militärisches Netzwerk kapitalistischer<br />

67


Regierungen im Westen und in der Dritten Welt abgestützt werden« (William Borden). Das hatte für<br />

die Landwirtschaft der betroffenen Staaten oftmals verheerende Auswirkungen. 155<br />

Die konterrevolutionären Ziele dieser Hilfsprogramme wurden 1958 in einem vertraulichen Bericht<br />

des Außenministeriums mit dem Titel »Die Mäßigung der afrikanischasiatischen Revolution«<br />

beschrieben: »Wir wollen den Wandel in den weniger entwickelten Gebieten nicht verhindern, können<br />

aber auch nicht zulassen, daß er Afrika und Asien in die Arme ungezügelter revolutionärer<br />

Begeisterung und nationalen Ehrgeizes treibt. Wir wollen neuen Regierungen helfen, ihre vernünftigen<br />

Ziele zu verwirklichen«, wobei natürlich wir bestimmen, was »vernünftig« ist. Sorge bereitete in<br />

diesem Fall der »Wirtschaftsnationalismus«, der sich z. T. am chinesischen Modell orientierte.<br />

Kennedys »Bündnis für den Fortschritt« war von ähnlichen Motiven bestimmt und richtete sich gegen<br />

Castros Kuba. 156<br />

Alles das konnte im Rahmen der Politik des Kalten Kriegs propagandistisch abgefedert werden:<br />

»Nationale Sicherheit« hieß, daß kein Gegner eine, und sei es noch so schwache, Bedrohung darstellen<br />

und kein Land sich »unabhängig entwickeln« durfte, weil es dann schon mit einem Bein im Lager des<br />

Feindes stand. Mit diesen Prinzipien konnten die ideologischen Manager alle Verstöße gegen die reine<br />

Lehre von Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft mit den unglückseligen Notwendigkeiten des<br />

Kalten Kriegs rechtfertigen. Heute müssen dafür neue Teufel herhalten, wie etwa »Schurkenstaaten«<br />

oder der »islamische Fundamentalismus «.<br />

So bildete der Neoliberalismus das Modell für die Dritte Welt, aber nicht ausnahmslos. Als die<br />

Strategen in Washington befürchteten, daß sich asiatische Staaten am chinesischen Modell ausrichten<br />

könnten, halfen sie Taiwan und Südkorea beim Aufbau eines staatlich koordinierten<br />

Industrialisierungspro-gramms 157 , und auch Indien wurde in den späten fünfziger Jahren als Gegengewicht<br />

zu China interessant.<br />

Nach der Befreiung von britischer Herrschaft wollte Indien wieder Anschluß an die moderne Welt<br />

finden und die einstmals blockierte industrielle Entwicklung vorantreiben. Während der<br />

Regierungszeit Eisenhowers und kurz danach boten die USA Indien Hilfe an, verhielten sich dabei<br />

aber sehr zurückhaltend, weil sie die neutrale Haltung und die staatliche Industriepolitik des Landes<br />

mit Mißtrauen betrachteten. 1950 erkannte die Regierung Truman zwar, daß Indien eine<br />

Hungerkatastrophe drohte, der, so nahm man an, zehn <strong>bis</strong> dreizehn Millionen Menschen <strong>zum</strong> Opfer<br />

fallen könnten; dennoch sahen die USA keinen Anlaß, überschüssigen Weizen, den die Regierung zur<br />

Subventionierung der Agrarwirtschaft aufgekauft hatte, an Indien zu liefern. Trotzdem sprachen sich<br />

einige Politiker dafür aus, um die Gefahr »kommunistischer Subversion« und die <strong>Mac</strong>htübernahme<br />

durch eine Regierung abzuwenden, die »aus unserer Sicht entschieden schlimmer wäre« als der in<br />

Washington ungeliebte Nehru (George McGhee). Nach dem Ausbruch des Koreakriegs bot Dean<br />

Acheson Indien Hilfe an, sofern es sich dem Kreuzzug gegen den Kommunismus anzuschließen bereit<br />

sei. Fünf Monate nach dem Hilfeersuchen der indischen Regierung erhielt sie einen Kredit, der in<br />

Form von strategisch wichtigen Materialien zurückgezahlt werden mußte.<br />

»Es gibt«, kommentiert Dennis Merrill diese Vorgänge, »keine verläßlichen Statistiken darüber,<br />

wieviele zusätzliche Hungeropfer es während dieser Periode gab ... Als 1950 und 1951 Millionen<br />

Inder um ihr Überleben kämpften, versuchte die amerikanische Politik den Hunger zu ihrem Vorteil zu<br />

nutzen.«<br />

Daran änderte sich auch später nichts. Hilfe wurde von Eisenhower gewährt, weil das, »was in Indien<br />

geschieht, enormen Einfluß auf die Entscheidungen haben wird, die von anderen Ländern in Asien,<br />

Nahost, Afrika und sogar Amerika gefällt werden«, meinte Eisenhowers Vize Richard Nixon.<br />

Business Week sah in Indien den »hauptsächlichen Testfall für eine vom Westen geförderte<br />

Entwicklungspolitik«. John F. Kennedy, damals noch Senator, wollte Indien helfen, den Wettlauf mit<br />

China zu gewinnen, dessen »planwirtschaftliche Bestrebungen überall auf der Welt mit großem<br />

Interesse verfolgt werden«. Wir können nicht »umgeben von einem Meer von Feinden« leben, meinte<br />

Eisenhower. Um »unsere Interessen und unser System« zu schützen, müssen wir den »großen<br />

Hunger« der Dritten Welt nach verbesserten Lebensbedingungen begreifen, auch wenn die dortige<br />

68


Entwicklungspolitik von dem Modell des »freien Unternehmertums«, das wir sonst anderen<br />

aufzwingen, etwas abweicht. Im Januar 1963 argumentierte Kennedy, jetzt Präsident, ganz ähnlich, als<br />

er den Kongreß ermahnte, »sehr sorgfältig« die Folgen zu bedenken, die uns drohen, wenn Länder<br />

»kommunistisch werden, nur weil wir ihnen ein gewisses Maß an Hilfe verweigerten«. Wir müssen<br />

»darauf achten, daß Entwicklungshilfe unseren Interessen am besten nützt«. 158<br />

Der beste Weg dazu sind indirekte Subventionen der öffentlichen Hand für US-Konzerne, was in den<br />

Vorstandsetagen nicht unbekannt ist. Im Fall Indiens beschrieben Vertreter des »Wirtschaftsrats für<br />

internationale Verständigung« - Orwell läßt grüßen - im Februar 1966 vor dem US-Kongreß ihre<br />

Schwierigkeiten und Erfolge. Indien würde »wahrscheinlich lieber Techniker und Know-how<br />

importieren statt ausländische Konzerne«, bemerkten sie, da das aber nicht möglich sei, »akzeptiert<br />

Indien ausländisches Kapital als notwendiges Übel«.<br />

Als Beispiel für den Gesinnungswandel führten sie Verhandlungen zur Verdoppelung von<br />

Düngemittellieferungen an, die »in Indien dringend benötigt werden«. Diese Düngemittel sollten<br />

Eigentum der Lieferfirmen bleiben, was Indien gar nicht gefiel, weil, so der Einwand, »die<br />

amerikanische Regierung und die Weltbank offensichtlich bestrebt sind, sich das Recht<br />

herauszunehmen, den Rahmen, innerhalb dessen unsere Wirtschaft funktioniert, festzulegen«. Aber<br />

der Widerstand fruchtete nichts, und Indien mußte nachgeben, weil USA und Weltbank »den bei<br />

weitem größten Teil des Devisenhandels kontrollierten, den Indien zur Entwicklung seiner Wirtschaft<br />

und Industrie brauchte«. Die amerikanischen Firmen, die Indien auf Druck der USA ins Land lassen<br />

mußte, bestanden darauf, ihre eigenen Maschinen mitzuliefern, obwohl Indien selbst über<br />

entsprechende Gerätschaften verfügte. Ebenso mußte es Flüssigammoniak importieren, obwohl der<br />

einheimische Rohstoff Naphtha entwicklungsfähig war und zur Unabhängigkeit beigetragen hätte.<br />

Aber die New York Times war von dem Handel begeistert und sah Indien auf dem Weg »vom<br />

Sozialismus <strong>zum</strong> Pragmatismus«. 159<br />

In den achtziger Jahren unterwarf sich Indien dem Regiment des Weltwährungsfonds und geriet<br />

ebenfalls in den weltweiten Strudel des Katastrophen-Kapitalismus. Die Auswirkungen schilderte<br />

Michel Chossudovsky, Spezialist für Entwicklungspolitik an der Universität von Ottawa, im<br />

führenden indischen Wirtschaftsjournal: »Unter der britischen Kolonialherrschaft hatte die indische<br />

Regierung ein faires Maß an Autonomie, während unter der Vormundschaft von Weltwährungsfonds<br />

und Weltbank der Finanzminister unter Umgehung des Parlaments direkt [am Hauptsitz der Weltbank]<br />

in Washington Bericht erstattet. Die Budgetvorschläge der indischen Regierung sind nichts als<br />

Wiedergaben von mit der Weltbank geschlossenen Übereinkommen. In Schlüsseldokumenten der<br />

Regierung, die direkt aus Washingtoner Büros stammen, finden sich zunehmend amerikanische<br />

stilistische Eigenarten und Schreibweisen. Wichtige Ministerien beschäftigen ehemalige Angestellte<br />

von IWF und Weltbank, die mittlerweile eine Art »Parallelregierung« bilden. Diese kann, ohne sich<br />

von demokratischen Verfahrensweisen hindern zu lassen, die »Armen in Stadt und Land« noch weiter<br />

niederdrücken und zur Bereicherung der Reichen beitragen. Die Landbevölkerung leidet hunger,<br />

während der Export von Lebensmitteln boomt. Bauern werden in den Ruin getrieben, und die<br />

Reallöhne der Arbeiter fallen. Selbst in prosperierenden ländlichen Gebieten sind Hungertode keine<br />

Seltenheit mehr. Die erzwungenen »strukturellen Anpassungsprogramme« führen zur Kürzung von<br />

Sozialhaushalten und treffen, wie indische Ökonomen feststellen, »die Kinder der Armen in der<br />

indischen Gesellschaft besonders hart«.<br />

Aber es gibt auch Nutznießer: die indischen Eliten, ausländische Investoren und Konsumenten. Ein<br />

besonders eindrucksvolles Beispiel ist die Diamantenindustrie. Sieben von zehn im Westen verkauften<br />

Diamanten werden in Indien geschnitten, zu Niedrigstlöhnen. »Erzielte Preisvorteile reichen wir an<br />

unsere Kunden in Übersee weiter«, bemerkt einer der führenden Diamantenexporteure. Dank der<br />

Wunder des Markts kann Diamantschmuck in den New Yorker Boutiquen billiger angeboten<br />

werden. 160<br />

Daß die Entwicklungshilfe im wesentlichen den Geberländern nützt, wurde noch deutlicher, als der<br />

Westen nach dem Ende des Kalten Kriegs die globale Vorherrschaft antrat. 1991 waren drei Viertel<br />

der britischen Entwicklungshilfe an britische Waren und Dienstleistungen gebunden. Der Economist<br />

69


hält es für eine Binsenweisheit, daß »Entwicklungshilfe nicht geleistet wird, um der Armut<br />

abzuhelfen, sondern dem Eigeninteresse des Gebers dient, der so nützliche Freunde gewinnt,<br />

strategische Ziele verfolgt oder die Exporte des Geberlands fördert«. Diese »Nachlässigkeit« führt zu<br />

den »bizarren« Ergebnis, daß »die reichsten 40 Prozent der Bevölkerung von Entwicklungsländern pro<br />

Kopf zweimal so viel Hilfsleistungen bekommen wie die ärmsten 40 Prozent«. Überdies fließt die<br />

Entwicklungshilfe meist in Länder, »die davon Kanonen und Soldaten bezahlen, statt in das<br />

Gesundheits- und Bildungswesen zu investieren«. Etwa »die Hälfte der Entwicklungshilfe ist immer<br />

noch an den Kauf von Waren und Dienstleistungen des Geberlands gebunden«, was die<br />

»Entwicklungsländer 15 <strong>bis</strong> 20 Prozent der Hilfe kostet, weil sie höhere Importpreise bezahlen.« Das<br />

ist, so der Economist, »verrückt«, nicht jedoch, wenn man das Eigeninteresse der Geber in Rechnung<br />

stellt. 161<br />

Ausnahmen dürften kaum zu finden sein. Schließlich sind Staaten, wie Kennan und andere sehr wohl<br />

wußten, keine moralisch handelnden Personen, was die Ideologen nicht davon abhält, von<br />

»Altruismus« und »Großzügigkeit« zu schwärmen oder gar die Wiedereinführung der kolonialen<br />

Gutwilligkeit zu fordern, damit die »zivilisierte Welt« sich auf ihre Mission besinnt und »die Orte der<br />

Verzweiflung aufsucht«, um sich abermals der zurückgebliebenen Völker anzunehmen, die sie einst<br />

mit ihrer Fürsorge bedachte, dann aber unter dem Einfluß »liberaler« und »moralisch defensiver«<br />

Vorstellungen ihrem grausamen Schicksal überließ. 162 Wir warten noch auf den Ruf nach<br />

Wiedereinführung der Sklaverei.<br />

4. Bilanzierung<br />

Für Churchills reiche und satte Nationen, deren Vorherrschaft legitim ist, konnten die Ergebnisse der<br />

Nachkriegspolitik kaum besser ausfallen. US-Investoren profitierten über alle Maßen vom Wachstum<br />

der einheimischen Wirtschaft und der rapiden Ausweitung ihrer überseeischen Geschäfte. Der<br />

Marshall-Plan »sorgte für umfangreiche Direktinvestitionen der US-Privatwirtschaft in Europa«,<br />

befand Reagans Handelsministerium 1984, und schuf auch die Grundlagen für die transnationalen<br />

Konzerne, die zunehmend die Weltwirtschaft beherrschen. Sie waren der »ökonomische Ausdruck«<br />

des von den Nachkriegsstrategen geschaffenen »politischen Rahmens«, bemerkte Business Week 1975<br />

und beklagte den augenscheinlichen Niedergang des goldenen Zeitalters staatlicher Intervention, als<br />

die US-Geschäftswelt durch den »Schirm der amerikanischen <strong>Mac</strong>ht« vor »negativen Entwicklungen«<br />

geschützt wurde. Allerdings könnte die Rede von der »fehlerhaften« Stärkung möglicher<br />

Konkurrenten oder die Klage über undankbare Staaten, die es versäumen, das ihnen Erwiesene<br />

dankbar zurückzuzahlen, nur dann ernstgenommen werden, wenn angegeben würde, was die<br />

Nachkriegsstrategen hätten besser machen können. 163<br />

Die traditionellen Opfer<br />

Die Dritte Welt hat, kaum erstaunlich, von dieser Politik nicht profitiert. Einem UN-Bericht des<br />

Human Development Program zufolge hat sich die Lücke zwischen den reichen und den armen<br />

Nationen in den zwei Jahrzehnten seit 1960 verdoppelt, was vor allem mit der Strategie der reichen<br />

Länder zusammenhängt, Prinzipien des »freien Markts« über die strukturellen Anpassungsprogramme<br />

von Weltbank und IWF den armen Ländern aufzubürden, die eigenen Konzerne aber vor den<br />

Unwägbarkeiten des Markts zu schützen.<br />

Die Weltbank berichtet, daß protektionistische Maßnahmen der Industrienationen das<br />

Nationaleinkommen der armen Länder um das Zweifache dessen reduzieren, was die offizielle<br />

Entwicklungshilfe beträgt. Diese wiederum dient strategischen Zwecken und ist darüber hinaus wenig<br />

mehr als Exportförderung, weshalb sie <strong>zum</strong>eist den reicheren Bevölkerungsschichten der<br />

Entwicklungsländer zugutekommt. In den achtziger Jahren verstärkten 20 von 24 OECD-Staaten ihre<br />

protektionistischen Maßnahmen, allen voran die USA unter Reagan. In Lateinamerika fielen die realen<br />

Minimallöhne unter dem Einfluß neoliberaler Strukturanpassungsprogramme zwischen 1985 und 1992<br />

70


ins Bodenlose, während die Anzahl der Armen zwischen 1986 und 1990 um fast 50 Prozent stieg. Das<br />

war nun wirklich ein »Wirtschaftswunder«, weil das reale Bruttoinlandsprodukt (parallel zu den<br />

Auslandsschulden) stieg, während die Reichen und die ausländischen Investoren sich bereicherten.<br />

Die Untersuchung einer deutschen Presseagentur ergab, daß die Auslandsschulden von 17<br />

lateinamerikanischen Staaten von Dezember 1991 <strong>bis</strong> Juni 1993 um mehr als 45 Milliarden Dollar auf<br />

insgesamt 463 Milliarden anstiegen - all dies in einer mit viel Lob bedachten Erholungsphase mit<br />

glänzenden Aussichten, allerdings nur für wenige.<br />

Die von der Weltbank erhobenen Daten für jene 76 Länder der Dritten Welt und Osteuropas, die in<br />

den achtziger Jahren von strukturellen Anpassungsmaßnahmen betroffen waren, zeigen, wie Rehman<br />

Sobhan darlegt, daß die große Mehrheit bei wichtigen Entwicklungsindikatoren - Wachstum der fixen<br />

Investitionen und der Exporte sowie der Wirtschaft allgemein - einen signifikanten Rückgang aufwies,<br />

und das im Unterschied »zu den schlechten alten Zeiten der sechziger und siebziger Jahre, als<br />

staatliche Kontrollen und Marktverzerrungen die wirtschaftliche Entwicklung zu behindern schienen«.<br />

Selbst die Inflationsbekämpfung, der die internationalen Wirtschaftsbürokraten ihre besondere<br />

Aufmerksamkeit gewidmet hatten, zeitigte keine eindeutigen Resultate. Die wenigen »Erfolge« sind<br />

eher auf Entwicklungshilfe oder den Export von Grundstoffen zurückzuführen; Chile, das am<br />

häufigsten angeführte Beispiel, erzielt mehr als 30 Prozent der Exportgewinne mit Kupfer, das übrige<br />

mit Agrarprodukten, und ist so den Handelsschwankungen des internationalen Markts besonders<br />

ausgeliefert. Die Philippinen, in denen der Einfluß der USA stärker ist als in anderen asiatischen<br />

Ländern, waren den Anpassungsprogrammen am nachdrücklichsten ausgesetzt und verfielen in eine<br />

hartnäckige Rezession.<br />

Zudem sind, wie viele Ökonomen meinen, die längerfristigen Kosten der Privatisierung, bei der<br />

oftmals rentable und gesellschaftlich wichtige Unternehmen für kurzfristigen Gewinn verkauft<br />

werden, erst in der Zukunft spürbar. Jedenfalls ist die <strong>bis</strong>herige Bilanz des Wirtschaftsmanagements,<br />

das von den USA, einigen anderen reichen Ländern und den internationalen Finanzinstitutionen, »die<br />

ihre Fahne in den aus Washington wehenden Wind hängen«, durchgesetzt werden konnte, keineswegs<br />

erfreulich, schließt Sobhan.<br />

Der Rohstofftransfer von den Ländern des Südens in die des Nordens belief sich, schätzt Susan<br />

George, zwischen 1982 und 1990 auf 418 Milliarden Dollar; im selben Zeitraum nahm die<br />

Schuldenlast um 61 Prozent zu, für die ärmsten Länder sogar um 110 Prozent. Die Handelsbanken<br />

schützen sich, indem sie faule Schulden auf den öffentlichen Sektor verlagern, so daß die Armen einen<br />

übermäßigen Anteil der den Schuldner- wie den Geberländern entstehenden Kosten tragen. 1991<br />

zahlten die Schuldnerländer 24 Milliarden Dollar mehr an Zinsen, als sie an neuen Krediten und<br />

Hilfsleistungen insgesamt erhielten. Selbst IWF und Weltbank »sind jetzt Nettoempfänger von<br />

Rohstoffen aus den Entwicklungsländern«, bemerkt die South Commission.<br />

Zu den Entwicklungsländern, die die Reichen finanzieren, gehören auch die Staaten in Mittelafrika,<br />

wo Hunger und Elend herrschen, was nicht zuletzt durch die vielbewunderte US-Politik des<br />

»konstruktiven Engagements« verursacht wurde, die es Südafrika gestattete, in den Nachbarstaaten<br />

eineinhalb Millionen Menschen zu töten und Zerstörungen in Höhe von 60 Milliarden Dollar<br />

anzurichten, während Namibia auf illegale Weise besetzt gehalten wurde. Dazu kommt noch, laut<br />

UNICEF, die halbe Million Kinder, die jedes Jahr sterben, weil die reichen Länder auf der<br />

Schuldenrückzahlung bestehen, sowie die elf Millionen Kinder, die jedes Jahr unnötigerweise an<br />

Krankheiten sterben. Das ist, wie der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO),<br />

Hiroshi Nakajima, bemerkt, ein »stillschweigender Völkermord« und eine »völlig überflüssige<br />

Tragödie, weil die entwickelte Welt über Arzneimittel und Technologien verfügt, mit denen<br />

gewöhnliche Krankheiten weltweit besiegt werden könnten ... Aber es fehlt der Wille, den<br />

Entwicklungsländern zu helfen«. 164<br />

Betriebe irgendein offizieller Feind diese Politik, würden wir sie als Völkermord bezeichnen.<br />

Ganz besonders haben die Kinder darunter zu leiden, deren Wohlergehen »symptomatisch ist für den<br />

Zustand einer Gesellschaft«, bemerken zwei indische Ökonomen, die in ihrer Rezension einer<br />

71


UNICEF-Untersuchung von 1992 schreiben: »Hervorzuheben ist, daß die Strukturanpassungsprogramme<br />

der achtziger Jahre und die lange Rezession, die ihnen folgte, für Kinder besonders<br />

schlimme Folgen zeitigten.« Die Kindersterblichkeit stieg drastisch an, ebenso Kinderarbeit und -<br />

prostitution, während Bildungsmaßnahmen gekürzt wurden. Eine Ausnahme war Chile, wo selbst<br />

unter der Diktatur Pinochets und der »Chicago Boys« die Öffentlichkeit noch stark genug war, allzu<br />

große Exzesse in puncto »freier Marktwirtschaft« zu verhindern. 165<br />

In Lateinamerika war Kuba das einzige Land, dessen Kindersterblichkeitsrate auch in den achtziger<br />

Jahren kontinuierlich sank. Das dürfte sich durch das Embargo mittlerweile geändert haben, derweil<br />

westliche Moralisten diesen erneuten Triumph ihrer Ideale bejubeln. Ein zweites Beispiel war<br />

Nicaragua, das jetzt, wie der erfahrene Lateinamerika-Korrespondent Hugh O'Shaughnessy berichtet,<br />

»neben Haiti zu den ärmsten Ländern der westlichen Hemisphäre gehört« - auch dies ein Triumph der<br />

amerikanischen Außenpolitik. Die Kindersterblichkeit, die unter den Sandinisten rapide gesunken war,<br />

gehört nun »zu den höchsten auf dem Kontinent, während, UN-Berichten zufolge, ein Viertel aller<br />

Kinder an Unterernährung leidet«. Krankheiten, die durch die Gesundheitsreformen eingedämmt<br />

werden konnten, sind wieder weit verbreitet. Der Finanzminister der neuen Regierung »rühmt die<br />

niedrigste Inflationsrate der westlichen Hemisphäre, wobei es ihn nicht kümmert, daß vier Millionen<br />

Menschen hungern«. Die »Gesundheits-, Ernährungs-, Bildungs- und Agrarprogramme [der<br />

Sandinisten] sind auf Druck des IWF und Washingtons zugunsten von Privatisierungsmaßnahmen und<br />

der Kürzung öffentlicher Mittel gekippt worden«. 166 Diese Maßnahmen haben weitere negative<br />

Auswirkungen auf Nicaraguas Wirtschaft oder was davon noch übrig ist. »Die Privatbanken und die<br />

mit ihnen verbundenen Großkonzerne genießen en Schutz des staatlichen Bankensystems und nutzen<br />

die hohen Zinsraten zu spekulativen Aktivitäten«, bemerkt eine Gruppe nicaraguanischer Ökonomen<br />

und schätzt, daß allein 1992 an die 50 Millionen Dollar das Land verlassen haben. »Während die<br />

Liquidität der Wirtschaft, gemessen in Geld, um 14 Prozent gefallen ist, hat sich das Vermögen der<br />

Privatbanken in der ersten Hälfte des Jahres 1993 um 28 Prozent vermehrt und damit zur Knappheit an<br />

zirkulierendem Geld geführt, worunter die Bevölkerung augenblicklich leidet.« Derweil fordert der<br />

US-Senat, der lange Zeit einen mörderischen Terrorkrieg gegen Nicaragua unterstützte, von der neuen<br />

Regierung Beweise, daß das Land nicht in den internationalen Terrorismus verstrickt ist, und macht<br />

geringfügige Hilfsleistungen von einer negativen Antwort abhängig. Zudem soll es dem FBI gestattet<br />

sein, entsprechende Untersuchungen vorzunehmen.<br />

Trotz dieser Siege ist Washington noch nicht zufrieden. Die Bevölkerung Nicaraguas muß für die an<br />

uns begangenen Verbrechen büßen. Im Oktober 1993 stellten IWF und Weltbank neue Forderungen.<br />

Nicaragua wird nicht, wie viele andere Länder, von seinen Schulden entlastet. Es muß Kredite der<br />

staatlichen Industrie- und Handelsbank bedienen und staatliche Unternehmen und Dienstleistungen -<br />

Post, Energie, Wasser - privatisieren. Wer nicht zahlen kann, muß Durst leiden. Die Arbeitslosigkeit<br />

liegt bei über 60 Prozent. Sozialausgaben der öffentlichen Hand müssen um 60 Millionen Dollar<br />

gekürzt werden - angesichts der von den Privatbanken im vorherigen Jahr außer Landes gebrachten<br />

Gelder eine symbolisch anmutende Summe.<br />

Die Privatisierung sorgt dafür, daß die Banken gesunden wirtschaftlichen Prinzipien folgen, mithin<br />

lieber an der New Yorker Börse agieren, statt armen Bauern Kredite zu gewähren und so die<br />

Ressourcen sinnvoll einzusetzen. Weil aber keine Kredite vergeben wurden, fiel 1993 die Bohnenernte<br />

trotz günstiger klimatischer Bedingungen aus, was für die Bevölkerung eine Katastrophe war. Das<br />

gleiche Bild ergab sich für die hauptsächlichen Baumwollanbaugebiete, obwohl die potentesten<br />

Produzenten wie z. B. der Landwirtschaftsminister und der Präsident des Hohen Rats für<br />

Privatunternehmen, Ramiro Guardian, mehr als 40 Millionen Dollar an Darlehen erhalten hatten,<br />

berichtet Barricada Internacional. Der Mittelamerika-Spezialist Douglas Porpora schreibt, daß 70<br />

Prozent aller Kredite an »eine kleine Anzahl großer Exportproduzenten« vergeben werden.<br />

Kirchliche Quellen berichten, daß Ende 1993 an Nicaraguas Atlantikküste 100 000 Menschen,<br />

überwiegend Miskito-Indianer, Hunger litten. Hilfslieferungen kamen nur aus Europa und Kanada. Als<br />

die Sandinisten im Verlauf des Terrorkriegs der Contras einige Dutzend dieser Indianer töteten und<br />

viele zwangsumsiedelten, sprach man in den USA von »Völkermord« (Reagan) und den<br />

»schlimmsten« Menschenrechtsverletzungen in Mittelamerika (Jeane Kirkpatrick). Aber das hatte rein<br />

72


instrumentellen Wert; damals waren die Miskitos »wertvolle Opfer« (um einen gelungenen Ausdruck<br />

von Edward Herman zu verwenden), deren Leiden dem offiziellen Feind angerechnet werden konnten.<br />

Das hat sich jetzt erledigt, und um ihre Hungersnot müssen wir uns jetzt nicht mehr kümmern.<br />

Auch nicht um das Elend der Straßenkinder von Managua, das David Werner beschreibt: »Der<br />

Verkauf von Schuhklebemitteln ist mittlerweile ein lukratives Geschäft«, weil »Ladenbesitzer in den<br />

Armenvierteln gut daran verdienen, die kleinen Flaschen der Kinder nachzufüllen«, damit sie, um (wie<br />

es heißt) den Hunger zu betäuben, Leim schnüffeln können.<br />

Was ihnen vielleicht noch bevorsteht, wurde in einem Dokumentarfilm des kanadischen Fernsehens<br />

enthüllt. In The Body Parts Business (Das Geschäft mit den Körperteilen) ging es um Morde an<br />

Kindern und Armen, um sie ihrer inneren Organe zu berauben. Solche und andere Praktiken, die es in<br />

Lateinamerika schon seit längerem zu geben scheint, sind jüngst von der Regierung El Salvadors<br />

offiziell bestätigt worden. Es gebe dort einen »schwunghaften Handel mit Kindern«, die nicht nur zu<br />

Exportzwecken gekidnappt, sondern auch für pornographische Videos, für Adoption und Prostitution<br />

verwendet würden. In diesem Zusammenhang erinnert Hugh O'Shaughnessy an eine Operation der<br />

salvadorianischen Armee vom Juni 1982, wo die Truppen nahe dem Lempa-Fluß »sich auf die Jagd<br />

nach Kleinkindern begaben«. 50 wurden in Helikopter verladen und nicht wiedergesehen. 167<br />

Jene amerikanischen Liberalen, die den Krieg der Contras guthießen und schließlich den »Sieg des<br />

US-amerikanischen Fair Play« lobten, als die nicaraguanische Bevölkerung das Handtuch warf,<br />

können sich über ihre Erfolge in diesem »romantischen Zeitalter« freuen.<br />

Es gehört zu den Vorrechten der Mächtigen, die Diskussion darüber zu bestimmen, wer Opfer ist und<br />

wer Unterdrücker, wobei die tatsächliche Relation regelmäßig ins Gegenteil verkehrt wird.<br />

Demzufolge müssen die Vietnamesen ihre an uns begangenen Verbrechen wiedergutmachen, und<br />

Nicaragua muß uns beweisen, daß es nicht in Terroraktivitäten verstrickt ist. Immer wieder hören wir<br />

Klagen über die Armen, die die Reichen ausplündern wollen (Dulles), über den kubanischen Führer,<br />

den wir umbringen müssen, weil er »die Vereinigten Staaten auf gewaltsame und unfaire Weise<br />

kritisiert« (McCone), über die Palästinenser, die »terroristische Angriffe gegen den Staat Israel<br />

führen« (so die Terminologie der US-Regierung für die Intifada), wenn sie nach Jahrzehnten »endloser<br />

Erniedrigungen und Brutalitäten« (so der israelische Journalist Danny Rubinstein) den Aufstand<br />

wagen, und über all die anderen Terroristen und Schurken, die sich gegen uns erheben.<br />

Nicaragua ist dafür ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Bereits 1854 zerstörte die US-Kriegsflotte<br />

eine Küstenstadt, um einen angeblich beleidigenden Angriff auf US-Beamte und den Millionär<br />

Cornelius Vanderbilt zu rächen. Da uns das internationale Recht als Gewohnheitsrecht gilt, war es<br />

immer schon unsere Gewohnheit, Nicaragua nach Belieben herumzustoßen oder den Diktator Somoza,<br />

unseren Vasallen, bei seinen Massakern nach Kräften zu unterstützen, <strong>bis</strong> sich die gepeinigte<br />

Bevölkerung schließlich wehrte. Als dann die sandinistische Regierung sich weigerte, den nötigen<br />

Kniefall zu vollziehen, löste das erheblich Wut aus. Ein US-Kongreßabgeordneter beschrieb die<br />

»Begierde, gegen den Kommunismus [in Nicaragua] loszuschlagen«.<br />

Besonderen Zorn erregten Nicaraguas Friedensbemühungen im Zusammenhang mit dem Contadora-<br />

Plan. Hochrangige Regierungsmitglieder forderten sogar, eine Einladung Daniel Ortegas nach Los<br />

Angeles rückgängig zu machen, um ihn »und die Sandinisten wegen der Annahme der Contadora-<br />

Friedensvorschläge zu bestrafen«, vermeldete die New York Times kommentarlos. Tatsächlich gelang<br />

es der US-Regierung, den Contadora-Plan zu verhindern. Weitere Wutanfälle gab es, als der<br />

Weltgerichtshof die USA wegen der Unterstützung der Contras zu Reparationen verurteilte. Nicaragua<br />

zog den Antrag schließlich zurück, nachdem es sich mit Washington über ein Abkommen zur<br />

Förderung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und der technischen Entwicklung verständigt<br />

hatte. Das Abkommen wurde dann von den USA unterlaufen, und im September 1993 forderte der<br />

Senat mit 94 gegen 4 Stimmen, Nicaragua keine Entwicklungshilfe zu gewähren, wenn für US-<br />

Eigentum, das nach dem Sturz Somozas enteignet worden war, keine ausreichende Entschädigung<br />

gezahlt würde. 168<br />

73


Als drittes Land in Lateinamerika, das einen traditionell recht gut entwickelten Lebensstandard für die<br />

Bevölkerung besaß, wurde Costa Rica zu neoliberalen Maßnahmen gezwungen. Der Begründer der<br />

costaricanischen Demokratie, Jose Figueres, verurteilte Washingtons »Versuch, unsere sozialen<br />

Institutionen und unsere ganze Wirtschaft den Geschäftsleuten zu überlassen« und das Land in die<br />

Hände ausländischer Konzerne zu geben. Vergebens. 169<br />

Während also die USA in Lateinamerika Staatsterroristen Unterstützung angedeihen ließen, wurden<br />

Kuba, Nicaragua und Costa Rica ins Fadenkreuz genommen, um durch Krieg, Terror und<br />

wirtschaftliche Strangulierung, bzw. im Falle Costa Ricas durch Druck und Subversion,<br />

Wohlverhalten zu erzwingen (was bei Kuba <strong>bis</strong> jetzt nicht gelungen ist). Das liegt nicht daran, daß<br />

Washington gern Kinder sterben oder Erwachsene gefoltert sieht. Treibendes Motiv ist vielmehr die<br />

prinzipielle Abneigung gegen eine unabhängige, den Interessen der Privatwirtschaft zuwiderlaufende<br />

Entwicklung, die zeigt, daß ein Land der Dritten Welt sich weigert, die ihm zugewiesene »Funktion«<br />

in der globalen Ökonomie zu spielen.<br />

Ein weiteres signifikantes Beispiel für die Prärogativen der <strong>Mac</strong>ht ist Brasilien. 170 Dieses Land mit<br />

seinen außergewöhnlichen natürlichen Ressourcen, dieser potentielle »Koloß des Südens« war von<br />

den USA schon lange als »Region unbegrenzter Möglichkeiten« in Augenschein genommen worden.<br />

»Kein Territorium auf der Welt ist für die Ausbeutung besser geeignet als Brasilien«, schwärmte das<br />

Wall Street Journal schon 1924.<br />

1945 nahmen sich die Vereinigten Staaten der Sache an, indem sie die traditionellen europäischen<br />

Rivalen aus dem Weg räumten und den Koloß in ein »Testgebiet für moderne wissenschaftliche<br />

Methoden der industriellen Entwicklung« verwandelten, bemerkt Gerald Haines in seiner hoch<br />

gelobten Monographie. Unter Anleitung durch die USA folgte Brasilien den neoliberalen Doktrinen,<br />

von denen es jedoch zeitweilig abweichen mußte, um katastrophale Folgen für die Gesamtgesellschaft<br />

(Reiche inbegriffen) abzuwehren. Seit den sechziger Jahren unterstützten die USA eine<br />

Militärdiktatur, deren Fundamente schon von der Regierung Kennedy gelegt worden waren. Die<br />

neofaschistischen Generäle konnten die erwünschten wirtschaftlichen Maßnahmen leichter<br />

durchsetzen, <strong>zum</strong>al sie die Opposition mit Folter, Mord und »Verschwindenlassen« von Personen <strong>zum</strong><br />

Stillschweigen gebracht hatten. Brasilien wurde <strong>zum</strong> vielbestaunten »Wirtschaftswunder« und <strong>zum</strong><br />

»Liebling der internationalen Geschäftswelt«, wußte Business Latin America 1972 zu berichten. Auch<br />

der Vorsitzende der US-Bundesbank (der »Fed«), Arthur Burns, pries das »Wunderwerk« der<br />

Folterknechte und ihrer neoliberalen Technokraten, die brav die Vorstellungen der »Chicago Boys«<br />

umsetzten. Diese fanden schon ein Jahr später, in Chile, ein weiteres Betätigungsfeld und verkauften<br />

den Chilenen Brasilien als leuchtendes Beispiel für Wirtschaftsliberalismus.<br />

Allerdings war das Wunder nicht ganz makellos. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung lebten unter<br />

zunehmend elender werdenden Bedingungen, und in Agrargebieten, die sich im Besitz von<br />

Großgrundeigentümern befinden, entdeckten medizinische Forscher eine neue Art von Menschen,<br />

»Pygmäen«, die nur 40 Prozent des Gehirns normal entwickelter Menschen besaßen - eine Folge<br />

langwährender Unterernährung. In den Städten werden Kinder versklavt oder von Sicherheitskräften<br />

ermordet. Pater Barruel von der Universität São Paulo teilte der UN mit, daß »75 Prozent der Leichen<br />

[ermordeter Kinder] innere Verstümmelungen aufweisen, und vielen fehlen die Augen«, auch hier<br />

möglicherweise zu Zwecken der Organtransplantation entfernt.<br />

Der wirtschaftliche Erfolg war allerdings sehr real. US-Investitionen und -Profite boomten, der<br />

brasilianischen Oberschicht ging es gut, und die makroökonomischen Statistiken zeigten schwarze<br />

Zahlen; es war ein »Wirtschaftswunder« im technischen Sinn des Wortes. Bis 1989 übertraf Brasiliens<br />

Wirtschaftswachstum das von Chile, dann kam der Zusammenbruch, und nun war der »Koloß« kein<br />

Triumph der Marktdemokratie mehr, sondern ein Beispiel für das Versagen etatistischer<br />

Wirtschaftspolitik. 171 Daß es selbst in diesen wunderbaren achtziger Jahren der Bevölkerung in den<br />

osteuropäischen Staaten weitaus besser ging als den darbenden Massen in Lateinamerika, steht auf<br />

einem anderen, ungelesen gebliebenen Blatt.<br />

74


Die Schuldenberge der Dritten Welt sind vor allem eine Folge der monetaristischen Finanzpolitik des<br />

Westens und des Zusammenbruchs der Weltmarktpreise zu Beginn der achtziger Jahre. Der<br />

Wirtschaftswissenschaftler Melvin Burke weist darauf hin, daß »hohe Zinsraten [in den USA] und<br />

Kapitalflucht für die mexikanische Krise der achtziger Jahre verantwortlich waren«, auf diese Weise<br />

ging der amerikanische Wohlstand auf Kosten der Dritten Welt. Die unseren Lieblingsdiktatoren und -<br />

oligarchen für den Kauf von Luxusgütern und den Kapitalexport ins Ausland gewährten Darlehen<br />

gehen jetzt zu Lasten der Armen und der amerikanischen Steuerzahler.<br />

Der Westen nützt die Schuldenlast, um seine Politik in der Dritten Welt besser durchsetzen und die<br />

Länder zur Anpassung ihrer Wirtschaft verhalten zu können. Insofern ist auch bezeichnend, welchen<br />

Ländern Schulden erlassen werden und warum. Polen z. B. wurden 15 Milliarden Dollar erlassen, »um<br />

den Übergang von einer kommunistischen zu einer kapitalistischen Wirtschaft zu erleichtern«, wovon<br />

der Westen zu profitieren hofft; und Ägyptens »Unterstützung des Bündnisses gegen Saddam Hussein<br />

im Golfkrieg« wurde mit 11 Milliarden erkauft, schreibt Michael Meacher. Aber in Mittelafrika<br />

müssen jedes Jahr Hunderttausende von Kindern sterben, weil die Prinzipien des<br />

Wirtschaftsliberalismus wichtiger sind. »Schuldenerlasse sollen«, folgert Meacher, »nicht die Armut<br />

in der Welt bekämpfen, sondern die politischen Interessen der führenden westlichen Nationen<br />

bedienen« - genauer gesagt, die wirtschaftlichen und strategischen Interessen ihrer herrschenden<br />

Eliten. 172<br />

Die Lage im Westen<br />

Was wirklich vor sich geht, zeigt eine genauere Analyse der Zahlen, die der Bericht des UN-Human<br />

Development Program über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich enthält. Der kanadische<br />

Ökonom Ian Robinson weist darauf hin, daß die Breite der Kluft »noch erstaunlicher wird, wenn wir<br />

nicht auf die Einkommensunterschiede zwischen armen und reichen Nationen, sondern zwischen<br />

armen und reichen Bevölkerungsschichten blicken«. 1960 betrug das Verhältnis des<br />

Bruttosozialprodukts zwischen den Ländern mit den 20 Prozent reichsten Schichten der<br />

Weltbevölkerung und denen mit den 20 Prozent ärmsten 30:1, 1989 bereits 60:1; jedoch »lag das<br />

Einkommensverhältnis zwischen den 20 Prozent Reichsten und den 20 Prozent Ärmsten bei 140:1«.<br />

Die Kluft zwischen Arm und Reich geht zur Hälfte auf Einkommensunterschiede innerhalb von<br />

Staaten zurück, schreibt Robinson. Vergleichbares hat die US-Regierungsbehörde für<br />

Gesundheitsstatistik herausgefunden: Die Ungleichheit der Sterblichkeitsraten hat sich zwischen 1960<br />

und 1986 mehr als verdoppelt, ein »Klassenunterschied«, der immer größer wird. 173<br />

Wir dürfen also die von Adam Smith geforderte, von seinen Nachfolgern jedoch regelmäßig<br />

übersehene »Klassenanalyse« nicht vergessen, um zu erkennen, wem die bei »uns« betriebene Politik<br />

nützt. Darüber hinaus klingt »Ungleichheit« eher aseptisch, wenn man bedenkt, was das Wort<br />

bedeutet: hungernde Kinder, zerbrochene Familien, kriminelle Gewalt und andere soziale Pathologien,<br />

die mit dem Ende der Hoffnungen einhergehen.<br />

Diese intranationalen Veränderungen betreffen alle »drei Welten«: die staats-kapitalistischen<br />

Industriemächte, die »Entwicklungsländer« des Südens und auch die ehemals kommunistischen<br />

Staaten, die jetzt wieder in die Dritte Welt zurückgegliedert werden. In allen Fällen sind die<br />

Auswirkungen großenteils Folge der selektiven Anwendung neoliberaler Wirtschaftsdogmen, die die<br />

Reichen und Mächtigen je nach Nutzen und Vorteil in die Tat umsetzen.<br />

Mit dieser selektiven Anwendung bilden die reichen Nationen eine Art Mikrokosmos, in dem sich die<br />

internationalen Verhältnisse spiegeln. Wenn die Konzerngewinne unter Druck geraten, schneiden die<br />

Regierungen ihre Sozialhaushalte zurück, ohne jedoch den Wohlfahrtsstaat für die Reichen anzutasten.<br />

In den USA unter Reagan machte eine Verbindung militärkeynesianischer Exzesse mit einer<br />

Steuerpolitik im Sinne der Reichen das Land vom führenden Kreditgeber <strong>zum</strong> führenden Schuldner.<br />

Bereits 1986 hatten sich die Staatschulden mit 2,1 Billiarden Dollar mehr als verdoppelt und beliefen<br />

sich auf 4,4 Billiarden, als Clinton sein Amt antrat. Daniel Patrick Moynihan, Vorsitzender des<br />

Finanzkomitees des Senats und ein ausgewiesener Kenner der Materie, kommt zu dem Schluß, daß die<br />

75


»strategischen Defizite« der Ära Reagan auf eine »verborgene Agenda« zurückzuführen sind: Es galt,<br />

eine Barriere gegen Sozialausgaben und andere für die Konzerne inakzeptable Regierungsinitiativen<br />

zu errichten. Die Kürzung von Bundesmitteln erlegte den Einzelstaaten und Gemeinden unerträgliche<br />

Bürden auf, die an die schwächeren Bevölkerungsschichten weitergereicht wurden. Verschärft wurden<br />

die Probleme durch erfolgreiche PR-Kampagnen der Geschäftswelt für Steuersenkungen bei gleichzeitiger<br />

Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse seitens eines mächtigen und interventionsbereiten Staats.<br />

Eine regressive Steuerpolitik führte <strong>zum</strong> Konsum von Luxusgütern und zu finanztechnischen<br />

Bereicherungsaktionen, während im Verhältnis <strong>zum</strong> Bruttosozialprodukt die Investitionen auf den<br />

niedrigsten Stand innerhalb der G7-Staaten zurückfielen und dennoch zunehmend von<br />

Kapitalimporten abhängig wurden. Die Folge waren gigantische Handelsdefizite. Das reale Pro-Kopf-<br />

BSP fiel ebenso wie die persönlichen Sparguthaben, und die Staatsausgaben für<br />

Infrastrukturprogramme sanken auf die Hälfte dessen, was in den sechziger Jahren aufgewendet<br />

worden war. Niedrig blieb allein die Inflationsrate, was vor allem mit dem Fall der Ölpreise<br />

zusammenhing. Kredite sorgten für eine so umfassende wie scheinhafte Prosperität, die sich natürlich<br />

nicht lange aufrecht-erhalten ließ.<br />

Die Arbeitsökonomen Lawrence Mishel und Jared Bernstein wiesen darauf hin, daß im Juli 1992<br />

»über 17 Millionen Arbeiter, das sind 13,2 Prozent der arbeitenden Bevölkerung insgesamt ... ohne<br />

Beschäftigung oder nur geringfügig beschäftigt waren«, ein Anstieg von acht Millionen während der<br />

Regierungszeit von George Bush, als sich die Auswirkungen der Reagan-Programme bemerkbar<br />

machten. Zudem bedeutete der Anstieg der Arbeitslosigkeit in drei Vierteln aller Fälle dauerhaften<br />

Jobverlust. Die Reallöhne, die vor Reagan ein Jahrzehnt lang stagnierten, sanken während seiner<br />

Präsidentschaft dramatisch ab. 1987 erreichte diese Entwicklung auch die an Hochschulen<br />

Ausgebildeten, die kurz darauf ebenfalls von Arbeitslosigkeit betroffen wurden. Das hängt<br />

möglicherweise mit dem Rückgang des Pentagon-Budgets zusammen, als 1985/86 die<br />

Regierungsinvestitionen in die militärische High-Tech-Industrie zurückgingen und schließlich auf den<br />

während der Jahre des Kalten Kriegs üblichen Durchschnitt fielen. Für die unteren 60 Prozent der<br />

amerikanischen Männer sanken die Reallöhne, während sie für die oberen 20 Prozent stiegen. Rüdiger<br />

Dornbusch, Ökonom am MIT, weist darauf hin, daß von dem Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens<br />

während der Ära von Reagan und Bush »70 Prozent auf das oberste Prozent der Verdiener fielen,<br />

während die unteren Schichten in absoluten Zahlen einen Rückgang zu verzeichnen hatten«, so daß<br />

»für die meisten Amerikaner der Grundsatz, der jüngeren Generation werde es wirtschaftlich besser<br />

gehen als den Eltern, nicht mehr gilt«. Das ist ein bedeutsamer Wendepunkt in der Geschichte der<br />

Industriegesellschaften. Umfragen aus dem Jahr 1992 zufolge erwarten 75 Prozent der Bevölkerung<br />

keine Verbesserung der Lebenssituation für die nächste Generation.<br />

Während der Reagan-Jahre beschleunigten sich Prozesse, die bereits im Gang waren. Ungleichheiten<br />

in der Einkommensverteilung hatten sich <strong>bis</strong> 1968 vermindert, um dann wieder anzusteigen. 1986<br />

waren sie größer als zur Zeit der großen Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre. In den siebziger und<br />

achtziger Jahren sank das Durchschnittseinkommen des unteren Fünftels der amerikanischen Familien<br />

um etwa 18 Prozent, während es beim reichsten Fünftel um acht Prozent zunahm. In dieser Zeit, so der<br />

Wirtschaftsjournalist Richard Rothstein, »gab es in den USA von allen Industrienationen das größte<br />

Wachstum an Ungleichheit und zugleich die größten Einkommenseinbußen im Bereich der<br />

Niedriglöhne«. Eine Studie der OECD berichtet von zunehmender Einkommensungleichheit in den<br />

meisten reicheren Ländern während der achtziger Jahre, wobei Großbritannien unter Thatcher die<br />

Spitzenposition vor den USA hielt. In den USA verschlechterte sich die Lage vor allem für die<br />

wirtschaftlich Schwächeren: ältere Menschen, Kinder, alleinerziehende Mütter (die meisten davon<br />

berufstätig, in den USA häufiger als in allen anderen Ländern, obwohl die Propaganda der Rechten<br />

das Gegenteil behauptete). Die The Progress of Nations betitelte UNICEF-Studie von 1993 betonte,<br />

daß es amerikanischen und britischen Kindern weitaus schlechter geht als 1970. Unter den<br />

industrialisierten Ländern sind die USA der Spitzenreiter bei der Kinderarmut; der Anteil ist hier<br />

zweimal so hoch wie in Großbritannien, dem zweitplazierten Land, und seit 1970 um 21 Prozent<br />

gestiegen.<br />

76


»Hauptfaktor bei der negativen Entwicklung der Lohnstruktur in den USA ist der Niedergang der<br />

Gewerkschaften«, sagt Lawrence Katz vom US-Arbeitsministerium. Einer der großen Erfolge der<br />

Regierung Reagan war ihr Kampf gegen die Gewerkschaften: Arbeiter konnten gefeuert werden, wenn<br />

sie für gewerkschaftliche Organisierung eintraten, Streiks wurden gebrochen durch die Einstellung<br />

»dauerhafter Ersatzkräfte« usw. Die Geschäftswelt war entzückt. Eine Titelgeschichte im Wall Street<br />

Journal sprach von einer »begrüßenswerten Entwicklung von grenzüberschreitender Bedeutung«, weil<br />

sinkende Löhne die Wirtschaft wieder konkurrenzfähig machten; hinzu kamen verbesserte<br />

Möglichkeiten zur Produktionsverlagerung ins Ausland. Die Arbeitskosten pro Produktionseinheit<br />

fielen 1992 um 1,5 Prozent, während sie in Japan, Europa, Taiwan und Südkorea stiegen. 1985 lag der<br />

Stundenlohn in den USA höher als in den anderen G-7-Staaten, 1992 darunter. Nur in Großbritannien<br />

war es Frau Thatcher gelungen, die Arbeiter noch härter zu bestrafen. Die Stundenlöhne lagen in<br />

Deutschland um 60 Prozent höher als in den USA, in Italien um 20 Prozent.<br />

Mit der urbanen Krise stieg auch die Zahl der Gefängnisinsassen auf den höchsten Stand in der<br />

industriellen Welt und ließ sogar Rußland und Südafrika hinter sich. Innenstädte und ländliche Gebiete<br />

verfielen, die Infrastruktur brach zusammen, und Armut und Obdachlosigkeit griffen um sich. In der<br />

zweiten Hälfte der achtziger Jahre stieg die Zahl der Hungerleidenden um 50 Prozent auf etwa 30<br />

Millionen Menschen. Zu Beginn des Jahres 1991, noch bevor die Rezession der letzten Jahre sich<br />

auszuwirken begann, waren im reichsten Land der Welt zwölf Millionen Kinder unterernährt. In<br />

Boston mußte das Stadtkrankenhaus sogar eine Klinik für solche Kinder einrichten, die soviel Zulauf<br />

hatte, daß gar nicht alle Fälle betreut werden konnten. Im Winter war es besonders hart, wenn die<br />

Familien entscheiden mußten, ob sie Heizöl oder Lebensmittel einkauften. 174<br />

Im Oktober 1993 brachte das Wall Street Journal einen Bericht über Statistiken der Zensusbehörde,<br />

denen zufolge »die Zahl der Armen in Amerika im vergangenen Jahr um 1,2 Millionen auf 36,9<br />

Millionen angestiegen ist, während die Reichen ihre Börsen füllen konnten«. Das durchschnittliche<br />

Familieneinkommen lag 13 Prozent unter dem Niveau von 1989 und die Armut war so hoch wie<br />

während der heftigen Rezession zu Beginn der achtziger Jahre. Experten erwarten, daß der langfristige<br />

Trend zur Ausweitung der Armut anhält, mit »absinkenden Löhnen, schrumpfender staatlicher<br />

Unterstützung für die Armen und einer Zunahmen von alleinerziehenden Müttern oder Vätern«. Der<br />

Trend zur ungleichen Einkommensverteilung, der sich in den achtziger Jahren beschleunigte, hat sich<br />

<strong>bis</strong> 1992 fortgesetzt, wobei das obere Fünftel der amerikanischen Haushalte seinen Einkommensanteil<br />

auf 47 Prozent ausweiten konnte. Dagegen sind die Einkommen des unteren Fünftels bei etwas mehr<br />

als 7000 Dollar geblieben, was kaum mehr ist als das Existenzminimum. Eine Untersuchung des<br />

Handelsministeriums zeigte, daß der Prozentsatz von Vollzeitarbeitern mit Mininallöhnen während der<br />

Reagan-Jahre von 12 Prozent auf 18 Prozent gestiegen war. Die Kinderarmut ist zwischen 1973 und<br />

1992 um 47 Prozent gestiegen und betrifft jetzt 20 Prozent der Kinder, eine Zunahme von 12 auf 14<br />

Millionen seit der letzten Zählung vor einem Jahr. Die Armutsgrenze liegt bei einem jährlichen<br />

Einkommen von 11 186 Dollar für eine dreiköpfige Familie. Daß es da zu Gewalt und Verbrechen<br />

kommt, ist klar. Der Staat antwortet darauf mit drakonischen Strafen; die Ursachen gehen ihn nichts<br />

an. 175<br />

Trotz der 1991 einsetzenden wirtschaftlichen Erholung fielen die Löhne für Arbeiter und Angestellte<br />

gleichermaßen, wobei die der Arbeiter drastischer sanken. Lohnzuwächse hatte bestenfalls das oberste<br />

Prozent zu verzeichnen. Überdies war nach 28 Monaten wirtschaftlicher Erholung die Arbeitslosigkeit<br />

noch nicht gesunken, was man in der Nachkriegsära so noch nicht erlebt hatte. Außerdem gab es eine<br />

Zunahme an Teilzeit- und zeitlich befristeter Arbeit, was sich jedoch nicht der freien Wahl der<br />

Arbeitnehmer verdankte, sondern einer wachsenden »Flexibilisierung« des Arbeitsmarkts, die laut der<br />

herrschenden Doktrin gut ist für die wirtschaftliche Gesundheit. Tatsächlich heißt »Flexibilisierung«,<br />

daß die Beschäftigten abends zu Bett gehen, ohne zu wissen, ob sie am nächsten Morgen noch einen<br />

Job haben. 1992 waren fast 28 Prozent der neu geschaffenen Arbeitsplätze zeitlich befristet, weitere 26<br />

Prozent auf Regierungsebene vor allem bei staatlichen und lokalen Behörden. 1993 gab es 24,4<br />

Millionen Teilzeit- und Zeitarbeiter, 22 Prozent der gesamten Arbeitskräfte, die höchste Quote<br />

überhaupt. Die US-weit größte Firma für Teilzeitarbeit, Manpower, hat 600 000 Beschäftigte auf der<br />

Gehaltsliste, 200 000 mehr als General Motors.<br />

77


Mit der wirtschaftlichen Erholung wuchs auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Der März 1994<br />

übertraf alle Erwartungen, was in der New York Times und anderen Zeitungen enthusiastisch gefeiert<br />

wurde. In der Financial Times las man dann allerdings, was die Zahlen zu bedeuten haben: »349 000<br />

der 456 000 neuen Arbeitsplätze waren Teilzeitjobs. In der Industrieproduktion stieg die Zahl der<br />

Vollzeitjobs nur um 12 000.« 176<br />

In England gelang es der Regierung Thatcher sehr schnell, für die schlimmste Krise in der<br />

Industrieproduktion seit der industriellen Revolution zu sorgen. Durch blinde Förderung von Laisserfaire-Methoden<br />

à la Friedman wurde binnen weniger Jahre fast ein Drittel der Fabriken vernichtet,<br />

was, wie das konservative Parlamentsmitglied Ian Gilmour feststellte, zu erheblichen Verwerfungen in<br />

der Wirtschaft führte, weil die Thatcher-Ideologen den »Guten Samariter für die Besserverdienenden<br />

spielten«. Die Wachstumsraten wiesen nach unten und London nahm das Aussehen einer Großstadt<br />

der Dritten Welt an. Obwohl reichlich Nordseeöl gefördert wurde und die Preise für Exportgüter aus<br />

der Dritten Welt fielen, führte das, wie Gilmour weiter mitteilte, zu keiner durchgreifenden Änderung.<br />

Für den Wirtschaftswissenschaftler Wynne Godley ist die Ära Thatcher durch langsameres Wachstum,<br />

abnehmende Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten, beträchtliche Zunahme von Staatsverschuldung<br />

und Arbeitslosigkeit sowie »hysterische Auf- und Abschwünge« in einer erstaunlich<br />

labilen Ökonomie gekennzeichnet.<br />

Ein Viertel der Bevölkerung, wozu 30 Prozent der Kinder unter sechzehn Jahren gehören, lebt von der<br />

Hälfte des Durchschnittseinkommens, also knapp oberhalb der offiziellen Armutsgrenze, berichtete<br />

die Presse im Juli 1993. Unter Thatcher sank das Einkommen der ärmsten Familien um 14 Prozent.<br />

Die Kommission für soziale Gerechtigkeit stellte fest, daß die Einkommensungleichheit so hoch sei<br />

wie seit einhundert Jahren nicht mehr: Der Einkommensanteil der unteren Bevölkerungshälfte sank<br />

von einem Drittel des Gesamtanteils auf ein Viertel. Immer mehr Haushalten wird von der privaten<br />

Wasserindustrie der Hahn zugedreht, weil sie die Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Das ist,<br />

wie der Mikrobiologe John Pirt bemerkt, eine Form der »bakteriellen Kriegführung«. 177<br />

Die Kluft zwischen Reichtum und Armut wird sich, wie die Marktforschungsorganisation Mintel<br />

feststellte, »<strong>zum</strong>indest in den nächsten fünf Jahren noch vertiefen«. Verfügten die oberen 20 Prozent<br />

der Haushalte 1979 noch über 35 Prozent des Gesamteinkommens, waren es 1992 schon 40 Prozent,<br />

während der Anteil der unteren 20 Prozent der Haushalte von 10 auf 5 Prozent fiel. Die 1869 unter der<br />

Schirmherrschaft der englischen Königin gegründete Wohltätigkeitsorganisation Action for Children<br />

kommt in einer Untersuchung zu dem Schluß, daß »die Kluft zwischen Arm und Reich heute so tief ist<br />

wie zur viktorianischen Zeit. Eineinhalb Millionen Familien können ihre Kinder nicht mit der Nahrung<br />

versorgen, »die ein vergleichbares Kind 1876 in einem Arbeitshaus in Bethnal Green bekam«. Zahlen<br />

der Europäischen Kommission belegen, daß in Großbritannien proportional zur Zahl der<br />

Gesamtbevölkerung mehr Kinder in Armut leben als in jedem anderen europäischen Land mit<br />

Ausnahme von Irland und Portugal. Auch die Financial Times schickte Großbritannien ins<br />

»Armenhaus Europas« und empfahl die Beantragung von zusätzlichen Geldern von der EG. 178<br />

Die Parallelen zur US-amerikanischen Entwicklung liegen auf der Hand. Thatchers Revolution machte<br />

sich vor allem für die Reichen bezahlt, und die Industrie freute sich über sinkende Lohnkosten und<br />

eine »veränderte Einstellung der Arbeitskräfte«, wie ein britischer Fabrikleiter im Wall Street Journal<br />

bemerkte. Auch in Großbritannien gab es viele neue Arbeitsplätze, meistens als Teilzeitjobs für<br />

Frauen und natürlich mit geringer Bezahlung als Vollzeitjobs. Zudem ist die Zahl der<br />

Vollbeschäftigten mit einem Monatslohn, der unterhalb dessen liegt, was der Europarat für<br />

»anständig« hält, von 28,3 auf 37 Prozent gestiegen, wie in den USA dank »Flexibilisierung« der<br />

Arbeit und Schwächung der Gewerkschaften. 179<br />

Nicht anders ist das Bild in Australien, wo Labour regiert. »Die Ära nach der Deregulierung glich dem<br />

Großexperiment in einem Chemielabor, wo man kühne Mischungen von Stoffen ausprobierte«,<br />

bemerkte ein führender Politikexperte. Und der Politologe Scott Burchill sekundierte: »Gemäß ihren<br />

Vorbildern in den Vereinigten Staaten und Großbritannien stürzte sich Australiens Plutokratie in eine<br />

Orgie von Gier und Gewinnsucht, wie sie in diesem Land zuvor noch nie gesehen worden war.« 180<br />

78


Neuseeland wiederum führte »das umfangreichste wirtschaftliche Reformprogramm durch, das in den<br />

vergangenen Jahrzehnten von einem OECD-Mitglied in die Wege geleitet wurde«, bemerken die<br />

OECD-Ökonomen Isabelle Joumard und Helmut Reisen. Allerdings ist das Experiment fehlgeschlagen.<br />

Vergleicht man den Zeitraum von 1977 <strong>bis</strong> 1984 (dem Jahr des Beginns) mit dem darauf<br />

folgenden Jahrfünft, so fällt auf, daß der Anteil des Produktionssektors von Handelswaren<br />

(Industriegüter, Kohle, Landwirtschaft) am Bruttoinlandsprodukt ebenso stark zurückgegangen war<br />

wie der Anteil am Exportaufkommen von Industriegütern aus OECD-Staaten insgesamt. Ohne die<br />

»Reformen« wäre der Export um 20 Prozent höher gewesen, schätzen die Ökonomen.<br />

Der Neuseeländer Tom Hazeldine, ebenfalls Ökonom, hat den Verlauf des »Putsches« von<br />

»Marktradikalen« <strong>bis</strong> 1993 verfolgt. Offiziellen Statistiken zufolge stieg die Arbeitslosigkeit, die<br />

zuvor fast nichtexistent gewesen war, auf 14,5 Prozent, der höchsten Quote in der OECD nach<br />

Spanien. In kurzer Zeit wurden Staatsschulden von 11 Milliarden Dollar angehäuft. Zwar stieg die<br />

Zahl der Geschäftsgründungen, noch schneller jedoch die der Pleiten und Konkurse, und ebenso die<br />

Regierungsausgaben, nämlich von 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 49. Abgenommen haben<br />

dafür »die Dinge, die im Leben wirklich zählen: Liebe und Freundschaft, Arbeit und Spiel, Sicherheit<br />

und Autonomie ... und das Zusammengehörigkeitsgefühl, das eine Gesellschaft lebenswert macht«.<br />

Alles hat eben seinen Preis, auch der Markt. 181<br />

Daß es auch anders gehen kann, zeigen Japan und die asiatischen Schwellenländer. Japan, das sich<br />

nicht den neoklassischen Wirtschaftsdoktrinen verschrieb, betrieb eine Industriepolitik, die dem Staat<br />

eine führende Rolle zuwies. So entstand ein System, das »eher der industriellen Bürokratie in den<br />

sozialistischen Ländern ähnelt und kein direktes Gegenstück in den anderen entwickelten<br />

Industriegesellschaften des Westens zu haben scheint«, schreibt der Ökonom Ryutaro Komiya in<br />

seiner Einleitung zu einer von prominenten japanischen Wirtschaftswissenschaftlern verfaßten Studie<br />

über Japans Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Sie beschäftigen sich u. a. mit staatlichen<br />

Fördermaßnahmen für bestimmte Industrien und stellen fest, daß die Industriepolitik der frühen<br />

Nachkriegszeit »nicht auf neoklassischen oder keynesianischen Modellen beruhte, sondern<br />

neomerkantilistisch angelegt« und sogar »vom Marxismus beeinflußt« war. Ein amerikanischer<br />

Japanexperte, Chalmers Johnson, spricht von Japan als »der einzigen kommunistischen Nation, die<br />

funktioniert«. Protektionismus, Subventionismus, Steuererleichterungen, Finanzkontrollen und andere<br />

Mittel wurden eingesetzt, um Schwächen auf dem internationalen Markt auszugleichen.<br />

Marktmechanismen wurden erst dann von der Staatsbürokratie und den Konglomeraten aus Finanzund<br />

Industrieorganisationen zugelassen, als die Aussichten auf Erfolge im internationalen Handel sich<br />

konkretisierten. Das japanische Wirtschaftswunder war nur möglich, weil orthodoxe Wirtschaftsrezepturen<br />

von vornherein abgelehnt wurden. Auch die Schwellenländer in Japans Umfeld folgten<br />

dem Beispiel einer »positiven Verbindung zwischen staatlicher Intervention und der Beschleunigung<br />

des Wirtschaftswachstums, die mittlerweile für eine kapitalistische Entwicklung in Ländern der<br />

Dritten Welt allgemein akzeptiert wird«, bemerkt Alice Amsden. Anders sind die großen<br />

Industrienationen in ihrer Geschichte auch nicht verfahren. 182<br />

Angesichts seiner eigenen historischen Erfahrungen und der Zwischenposition in der neokolonialen<br />

Ordnung kann nicht überraschen, daß Japan die Anpassungsprogramme von Weltbank und IWF<br />

harsch kritisiert hat. Entsprechende Bemerkungen der japanischen Regierung, daß Liberalisierung,<br />

Privatisierung und die Durchsetzung von Marktmechanismen ohne Berücksichtigung von »Fairneß<br />

und sozialer Gerechtigkeit« einen bedauerlichen »Mangel an Voraussicht« bedeute, blieben im Westen<br />

unbeachtet. 183<br />

Experimente mit Laisser-faire-Doktrinen sind, wie die Geschichte gezeigt hat, für die Leute an den<br />

Schalthebeln der <strong>Mac</strong>ht immer ein Erfolg, auch wenn die Öffentlichkeit sie mehrheitlich ablehnt. In<br />

den Ländern des Südens, wo die neoliberalen Lehren mit besonderer Brutalität durchgesetzt wurden,<br />

weiß man, wem sie nützen und wem nicht. Als die lateinamerikanischen Bischöfe im Dezember 1992<br />

ihre Vierte Generalkonferenz in Santo Domingo abhielten, war auch der Papst zugegen. Trotz<br />

diplomatischer Manöver des Vatikans im Vorfeld - man wollte eine Neuauflage der<br />

Befreiungstheologie mit ihrer »Option für die Armen« unbedingt vermeiden -, rügten die Bischöfe die<br />

»neoliberale Politik« der Regierung Bush und forderten »die gesellschaftliche Beteiligung des Staats<br />

79


als dringend erforderlich für die kirchliche Arbeit in den Gemeinden«. Die bolivianische<br />

Bischofskonferenz faßte es noch präziser: »Die schreckliche Armut der Region kommt nicht von<br />

ungefähr, sondern ist das Ergebnis des freien, unkontrollierten Marktsystems und der wirtschaftlichen<br />

Anpassungsmethoden einer neoliberalen Politik, die die soziale Dimension unberücksichtigt läßt.« 184<br />

Aber warum sollten solche Stimmen gehört werden, wenn auch im Westen die öffentliche Meinung so<br />

gut wie keine Rolle spielt? In Australien wurden die zentralen Entscheidungen über die Durchführung<br />

neoliberaler Reformen »ohne Konsultation der Öffentlichkeit und ohne weitere Kenntnisse ihrer<br />

Folgen für die australische Politik und Gesellschaft gefällt«, schreibt Scott Burchill. Während der Ära<br />

Reagan hätte die US-Bevölkerung mehrheitlich New-Deal-Maßnahmen und Sozialausgaben statt<br />

Aufrüstung befürwortet, ja, sogar Steuererhöhungen zu gesellschaftlich nützlichen Zwecken. Aber das<br />

PR-System von Politik und Wirtschaft funktionierte und erweckte den Eindruck, ganz Amerika stehe<br />

hinter dem Anführer einer »konservativen Revolution«.<br />

In Großbritannien fand eine Umfrage, die sich alljährlich mit Einstellungen in der Bevölkerung zu<br />

Politik und Wirtschaft befaßt, heraus, daß die Befragten mehr als je zuvor die Erhöhung der Ausgaben<br />

der öffentlichen Hand zu sozialen Zwecken befürworten, während sie das Privatunternehmertum eher<br />

negativ bewerten. Auf die Frage, wie Profite verteilt werden sollten, sprachen sich 42 Prozent für<br />

Investitionen aus, 39 Prozent für Ausgaben zugunsten der Arbeitenden, 14 Prozent für Ausgaben<br />

zugunsten der Konsumenten und 3 Prozent für Aufwendungen zugunsten von Aktionären und<br />

Management. Auf die Frage, wie Profite verteilt werden würden, meinten 28 Prozent zugunsten von<br />

Investitionen, 8 Prozent zugunsten der Arbeitenden, 4 Prozent zugunsten der Konsumenten und 54<br />

Prozent zugunsten von Aktionären und Management. Auch hier ist, wie in den Vereinigten Staaten,<br />

die Überzeugung, das Wirtschaftssystem sei »in sich selbst unfair« weit verbreitet, was jedoch auf das<br />

politische System keine weiteren Auswirkungen hat. 185<br />

Die Lage im Osten<br />

Kaum anders ist das Bild in den Ruinen des einstigen Sowjetimperiums. Ungarn war die erste große<br />

Hoffnung der neoliberalen Manager. Aber schon 1993 fiel die Wahlbeteiligung auf unter 30 Prozent,<br />

während 53 Prozent der Bevölkerung meinten, vor dem Zusammenbruch des alten Systems seien die<br />

Verhältnisse besser gewesen. Also sahen sich die westlichen Kommentatoren nach einer anderen<br />

Erfolgsstory um, und fanden Polen, wo der wirtschaftliche Rückgang, der die gesamte Region seit<br />

1989 heimgesucht hatte, 1993 ins Gegenteil gewendet schien. »Den meisten Polen geht es sozial,<br />

politisch und wirtschaftlich besser als unter dem verhaßten kommunistischen System«, schreibt<br />

Anthony Robertson in einem Sonderteil der Financial Times. Aber der Bericht vermittelt nichts davon,<br />

wie süß den Polen die Freiheit nach all den Jahren düsterer Diktatur schmecken muß, sondern listet<br />

nur auf, warum ausländische Investoren erfreut sein müßten über dieses Paradies niedriger Löhne und<br />

schwindender <strong>Mac</strong>ht der »Gewerkschaft Solidarität«, die unter steigender Arbeitslosigkeit leidet,<br />

während ihre Versuche scheitern, all jene Privatisierungen zu verhindern, die für gewöhnlich das<br />

Vorspiel für die <strong>Mac</strong>htübernahme durch ausländische Konzerne oder die einheimische Kleptokratie<br />

bilden.<br />

Wir erfahren aus dem Bericht auch, daß seit 1988 das Einkommen der Bauern, die 30 Prozent der<br />

Bevölkerung ausmachen, um die Hälfte gefallen ist, während 1992/93, im Jahr der »wachsenden<br />

Prosperität«, die Reallöhne weiter fielen, wobei die Preise sich dem internationalen Standard<br />

anglichen. 186<br />

Das von den westlichen Medien gezeichnete »strahlende Bild der Wirtschaft«, das als Erfolg einer<br />

Politik der »Schocktherapie« gefeiert wird, weist bei näherer Betrachtung etliche Schatten auf. »Die<br />

Schocktherapie hat die polnische Bevölkerung gespalten, der Mehrheit geschadet und den politischen<br />

Prozeß <strong>zum</strong> Erliegen gebracht«, berichtet ein führender polnischer Journalist. Umfragen zufolge »<br />

glauben mehr als 50 Prozent, das kommunistische System sei besser gewesen«. Zudem wird<br />

übersehen, daß Haushalte und Industrie weiterhin subventioniert werden, notiert Alice Amsden.<br />

»Ohne derartige Unterstützung wäre das Elend noch größer, als es ohnehin schon ist«. 187<br />

80


In den USA war man sehr erstaunt über die Reaktion der Polen auf ihr »Wirtschaftswunder«, denn bei<br />

den Wahlen vom September 1993 sagten Umfragen einen hohen Sieg der »neu formierten ehemaligen<br />

Kommunisten voraus«. Offensichtlich konnte das Wunder der polnischen Bevölkerung trotz<br />

importierter Luxuswagen und schicker Boutiquen in den neu gestylten Einkaufsstraßen von Warschau<br />

nicht so einfach verkauft werden. Eine gebildete junge Frau in Lodz, die »theoretisch ... zu den<br />

Gewinnern der ökonomischen Rationalisierung gehören sollte ... ist zornentflammt: ›Sicher sind die<br />

Läden voll mit Zeug, aber wir können es uns nicht leisten«, lautet ihr Kommentar. ›Schauen Sie sich<br />

die Leute an, die sind am Boden zerstört, man kann es ihnen vom Gesicht ablesen.‹« 188<br />

Im übrigen landete die Reformpartei, die den Polen die Schocktherapie verordnet hatte, bei den<br />

Wahlen mit zehn Prozent der Stimmen auf dem dritten Platz, hinter zwei eher linkssozialdemokratisch<br />

orientierten Parteien. Die Wahlbeteiligung lag bei unter 50 Prozent, für das Wall Street Journal ein<br />

»weiterer Beweis des Desinteresses« an einem in den Augen der Bevölkerungsmehrheit fehlgeschlagenen<br />

politischen System. Dennoch werden, versicherte die Zeitung ihrer Leserschaft, die<br />

Reformen fortgesetzt, trotz 57 Prozent Opposition dagegen. »Westliche Investoren und internationale<br />

Bankiers machten gute Miene <strong>zum</strong> bösen Spiel und meinten, eine Rückkehr zur Kommandowirtschaft<br />

sei ausgeschlossen«, hieß es in der New York Times. Ausgeschlossen sind natürlich auch vernünftigere<br />

Alternativen jenseits der absurden Wahl zwischen Kommandowirtschaft und neoliberalen Dogmen. 189<br />

Auch die russische Bevölkerung zeigt wenig Begeisterung für die rapiden kapitalistischen Reformen,<br />

wie die abnehmende Popularität von Boris Jelzin zeigt, der 1991 noch von 60 Prozent, Anfang 1993<br />

aber nur noch von 36 Prozent unterstützt wurde. Im August 1993 glaubten nur noch 18 Prozent aller<br />

Russen an eine Verbesserung des Lebens unter kapitalistischen Bedingungen. In allen ehemals<br />

sozialistischen Staaten gab es »ein Wiederaufleben sozialistischer Werte, wobei 70 Prozent der<br />

Bevölkerung meinten, der Staat solle für sichere Arbeitsplätze sowie für ein nationales Gesundheits-,<br />

Wohnungs- und Bildungswesen sorgen« (Economist). 190<br />

Wer nicht in den Berichten über die neuen Wirtschaftswunderländer auftaucht, sind die jungen Frauen,<br />

die von Verbrecherorganisationen in den Westen verschleppt werden, um dort der Sexindustrie zu<br />

dienen, und unerwähnt bleiben auch jene Westeuropäer, die von der Arbeitsplatzverlagerung nach<br />

Osten ebensowenig begeistert sind wie von dem verstärkten Drogenfluß in die andere Richtung. Der<br />

Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs, der Polens Experiment dirigierte, um dann Rußland auf Vordermann<br />

zu bringen, verdiente sich seine Sporen in Bolivien, wo er für ein makroökonomisches<br />

»Wirtschaftswunder« sorgte, das in gesellschaftlicher Hinsicht eine Katastrophe war. Die statistischen<br />

Erfolge, die im Westen so beifällig aufgenommen wurden, beruhten in hohem Maß auf der starken<br />

Zunahme illegalen Drogenanbaus, der mittlerweile für den Großteil der Exportgewinne sorgen dürfte,<br />

wie Spezialisten meinen. Es ist ja nur verständlich, daß Bauern, die von der Regierungspolitik <strong>zum</strong><br />

Anbau von exportfähigen Produkten gezwungen werden, auch am von internationalen Banken und<br />

Chemiekonzernen betriebenen Drogenhandel verdienen möchten.<br />

Vergleichbare Prozesse spielen sich jetzt im ehemaligen Sowjetblock ab, vor allem in Polen, wo zur<br />

Zeit Drogen höchster Qualität produziert werden; u. a. stammten 20 Prozent der 1991 konfiszierten<br />

Amphetamine von dort. Mittlerweile heuern die kolumbianischen Kartelle polnische Kuriere für den<br />

Kokainschmuggel in den Westen an. Auch die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien dürften<br />

demnächst zu den Großproduzenten von Drogen gehören. 191<br />

In Rußland haben die Reformen das Land näher an die Dritte Welt herangerückt. Sie sollten die<br />

Wirtschaft »stabilisieren«, haben jedoch die Warenpreise binnen eines Jahres verhundertfacht, die<br />

Realeinkommen um über 80 Prozent gesenkt und Milliarden Rubel an Sparguthaben vernichtet.<br />

Offiziellen Angaben zufolge sank die Industrieproduktion um jährlich 27 Prozent, andere Schätzungen<br />

sprechen von <strong>bis</strong> zu 50 Prozent, bei Konsumgütern beträgt der Rückgang zwischen 20 und 40 Prozent.<br />

Die Privatisierungspläne könnten die Hälfte der Fabriken in die Insolvenz treiben, während der Rest in<br />

ausländische Hände übergeht. Die staatlichen Gesundheits-, Wohlfahrts- und Bildungssysteme stehen<br />

vor dem Zusammenbruch. Dafür blühen Kapitalflucht, Geldwäsche und der durch »die Ausplünderung<br />

von Rußlands Rohstoffen finanzierte« Markt für Luxusimporte. Das ganze System ist, meint der<br />

81


Ökonom Michel Chossudovsky, eine Mischung aus Stalinismus und »freiem Markt«, bei dem viele<br />

totalitäre Strukturen erhalten blieben. 192<br />

Auch der hervorragende israelische Journalist Amnon Kapeliuk hat aus Rußland wenig Erfreuliches zu<br />

berichten. 87 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, seit 1989 ist der Konsum<br />

von Lebensmitteln stark zurück-gegangen, weil aufgrund der Preiserhöhungen 80 Prozent des<br />

Familieneinkommens allein dafür aufgewendet werden müssen. Massengräber werden angelegt, weil<br />

Beerdigungen für viele unbezahlbar geworden sind; Tuberkulose, Diphtherie und andere längst<br />

verschwunden geglaubte Krankheiten breiten sich wieder aus. 193<br />

Die Ergebnisse der über zweijährigen Experimente mit Marktreformen werden von den Ökonomen J.<br />

A. Kregel (Italien) und Egon Matzner (Österreich) als »zutiefst enttäuschend« bezeichnet. Der Ansatz<br />

ignoriere nicht nur geschichtliche Lehren, sondern auch die zur Schaffung einer Marktwirtschaft<br />

nötigen ökonomischen Bedingungen. In Japan und den »Tigerstaaten« sei man anders vorgegangen,<br />

ebenso wie im Westeuropa der Nachkriegszeit. Der Marshall-Plan, merken sie an, beruhte auf »der<br />

Formulierung nationalwirtschaftlicher Ziele«, so wie auch »das erfolgreiche Operieren jeder<br />

kapitalistischen Firma auf strategischen Planungen innerhalb eines Marktsystems beruht«. 194<br />

Auch eine UNICEF-Studie setzte sich mit den Auswirkungen der Reformen auseinander. Zwar hielt<br />

sie diese für »unvermeidlich, wünschenswert und unerläßlich«, doch wären die »wirtschaftlichen,<br />

sozialen und politischen Kosten sehr viel größer gewesen als vorhergesehen«. Dazu zählt die Studie<br />

vor allem steigende Armut und sinkende Lebenserwartungen. »So ist z. B. die jährliche Zahl der<br />

Todesfälle in Rußland zwischen 1989 und 1993 schätzungsweise um mehr als eine halbe Million<br />

gestiegen; eine Zahl, die verdeutlicht, wie tiefgreifend die augenblickliche Krise ist.« Das klingt wie<br />

eine düstere Fußnote zu einer Bemerkung von Herman Daly, dem früheren Chefökonomen der<br />

Weltbank: »Die Vorliebe unserer Disziplin für logisch schöne Resultate statt für eine auf Tatsachen<br />

beruhende Politik hat derart fanatische Proportionen erreicht, daß wir Wirtschaftswissenschaftler eine<br />

Gefahr für die Erde und ihre Bewohner geworden sind.« Nur die dem Westen seit jeher enger<br />

verbundene Tschechische Republik »dürfte langsam zu normalen Verhältnissen zurückkehren«, heißt<br />

es im UNICEF-Bericht weiter.<br />

Vor den Reformen hatte Osteuropa funktionale, wenngleich stagnierende Wirtschaften und »eine<br />

erheblich niedrigere Einkommensungleichheit als die Mehrheit der entwickelten Industrieländer ...<br />

selbst wenn man die Privilegien der Nomenklatura berücksichtigt«, die heute ebenfalls zu den am<br />

besten verdienenenden Sektoren der neukapitalistischen Gesellschaften zählt. Ansonsten überall das<br />

gleiche Bild: stark wachsende Armut, sinkende Einkommen (besonders markant in Bulgarien, Polen,<br />

Rumänien, Rußland und der Ukraine, wo die Durchschnittseinkommen um 60 <strong>bis</strong> 70 Prozent unter den<br />

in der Zeit vor den Reformen üblichen liegen), wachsende Kriminalität, vor allem unter<br />

Jugendlichen. 195<br />

In einem Bericht für die Europäische Kommission kommt das Europäische Institut für regionale und<br />

lokale Entwicklung zu dem Schluß, daß in den vier vom Institut untersuchten Ländern Osteuropas die<br />

Menschen »Angst vor der Zukunft haben«. 40 Prozent aller Ungarn fänden die gegenwärtige<br />

Regierung »schlimmer« als die vorhergegangene. Eigentlich müsse, meint der Institutsleiter, die<br />

Reaktion auf die »Schocktherapie« für Experten wie Sachs eine Überraschung sein, berichtet die<br />

Chicago Tribune. Andere sind nicht überrascht, wie etwa der Nobelpreisträger Jan Tinbergen, der<br />

einen sozialdemokratischen Ansatz befürwortet. Der niederländische Ökonom Jan Berkouwer, der mit<br />

Tinbergen zusammenarbeitet, hält Sachs' Überzeugung, in Polen gebe es keine Armut und den<br />

Menschen gehe es besser, für falsch. »Mehr als 90 Prozent haben jetzt ein geringeres Einkommen, und<br />

ein paar Prozent haben mehr - möglicherweise sehr viel mehr.« Sachs meinte dazu in einem<br />

Telefoninterview: »Ich weiß wirklich nicht, was mit den Polen los ist. Sie sind nicht reich, aber sie<br />

leiden auch nicht.« Das sieht man in Polen offenbar ganz anders. 196<br />

Ebenso hält der Harvard-Ökonom Richard Parker die »Schocktherapie« für verfehlt. Auch nach den<br />

Reformen »sorgen die großen Staatsbetriebe, die von den Advokaten der Marktwirtschaft als<br />

sozialistische Dinosaurier verspottet werden, noch für 60 Prozent der polnischen Exporte.« Allerdings<br />

82


gibt es mittlerweile große Unterschiede zwischen individuellen und regionalen Einkommen und »auf<br />

zwei neue, oftmals völlig unterbezahlte Arbeitsplätze, die von der Privatwirtschaft geschaffen werden,<br />

kommt ein neuer Arbeitsloser«. Parker zitiert eine Untersuchung der Weltbank, der zufolge Polen den<br />

in der kommunistischen Ära üblichen Lebensstandard erst 2010 wieder erreichen wird, während die<br />

übrigen Länder noch länger brauchen dürften. Parker verweist, wie viele andere, auf die Wirtschaft der<br />

asiatischen Länder, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten am besten entwickelt hat, obwohl oder<br />

weil dort die akademischen Modelle der freien Marktwirtschaft unberücksichtigt blieben. Und im<br />

übrigen hat auch der Westen die »Ratschläge«, die er den ehemals kommunistischen Ländern erteilte,<br />

selbst nicht beherzigt, wobei angesichts des real existierenden <strong>Mac</strong>htgefälles das Wort »Ratschläge«<br />

vielleicht ein wenig zu milde ist. 197<br />

5. Der Blick nach vorn<br />

In den späten sechziger Jahren kündigte sich das Ende der Überflußgesellschaft an. Die starke<br />

Oppositionsbewegung gegen den Vietnamkrieg hinderte Washington daran, mit einer umfassenden<br />

Mobilmachung doch noch den Sieg davonzutragen, ohne die einheimische Wirtschaft zu schädigen.<br />

Vielmehr war man gezwungen, einen teuren »Butter-und-Kanonen-Krieg« zu führen, um die<br />

Bevölkerung ruhigzuhalten, während die Konkurrenz sich durch die kostenfreie Beteiligung an der<br />

Zerstörung Indochinas bereichern und zugleich die amerikanische Kriegslüsternheit begrübeln konnte.<br />

Wirtschaftlich gesehen wurde die Welt »tripolar«: Zu einem wiedererstarkten Europa gesellte sich als<br />

weitere <strong>Mac</strong>ht der asiatische Raum unter Führung Japans.<br />

In der unmittelbaren Nachkriegsordnung konnten sich die USA als Weltbankier etablieren, was US-<br />

Investoren zunächst große Vorteile verschaffte. Doch irgendwann war diese Funktion nicht mehr<br />

aufrechtzuerhalten, und 1971 kündigte Präsident Nixon einseitig die 1944 in Bretton Woods<br />

geschaffene Weltwirtschaftsordnung auf, indem er die Goldbindung des Dollars auflöste, temporäre<br />

Lohn-Preis-Kontrollen und allgemeine Importzuschläge einführte sowie durch fiskalische Maßnahmen<br />

die Staatsmacht über die <strong>bis</strong>herige Norm hinaus zur Wohlfahrtsinstitution für die Reichen machte.<br />

Steuern und Sozialausgaben wurden gesenkt, während die Subventionen für die Privatwirtschaft in<br />

kraft blieben. An dieser Politik hat sich <strong>bis</strong> heute nichts geändert, vielmehr wurde sie unter Reagan<br />

noch verschärft. Der von der Geschäftswelt geführte Klassenkrieg intensivierte sich in zunehmend<br />

globalem Umfang.<br />

1974 waren in den USA alle staatlichen Kontrollen über das Kapital beseitigt. Mit der Verschiebung<br />

des ideologischen Spektrums nach rechts wurden Regulierungsmaßnahmen zur Lenkung von<br />

Kapitalströmen als »ineffizient«, »gegen das nationale Interesse gerichtet« und »nicht marktgemäß«<br />

gebrandmarkt. Zugleich verbesserte sich »die Infrastruktur für Spekulationsgeschäfte erheblich«,<br />

schreibt der Finanzexperte John Eatwell von der Universität Cambridge. Außerdem verschärften die<br />

Industriemächte den Protektionismus und andere Formen staatlicher Eingriffe in Produktion und<br />

Handel. Patrick Low beschreibt die »fortgesetzte Verletzung von Freihandelsprinzipien, unter denen<br />

das GATT Anfang der siebziger Jahre, einer wirtschaftlich schwierigen Zeit, zu leiden begann.<br />

Damals gelang es ihm nicht, einen vollständigen Erfolg gegen den wachsenden Protektionismus und<br />

den systematischen Niedergang zu erringen.«<br />

Nixons Initiativen führten zu vermehrter Unordnung im internationalen Wirtschaftssystem, meint der<br />

Ökonom Paul Calleo, »es wurde weniger auf Regulierung und mehr auf <strong>Mac</strong>ht gesetzt«. Da eine<br />

»vernünftige Kontrolle des nationalen Wirtschaftslebens« nicht mehr in ausreichendem Maß<br />

vorhanden war, eröffneten sich internationalen Konzernen und Banken große Gewinnmöglichkeiten,<br />

<strong>zum</strong>al sie für den Fall, daß etwas schiefgehen sollte, auf staatliche Hilfe bauen konnten. Außerdem<br />

trugen die nach der Ölpreiskrise von 1973/74 anwachsenden Ströme von Petrodollars und die<br />

Revolution auf dem Telekommunikationssektor <strong>zum</strong> schnelleren und leichteren Kapitaltransfer bei.<br />

Umfangreiche Initiativen der Banken führten zur massiven Vergabe neuer Darlehen und Kredite und<br />

83


damit zur Schuldenkrise in der Dritten Welt, die sich wiederum negativ auf die Stabilität der Banken<br />

auswirkte, denen es immerhin gelang, die faulen Schulden an die öffentliche Hand weiterzureichen.<br />

Natürlich blieben die riesigen Mengen unreguliert fließenden Kapitals nicht ohne Auswirkung auf die<br />

Weltwirtschaft. Eatwell bemerkt: »1971, kurz vor dem Zusammenbruch des Systems von Bretton<br />

Woods, dienten etwa 90 Prozent aller Transaktionen mit dem Ausland der Finanzierung von Handelsund<br />

Langzeitinvestitionen, und nur 10 Prozent waren spekulativ. Heute ist die Relation genau<br />

umgekehrt, und die täglichen Spekulationsströme übersteigen regelmäßig die ausländischen<br />

Währungsreserven aller G-7-Regierungen.« Von 1986 <strong>bis</strong> 1990 stiegen diese Kapitalströme von unter<br />

300 Milliarden auf 700 Milliarden Dollar täglich; für 1994 wird eine Steigerung auf über 1,3 Billionen<br />

erwartet. Eine Folge ist, daß das »Wirtschaftswachstum in den siebziger und achtziger Jahren in allen<br />

Industrienationen der OECD stark zurückgegangen ist«. In den Ländern der G-7 betrug es nur die<br />

Hälfte des Umfangs der sechziger Jahre, während die Arbeitslosigkeit sich verdoppelte und die<br />

industrielle Produktivität erheblich abnahm. Darüber hinaus kann schon »der reine Umfang der<br />

Spekulationsströme die ausländischen Währungsreserven jeder Regierung in Bedrängnis bringen«. In<br />

den letzten Jahren waren Nationalbanken wiederholt außerstande, ihre Währungen vor Angriffen<br />

durch spekulatives Kapital zu schützen. Selbst für die reichen Nationen ist die Entwicklung der<br />

einheimischen Wirtschaft immer schwieriger zu planen; die Marktstabilität wird aufgeweicht, und die<br />

Regierungen sind gezwungen, eine Deflationspolitik zu betreiben, um die »Glaubwürdigkeit« des<br />

Markts aufrechtzuerhalten. Das wiederum führt zu niedrigem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit,<br />

sinkenden Reallöhnen und zunehmender Armut und Ungleichheit. 198<br />

Die Weltbank schätzte vor kurzem die Gesamtreserven der internationalen Finanzinstitutionen auf<br />

etwa 14 Billionen Dollar. Die europäischen Zentralbanken können die nationalen Währungen nicht<br />

mehr schützen, und das europäische Währungssystem ist »praktisch zusammengebrochen«, weil es<br />

sich nicht gegen »die <strong>Mac</strong>ht der globalen Kapitalmärkte wehren kann«, heißt es in einem Bericht der<br />

Financial Times. Über den riesigen, unregulierten internationalen Kapitalmarkt können die Investoren<br />

Druck ausüben: »Wenn ihnen die Wirtschaftspolitik eines Landes nicht gefällt«, werden sie versuchen,<br />

Änderungen zu erzwingen. Vor allem in der Dritten Welt ist dieser Kapitalmarkt »nichts weiter als der<br />

verlängerte Arm des Wirtschaftsimperialismus«, dem sie noch schutzloser ausgeliefert sind als die<br />

reichen Nationen. 199<br />

Selbst die Vereinigten Staaten sehen sich diesen Problemen konfrontiert. Zwar können sie<br />

»Ratschläge« des IWF, die bei Drittweltländern eher als Befehle gelten, ignorieren, so wie die<br />

Regierung Bush es im Oktober 1992 tat, als der Währungsfonds Maßnahmen gegen das<br />

Haushaltsdefizit -u. a. Steuer- und Gesundheitsreformen - empfahl. Aber sie können sich nicht dem<br />

Zugriff der internationalen Wertpapierinvestoren entziehen, die sich jetzt »gegenüber der US-<br />

Wirtschaftspolitik in einer Position nie zuvor gekannter <strong>Mac</strong>ht - vielleicht <strong>bis</strong> hin <strong>zum</strong> Veto - befinden<br />

dürften«, berichtete das Wall Street Journal gleich nach den Wahlen von 1992. Wenn diese Investoren<br />

»auch nur mit einer geringfügigen Dosis Angst reagieren, wodurch die langfristigen Zinsen um einen<br />

Prozentpunkt steigen, würde das Defizit um weitere 20 Milliarden Dollar wachsen und sich praktisch<br />

auf 40 Milliarden verdoppeln«. Das wären genau jene 20 Milliarden, die Clintons Berater als Stimulus<br />

für die Wirtschaft vorgesehen hatten. Diese Konsequenz der von Reagan und Bush angehäuften<br />

Schulden erweist sich als Bremse für eventuelle staatliche Fördermaßnahmen, die Clintons Berater in<br />

Erwägung ziehen könnten, Fördermaßnahmen der falschen Art, wie das Wall Street Journal andeutete.<br />

Kurz darauf zerschlugen sich Clintons halbherzige Wirtschaftsförderungsabsichten; das Weiße Haus<br />

und der Kongreß einigten sich auf einen deflationsorientierten Haushalt, der sich von dem der<br />

Regierung Bush nicht wesentlich unterschied und sogar die Investitionen in »Humankapital«, die unter<br />

Bush gestiegen waren, zurückfuhr. 200<br />

Verändert wurde die Weltwirtschaftsordnung auch durch den beträchtlichen Anstieg der<br />

Internationalisierung der Produktion. Das ist ebenfalls ein weiterer Schritt zur Unterordnung der<br />

Weltwirtschaft unter die Interessen von internationalen Konzernen und Finanzinstitutionen,<br />

beschleunigt durch das Ende des Kalten Kriegs und die Rückkehr Osteuropas zu seiner traditionelle<br />

Rolle als Dienstleistungsunternehmen für die westeuropäischen Staaten. Zudem gibt es damit neue<br />

Methoden, die einheimische Bevölkerung zu disziplinieren.<br />

84


Diese Methoden sind höchst einfach. Da das Kapital im Gegensatz zur Arbeiterschaft und ihren<br />

Organisationen höchst mobil ist, können Unternehmer die Arbeitskräfte einer Nation gegen die einer<br />

anderen ausspielen und so den Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit erheblich herabdrücken.<br />

Interessant dabei ist, daß die klassische Wirtschaftstheorie das Verhältnis von Mobilität und<br />

Immobilität noch völlig anders sah: Zu Ricardos Zeit galt, realistischerweise, die Arbeitskraft als<br />

mobil im Gegensatz <strong>zum</strong> eher immobilen Kapital, weshalb der Freihandel als vorteilhaft galt.<br />

General Motors will zwei Dutzend Fabriken in den USA und Kanada schließen, ist aber <strong>zum</strong> größten<br />

Arbeitgeber in Mexiko geworden. Der Konzern konnte das dortige »Wirtschaftswunder« nutzen, das<br />

in den letzten zehn Jahren zu einem starken Absinken des Lohnniveaus geführt hat. Mitte der siebziger<br />

Jahre lag der Anteil der Löhne am Privateinkommen noch bei 36 Prozent, 1992 nur noch bei 23<br />

Prozent, berichtet der Ökonom David Barkin, während 94 Prozent der Aktienanteile in nichtstaatlicher<br />

Hand von weniger als 8000 Eignern (darunter 1500 ausländische) kontrolliert werden.<br />

Unterdessen ist auch Osteuropa interessant geworden. In Ostdeutschland hat GM für 690 Millionen<br />

Dollar eine Montagefabrik errichtet, weil die Arbeiter in der Region bereit sind, »länger zu arbeiten als<br />

ihre verhätschelten Kollegen im Westen« und das zu weit geringeren Löhnen, wie die Financial Times<br />

erklärt. Polen ist sogar noch verlockender, weil dort die Löhne 10 Prozent der im Westen üblichen<br />

betragen, was sich, wie die Financial Times schreibt, auch einer restriktiveren Regierungspolitik<br />

verdankt. Zwar ist Polen in puncto Unterdrückung der Arbeiter noch nicht so weit wie Mexiko, aber<br />

man darf ja hoffen. Die »Gewerkschaft Solidarität«, bei ihrem Kampf gegen die Kommunisten der<br />

Liebling des Westens, ist jetzt <strong>zum</strong> Feind geworden, es sei denn, die Gewerkschaftsführer helfen bei<br />

der Durchsetzung der Reformen mit, in welchem Falle sie von der polnischen Arbeiterschaft und<br />

Bevölkerung als Feind angesehen werden. 201<br />

Außerdem gibt es Steuererleichterungen und andere Geschenke für die Investoren. Als GM bei<br />

Warschau eine Autofabrik kaufte, gehörte zu den nicht öffentlich gemachten Bedingungen ein von der<br />

Regierung gewährter dreißigprozentiger Zollschutz, bemerkt Alice Amsden. VW wiederum nutzt die<br />

niedrigen Lohnkosten in der Tschechischen Republik und konnte zudem der Regierung die Kosten für<br />

Schulden und Umweltverschmutzung aufbürden. Ähnlich profitable Geschäfte machte jüngst Daimler-<br />

Benz mit Alabama. 202<br />

Aber die Hauptanziehungskraft ist billige, nicht von gewerkschaftlichen Organisationen geschützte<br />

Arbeit. »Direkt vor unserer Haustür haben wir jetzt <strong>zum</strong> ersten Mal eine beträchtliche Menge billiger<br />

und gut ausgebildeter Arbeitskräfte«, bemerkte der BDI-Präsident in Köln, der darauf verwies, daß die<br />

Lohnkosten im Westen sinken müßten, wenn die westeuropäischen Arbeiter überhaupt noch<br />

international konkurrenzfähig sein sollten. Die Gewerkschaften haben die Botschaft schon<br />

vernommen. »Jedesmal, wenn wir aufgefordert werden, der Streichung von Vergünstigungen<br />

zuzustimmen, sagt man uns, daß wir im direkten Wettbewerb mit Taiwan stehen«, wo die Löhne ein<br />

Drittel der britischen und ein Fünftel der westdeutschen betragen, bemerkte ein britischer<br />

Gewerkschaftsfunktionär und fügte hinzu: »Die Botschaft des Managements an die Arbeiter lautet:<br />

Wenn ihr bei den Lohnkosten nicht nachgebt, gehen wir eben woanders hin.« 203<br />

Die zu lernenden Lektionen lassen sich in Business Week nachlesen: Europa muß »hohe Löhne und<br />

Konzernsteuern senken, luxuriöse Sozialprogramme kürzen, die Arbeit flexibilisieren und die<br />

Arbeitszeiten verlängern«. In Großbritannien hat man das schon begriffen, in den Vereinigten Staaten<br />

ist man dabei, und die Angleichung der Arbeitsbedingungen an Drittweltstandards hat es südöstlichen<br />

US-Staaten mit schwachen Gewerkschaften ermöglicht, ausländische Konzerne ins Land zu holen.<br />

Den Deal von Daimler-Benz mit Alabama erwähnten wir bereits; die versprochenen Subventionen und<br />

Steuererleichterungen wird der Staat »teuer bezahlen«, zitierte das Wall Street Journal eine Gruppe für<br />

Wirtschaftsentwicklung aus North Carolina, die Alabamas Triumph über die Mitbewerber als<br />

»Pyrrhussieg« bezeichnete. »So etwas kann der geschwächten Wirtschaft nicht auf die Beine helfen.<br />

Die ökonomischen Bedingungen gleichen denen in der dritten Welt. Da geht Geld verloren, das in<br />

Menschen, Straßen, staatliche Einrichtungen investiert werden müßte. Und auch für die Bildung fehlt<br />

Alabama das Geld.« 204<br />

85


Das Leitprinzip ist einfach: Profit für die Investoren ist der höchste menschliche Wert, dem alles<br />

untergeordnet werden muß. Menschliches Leben hat Wert, insofern es zu diesem Zweck beiträgt. Je<br />

mehr die Wirtschaft globalisiert wird, desto stärker können auch Lebens- und Umweltstandards global<br />

»harmonisiert« werden, allerdings nach unten und nicht nach oben. Es ist kaum wahrscheinlich, daß<br />

die Integration Mexikos in die US-Wirtschaft unter dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen<br />

NAFTA zur Erhöhung der Löhne mexikanischer Arbeiter führen wird. Ganz im Gegenteil:<br />

»Ökonomen sagen voraus, daß in den ersten fünf Jahren nach der Umsetzung des Abkommens einige<br />

Millionen Mexikaner ihre Arbeitsplätze verlieren werden«, hieß es in der New York Times, nachdem<br />

das US-Repräsentantenhaus dem Abkommen zugestimmt hatte. Die führende mexikanische<br />

Wirtschaftszeitung El Financiero prophezeite, daß Mexiko in den ersten zwei Jahren ein Viertel seiner<br />

Industriebetriebe und 14 Prozent der Arbeitsplätze verlieren werde.<br />

Dabei hat Mexiko eigentlich schon genug unter den Reformen gelitten. In den Landgebieten ist die<br />

Anzahl der in absoluter Armut lebenden Menschen um ein Drittel gestiegen, und der Hälfte der<br />

Gesamtbevölkerung fehlen die Mittel zur Befriedigung von Grundbedürfnissen. Die Agrarproduktion<br />

wurde, gemäß Vorschriften von IWF und Weltbank, auf Exportprodukte und Tiernahrung umgestellt,<br />

während Unterernährung zu einem vordringlichen Gesundheitsproblem wurde. Die Arbeitsplätze in<br />

der Landwirtschaft gingen zurück, fruchtbare Ländereien wurden aufgegeben, und Mexiko mußte<br />

dazu übergehen, Lebensmittel in großem Umfang zu importieren. Außer Profiten für die üblichen<br />

Verdächtigen haben Mexiko die »acht Jahre Marktwirtschaftspolitik nach dem Lehrbuch« (Financial<br />

Times) jedoch wenig eingebracht; das geringfügige Wachstum verdankte sich in erster Linie<br />

umfassender finanzieller Unterstützung seitens der Weltbank und der USA, die das<br />

»Wirtschaftswunder« am Leben erhalten wollten. Hohe, Zinsraten konnten immerhin die Kapitalflucht<br />

bändigen, die einer der Hauptfaktoren bei Mexikos Schuldenkrise war. Die Schuldenlast wächst<br />

dennoch; ihre größte Komponente sind mittlerweile die Inlandsschulden gegenüber den Reichen. 205<br />

Die grundlegenden Ziele internationaler Handelsabkommen wurden bereits 1983 von Henry Gray,<br />

dem leitenden Direktor von United Technologies, umrissen: Wir brauchen »ein weltweit<br />

geschäftsfreundliches Klima ohne die Einmischung von Regierungen« wie etwa »Inhaltsangaben auf<br />

Verpackungen« und »Inspektionsmaßnahmen« <strong>zum</strong> Schutz der Verbraucher. Die US-Regierung hatte<br />

den Hinweis sofort verstanden: Als die WHO mit 118 Stimmen den Nestlé-Konzern wegen seiner<br />

aggressiven Vermarktung von Babynahrung in der Dritten Welt verurteilte, kam die einzige<br />

Gegenstimme von den USA, obwohl die Reaganisten sich der Gefahren, die von der Nahrung<br />

ausgingen, durchaus bewußt waren. 206<br />

Aber der Kapitalismus verlangt, sterbende Kinder hin oder her, offene Märkte, und sie zu schaffen,<br />

sind GATT und NAFTA da. Die Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer funktioniert auch<br />

ohne solche Abkommen, aber NAFTA kann, wie nicht nur der Vorstandsvorsitzende von Eastman<br />

Kodak, Kay Whitmore, erklärte, »die Öffnung der mexikanischen Wirtschaft auf Dauer stellen, so daß<br />

sie nicht mehr in den Protektionismus zurückfällt«. Dabei gehörten, der OECD zufolge, die<br />

Protektionsraten in Mexiko schon 1966 zu den niedrigsten aller Entwicklungsländer. NAFTA solle es,<br />

so Michael Aho vom Council on Foreign Relations, Mexiko ermöglichen, »seine bemerkenswerten<br />

Wirtschaftsreformen zu konsolidieren«. Die »Anziehungskraft« des Abkommens für viele<br />

mexikanische Regierungstechnokraten liegt, wie die Wirtschaftspresse berichtet, genau darin, daß in<br />

puncto Wirtschaftspolitik zukünftigen Regierungen die Hände gebunden wären. Ein Arbeitskreis zur<br />

strategischen Entwicklung in Lateinamerika, der im Pentagon tagte, fand die gegenwärtigen<br />

Beziehungen zur mexikanischen Diktatur »außerordentlich positiv«, trotz gefälschter Wahlen, trotz<br />

Todesschwadronen, Folter und skandalöser Schikanierung von Arbeitern und Bauern. Allerdings gab<br />

es eine Wolke am Horizont: Eine »demokratische Öffnung« könnte die besondere Beziehung<br />

zwischen den USA und Mexiko auf die Probe stellen, d. h., eine Regierung, die »aus ökonomischen<br />

und nationalistischen Gründen eher an einer Konfrontation der USA interessiert ist«. Das ist das alte<br />

Lied: Gefährlich ist eine unabhängige, demokratische Entwicklung, die auf niedriges Wachstum und<br />

hohe Arbeitslosigkeit keinen Wert legt. 207<br />

Die US-Regierung dagegen legt keinen Wert auf Demokratie, wie schon die Durchsetzung des<br />

NAFTA-Abkommens zeigt, das von der Exekutive an der Öffentlichkeit weitgehend vorbeigeschleust<br />

86


wurde. Eigentlich erfordert das Handelsgesetz von 1974, daß das vorwiegend gewerkschaftlich<br />

ausgerichtete Labor Advisory Committee bei Handelsabkommen seine Zustimmung erteilen muß.<br />

Allerdings erfuhr das LAC erst am 8. September 1992, daß sein Bericht am nächsten Tag vorliegen<br />

müsse. Das LAC konnte also nicht mehr formell zusammentreten und beraten. Außerdem habe »die<br />

Regierung keinen Rat von außen zur Entwicklung dieses Dokuments zugelassen und auch keinen<br />

kommentierfähigen Entwurf vorgelegt«, was gegen das Gesetz verstößt. In Kanada und Mexiko war<br />

die Situation ähnlich. Berichtet wurde darüber nichts. 208<br />

Auf diese Weise erreichen wir das langersehnte Ideal: Formaldemokratische Verfahrensweisen, die<br />

jeder Bedeutung entkleidet sind, damit die Bürger nicht die politische Arena betreten und somit auch<br />

nicht wissen, wie die Politik beschaffen ist, die über ihr Leben verfügt. Und noch besser ist es, wenn<br />

sie nicht einmal wissen, daß sie es nicht wissen.<br />

Und nicht nur besser, sondern wichtig. Denn in der Regierungsversion des NAFTA sind die Rechte<br />

von Eigentümern und Investoren <strong>bis</strong> ins Detail geregelt, während arbeitsrechtliche und ökologische<br />

Probleme keine Rolle spielen. Vielmehr können Umwelt- und Krankenschutzmaßnahmen sogar in<br />

Frage gestellt werden, wenn sie mit dem »freien Handel« konfligieren; ob das der Fall ist, entscheiden<br />

Komitees, die vor allem aus Repräsentanten der (Geschäftswelt bestehen. Das Abkommen begünstigt<br />

die Verlagerung in Regionen mit schwachen Regulierungsvorkehrungen und laxen Kontrollen.<br />

NAFTA »wird demokratisch gewählte Körperschaften auf allen Regierungsebenen daran hindern,<br />

Maßnahmen durchzusetzen, die für unvereinbar mit den Bestimmungen des Abkommens gehalten<br />

werden«, heißt es im Bericht des LAC. Solche Entwicklungen waren bereits im Rahmen des<br />

Freihandelsabkommens zwischen den USA und Kanada sichtbar geworden, wie etwa im Versuch,<br />

Kanada zur Aufgabe von Schutzmaßnahmen für den Pazifiklachs zu bewegen, Vorschriften für<br />

Pestizide und Emissionen den niedrigeren US-Standards anzupassen, Subventionen für die<br />

Wiederaufforstung nach Holzeinschlag zu streichen und einen Versicherungsplan der Regierung von<br />

Ontario zu kippen, der den US-Versicherungsfirmen Verluste in dreistelliger Millionenhöhe beschert<br />

hätte. Da diese Firmen mit massiven Schadenersatzklagen drohten, ließ die Regierung den Plan<br />

tatsächlich fallen. Kanada wiederum hat die USA beschuldigt, faire Handelsbeziehungen zu verletzen,<br />

weil Washington bei der Benutzung von Asbest (wie z. B. im Zeitungsdruck) die weicheren Normen<br />

der US-Umwelt»schutz«behörde durchsetzen wollte. So eröffnen sich endlose Optionen zur<br />

Unterminierung des Umweltschutzes, während wir mit Clinton »die Marktdemokratie ausweiten«. 209<br />

Insgesamt, schließt der Bericht des LAC, »werden die US-Konzerne ... enorme Profite einfahren. Die<br />

Vereinigten Staaten insgesamt jedoch und ganz besonders einzelne Gruppierungen, werden verlieren.«<br />

Das LAC forderte Neuverhandlungen, für die es konstruktive Vorschläge unterbreitete. Auch das dem<br />

Kongreß zugehörige Office of Technology Assessment (OTA) kam zu ähnlichen Folgerungen.<br />

Angesichts der sinkenden Reallöhne, hieß es in seinem Bericht, würde die unter Ausschluß der<br />

Öffentlichkeit geplante Version von NAFTA »die strukturellen Fehler der ökonomischen Integration«<br />

festschreiben und könnte »die Vereinigten Staaten auf unumkehrbare Weise in eine Zukunft mit<br />

niedrigen Löhnen und geringer Produktivität« führen. Dagegen würde die »Berücksichtigung<br />

einheimischer und kontinentaler sozialpolitischer Maßnahmen und parallel dazu eine Übereinkunft mit<br />

Mexiko hinsichtlich arbeitsrechtlicher und umweltpolitischer Themen« für das Land eine<br />

Bereicherung sein.<br />

Aber das Land ist nur von zweitrangiger Bedeutung. Die Herren und Meister spielen ein anderes Spiel,<br />

dessen Regeln durch das erhellt werden, was die Presse »das Paradoxon von '92« nannte: »Schwache<br />

Wirtschaft, starke Gewinne«. Als geographische Entität kann »das Land« den Bach runtergehen, denn<br />

die weltwirtschaftspolitischen Strategen haben größere Ziele. 210<br />

In den meisten US-Berichten wird der Eindruck erweckt, Mexiko stehe voll und ganz hinter dem<br />

Abkommen, aber das trifft nur für die Eliten zu. Der Historiker Seth Fein spricht nämlich von großen<br />

Demonstrationen gegen NAFTA, die in dem Abkommen einen Anschlag auf die Verfassung von 1917<br />

sehen, in den USA jedoch kaum wahrgenommen wurden. In der Los Angeles Times schreibt Juanita<br />

Darling über die Angst der mexikanischen Arbeiter vor dem Verlust ihrer hart erkämpften Rechte, und<br />

ein Kommuniqué der mexikanischen Bischöfe zu NAFTA vom 1. November 1993 verurteilte das<br />

87


Abkommen ebenso wie die Wirtschaftspolitik, deren Bestandteil es ist, wegen der schädlichen<br />

Auswirkungen auf die Gesellschaft. Homero Ardijis, der Vorsitzende von Mexikos führender<br />

Umweltorganisation, beklagte »die dritte Eroberung, unter der Mexiko zu leiden hat. Die erste war<br />

kriegerisch, die zweite spirituell, die dritte ist wirtschaftlich«. 211<br />

Selbst die mexikanische Geschäftswelt zeigte keine große Begeisterung. Auf dem Kongeß der<br />

Internationalen Handelskammern im Oktober 1993 in Cancün meinte der Generaldirektor des<br />

Panamerikanischen Unternehmerinstituts, daß die transnationalen Konzerne einen Mehrheitsanteil an<br />

mexikanischen Firmen verlangten und damit drohten, sie anderenfalls aus dem Markt zu drängen.<br />

Andere verwiesen besorgt auf die Gefahren für den Mittelstand, und eine führende Tageszeitung<br />

stellte, als die Abstimmung im Kongreß über NAFTA näherrückte, lakonisch fest: »Eins ist gewiß: Bei<br />

jedem Vertrag mit den Vereinigten Staaten hat Mexiko verloren.« 212<br />

Da in den USA trotz der fast einmütigen Befürwortung des NAFTA-Entwurfs durch Regierung,<br />

Konzerne und Medien die öffentliche Skepsis stieg, konnte das Vorhaben nicht mit der zunächst<br />

intendierten Heimlichkeit durchgesetzt werden. Allerdings spielten die Bedenken und konkreten<br />

Vorschläge der Kritiker des Entwurfs bei der Diskussion in der Presse keine Rolle. Vielmehr wurde<br />

der Konflikt dargestellt, als ginge es um den Kampf der edlen Vertreter des Freihandels »gegen das<br />

Gekreisch von Ross Perot und Pat Buchanan, fremdenfeindlicher Gewerkschaften und einer<br />

gespaltenen Umweltbewegung« - so der liberale Kolumnist Thomas Oliphant vom Boston Globe. Da<br />

der Freihandel natürlich das Gute repräsentiert, müssen die kreischenden Gegner auf der Seite des<br />

Bösen stehen, und gemäß dieser Einstellung wurden die Argumente denn auch ausgewählt. Eine<br />

ernsthafte Erörterung der eigentlich wichtigen Themen fand nicht statt. 213<br />

Die New York Times hieb in dieselbe Kerbe. In einem Aufmacher beglückte sie die stupiden Massen<br />

mit einem, so die Überschrift, »Leitfaden: Warum Ökonomen das Freihandelsabkommen<br />

befürworten«. Kritiker des NAFTA-Entwurfs sind »böswillige« Lügner, denen man die<br />

»grundlegenden Einsichten« über den Freihandel, die seit 250 Jahren unverändert geblieben sind, erst<br />

mühsam beibringen muß. So wird auf das »legendäre Lehrbuch« verwiesen, in dem Paul Samuelson<br />

John Stuart Mill mit den Worten zitiert, daß der internationale Handel »eine effizientere Verwendung<br />

der weltweiten Produktivkräfte« bewirke. Dagegen können doch wirklich nur Verrückte sein! 214<br />

Werfen wir einen Blick auf die konkrete Wirtschaftsgeschichte. Natürlich konnten nur Verrückte<br />

gegen die Entwicklung einer Textilindustrie in den <strong>Neue</strong>nglandstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

sein, als die britische Textilproduktion so viel effizienter war, daß ohne hohe Schutzzölle der halbe<br />

Industriesektor <strong>Neue</strong>nglands bankrott gegangen und die industrielle Entwicklung in den Vereinigten<br />

Staaten <strong>zum</strong> Stillstand gekommen wäre. 215 Und nur Verrückte konnten gegen die hohen Zölle sein, mit<br />

denen die USA die Produktion von Stahl und anderen Gütern entwicklungsfähig machten. Und die<br />

moderne Elektronik konnte nur durch substantielle Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Ohne all<br />

diese und andere Verstöße gegen den Freihandel würden die USA heute noch Felle exportieren,<br />

während Indien möglicherweise eine industrielle Revolution erlebt hätte und eine blühende Textil- und<br />

Schiffbauindustrie besäße. Und war die Sklaverei in den Vereinigten Staaten, durch die es überhaupt<br />

erst gelang, »König Baumwolle« <strong>zum</strong> Motor der industriellen Revolution zu machen, etwa keine<br />

Verletzung von Marktprinzipien? Ganz zu schweigen von der Ausrottung der einheimischen<br />

Bevölkerung. Warum also sollte der NAFTA-Entwurf die Sorgen und Interessen der Kritiker in allen<br />

drei vom Abkommen betroffenen Ländern berücksichtigen? Das können tatsächlich nur Verrückte<br />

fordern.<br />

Dennoch gab der Widerstand gegen den NAFTA-Entwurf nicht auf, was in den herrschenden Kreisen<br />

ernsthafte Besorgnis hervorrief. Präsident Clinton verurteilte die »Muskelspiel-Taktik« der<br />

Gewerkschaften, die sich sogar mit Bitten und Drohungen an die gewählten Repräsentanten wendeten<br />

und damit auf wirklich erschreckende Weise in den demokratischen Prozeß eingriffen. Die Zeitungen<br />

brachten große Artikel über Clintons Aufforderung an den Kongreß, sich dieser »Pressionspolitik ...<br />

der mächtigen Gewerkschaftsinteressen zu widersetzen«. Noch Monate nach der Niederlage der<br />

NAFTA-Gegner erschauerte die Presse angesichts »all dieser Drohgebärden seitens der<br />

Arbeiterorganisationen« und lobte Clinton für sein Bemühen, die NAFTA-Befürworter vor der »Rache<br />

88


der Gewerkschaften« zu bewahren. Wie das Wall Street Journal düster vermerkte, reichte die »breite<br />

Koalition der Gegner« sogar über die Arbeiterbewegung hinaus und umfaßte »Umweltschützer, gut<br />

situierte Perot-Anhänger und Tausende von lokalen Aktivisten überall im Land« - Extremisten also,<br />

die glauben, NAFTA diene »dem Nutzen der multinationalen Konzerne«, wogegen sie mit einem<br />

»Nieder-mit-den-Reichen-Populismus reinsten Wassers« polemisieren. Auch ein »Linksliberaler« wie<br />

Anthony Lewis schmähte die »rückwärtsgewandte, unaufgeklärte« Arbeiterbewegung ob ihrer<br />

»kruden Drohgebärden« gegen den Kongreß, die »Angst vor Veränderungen und vor Ausländern«<br />

verrieten.<br />

In einem Leitartikel am Tag vor der Abstimmung im Kongreß denunzierte die New York Times<br />

demokratische Abgeordnete, die gegen das Abkommen seien, weil sie Angst hätten »vor dem Zorn der<br />

organisisierten Arbeiterschaft« und ihren politischen Aktionskomitees, die »erheblich zur<br />

Finanzierung ihrer Wahlkämpfe beitragen«. In einer Tabelle waren die Beiträge für NAFTA-Gegner<br />

aufgeführt - ein »alarmierendes Zeichen«, wie die Herausgeber mit drohendem Unterton bemerkten. 216<br />

Einige der Angegriffenen wiesen darauf hin, daß die New York Times keine Liste mit Beiträgen von<br />

Konzernen zu Wahlkämpfen veröffentlich habe. Natürlich auch nicht mit NYT-Anzeigenkunden und<br />

Besitzern, die NAFTA unterstützen, was vielleicht ein ganz anderes »alarmierendes<br />

Zeichen« wäre und die Unabhängigkeit der Herausgeber in ein schiefes Licht rücken könnte. Aber<br />

solche Forderungen sind selbstredend unangemessen, weil es in der Natur der Dinge liegt, sich den<br />

Forderungen der Konzerne anzubequemen; darüber muß nicht noch eigens berichet werden. Überdies<br />

brachte die New York Times nach all dem Jammern über die schreckliche <strong>Mac</strong>ht der Gewerkschaften<br />

einen Beitrag auf der ersten Seite, der die Wahrheit enthüllte: Die Konzernlobby war schlicht und<br />

ergreifend stärker gewesen als die Bemühungen der Arbeiterorganisationen. Der Beitrag erschien am<br />

Tag nach der Abstimmung und enthielt sogar die sonst verbotene Wendung von den »Klassenlinien«,<br />

an deren Verlauf sich die »häßliche« und »spalterische Schlacht« um das Abkommen abgespielt<br />

habe. 217<br />

Am selben Tag gab die New York Times einen ersten Überblick über die erwartbaren wirtschaftlichen<br />

Auswirkungen des Abkommens in der Region von New York City. Hier nun waren die<br />

»Klassenlinien« deutlich zu erkennen.<br />

Zu den führenden Gewinnern würden die um den Finanzsektor gruppierten Unternehmen gehören,<br />

also Banken, Telekommunikations- und Dienstleistungsfirmen. Management- und Rechtsberater, PR-<br />

Unternehmen und Marketingfirmen scharren bereits mit den Hufen, »um Betätigungsfelder in Mexiko<br />

zu suchen«, ähnliches gilt für das Bankgewerbe, das große Investitionen und den Aufkauf<br />

mexikanischer Unternehmen plant. Ebenso werden Technologie- und Pharmazieproduzenten von den<br />

Bestimmungen des Abkommens über Patentschutz und »geistiges Eigentum« profitieren. Und<br />

schließlich dürften auch »die zwei größten warenproduzierenden Industrien der Region«, nämlich die<br />

kapitalintensive Chemie und das Publikationsgewerbe zu den Gewinnern gehören. Aber wer wollte<br />

der New York Times unseriöse Berichterstattung vorwerfen?<br />

Es gibt, wie immer, auch ein paar Verlierer, die der Bericht am Rande erwähnte. Zu ihnen gehören<br />

»vor allem Frauen, Schwarze und Latinos« sowie »minder qualifizierte Arbeitskräfte« ganz allgemein,<br />

d. h. also, die Mehrheit der Bevölkerung in New York City, wo 40 Prozent der Kinder bereits<br />

unterhalb der Armutsgrenze leben und vom Gesundheits- und Bildungssystem weitgehend<br />

ausgeschlossen sind. Aber das sind eben die unvermeidlichen Begleiterscheinungen des Fortschritts<br />

und einer gesunden Wirtschaft. »Veränderungen können durchaus schmerzhaft sein«, ermahnte<br />

Anthony Lewis die Gewerkschaften. Für manche Bevölkerungsgruppen auf jeden Fall. 218<br />

Die leidenschaftlichen Schuldzuweisungen an die Gewerkschaften beeinflußten die öffentliche<br />

Meinung auf merkwürdige Weise. Zwar war die Bevölkerung auch weiterhin mehrheitlich gegen den<br />

NAFTA-Entwurf, aber zwei Drittel kritisierten die Gewerkschaften wegen ihres unbegründeten<br />

Widerstands gegen Veränderungen und meinten, sie hätten sich bei diesem Thema zu sehr »politisch<br />

eingemischt«. Das Propaganda-Sperrfeuer hat also die Haltungen gegenüber dem Abkommen kaum<br />

89


verändert, aber den Kräften geschadet, die im Interesse der Bevölkerungsmehrheit dagegen<br />

Widerstand geleistet haben. 219<br />

Während Wirtschaftsmodelle keine sicheren Folgerungen über den Transfer von Arbeitsplätzen bieten,<br />

wird eine weitere Polarisierung von vielen Experten für wahrscheinlich gehalten. »Viele Ökonomen<br />

glauben, daß NAFTA zur Lohnsenkung beiträgt«, schrieb Steven Pearlstein in der Washington Post,<br />

»indem die niedrigeren Löhne in Mexiko den Vorreiter für die Bezahlung amerikanischer Arbeiter<br />

spielen.« Edward Leamer von der Universität in Los Angeles (UCLA) hält es für möglich, daß das<br />

Abkommen »gegen Ende des Jahrzehnts Facharbeitern und Technikern 3000 Dollar mehr pro Jahr<br />

einbringt, während alle anderen 750 Dollar verlieren, so daß der Durchschnittsamerikaner einen<br />

Verlust von 200 Dollar pro Jahr zu tragen hätte«. Paul Krugman sieht die einzig negative Konsequenz<br />

in einem »leichten Rückgang bei den Reallöhnen von ungelernten Arbeitern«, die immerhin 70<br />

Prozent der Gesamtarbeiterschaft ausmachen. 220<br />

Interessant ist auch, was sich an Ereignissen nach der Verabschiedung des Abkommens zutrug. In<br />

Mexiko wurden Arbeiter der Fabriken von Honeywell und General Electric gefeuert, weil sie versucht<br />

hatten, unabhängige Gewerkschaften zu gründen. Das ist im übrigen eine geläufige Praxis. Ford hatte<br />

bereits 1987 die gesamte Belegschaft entlassen, den Vertrag mit der Gewerkschaft gekündigt und neue<br />

Kräfte zu sehr viel niedrigeren Löhnen eingestellt. VW folgte 1992: 14 000 Arbeiter wurden<br />

gekündigt und nur die wiedereingestellt, die sich gegen unabhängige Gewerkschaftsführer<br />

aussprachen. In beiden Fällen erhielten die Konzerne Rückendeckung durch die Regierung.<br />

Das alles sind zentrale Komponenten des mexikanischen Wirtschaftswunders, das mit NAFTA<br />

festgeschrieben werden soll. Als das Abkommen am 1. Januar 1993 in Kraft trat, kam es unter den<br />

Maya-Indianern von Chiapas zu einem Aufstand. Die Führer nannten das Abkommen ein<br />

»Todesurteil« für die Indianer, weil es die Kluft zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen<br />

noch vertiefen und die Reste der Urbevölkerung zerstören werde. Nach anfänglichen Versuchen, den<br />

Aufstand gewaltsam zu beenden, machte die mexikanische Regierung einen Rückzieher, wohl, weil<br />

sie fürchtete, der Protest könnte auf breite Sympathie stoßen. Erste Umfragen zeigten, daß tatsächlich<br />

75 Prozent der mexikanischen Bevölkerung mit den Zielen der Zapatisten von Chiapas einverstanden<br />

war. 221<br />

In den USA verabschiedete der Senat gleich nach dem Abkommen ein Gesetz zur<br />

Verbrechensbekämpfung von noch nicht gekannter Härte, »das beste Gesetzespaket in der<br />

Geschichte«, wie Orrin Hatch von der extremen Rechten lobte. So wurden die Bundeszuschüsse für<br />

die einzelstaatliche Verbrechensbekämpfung um das Sechsfache erhöht, 100 000 neue<br />

Hochsicherheitsgefängnisse sollen gebaut und Arbeitslager für straffällig gewordene Jugendliche<br />

errichtet werden. Vorgesehen ist auch die Ausweitung der Todesstrafe und härtere Urteile.<br />

Rechtsexperten bezweifelten, daß diese Gesetzgebung durchschlagende Wirkung erzielen werde, weil<br />

sie sich nicht mit den »Ursachen der sozialen Desintegration, die kriminelle Gewalttäter hervorbringt«,<br />

befaßt. Dazu gehört vor allem eine Sozial- und Wirtschaftspolitik, die die amerikanische Gesellschaft<br />

weiter polarisiert, wozu auch NAFTA einiges beiträgt. Und wenn man die weniger profitträchtigen<br />

Gruppen der Gesellschaft, die in Armut und Verzweiflung leben, nicht auf die Slums beschränken<br />

kann, muß man sie eben anderenorts einsperren. 222<br />

6. Die Konturen der <strong>Neue</strong>n Weltordnung<br />

Herrschaftsstrukturen bilden sich im Umfeld nationaler <strong>Mac</strong>htzentren, die in den letzten Jahrhunderten<br />

ökonomischer Provenienz gewesen sind; ein Prozeß, der sich fortsetzt. James Morgan,<br />

Wirtschaftskorrespondent der BBC, beschreibt in der Financial Times die »faktische Weltregierung«,<br />

die seit einiger Zeit Gestalt annimmt und in Form von IWF, Weltbank, G-7, GATT und weiteren<br />

Strukturen den Interessen der transnationalen Konzerne, Banken und Investmentfirmen in einem<br />

»neuen imperialen Zeitalter« dient. Und die South Commission merkt an, daß »die mächtigsten<br />

90


Länder des Nordens de facto <strong>zum</strong> oberen Management für die Weltwirtschaft geworden sind«. Sie<br />

können ihre Interessen gegen die Länder des Südens durchsetzen, deren Regierungen sich dem Zorn<br />

und der Gewalt ihrer Bevölkerungen ausgesetzt sehen, weil die Menschen verarmen, nur damit die<br />

gegenwärtigen Operationsmuster der Weltwirtschaft erhalten bleiben. 223 Ein besonders eindrucksvoller<br />

Zug dieser neuen Weltbeherrschungsinstitutionen ist ihrer Immunität gegen die Anmutungen der<br />

Demokratie; die Öffentlichkeit weiß oft nicht, was da hinter verschlossenen Türen beraten und<br />

beschlossen wird.<br />

Diese Entwicklungen werden im Süden mit großer Besorgnis registriert, und auch die wachsende<br />

Dritte Welt in den entwickelten Staaten beunruhigt sein. In seiner letzten Ansprache vor der Gruppe<br />

der 77 erwähnte deren Vorsitzender, Luis Fernando Jaramillo, das »feindselige internationale Klima«<br />

und den »Verlust wirtschaftlichen und politischen Ansehens« der Entwicklungsländer »in der<br />

sogenannten <strong>Neue</strong>n Weltordnung«. Dieses Gegeneinander von reichen und armen Nationen<br />

unterscheidet sich gewaltig von der »Euphorie«, die mit dem Ende des Kalten Kriegs, ökonomischen<br />

Liberalisierungsprogrammen und dem GATT einherging. Die Strategie der Reichen »zielt deutlich<br />

darauf ab, jene Wirtschaftsinstitutionen und -organisationen zu stärken, die außerhalb des Systems der<br />

Vereinten Nationen operieren«, das, trotz aller Schwächen, »der einzige multilaterale Mechanismus<br />

bleibt, in dem die Entwicklungsländer auch etwas zu sagen haben«. Im Gegensatz dazu sind<br />

Weltbank, IWF usw., die jetzt »<strong>zum</strong> Gravitationszentrum für alle grundlegenden Entscheidungen über<br />

die Entwicklungsländer gemacht werden ... durch ihren undemokratischen Charakter, ihren Mangel an<br />

Transparenz, ihre dogmatischen Grundsätze, ihren Mangel an Pluralismus bei der Auseinandersetzung<br />

über divergierende Vorstellungen und durch ihr Unvermögen, die Politik der Industriestaaten zu<br />

beeinflussen, gekennzeichnet«. Genauer gesagt, dienen sie den Interessen der gesellschaftlich<br />

Mächtigen in diesen Staaten. Zusammen mit IWF und Weltbank bildet die Welthandelsorganisation<br />

(WTO) eine neue »Trinität, deren Funktion darin besteht, die ökonomischen Beziehungen, mittels<br />

derer die Entwicklungsländer an die Kandare genommen werden, zu kontrollieren und zu<br />

beherrschen«, während die Industrienationen »ihre Geschäfte außerhalb der normalen Kanäle<br />

abwickeln«, also bei G-7-Treffen und anderen Gelegenheiten.<br />

Zu ähnlichen Erkenntnissen kam eine im Januar 1994 von Jesuiten in San Salvador organisierte<br />

Konferenz, in deren Bericht es u. a. heißt: »Mittelamerika erfährt heute die Globalisierung als einen<br />

zerstörerischen Raubzug, der die Eroberung und Kolonisierung von vor 500 Jahren in den Schatten<br />

stellt.« Die neue <strong>Mac</strong>ht ist nicht der Markt, sondern »ein starker transnationaler Staat, der die<br />

Wirtschaftspolitik diktiert und die Ressourcenallokation plant«. IMW, Weltbank, Interamerican<br />

Development Bank, die US-Entwicklungsbehörde USAID, EG usw. »sind allesamt staatliche oder<br />

interstaatliche Institutionen transnationalen Charakters, die viel größeren wirtschaftlichen Einfluß auf<br />

unsere Länder haben als der Markt«. 224<br />

Und diese Institutionen dienen wiederum anderen Herren, nämlich den transnationalen Konzernen, die<br />

ihrer inneren Struktur nach hierarchisch-totalitär und ihrem Charakter nach absolutistisch sind. Die<br />

große Masse der Bevölkerung hat ihnen gegenüber kaum andere Optionen, als die von ihnen<br />

produzierten Güter zu kaufen und in ihre Dienste zu treten.<br />

GATT und NAFTA sind, so heißt es, Freihandelsabkommen. Aber 40 Prozent des US-amerikanischen<br />

Handels laufen innerhalb der Firmen selbst ab, sind also kein Handel im klassischen Sinn. Mehr als<br />

die Hälfte der US-»Exporte« nach Mexiko besteht aus Transfers, die von einem Zweig des<br />

Unternehmens zu einem anderen gehen, damit niedrigere Löhne und laxere Umweltbestimmungen<br />

ausgenutzt werden können. Die transferierten Güter gelangen gar nicht erst auf den mexikanischen<br />

Markt. Solche internen Operationen führen zu Marktverzerrungen, indem nicht-staatliche,<br />

gewissermaßen zollfreie Handelsbarrieren eingeführt werden. Auch andere Faktoren lassen die<br />

angebliche Effizienz des Handels in einem zweifelhaften Licht erscheinen, wie z. B. die indirekte<br />

Bezuschussung von Transportkosten durch Treibstoffsubventionierung mittels Steuerfreibeträgen für<br />

Investitionen, oder durch militärische Ausgaben zur Sicherung der Kontrolle über die Ölreserven und -<br />

preise, oder durch die Externalisierung der Umweltkosten, die aufgrund von Treibstoffverbrennung<br />

entstehen. Neben diesen Beispielen führt Herman Daly, der frühere Chefökonom der Weltbank, noch<br />

andere Methoden an: So kann US-amerikanisches Getreide, das durch Umweltschädigung und<br />

91


staatliche Zuwendungen subventioniert wurde, frei nach Mexiko importiert werden. Mithin ist es sehr<br />

gut möglich, daß NAFTA die mexikanischen Bauern ruiniert, indem solche Importe zu einem<br />

Preisverfall führen. Dadurch werden die Bauern zur Landflucht gezwungen, was in den Städten zu<br />

einem Überangebot an Arbeitskräften und folglich sinkenden Löhnen führt; eine Entwicklung, die sich<br />

auch auf die USA auswirkt. 225<br />

Der 1993 veröffentlichte World Investment Report von UNCTAD schätzt, daß die transnationalen<br />

Konzerne ein Drittel der weltweiten privaten Produktivvermögen kontrollieren, während ihre<br />

überseeischen Investitionen »eine größere <strong>Mac</strong>ht in der Weltwirtschaft sind als der internationale<br />

Handel«, berichtet Tony Jackson in der Financial Times. Waren im Wert von fünfeinhalb Billionen<br />

Dollar werden ins Ausland verkauft, während der globale Exporthandel vier Billionen Dollar<br />

ausmacht. Hinzu kommen noch, wie Chakravarthi Raghavan erklärt, »jene Firmen, die mit<br />

transnationalen Aktivitäten befaßt sind und durch eine Reihe von asymmetrischen Arrangements -<br />

Subunternehmensverträge, Franchise-Verfahren, Lizenzvergaben -, aber auch durch strategische<br />

Allianzen Kontrolle über ausländische Produktivvermögen ausüben«. Das 1993 erweiterte GATT<br />

räumt den transnationalen Konzernen zwar viele Rechte ein, spricht jedoch nicht von bestimmten<br />

Verpflichtungen. Versuche, einen Verhaltenskodex durchzusetzen, mußten im Juli 1992 abgebrochen<br />

werden. Damit war es nicht gelungen, einen allgemeinen Rahmen für den fairen Umgang mit<br />

ausländischen Direktinvestitionen zu schaffen. 226<br />

Zwischen 1982 und 1992 vergrößerten die oberen zweihundert Konzerne ihren Anteil am globalen<br />

Bruttoinlandsprodukt von 24,2 auf 26,8 Prozent, wobei ihre Gesamtgewinne sich auf nahezu sechs<br />

Billionen Dollar verdoppelten. Ebenfalls in diesem Zeitraum haben die obersten 500 Firmen »jährlich<br />

über 400 000 Arbeiter entlassen«, bemerkten Frederic Clairmont und John Cavanagh. Das zeigt sich,<br />

wie immer, besonders deutlich in Amerika. 1992 berichteten die Zeitungen im Wirtschaftsteil, daß es<br />

»Amerika nicht gut geht, aber seine Konzerne machen kräftige Gewinne«. Das Magazin Forbes wußte<br />

in seiner alljährlichen Übersicht über die Lage der Konzerne zu berichten, daß die Gewinne der oberen<br />

Fünfhundert sich 1993 um 13,8 Prozent auf 204 Milliarden Dollar, die Vermögenswerte sich um 10,2<br />

Prozent auf 8,9 Billionen Dollar und der Marktwert um 6,9 Prozent auf 3,6 Billiarden Dollar erhöhten,<br />

während Zahl der Arbeitsplätze insgesamt um ein Prozent zurückging. 227<br />

In einer kritischen Analyse des GATT weisen Herman Daly und Robert Goodland darauf hin, daß<br />

nach der herrschenden Wirtschaftstheorie »Firmen Inseln zentraler Planung in einem Meer von<br />

Marktbeziehungen sind ... Und da die Inseln größer werden, gibt es keinen Grund, den Sieg des<br />

Marktprinzips zu verkünden.« 228<br />

Die Freihandelsabkommen haben mit Freiheit nichts und mit »Handel« nur sehr bedingt etwas zu tun.<br />

Zum einen vergrößern sie die <strong>Mac</strong>ht der transnationalen Konzerne, <strong>zum</strong> anderen erheben sie die<br />

Forderung nach der Liberalisierung von Finanztransaktionen und Dienstleistungen. Auf diese Weise<br />

können inter-nationale Banken nationale Konkurrenten beseitigen, so daß kein Land mehr dazu in der<br />

Lage ist, jene volkswirtschaftlichen Planungen durchzuführen, die einst den reichen Ländern ihre<br />

ökonomische Entwicklung ermöglichten. Und natürlich wird Adam Smiths Grundsatz, daß »die freie<br />

Zirkulation von Arbeit« einer der Eckpfeiler des Freihandels sei, von den Vertretern des<br />

Neoliberalismus verworfen, so wie sie auch wenig mit der Bemerkung ihres Helden anfangen können,<br />

daß die arbeitenden Menschen ins Mühlrad der Marktkräfte geraten, »wenn die Regierung nicht Sorge<br />

trägt, das zu verhindern«, wie es sich für jede »fortgeschrittene und zivilisierte Gesellschaft« gehört.<br />

Nach wie vor sind die reichen Nationen gegen den Freihandel, außer wenn er ihnen in einer<br />

Konkurrenzsituation Vorteile verschafft.<br />

Und noch auf andere Weise versuchen die führenden Industrienationen den Freihandel durch<br />

Freihandelsabkommen auszuschalten. Vor allem den USA geht es um den verbesserten »Schutz<br />

geistigen Eigentums«, wozu auch Software und Patente gehören. Der Patentschutz wiederum soll sich<br />

auf den Herstellungsprozeß ebenso erstrecken wie auf die daraus resultierenden Produkte. Die<br />

Internationale Handelskommission schätzt, daß US-Unternehmen 61 Milliarden Dollar pro Jahr aus<br />

der Dritten Welt gewinnen könnten, wenn die protektionistischen Forderungen der Vereinigten Staaten<br />

erfüllt werden. Entsprechende Klauseln in GATT und NAFTA sollen sicherstellen, daß US-basierte<br />

92


Konzerne die Technologien der Zukunft, allen voran die Biotechnologie, kontrollieren. Letztere wird,<br />

so hoffen die Privatunternehmen, ihnen die Kontrolle über landwirtschaftliche und medizinische<br />

Herstellungsprozesse und Produkte sichern, während die arme Mehrheit in der Dritten Welt von den<br />

teuren Produkten der westlichen Pharma-, Agrar- und biotechnologischen Industrie abhängig bleibt.<br />

Damit wird u. a. verhindert, daß Indien Arzneimittel herstellen könnte, die für die Bevölkerung<br />

erschwinglich sind. Die dortige pharmazeutische Industrie, die im Vergleich zu anderen<br />

Entwicklungsländern sehr weit entwickelt ist, verdankte ihren <strong>bis</strong>herigen Erfolg der Beschränkung von<br />

Patentrechten auf Herstellungsprozesse, wodurch die Produktion neuer, billigerer Produkte möglich<br />

war. Durch die Ausdehnung dieser Rechte auf Produkte wird ein Protektionismus in Kraft gesetzt, der<br />

den transnationalen Konzernen ihre <strong>Mac</strong>ht sichert. »Die Sperrklauseln für internationale Patente<br />

werden selbst diejenigen Forschungseinrichtungen abschrecken, die in das Patentgeschäft einsteigen<br />

wollen«, erklärte ein führender Biologe des indischen Wissenschaftsinstituts. Er wies darauf hin, daß<br />

seiner Einrichtung die Ressourcen fehlen, um mehr als zwei Patente pro Jahr entwickeln zu können.<br />

Und der Direktor eines großen indischen Pharmazieunternehmens fügte hinzu, daß man durch die<br />

Übernahme dieser GATT-Bestimmungen »Kompromisse im Hinblick auf zwei für das Wohlergehen<br />

des Landes wichtige Bereiche - Nahrungs- und Arzneimittel - eingegangen ist« und sich damit der<br />

Gnade der multinationalen Konzerne ausgeliefert habe. Diese Maßnahmen stehen »in scharfem<br />

Gegensatz zu den Grundsätzen ›freien Handels‹, die vom Westen so feierlich hochgehalten werden«,<br />

kommentiert eine indische Zeitung. Sie sind »ein gewichtiges Hindernis für unseren<br />

wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt« und ein weiterer Schritt in Richtung auf »die<br />

Herrschaft der transnationalen Konzerne und eine Verhöhnung der Souveränität und<br />

parlamentarischen Demokratie« in Indien. 229 Ähnliche Maßnahmen werden ergriffen, um Kanadas<br />

ärgerlicherweise höchst effizientes Gesundheitssystem zu unterminieren - durch die Beschränkung der<br />

Produktion von Generika werden die Kosten erhöht, und zugleich die Gewinne für US-Konzerne. 230<br />

Dergestalt stimmt an der Bezeichnung »Nordamerikanisches Freihandelsabkommen« lediglich, daß es<br />

etwas mit Nordamerika zu tun hat. Es ist nicht »frei«, es fördert nicht den »Handel«, und an dem<br />

»Abkommen« waren die Bevölkerungen der betroffenen Länder nicht beteiligt. NAFTA ist eine<br />

Mischung aus Liberalisierung und Protektionismus, die dazu dient, <strong>Mac</strong>ht und Reichtum in den<br />

Händen der Herren des »neuen imperialen Zeitalters« zu belassen.<br />

Wie sehr die USA den Freihandel schätzen, erhellt auch aus der Verhängung von Sanktionen und<br />

Wirtschaftsembargos gegen Feinde in der Dritten Welt, wie etwa Guatemala, Chile, Kuba, Vietnam,<br />

Nicaragua und andere Übeltäter. Von 116 Sanktionsfällen seit Ende des Zweiten Weltkriegs wurden<br />

80 Prozent allein von den USA initiiert. Diese Maßnahmen, die auf gröbliche Weise gegen<br />

Freihandelsdoktrinen verstoßen, sind häufig international verurteilt worden, u. a. durch den<br />

Weltgerichtshof und den GATT-Rat. Die Regeln des GATT sehen für die Opfer solcher Maßnahmen<br />

Vergeltungsmöglichkeiten vor: So können die USA zurückschlagen, wenn sie sich von<br />

diskriminierenden Maßnahmen seitens Nicaraguas betroffen fühlen, und Nicaragua kann Sanktionen<br />

gegen die USA verhängen und sogar die vom Weltgerichtshof verfügten Reparationsleistungen<br />

einfordern. Allerdings erkannten schon die Begründer der Schule von Chicago, ehe diese von<br />

ideologischen Extremisten übernommen wurde, daß »Freiheit ohne <strong>Mac</strong>ht ebenso bedeutungslos ist<br />

wie <strong>Mac</strong>ht ohne Freiheit« - eine Binsenweisheit, die die enthusiastischen Befürworter des »freien<br />

Markts« nur allzu gerne vergessen. 231<br />

In einer Untersuchung des chilenischen »Wirtschaftswunders« findet die Lateinamerikanistin Cathy<br />

Schneider über die typischen Begleiterscheinungen von Marktreformen - zunehmende Armut und<br />

Ungleichheit - hinaus noch tiefer-gehende Veränderungen:<br />

»Die Transformation des wirtschaftlichen und politischen Systems hat die Weltsicht des<br />

typischen Chilenen stark verändert. Heute arbeiten die meisten Chilenen, ob im eigenen<br />

kleinen Geschäft oder auf der Basis von zeitlich befristeten Subkontrakten, allein. Sie<br />

können nur auf ihre eigene Initiative und auf die Expansion der Wirtschaft vertrauen. Sie<br />

haben kaum noch Kontakte zu anderen Arbeitern oder zu ihren Nachbarn und nur noch<br />

begrenzte Zeit für ihre Familie. Politisch oder gewerkschaftlich sind sie kaum organisiert,<br />

93


und abgesehen von einigen staatlichen Dienstleistungen wie dem Gesundheitswesen« -<br />

das die Faschisten aufgrund von Widerständen in der Bevölkerung nicht beseitigen<br />

konnten - »fehlen ihnen die Ressourcen oder die Neigung, sich mit staatlichen<br />

Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Die Fragmentierung der Oppositon hat erreicht, was<br />

die brutale militärische Unterdrückung nicht leisten konnte: Chile ist, kulturell und<br />

politisch, von einem Land mit aktiven Bewegungen und Organisationen zu einem Land<br />

vereinzelter, entpolitisierter Individuen geworden. Der kumulative Einfluß dieses<br />

Wandels läßt befürchten, daß wir in naher Zukunft wohl keine konzertierte Opposition<br />

erleben werden, die der augenblicklich herrschenden Ideologie Widerstand<br />

entgegensetzen könnte.« 232<br />

So haben die Marktreformen ihren Zweck erfüllt und einer funktionierenden Demokratie das Wasser<br />

abgegraben. Ähnliche Vorgänge spielen sich in der US-amerikanischen Arbeiterklasse ab, wo die<br />

Menschen, die einst mutig und erfolgreich für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte kämpften,<br />

jetzt ohne Hoffnung und demoralisiert dahinleben. Und das gilt auch für einst lebendige<br />

sozialdemokratische Traditionen wie in Costa Rica oder Neuseeland. Hier wie dort hat der<br />

Marktfundamentalismus grundlegende Werte wie »Mitgefühl«, »Sinn für soziale Verpflichtungen«<br />

und »Sympathie« - Werte, die eine Gesellschaft erst eigentlich lebenswert machen - untergraben oder<br />

ganz <strong>zum</strong> Verschwinden gebracht und an ihre Stelle »wirtschaftliche Rationalität« und »effektive<br />

Verwendung von Ressourcen«, natürlich im Interesse der Reichen und Mächtigen, gesetzt.<br />

Weder im eigenen Land noch jenseits der Grenzen gleicht die wirkliche Welt den jetzt modischen<br />

Träumen von einer Geschichte, die sich unaufhaltsam auf das Ideal einer Verbindung von freiem<br />

Markt und Demokratie zubewegt. Vielmehr bringt die <strong>Neue</strong> Weltordnung jene Tendenzen <strong>zum</strong><br />

Vorschein, die sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt haben und in dem Grundsatz<br />

kulminieren, daß die Welt von den Reichen für die Reichen beherrscht und verwaltet wird. In nichts<br />

entspricht das Weltwirtschaftssystem dem klassischen Markt; angemessener wäre der Begriff<br />

»Konzern-Merkantilismus«. 233 Zusehends geraten die Herrschaftsmechanismen in die Hände großer<br />

Privatorganisationen und ihrer Vertreter. Diese Organisationen sind, wie gesagt, ihrem Charakter nach<br />

totalitär; die <strong>Mac</strong>htstrukturen verlaufen von oben nach unten, und die Öffentlichkeit ist von allen<br />

Verfahren und Entscheidungen ausgeschlossen. In dem diktatorischen System namens »freies<br />

Unternehmertum« ist die <strong>Mac</strong>ht über alle Entscheidungen, die Investitionen, Produktion und Handel<br />

betreffen, zentralisiert und sakrosankt und schon vom Gesetz her keiner Kontrolle seitens der<br />

arbeitenden Bevölkerung unterworfen.<br />

Das gegenwärtige Zeitalter weckt Erinnerungen an bedeutsame Epochen der Vergangenheit. Ein<br />

Beispiel dafür ist der begeisterte Rückgriff auf klassische (heute »neoliberal« genannte)<br />

Wirtschaftsdoktrinen als Waffen im Klassenkampf. Ein anderes Beispiel sind die neuen Technologien,<br />

mit deren Hilfe eine Art »Fortschritt ohne Menschen« geschaffen werden soll. Wie in den Anfängen<br />

der industriellen Revolution dient die Technologie der Mehrung von <strong>Mac</strong>ht, Profit und Kontrolle zu<br />

Lasten sinnvoller Arbeit, Freiheit, menschlichen Lebens und Wohlfahrt, während eine andere<br />

gesellschaftliche Verfassung ihr befreiendes Potential entwickeln könnte. Zudem weckt die<br />

gegenwärtig geführte Debatte über Wohlfahrtsprogramme Erinnerungen an Malthus und Ricardo, die<br />

damals zu beweisen beanspruchten, daß man den Armen mit Versuchen, ihnen zu helfen, nur Schaden<br />

zufügen würde - was so sicher sei wie das Gravitationsgesetz, meinte Ricardo. 234 Wer nicht über<br />

eigenen Reichtum verfügt, »hat keinen Anspruch auf eine und sei es noch so geringe Portion an<br />

Nahrungsmitteln und nicht einmal die Berechtigung, dort zu sein, wo er ist«, jedenfalls außerhalb<br />

dessen, was ihm das Anbieten seiner Arbeitskraft auf dem Markt einbringt, erklärte Malthus in einem<br />

einflußreichen Werk. Alle Versuche, die Armen davon zu überzeugen, daß sie weitergehende Rechte<br />

hätten, sind »von Übel« und Verletzungen der »natürlichen Freiheit«, behauptete Ricardo, der<br />

führende Vertreter der neuen »wissenschaftlichen Ökonomie«, die auf unwiderleglichen moralischen<br />

Grundsätzen beruhen sollte.<br />

Karl Polanyi weist in seiner klassischen Untersuchung dieser Entwicklungen darauf hin, daß »nichts<br />

offensichtlicher sein konnte als die herrische Forderung des Lohnarbeitssystems, das „Recht auf<br />

Leben" zu kassieren«, ein Recht, das die frühere, vorkapitalistische Mentalitäten reflektierende<br />

94


Rechtsprechung noch eingeräumt hatte. »Späteren Generationen leuchtete die Unvereinbarkeit von<br />

Institutionen wie dem Lohnarbeitssystem mit dem ›Recht auf Leben‹ unmittelbar ein.« Letzteres<br />

mußte weichen, im Interesse aller. 235<br />

In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden die Resultate der neuen »ökonomischen<br />

Wissenschaft« von der Rechtsprechung ratifiziert, und das »Recht auf Leben« wich dem<br />

Lohnarbeitssystem und der wie ein Gefängnis organisierten Fabrik. »So wurde die Menschheit auf den<br />

Weg eines utopischen Experiments gezwungen«, schreibt Polanyi. »Wohl nie zuvor in der Geschichte<br />

der Moderne gab es eine rücksichtsloser durchgesetzte gesellschaftliche Reform. Während sie vorgab,<br />

die materielle Überlebensfähigkeit von Menschen in der Fabrikarbeit zu testen, trug sie zur Zerstörung<br />

von Leben bei. »Doch fast unmittelbar darauf«, fährt er fort, »entwickelte die Gesellschaft<br />

Selbstschutzmechanismen: Arbeits- und Sozialgesetze wurden verabschiedet, es entstand die<br />

Arbeiterbewegung, politische Parteien bildeten sich, um die neue Gefahren, die der<br />

Marktmechanismus heraufbeschwor, abzuwehren.<br />

Leid und Verzweiflung führten zunächst zu Aufständen, später <strong>zum</strong> Aufstieg organisierter sozialer<br />

Bewegungen, die der Behauptung, Kapitalakkumulation sei der oberste menschliche Wert,<br />

entschieden entgegentraten. Schlimmer noch: Die Arbeiterorganisationen bestritten den Herrschenden<br />

das Recht auf ihre Herrschaft. »Die implizite Unterordnung, mit der die Menschen auf ihre Gefühle<br />

und Leidenschaften zugunsten derer ihrer Herrscher verzichten« - für David Hume das Fundament der<br />

Regierungsgewalt - wurde untergraben. Das geschah auch in den Vereinigten Staaten, wo die Folgen<br />

der industriellen Revolution von den Arbeitenden als »Lohnsklaverei« bezeichnet wurden. Auch hier<br />

begannen die Eliteschichten angesichts aufrührerischer Tendenzen und, schlimmer noch, chartistischer<br />

und sozialistischer Bewegungen, umzudenken. Die »neue Wissenschaft« entdeckte nun, daß das<br />

»Recht auf Leben« sehr wohl bewahrt werden könne und müsse, und die Lehren des Laisser-faire<br />

gerieten zunehmend in Verruf, als die neuen Herrscher erkannten, daß sie immer noch staatlicher<br />

<strong>Mac</strong>ht bedurften, um ihre Privilegien zu sichern und sie vor der Disziplin des Markts zu schützen. So<br />

entwickelten sich, <strong>zum</strong>indest in den Staaten, die ihren Platz an der Sonne durch Terror, Unterdrückung<br />

und Ausplünderung erobert hatten, verschiedene Formen des Wohlfahrtskapitalismus.<br />

In diesem Sinne wiederholt sich die Geschichte. Die neoliberalen Programme, Trickle-down-Theorien<br />

und andere Doktrinen, die den Interessen der Privilegierten und Mächtigen dienen, bieten nicht viel<br />

<strong>Neue</strong>s. Unterdrückungsmechanismen stellen sich anders dar in der Dritten Welt als im eigenen Land,<br />

aber die Ähnlichkeiten sind unverkennbar, und die begeistert verkündeten Ideologeme kaum mehr als<br />

eine sogleich abgegriffene Neuauflage früherer Rechtfertigungen bestehender <strong>Mac</strong>htverhältnisse. Wie<br />

schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts erklärt man uns auch heute, daß es die natürliche Freiheit<br />

verletzt und gegen die Wissenschaft verstößt, wenn man die Menschen dazu verleitet, sich im Besitz<br />

von Rechten zu wähnen, die über den Verkauf ihrer Arbeitskraft auf dem Markt hinausgehen. Ein<br />

solches Denken führe, verkünden neoliberale Leitfiguren mit nüchternem Nachdruck, direkt in den<br />

Gulag. Das gegenwärtige Zeitalter erinnert in vielem an jene Epoche des Enthusiasmus, die den Lärm<br />

der Aufständischen, der schon bald darauf nicht mehr überhört werden konnte, noch nicht vernehmen<br />

mußte.<br />

Und dieser Lärm wächst auch heute wieder an, trotz weit verbreiteter Furcht und Verzweiflung. Zwei<br />

Ereignisse sind dafür symptomatisch: die Aufstände von 1992 in Süd-Los Angeles und die Revolte der<br />

Maya-Indianer in Chiapas, Mexiko. In beiden Fällen spiegelte sich darin die zunehmende<br />

Marginalisierung von Menschen, die unter den gegebenen institutionellen Bedingungen nichts zur<br />

Profitmacherei beitragen und denen darum Menschenrechte oder ein eigen-ständiger Wert<br />

abgesprochen werden. Die Leute in den Slums von Los Angeles hatten einstmals Jobs, <strong>zum</strong> Teil im<br />

staatlichen Sektor, der eine entscheidende Rolle in der »marktkapitalistischen« Gesellschaft spielt,<br />

<strong>zum</strong> Teil in jenen Fabriken, die später in Regionen verlegt wurden, wo die Arbeitskräfte rücksichtsloser<br />

ausgebeutet und Umweltschutzmaßnahmen unberücksichtigt bleiben können. Absolut gesehen<br />

sind die Slumbewohner von Los Angeles noch immer sehr viel reicher als die mexikanischen Indianer,<br />

doch entwickelten sich die Aufstände in jeweils ganz unterschiedlicher Weise. In Los Angeles<br />

rebellierten Menschen, deren Gemeinschaft durch äußere Faktoren demoralisiert und zerstört worden<br />

war, während die Mayas noch über inneren Zusammenhalt und Vitalität verfügten. Aber wie<br />

95


unterschiedlich die Probleme auch sein mögen, läßt sich der Ruf nach Solidarität und konstruktiver<br />

Beteiligung an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen nicht mehr überhören. Der Lärm wird<br />

weiter wachsen, je mehr das »globale Experiment« fortschreitet.<br />

Wie dieses Experiment beschaffen ist, läßt sich einem Bericht der US-amerikanischen International<br />

Labor Organisation entnehmen. Sie schätzt, daß im Januar 1994 etwa 30 Prozent aller Arbeitskräfte<br />

weltweit ohne Beschäftigung waren und nicht genug verdienten, um einen minimalen Lebensstandard<br />

aufrechterhalten zu können. Diese »Langzeitarbeitslosigkeit« entspricht in ihrem Umfang der<br />

Weltwirtschaftskrise vor dem Zweiten Weltkrieg. Zugleich aber gibt es dringenden Bedarf an<br />

Arbeitskräften. Wo man auch hinschaut, gibt es Arbeit, die getan werden müßte, Arbeit, die großen<br />

sozialen und menschlichen Wert besitzt; und viele Menschen stehen bereit, sie zu leisten. Aber das<br />

Wirtschaftssystem kann hier keine Abhilfe schaffen. Seine Auffassung von »wirtschaftlicher<br />

Gesundheit« dient den Bedürfnissen der Profiteure, nicht denen der Arbeitsuchenden. Dieses<br />

Wirtschaftssystem ist, kurz gesagt, eine einzige Katastrophe. Als großer Erfolg gilt es nur denen, die<br />

darin ihre Privilegien sichern, wozu auch seine zahlreichen Lobredner gehören. 236<br />

Wie weit soll das noch gehen? Wird es möglich sein, eine internationale Gesellschaft zu entwickeln,<br />

die in ihren Grundzügen der Dritten Welt gleicht, mit Inseln von <strong>Mac</strong>ht und Reichtum in einem Meer<br />

des Elends, und mit totalitären Kontrollmechanismen hinter einer zunehmend fassadären Demokratie?<br />

Oder wird der Widerstand der Bevölkerungen, der selbst international werden muß, um Erfolg zu<br />

haben, diese Strukturen von Gewalt und Herrschaft beseitigen und den jahrhundertealten Prozeß der<br />

Ausweitung von Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, der jetzt in sein Gegenteil verkehrt werden<br />

soll, doch noch vorantreiben? Das sind große Fragen an die Zukunft.<br />

ANMERKUNGEN<br />

Siglen der von Chomsky zitierten Zeitschriften<br />

AP: Associated Press - BG: Boston Globe - CSM: Christian Science Monitor - FT: Financial Times -<br />

LAT: Los Angeles Times - NYT: New York Times - WP: Washington Post - WSJ: Wall Street Journal<br />

Fußnoten<br />

1 Weiss, Boston Review, Feb./März 1994; schmeichelhafterweise bin ich das Angriffsziel. Fromkin, NYT Magazine, 27. Feb.<br />

1994; Kennan, NYT, 14. März 1994.<br />

2 Zum Thema »internationaler Terrorismus« vgl, u. a. Edward Herman, The Real Terror Network (South End, 1982); ders.<br />

und Gerry O'Sullivan, The »Terrorism« Industry (Pantheon, 1989); Noam Chomsky, Pirates and Emperors: International<br />

Terrorism in the Real World (Neuausg. Pluto Press, 2002), sowie Necessary lllusions: Thought Control in Democratic<br />

Societies (South End/ Pluto Press, 1989; dt. Media Control, 2003); Alexander George (Hg.), Western State Terrorism<br />

(Polity, 1991). Zum Thema »CIA und Drogenhandel« vgl. Alfred McCoy, The Politics of Heroin (Lawrence Hill, 1991);<br />

Leslie Cockburn, Out of Control (Atlantic Monthly, 1987); Peter Dale Scott und Jonathan Marshall, Cocaine Politics<br />

(California, 1991). Zum Thema »Drogenkrieg« vgl. Noam Chomsky, Deterring Democracy (Verso, 1991), Kap. 5; überarb.<br />

Taschenbuchausgabe Hill & Wang/Vintage, 1992, mit einem Nachwort <strong>zum</strong> Golfkrieg und dem »Friedensprozeß« im<br />

Nahen Osten.<br />

3 The Challenge to the South, Report of the South Commission (Oxford, 1990).<br />

4 Winston Churchill, The Second World War, Bd. 5 (Houghton Mifflin, 1951), S. 382.<br />

5 Al-Ahram, zit. n, David Hirst, Guardian (London), 23. März 1992. Die Bemerkung der ägyptischen Zeitung bezieht sich<br />

auf Manöver der Regierung Bush, aus innenpolitischen Erwägungen heraus eine Konfrontation mit Ghaddafi vom Zaun zu<br />

brechen. Vgl. Pirates and Emperors, Kap. 3.<br />

96


6 Zit. n. Paul Drake, »From Good Men to Good Neighbors«, in Abraham Lowenthal (Hg.), Exporting Democracy (Johns<br />

Hopkins, 1991).<br />

7 Quellen und weiterführende Erörterungen in Noam Chomsky, Turning the Tide: The U.S. and Latin America (South<br />

End/Plu-to, 1985), sowie Deterring Democracy, Kap. 6. In Großbritannien wurden diese Fakten lange Zeit geheimgehalten,<br />

aber einiges kam während des Golfkriegs von 1991 ans Tageslicht. Zum Einsatz der britischen Luftwaffe vgl. David<br />

Omissi, Air Power and Colonial Control (Manchester, 1990). Zu Haiti vgl. Noam Chomsky, Year 501: The Conquest<br />

Continues (South End/Verso, 1993; dt. Wirtschaft und Gewalt, zu Klampen, 2. Aufl. 2001), Kap. 8, Abschn. 2.<br />

8 Keegan zit. n. Richard Hudson, Wall Street Journal, 5. Feb. 1991; Peregrine Worsthorne, Sunday Telegraph, 16. Sept.<br />

1990. Christopher Bellamy, International Affairs, Juli 1992.<br />

9 Vgl. die Einleitung zu Deterring Democracy, Bergsten, Foreign Policy, Sommer 1992. Zu den Kriegsgewinnen vgl.<br />

Seymour Hersh, New Yorker, 6. Sept. 1993.<br />

10 Bush, 29. Jan. 1991. Baker, »Why America is in the Gulf«, Ansprache vor dem Los Angeles World Affairs Council, 29.<br />

Okt. 1990. Friedman, NYT Week in Review, 2. Juni 1992. A. d. Ü.: Gatekeeper ist ein in der »wettbewerbspolitiscben<br />

Diskussion häufig gebrauchter Begriff, um die <strong>Mac</strong>htposition von Handelsbetrieben bei der Distribution von Waren zu<br />

beschreiben. Handelsbetrieben wird eine Schlüsselstellung im Absatzkanal zuerkannt, die es ihnen ermöglicht, den Weg<br />

von Waren und Informationen entweder zu öffnen oder auch völlig zu verschließen«. (Gabler Wirtschaftslexikon, 1997, Bd.<br />

F-K, Art. »gate-keeper«.)<br />

11 Lars Mjoset, The Irish Economy in a Comparative Institution-al Perspective (National Economic and Social Council,<br />

Government Publications, Dublin, Dez. 1992), S. 200. Das Buch ist eine wichtige vergleichende Untersuchung über Irlands<br />

fehlgeschlagene Entwicklung und den Einfluß der kolonialen Erbschaft auf ein Land, das eigentlich zu den reichen<br />

Industriegesellschaften Westeuropas gehören sollte.<br />

12 Joseph Lee, Ireland 1912-1985 (Cambridge, 1989), zit. n. Mjoset, op. cit., S. 29.<br />

13 Vgl. dazu Deterring Democracy, Kap. 6, sowie das Nachwort. Die beste allgemeine Darstellung des Golfkonflikts ist Dilip<br />

Hiro, Desert Shield to Desert Storm (HarperCollins, 1992.). Howell zit. n. Mark Curtis, »Obstacles to Security in the<br />

Middle East«, in Seizaburo Sato und Trevor Taylor (Hg.), Prospects for Global Order, Bd. 2 (Royal Institute of<br />

International Affairs and International Institute for Global Peace, London, 1993).<br />

14 Friedman, NYT, 7. Juli 1991.<br />

15 Ebd. Zu diesen und anderen Reaktionen aus der Dritten Welt vgl. meine Artikel im Z magazine, Feb. und Mai 1991, sowie<br />

meinen Beitrag in Cynthia Peters (Hg.), Collateral Damage (South End, 1992). Vgl. auch Hamid Mowlana, George<br />

Gerbner und Herbert Schiller, Triumph of the Image (Westview, 1992). Zur ara<strong>bis</strong>chen Welt vgl. Barbara Gregory Ebert,<br />

»The War and Its Aftermath: Arab Responses«, Middle East Policy, 1.4, 1992.<br />

16 Zu Einzelheiten vgl. die Angaben in den Anm. 13 und 15.<br />

17 Lawrence Freedman und Efraim Karsh, The Gulf Conflict 1990--1991: Diplomacy and War in the New World Order<br />

(Princeton, 1992).<br />

18 Maureen Dowd, NYT, 2. März und 23. Feb. 1991.<br />

19 Dionne, WP Weekly, 11. März; John Aloysius Farrell, BG Magazine, 31. März; Martin Nolan, BG, 10. März; Oliphant, BG,<br />

27. Feb. 1991. Zu Roosevelt vgl. Turning the Tide, S. 61, 87.<br />

20 Ropp, »Things Fall Apart: Panama after Noriega«, Current History, März 1993. Vgl. auch Deterring Democracy, Kap. 5.<br />

21 Bob Woodward, The Commanders (Simon 8c Schuster, 1991), S. 251 f. Quandt, Peace Process (Brookings Institution und<br />

Univ. of California, 1993), Anm. S. 579. Daß niemand die von Woodward aufgeführten Tatsachen bestritten habe, wird<br />

auch von Richard Cohen, Chief of Air Force History, 1981-91 erwähnt; National Interest, Frühjahr 1994. Freedman und<br />

Karsh, op. cit., S. 67f.<br />

22 Vgl. die in Anm. 14 gegebenen Hinweise und die darauf bezogenen Zitate als einzige mir bekannte Ausnahmen.<br />

23 Über die Ansichten irakischer Demokraten, soweit ich sie entdecken konnte, habe ich in meinen Artikeln im Z magazine<br />

(Feb. und Mai 1991) berichtet; vgl. auch Deterring Democracy. Aus der US-Presse ist mir nichts Vergleichbares bekannt.<br />

Mehr über ihre Positionen bei Curtis, op. cit.<br />

24 Vgl. meine in Anm. 16 zit. Artikel. Zu türkischen Greueltaten gegen Kurden vgl. Desolated and Profaned, Bericht von<br />

Lord Avebury (Vorsitzender der U. K. Parlamentarischen Menschenrechtsgruppe) und Michael Feeny<br />

(Flüchtlingsbeauftragter der kath. Diözese von Westminster) über ihre Entsendung in die kurdische Region der Türkei vom<br />

September 1992; Helsinki Watch, The Kurds of Turkey: Killings, Disappearances and Torture, März 1993 (Human Rights<br />

Watch, New York). Zur zynischen, westlichen Bedürfnissen angepaßten Berichterstattung über die Kurden vgl. Necessary<br />

Illusions, Anh. 53.<br />

25 WP, 24. Juni; Andrew Whitley, »Saddam's Other Victims«, oped, NYT, 26. Juni 1993.<br />

26 Sonderbeitrag, Alberto Ascherio u. a., »Effect of the Gulf War on Infant and Child Mortality in Iraq«, New England Journal<br />

of Medicine, Bd. 327, Nr. 13,1993. Ekvall, AP, »UN says Shiites flee Iraqi Attacks«, BG, 24. Juli; AP, »Report: US lags on<br />

child health«, BG, 23. Sept.; Dalyell, Scotland on Sunday, 23.Mai 1993.<br />

27 Vgl. Noam Chomsky, Enter a World that is Truly Surreal (Open Magazine Pamphlet series, Westfield, Sept. 1993), aus<br />

dem einiges oben angeführte Material stammt.<br />

28 Eric Schmitt, Reuters, NYT, 28. Juni; Boustany, WP Weekly, 4. Juli; Tim Weiner, NYT, 27. Juni; Charles Glass, Sunday<br />

Telegraph, 4. Juli; Paul Quinn-Judge, BG, 28. Juni 1993.<br />

97


29 Douglas Jehl, NYT, 29. Juni; Kommentar, 30. Juni 1993. Zum Prozeß vgl. Patrick Cockburn, »The plot thins«, In These<br />

Times, 9. Aug. 1993, ein Exzerpt aus dem Londoner Independent on Sunday, Seymour Hersh, »A Case Not Closed«, New<br />

Yorker, l. Nov. 1993.<br />

30 Alfred Rubin, ein bekannter Spezialist für internationales Recht bemerkt dazu, daß »das Recht auf Selbstverteidigung nichts<br />

mit Vergeltungsmaßnahmen oder Repressalien zu tun hat«, Leserbrief, NYT, 8. Juli 1993.<br />

31 Kommentare, WP Weekly, 5.-11. Juli; NYT, 28. Juni; BG, 28. Juni; Stephen Hubbell, CSM, 19. Juni; George Jones, Daily<br />

Telegraph, 29. Juni 1993; AP, 20. Dez. 1989; Richard Cole, AP, BG, 3. Feb. 1990.<br />

32 Steve Coll und Douglas Farah, WP, 20. Sept. 1993; Economist, 12. März 1994.<br />

33 Glass, op. cit. Vgl. dazu auch Alexander Cockburn, einen der wenigen Dissidenten unter den Journalisten, der hin und<br />

wieder Zugang zu den US-Medien erhält, op-ed, WSJ, 1. Juli 1993.<br />

34 Friedman, NYT, 28. Juni 1993.<br />

35 Safire, NYT, 28. Juni; Kommentar, NR, 19./26. Juli 1993.<br />

36 Reuters, NYT, 27. Juni; Youssef Ibrahim, NYT, 29. Juni; Akhbar al-Kalij, zit. n. Middle East International, 9. Juli, und<br />

Frontline (Indien), 30. Juli; F. R. Khergamvala, Bahrain, »Strike at will?«, ebd.; Al-Alam, Marokko, zit. n. Stephen<br />

Hubbell, CSM, 29. Juni 1993.<br />

37 NYT, 27. Juni; Ruth Marcus und Daniel Williams, WP-Guardian Weekly, 4. Juli; Douglas Jehl, NYT, 4. Juli 1993; Safire,<br />

op. cit.<br />

38 Zit. n. Loch K. Johnson, A Season of Inquiry: the Senate Intelligence Investigation (Kentucky, 1985), S. 53. Zu<br />

Invasionsängsten vgl. Year 501, Kap. 6. Zu geplanten Mordanschlägen vgl. Interim Report of the Select Committee to Study<br />

Governmental Operations, 20. Nov 1975.<br />

39 Friedman, NYT, 28. Juni 1993. Vgl. Pirates and Emperors, Kap. 3, wo beschrieben wird, was die Presse 1986 »nicht zu<br />

wissen« vorzog.<br />

40 Friedman, NYT, 28. Juni 1993.<br />

41 Vgl. dazu Year 501, Kap. 5. Die fast einzige Ausnahme war meines Wissens Peter Dale Scotts Beitrag »Exporting Military-<br />

Economic Development«, in Malcolm Caldwell (Hg.), Ten Years Military Terror in Indonesia (Spokesman, 1975), sowie<br />

andere Aufsätze in diesem Band, der unrezensiert und unbekannt blieb. Vgl. auch Noam Chomsky, American Power and<br />

the New Mandarins (Pantheon, 1969), S. 35.<br />

42 Vgl. Somalia: Human Rights Abuses by the United Nations Forces, African Rights (London), Rakiya Omaar und Alex de<br />

Waal, Juli 1993. Nach der Beendigung der US-Mission schätzten sie, daß »wenigstens eintausend Somalis getötet wurden,<br />

vielleicht noch mehr - US und UN zählen die somalischen Opfer nicht«, während es zudem zu »vielen<br />

Menschenrechtsverletzungen kam, wie etwa Angriffen auf Krankenhäuser, Bombardierungen politischer Versammlungen,<br />

Schüsse in Demonstrantenmengen und Niederreißen von Häusern für freies Schußfeld« (Peace and Democracy News,<br />

Winter 1993/94). Das US-Kommando schätzte die Zahl derer, die allein im Sommer 1993 umgebracht worden waren, auf<br />

sechs- <strong>bis</strong> zehntausend, zwei Drittel davon Frauen und Kinder. Die US/UN-Truppen vermeldeten 380 Opfer, darunter 83<br />

Getötete (Eric Schmitt, NYT, 8. Dez. 1993).<br />

43 Elaine Sciolino, »U. S. Narrows Terms for Its Peacekeepers: A White House panel asks, What is in for us?«, NYT, 23.<br />

Sept.; John Battersby, »Angolan Strife Endangers 2 Million As Diplomacy Fails, Aid Workers Say«, CSM, 26. Aug. 1993.<br />

Der UN-Sondergesandte schätzt, daß es tausend Tote pro Tag gibt, »die größte Opferrate aller gegenwärtigen Konflikte«,<br />

Generalsekretär Boutros Boutros Ghali zufolge; ebd., Michael Littlejohns, FT, 17. Sept. 1993. Vgl. Pirates and Emperors,<br />

S. 96. Allgemeiner gehalten ist das Buch von Elaine Windrich, The Cold War Guerrilla (Greenwood, 1992). Wie die<br />

UNITA nach den verlorenen Wahlen, mit unmittelbarer Unterstützung durch Südafrika (inklusive Waffenlieferungen), zur<br />

Gewalt zurückkehrte, berichtet der Westafrikaspezialist John Marcum, »Angola: War Again«, Current History, Mai 1993.<br />

Die Afrika-Korrespondentin Victoria Brittain schätzt, daß während Savim<strong>bis</strong> »Terrorherrschaft« eine halbe Million<br />

Angolaner getötet wurden. Die UNITA wird weiter aus der Luft mit Waffen versorgt, berichtet sie und zitiert einen<br />

westlichen Diplomaten: »Natürlich weiß jeder bei den Hilfsorganisationen über diesen Bruch der Sanktionen Bescheid, aber<br />

keiner will sich mit den USA anlegen." New Statesman and Society, 4. März 1994.<br />

44 Foreign Relations of the United States (FRUS), 1950, Bd. I, S. 234-292. Längere Auszüge und weitere Quellen in Deterring<br />

Democracy, Kap. 1.<br />

45 Das vorgelegte Beweismaterial ist zweckdienlich gefälscht, reicht aber auch in dieser Form nicht aus, um die Folgerungen<br />

zu rechtfertigen.<br />

46 Zu diesem und anderen Beispielen vgl. Deterring Democracy, S. 90.<br />

47 Huntington, International Security, 17:4, 1993. Vgl. Noam Chomsky und Edward Herman, Political Economy of Human<br />

Rights (South End, 1979), Bd. I, S. 43f.; Herman, The Real Terror Network, S. 82f.; Schoultz, Comparative Politics, Jan.<br />

1981. Ferner Turning the Tide, S. 157f. Die letztgenannten Untersuchungen zeigen, daß Entwicklungshilfe nicht den<br />

Bedürfnissen der jeweiligen Bevölkerung dient, sondern der Verbesserung des Klimas für Geschäftsoperationen, was<br />

oftmals heißt, daß Gewerkschafter, Journalisten, Intellektuelle usw. vom Staat gewaltsam verfolgt werden.<br />

48 Morgenthau, The Purpose of American Politics (Vintage, 1964). Weitere Erörterungen in Noam Chomsky, Towards a New<br />

Cold War (Pantheon, 1982), Kap. 1, 2 und 8.<br />

49 International Security, Sommer 1981; National Interest, Herbst 1989.<br />

50 McNamara und Taylor zit. n. Marcus Raskin, Essays of a Citizen (M. E. Sharpe, 1991).<br />

98


51 Über die Meisterleistungen der Phantasie im politischen und intellektuellen Milieu vgl. Lars Schoultz, National Security<br />

and United States Policy toward Latin America (Princeton, 1987). Desgl. Anne Hessing Cahn und John Prados, »Team B:<br />

the Trillion Dollar Experiment«, Bulletin of the Atomic Scientists, April 1993. Cahn und Prados untersuchen die kürzlich<br />

freigegebenen »Team B«-Berichte, in denen die sowjetische Militärstärke lächerlich übertrieben dargestellt wurde. Die<br />

Linke lieferte oft ähnliche Analysen, ein Umstand, der untersucht zu werden verdient.<br />

52 Vgl. Lynn Eden, »The End of U. S. Cold War History?«, International Security 18.1 (1993), wo die bedeutsame Studie von<br />

Melvyn Leffler, A Preponderance of Power (Stanford, 1992) und der neue Konsens über den Kalten Krieg, den sie bei<br />

Diplomatiehistorikern befördert, erörtert werden.<br />

53 Thompson, »Exaggeration of American Vulnerability«, Diplomatie History, Winter 1992; <strong>zum</strong> Bau von Kriegsschiffen<br />

wird der Historiker Robert Seager zitiert. Zur angeblichen Bedrohung durch die Deutschen vgl. Nancy Mitchell, »Germans<br />

in the Backyard«, Prologue, Quarterly of the National Archives, Sommer 1992,<br />

54 Vgl. Charles Sellers, The Market Revolution: Jacksonian America 1815-1846 (Oxford, 1991), S. 279, 292, 393. Zu Adams<br />

vgl. William Earl Weeks, John Quincy Adams and American Global Empire (Kentucky, 1992), S. 193.<br />

55 Christopher Layne vom Cato Institute und Benjamin Schwarz von RAND, Foreign Policy, Herbst 1993.<br />

56 Vgl. dazu Turning the Tide, Kap. 5, sowie On Power and Ideology: The Managua Lectures (South End, 1987; dt. Die<br />

Fünfte Freiheit. Über <strong>Mac</strong>ht und Ideologie, Argument, 1988), 5. Vorl.<br />

57 Leffler, op. cit. Das Werk ist der versierteste Überblick, der sich finden läßt; der Autor sympathisiert mit den Truman-<br />

Strategen. Weitere Diskussionen und spezielle Quellen in Deterring Democracy und Year 501 Zu den regierungsinternen<br />

Einschätzungen der sowjetischen Absichten und Militärkapazitäten vgl. Frank Kofsky, Harry Truman and the War Scare of<br />

1948 (St. Martins, 1993), Anhang A. Kofsky zufolge war man damals »fast einmütig der Auffassung, daß die Sowjets<br />

augenblicklich nicht die Absicht hegten, eine feindselige Auseinandersetzung mit dem Westen zu beginnen«.<br />

58 Vgl. Deterring Democracy, S. 24ff. Warner, International Affairs, 69.2, April 1993.<br />

59 Gaddis, Strategies of Containment (Oxford, 1982), S. 40, 356f. Vgl. Leffler, op. cit., der die Zusammenhänge genau<br />

analysiert.<br />

60 Ron Suskind, WSJ, 29. Okt. 1991. Vgl. Year 501, S. 83f., sowie, zur unterdrückten Geschichte, Necessary Illusions, S. 177f.<br />

61 Gaddis, The Long Peace (Oxford, 1987), S. 43. Vgl. auch Necessary Illusions, Anhang II.<br />

62 Kennan, Russia Leaves the War (Princeton, 1956), S. 352-563. Vgl. auch Anm. 7.<br />

63 Kaplan, New Republic, 28. Dez. 1992; Sciolino, NYT, 22. Juli 1993; Landes, New Republic, 10. März 1986; Ryan, CSM, 14.<br />

Feb. 1986. Zu diesen und weiteren Analysen vgl. On Power and Ideology, S. 68f., Turning the Tide, S. 153f. Zu den<br />

Ereignissen vgl. Hans Schmidt, The United States Occupation of Haiti, 1915-1934 (Rutgers, 1971). Zu den Beziehungen<br />

zwischen Haiti und den USA vgl. Year 501, Kap. 7, sowie Paul Farmer, The Uses of Haiti (Common Courage, 1994).<br />

64 Haiti Info, 23. Mai 1993; persönliche Interviews, Port-au-Prin-ce, Juni 1993. Trouillot, Haiti: State against Nation<br />

(Monthly Review, 1990), S. 102f.<br />

65 Lloyd Gardner, Spheres of Influence (Ivan Dee, 1993), S. 176, 207, 2345ff., 265; 240; Protokolle der Kabinettstreffen vom<br />

Feb. 1945. Leffler, op. cit., S. 58f., 15.<br />

66 Nation, 5. März 1990.<br />

67 Zu Quellenhinweisen, soweit nicht zitiert, vgl. Deterring Democracy, Year 501 sowie Rethinking Camelot: JFK, the<br />

Vietnam War and U. S. Political Culture (South End, 1993), Kap. 1.<br />

68 Zu Quellen vgl. Deterring Democracy, Kap. 1 und 11. Simpson, The Splendid Blond Beast (Grove, 1993), Kap. 5. Zu Lord<br />

Halifax vgl. Gardner, op. cit., S. 13.<br />

69 Ebd., S. 67f.<br />

70 Romero, The United States and the European Trade Union Movement 1944-1951 (North Carolina, 1989, 1992), S. 50ff.,<br />

143ff., 16, 24. Weitere Materialien in Deterring Democracy, Kap. 11; Year 501, Kap. 2.<br />

71 Zit. n. Drake, op. cit.<br />

72 Ebd. Vgl. Turning the Tide, Kap. 3, Abschn. 6 und 7. Lansing zit. n. Schmidt, op. cit., S. 62f.<br />

73 Vgl. William Stivers, Supremacy and Oil (Cornell, 1982), S. 66--73.<br />

74 Mehr dazu in Deterring Democracy, Kap. 5; Year 501, Kap. 3.<br />

75 Vgl. etwa Lee Hockstadter, »Honduras Embattled After Decade of Aid«, WP, 13. Juli 1992. Zur Haltung der nationalen<br />

Presse vgl. Necessary Illusions und Deterring Democracy.<br />

76 Abraham Lowenthal, in Lowenthal, op. cit., Vorwort. Zu US-amerikanischen und ausländischen Reaktionen vgl. Deterring<br />

Democracy, Kap. 10. Zu früheren Wahlen vgl. Edward Herman und Noam Chomsky, Manufacturing Consent (Pantheon,<br />

1988), Kap. 3. Ferner meine Einleitung zu Morris Morley und James Petras, The Reagan Administration and Nicaragua<br />

(Institute for Media Analysis, New York, 1987). Vgl. auch William Robertson, A Faustian Bargain (Westview, 1992); der<br />

Autor beschäftigt sich mit der US-amerikanischen Beeinflussung der Wahlen von 1990, die eher eine Nebensächlichkeit<br />

war, so daß seine informative Untersuchung trotz ihrer kritischen Haltung im Mainstream Anerkennung fand, während das<br />

grundlegendere Thema weiterhin totgeschwiegen wird.<br />

77 World Briefs, BG, 16. März 1996.<br />

78 Manlio Tirado, Excelsior, 27. Nov., 1993; Latin America News Update, Jan. 1994. Envío (UCA, Managua), Feb.-März<br />

1994.<br />

99


79 Edward Oriebar, FT, 22. März; Howard French, NYT, 22. März 1994.<br />

80 Gene Palumbo, National Catholic Reporter, 25. März; Rev. Rodolfo Cardenal, stellv. Rektor der Central American<br />

University (UCA), Latinamerica press, 31. März 1994.<br />

81 Vgl. Human Rights Watch/Americas (Americas Watch), El Salvador: Darkening Horizons, El Salvador on the eve of the<br />

March 1994 elections, VI. 4, März 1994. Lauren Gilbert (ein Vertreter der UN-Wahrheitskommission), International Policy<br />

Report (Center for International Policy, Washington), März 1994, Desgl. Clifford Krauss, NYT, 9. Nov.; Tim Weiner, NYT,<br />

14. Dez. 1993.<br />

82 Einzelheiten in El Salvador: Darkening Horizons.<br />

83 Howard French, NYT, 6. März, 22. März; Gene Palumbo, CSM, 20. Jan.; David Clark Scott, CSM, 18. und 22. März 1994.<br />

84 Tracy Wilkinson, LAT, 28. März 1994.<br />

85 Martz, »Colombia: Democracy, Development and Drugs«, Current History, März 1994; Steven Greenhouse, NYT, 15. März<br />

1994.<br />

86 Americas Watch, State of War: Political Violence and Counterinsurgency in Colombia (Human Rights Watch, Dez. 1993);<br />

Amnesty International, Political Violence [In Colombia]: Myth and Reality (März 1994). Deterring Democracy, Kap. 4.<br />

87 AP, BG, 14. März 1994.<br />

88 WOLA, The Colombian National Police, Human Rights, and U. S. Drug Policy, Mai 1993. Zu den letzten drei Monaten des<br />

Jahres 1993 vgl. insbes. Justicia y Paz, Comisión Intercongregacional de Justicia y Paz, Bd. 6.4, Okt.-Dez. 1993, Bogotá.<br />

89 Comisión Andina de Juristas, Seccional Colombia, Bogotá, 19. Jan. 1994.<br />

90 Vgl. dazu den vierten Abschnitt des zweiten Teils und die dort zitierten Quellen.<br />

91 McClintock, Instruments of Statecraft (Pantheon, 1992); vgl. dazu auch Year 501, Kap. 10. Zur Söldnerfrage vgl. Deterring<br />

Democracy, Kap. 4.<br />

92 El Terrorismo de Estado en Colombia (Brüssel, 1992). Zur Verschlechterung der Menschenrechtssituation während der<br />

achtziger Jahre vgl. auch Jenny Pearce, Colombia: Inside the Labyrinth (Latin American Bureau, London, 1990).<br />

93 Vgl. Deterring Democracy, Kap. 4.<br />

94 Justicia y Paz, zit. n. WOLA, Colombia Besieged: Political Violence and State Responsibility (Washington DC, 1989).<br />

95 Vgl. dazu Deterring Democracy, Kap. 4, sowie, zu den Opferschätzungen, El Terrorismo de Estado.<br />

96 WOLA, Colombia Besieged; WOLA, The Paramilitary strategy imposed on Colombia's Chucuri region (Jan. 1993).<br />

97 WOLA, Colombian National Police.<br />

98 Colombia Update, Colombian Human Rights Committee, Dez. 1989; vgl. auch Deterring Democracy; Kap. 4.<br />

99 WOLA, Colombia Besieged. Zu den Statistiken über Kinder vgl. Pearce, op. cit.<br />

100 Simes, NYT, 27. Dez. 1988.<br />

101 Weitere Details in Deterring Democracy, S. 29f..<br />

102 Vgl. Turning the Tide, Kap. 5 und On Power and Ideology, 5.Vorlesung.<br />

103 Friedman, NYT, 22. Sept.; Lake, NYT, 26. Sept. 1993. Zu Brasilien vgl. Year 501, Kap. 7 und die dort zitierten Quellen.<br />

104 Defense Monitor, CDI, XXI.3, XXII.4, 7 1993. Stephen Shalom, Z magazine, Juni 1993. Evans, Chicago Tribune, 7. Juli<br />

1993. Les Aspin, The Bottom-Up Review: Forces for a New Era, Verteidigungsministerium, Washington D. C, 1. Sept.<br />

1993; Hervorhebung von ihm. Zur gegenwärtigen Strategie vgl. Michael Klare, »Pax Americana: U. S. Military Policy in<br />

the Post-Cold War Era«, in Phyllis Bennis und Michel Moush-abeck (Hg.), Altered States: a Reader in the New World<br />

Order (Olive Branch Press, Interlink, 1993). Zu Somalia vgl. Stephen Shalom, »Gravy Train: Feeding the Pentagon by<br />

Feeding Somalia«, Z magazine, Feb. 1993; desgl. mein Artikel in derselben Ausgabe, sowie Joseph Gerson, Peacework,<br />

Jan. 1993; Zitate aus WP Weekly, 14.-20. Dez. 1992 (zit. n. Gerson), Jane Perlez, NYT Week in Review, 20. Dez. 1922. Zu<br />

umfassenderen Diskussionen vgl. Alex de Waal und Rakiya Omaar, »Doing Harm by Doing Good? The International Relief<br />

Effort in Somalia«, Current History, Mai 1993; »Somalia: Adding „Humanitarian Intervention" to the U. S. Arsenal«,<br />

Covert Action 44, Frühjahr 1993; Somalian Operation Restore Mope: A Preliminary Assessment, African Rights, London,<br />

Mai 1993.<br />

105 Arkin, Bulletin of the Atomic Scientists, Juli-Aug. 1993. Paul Quinn-Judge, BG, 12. Juli 1993.<br />

106 Weiterführende Informationen in Deterring Democracy und Year 501.<br />

107 Zur bemerkenswerten Uniformität der Berichterstattung vgl. Necessary Illusions, insbes. S. 61-65. Zu Kissinger vgl.<br />

Seymour Hersh, Price of Power (Summit, 1983), S. 270, wo er Roger Morris zitiert.<br />

108 Pastor, Condemned to Repetition (Princeton, 1987); vgl. dazu Deterring Democracy, Kap. 8.<br />

109 Zu Lansing und Wilson vgl. Lloyd Gardner, Safe for Democracy (Oxford, 1987), S. 157, 161, 261, 242. Zu Großbritannien<br />

vgl. Davies, op. cit., S. 518.<br />

110 Die Bemerkung von Dulles zit. n. Warner, op. cit. Zum Bericht des Außenministeriums vgl. Dennis Merrill, Bread and the<br />

Ballot: the United States and India's Economic Development, 1947--7963 (North Carolina, 1992), S. 123. <strong>Mac</strong>millan zit. n.<br />

Richard Reeves, President Kennedy (Simon & Schuster, 1993), S. 174. Zu China und Vietnam vgl. Noam Chomsky, For<br />

Reasons of State (Pantheon, 1973), Kap. 1.V; Wiederabdr. in James Peck (Hg.), The Chomsky Reader (Pantheon, 1988).<br />

100


111 Douglas Little, »Cold War and Covert Action: the US and Syria, 1945-1958«, Middle East Journal, Winter 1990. Steven<br />

Freiberger, Dawn over Suez (Ivan Dee, 1992), S. 167, 156f.<br />

112 Vgl. dazu die Quellenverweise in den Anm. 13 und 15.<br />

113 World Development Report 1991: the Challenge of Development (Oxford, 1991), S. 14, zit. n. Michael Haynes, »The New<br />

Market Economies and the World Economy«, Ms., Wolverhampton Polytechnic (U. K.), Mai 1992. Statistiken <strong>zum</strong><br />

Niedergang bei Alice Amsden, »After the Fall«, American Prospect, Frühjahr 1993. Zum Bericht der Weltbank vgl. Year<br />

501, Kap. 3 u.4.<br />

114 Zur Flucht vor dem neoliberalen Zusammenbruch vgl. Ryuta-ro Komiya u. a., Industry Policy of Japan (Tokyo, 1984;<br />

Academic Press, 1988); Mjöset, op. cit. (zu den kleineren europäischen Ländern); Amsden, Asia's Next Giant (Oxford,<br />

1989) und Robert Wade, Governing the Market (Princeton, 1990) (zu den asiatischen »Tigerstaaten«). Zu den<br />

Auswirkungen neoliberaler Reformprinzipien vgl. u. a. Alejandro Foxley, Latin American Experiments in Neoconservative<br />

Economics (California, 1983); Carmen Diana Deere u. a., In the Shadows of the Sun (Westview, 1990) sowie Kathy<br />

McAfee, Storm Signals (South End, 1991) (beide zur Karibik); Michael Barratt Brown und Pauline Tiffen, Short Changed<br />

(Pluto, 1992) (über Afrika). Zu Lateinamerika insgesamt vgl. NACLA, »A Market Solution for the Americas?«, Report on<br />

the Americas, NACLA XXVI.4, Feb. 1993; James Patras und Steve Vieux, »Myths and Realities: Latin America's Free<br />

Markets«, Monthly Review, Mai 1992; ferner viele Untersuchungen zu Einzelfällen, wie etwa Joseph Collins und John Lear,<br />

Chile's Free Market Revolution: A Second Look (Institute for Food and Development Policy, 1994), ferner Martha Honey,<br />

Hostile Acts (Florida, 1994) und Development GAP, Structural Adjustment in Central America (Washington DC, 1993), zu<br />

Costa Rica. Eine informative Übersicht über die Auswirkungen der Programme von IWF und Weltbank in den achtziger<br />

Jahren bietet Rehman Sobhan, »Rethinking the Market Reform Paradigm«, Economic and Political Weekly (Indien), 25.<br />

Juli 1992. Zu den übergreifenden Themen und Problemen vgl. Peter Evans u. a., Bringing the State Back In (Cambridge,<br />

1985); Tariq Banuri (Hg.), No Panacea: The Limits of Economic Liberalization (Oxford, 1991); Susan George, The Debt<br />

Boomerang (Pluto, 1992). Zu Vergleichen zwischen Lateinamerika und Ostasien s. u. a. Stephen Haggard, Pathways From<br />

the Periphery (Cornell, 1990); Rhys Jenkins, «Learning from the Gang«, Bulletin of Latin American Research, 10.1, 1991,<br />

und »The Political Economy of Industrialization«, Development and Change 22, 1991. Weitere Diskussionen und Quellen<br />

in Deterring Democracy und Year 501.<br />

115 Mehr dazu in Necessary Illusions; ferner Towards a New Cold War, Kap. 1 und 2; Deterring Democracy, Kap. 12; Year<br />

501, Kap. 10 und 11. Vgl. auch das wichtige Buch von Alex Carey, Taking the Risk out of Democracy (im Ersch.<br />

begriffen).<br />

116 Jefferson zit. n. Sellers, op. cit., S. 269f., 106. Robert Westbrook, John Dewey and American Democracy (Cornell, 1991),<br />

S. 440f., 176f., 225f., 249,453. Zur Diskussion dieser Themen im späten 18. Jahrhundert vgl. Patricia Werhane, Adam Smith<br />

and His Legacy for Modern Capitalism (Oxford, 1991).<br />

117 Joyce, »The Revitalization of Civil Society«, Bemerkungen vor der Milwaukee Bar Association, 23. Juni 1993; abgedr. in<br />

Wisconsin Interest.<br />

118 Orwell, unterdrücktes Vorwort zu Animal Farm, veröff. von Bernard Crick im Times Literary Supplement, 15. Sept. 1972;<br />

wiederabgedr. in der Ausgabe bei Everyman's Library. Jo Ann Boydston (Hg.), John Dewey: The Later Works, Bd, II, aus<br />

Common Sense, Nov. 1935; vgl. auch Necessary Illusions, Kap. 5.<br />

119 Vgl. Letters from Lexington, Kap. 17. Zur Kontrolle des Rundfunks vgl. Robert McChesney, Telecommunications, Mass<br />

Media & Democracy (Oxford, 1993).<br />

120 Vgl. Carey, op. cit.<br />

121 Zu den Kampagnen der vierziger Jahre vgl. Karl Meyer, Editorial Notebook, NYT, 2. Aug.; James Perry, WSJ, 23. Sept.<br />

1993. Robin Toner, »Poll Says Public Favors Changes in Health Policy«, JVYT, 6. April; Elizabeth Neuffer und Richard<br />

Knox, »Guide to ›six stars‹ of health plan debate«, BG, 26. Sept.; Knox, »Many ready to accept care limits«, BG, 19. Sept.<br />

1993. Toner fügt hinzu, daß die 59 Prozent Unterstützung für die Reform des Gesundheitssystems sich auf 36 Prozent<br />

reduzieren, wenn dafür zusätzlich 1000 Dollar an Steuern anfallen und andere Prämien gestrichen würden. Da scheint eine<br />

irreführende Frage vorzuliegen, vor allem angesichts der Tatsache, daß 58 Prozent bereit waren, für die Verbesserung des<br />

Gesundheitssystems zusätzliche Steuern zu zahlen. Zu den augenblicklichen Medienkampagnen vgl. Year 501, Kap. 9;<br />

FAIR, Extra!, Juli/ Aug. 1993.<br />

122 Navarro, in ders. (Hg.), Why the United States does not have a National Health Program (Baywood, 1992); Navarro,<br />

Dangerous to Your Health (Monthly Review, 1993), S. 59, 75.<br />

123 Carey, op. cit. Reich und Brown zit. n. Louis Uchitelle, »Union Leaders Fight for a Place in the President's Workplace of<br />

the Future«, NYT, 8. Aug. 1993. Weitere Ausführungen und Quellen in Turning the Tide, Kap. 5, sowie die Angaben in<br />

Anm. 2.<br />

124 Vgl. Year 501, Kap. 4. FT, 23. Juli 1993; Aaron Zitner, »Arms Across the Sea«, BG, 1. Aug.; Charles Haney, AP, San<br />

Diego Union-Tribune, 12. Aug. 1993. Feinstein, Bulletin of the Atomic Scientists, Nov. 1992. Zu Saudi-Arabien vgl. Jeff<br />

Gerth u. a., »Saudi Stability Hit by Heavy Spending Over Last Decade«, NYT, 22. Aug.; David Hirst, »Heads in the Sand«,<br />

Guardian Weekly, 29. Aug. 1993.<br />

125 Vgl. dazu die wichtigen Untersuchungen des National Labor Committee Education Fund in Support of Worker & Human<br />

Rights in Central America, Paying to Lose Our Jobs (1992); Haiti After the Coup (1993).<br />

126 Mandate for Change (Berkley Books, Jan. 1993). Todd Schäfer, Still Neglecting Public Investment: The FY94 Budget<br />

Outlook, Economic Policy Briefing Paper (EPI, Washington, Sept. 1993). Howard, »The Hidden Welfare State«, Political<br />

101


Science Quarterly, Herbst 1993. Ben Lilliston, Multinational Monitor, Jan.--Feb.; James Donahue, »The Corporate Welfare<br />

Kings«, WP Weekly, 21.-27. März 1994.<br />

127 Richard Du Boff, Accumulation and Power (M. E. Sharpe, 1989), S. 101-103.<br />

128 Economist, 7. Sept. 1985. Lucinda Harper, WSJ; NYT Wirtschaftsteil, 28. Okt. 1992. Jeremy Leaman, Debatte<br />

(Deutschland), Nr. 1, 1993. Keith Bradsher, NYT, 15. Feb. 1994. Bergsten, FT, 18. Aug. 1993; FT, 16. Nov. 1992. Low,<br />

Trading Free (Twentieth Century Fund, 1993), S. 70ff., 271.<br />

129 Susan George, op. cit., S. 77.<br />

130 Meller, »Adjustment and Social Costs in Chile During the 1980s«, World Development 19.11, 1991. Felix, »Privatizing and<br />

rolling back the Latin American State«, CEPAL Review 46, Santiago de Chile, April 1992. Nash, NYT, 4. April 1993. Vgl.<br />

auch Collins und Lear, op. cit.<br />

131 Zu den EG-Stahlpreisen vgl. David Gardner, FT, 2. Dez.; zur Export-Import-Bank FT, 12. Nov. 1992.<br />

132 Nasar, NYT, 12. Dez. 1992. Borrus, American Prospect, Herbst 1992.<br />

133 Broad, Science Times, NYT, 10. Nov. 1992.<br />

134 Keith Bradsher, »Administration Plans New Export Initiative«, NYT Wirtschaftsteil, 28. Sept.; Michael Frisby, WSJ, 29. u.<br />

30. Sept. 1993.<br />

135 Dieter Ernst und David O'Connor, Competing in the Electronics Industry (Pinter, 1992), zit. n. Laura Tyson, Who's Bashing<br />

Whom? (Institute for International Economics, 1992).<br />

136 Sonia Nazario, WSJ, 5. Okt. 1992.<br />

137 Howard Wachtel, The Money Mandarins (M. E. Sharpe, 1990), S. 249.<br />

138 Eine Einschätzung bei Robert Pear, NYT, 3. Jan. 1993.<br />

139 Adam Pertman, BG, 5. März 1993. Vgl. auch Year 501, Kap. 11.<br />

140 Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective (Harvard, 1962), ein Werk, das man sinnvoll neben einer<br />

wichtigen, ebenfalls Anfang der sechziger Jahre erschienenen, Studie lesen kann, die sich mit der Kehrseite der Medaille<br />

beschäftigt: Frederick Clairmonte, Economic Liberalism and Underdevelopment (Asia Publishing House, 1960).<br />

141 Vgl. Year 501, wo ausführlicher argumentiert und auf Quellen verwiesen wird. Brenner, Merchants and Revolution<br />

(Princeton, 1993), 45ff., 580.<br />

142 Sellers, op. cit., S. 101.<br />

143 Ebd., S. 405, 256.<br />

144 Vgl. Mjöset, op, cit.<br />

145 Merrill, op. cit., S. 14; Thakur, Third World Quarterly 14.1, 1993.<br />

146 Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali (Cambridge, 1984), S. 169ff, 238ff., 258ff. Peter Gran, Islamic Roots of<br />

Capitalism (Texas, 1979), S. 6ff.<br />

147 Weitere Informationen und Quellen in Deterring Democracy, Kap. 7.<br />

148 Cumings, International Organization 38.1, Winter 1984. Wade, op. cit., S. 74. Amsden, »The State and Taiwan's Economic<br />

Development«, in Evans, op. cit.<br />

149 Zum Verhältnis Mandschurei—Südvietnam vgl. American Power and the New Mandarins, Kap. 2.<br />

150 Shintaro Ishihara, in Akio Morita und Ishihara, The Japan That Can Say No (Konbusha, Tokio), Congressional Record, 14.<br />

Nov. 1989, E3783-98.<br />

151 Ausführlichere Darstellungen in Deterring Democracy, Kap. 1 und 11; Year 501, Kap. 7.<br />

152 Rabe, The Road to OPEC (Texas, 1982). Haines, The Americanization of Brazil (Scholarly Resources, 1989). Weiteres<br />

dazu in Year 501, Kap. 7.<br />

153 Stephen Fidler, »Latin America „chaos" warning«, FT, 25./26. Sept. 1993.<br />

154 Nathan Godfried, Bridging the Gap between Rich and Poor: American Economic Development Policy Toward the Arab<br />

East, 1942-1949 (Greenwood, 1987), S. 99. David Painter, Oil and the American Century (Johns Hopkins, 1986), S. 153ff.<br />

155 Vgl. u. a. Tom Barry und Deb Preusch, The Soft War (Grove, 1988), S. 67f.; Borden, The Pacific Alliance: United States<br />

Foreign Economic Policy and Japanese Trade Recovery, 1947-1955 (Wisconsin, 1984), S. 182f.<br />

156 Merrill, op. cit., S. 145.<br />

157 Ebd., S. 140.<br />

158 Ebd., S. 61ff., 146f., 158, 170.<br />

159 Zu weiteren Einzelheiten vgl. meinen Aufsatz »Responsibility of Intellectuals« von 1966, wiederabgedruckt in American<br />

Power and the New Mandarins, Kap. 6, sowie Peck, Chomsky Reader. Dort die Zitate aus Kongreßanhörungen und den<br />

Zeitungen CSM, NYT.<br />

160 Chossudovsky, »India under IMF-Rule«, Economic and Political Weekly, 6. März 1993. Madhura Swaminathan und V. K.<br />

Ramachandran, »Structural Adjustment Programmes and Child Welfare«, Ms., Bombay, Arbeitspapier für das Seminar<br />

über <strong>Neue</strong> Wirtschaftspolitik, 19.-21. Aug. 1993 im Indian Institute of Management, Kalkutta. Vgl. auch Year 501, Kap. 7.<br />

161 Michael Meacher, Observer, 16. Mai 1993; Economist, 10. Juli 1993.<br />

102


162 Paul Johnson, »Colonialism's Back -- and Not a Moment Too Soon«, NYT Magazine, 18. April 1993, ein besonders<br />

vulgäres Beispiel für diese Art von Argumentation.<br />

163 Vgl. etwa Stuart Auerbach, den Asienkorrespondenten der Washington Post, in WP Weekly, 26. Juli 1993. Beispiele für<br />

Irrtümer im Hinblick auf Tatsachen und Logik in For Reasons of State, Kap. 1, Abschn. 5, wiederabgedr. in Peck, Chomsky<br />

Reader. Zur Analyse des Handelsministeriums vgl. Wachtel, op. cit., S. 44f. BW, 7. April 1975.<br />

164 Susan George, op. cit., xvf., Kap. 3; Barratt Brown und Tiffen, op. cit. (UNICEF). Meacher, op. cit. Ein Überblick über den<br />

Bericht der South Commission in South Centre, Facing the Challenge (Zed, 1993), S. 4. Zu Lateinamerika vgl. UN-<br />

Commission on Latinamerica, Report on the Americas (NACLA), Feb. 1993; Excelsior (Mexiko), 21. Nov. 1992; ders., 26.<br />

Aug. 1993; Pastor, »The Effects of IMF Programs in the Third World«, World Development 15.2, 1987. Zu Afrika vgl.<br />

Barratt Brown und Tiffen, op. cit. Zur Datenübersicht der Weltbank vgl. Sobhan, op. cit.; zu Chile vgl. David Pilling,<br />

»Latin America's dragon running out of puff«, FT, 19. Aug. 1993. Der Fall Chile wird sorgfältig analysiert von Collins und<br />

Lear, op. cit. Zur WHO vgl. Deterring Democracy, Kap. 7; zu Reagan in Afrika vgl. Inter-Agency Task Force, Africa<br />

Recovery Program/Economic Commission, South African Destabilization: the Economic Cost of Frontline Resistance to<br />

Apartheid (UN, New York, 1989), S. 13, zit. n. Merle Bowen, Fletcher Forum, Winter 1991. Weitere Quellenangaben in<br />

Year 501, Kap. 3 und 4.<br />

165 Swaminathan und Ramachandran, op. cit. Zu Chile vgl. Jean Dreze und Amartya Sen, Hunger and Public Action (Oxford,<br />

1989), S. 229ff. Zum Verfall des Gesundheitssystems vgl. Collins und Lear, op. cit. Zu Kinderarbeit und -prostitution vgl.<br />

Deterring Democracy, Kap. 7; Year 501, Kap. 7.<br />

166 O'Shaughnessy, Observer, 12. Sept. 1993.<br />

167 Cries/Nirlapán Team, Envio, Jesuitische Universität von Mittelamerika (UCA), Managua, Sept. 1993. Abstimmung im<br />

Senat, 29. Juli 1993. CEPAD Report, Juli-Aug. (Evangelical Churches of Nicaragua); Barricada Internacional, 9. und 10.<br />

Okt.; Nicaragua News Service, Nicaragua Network Education Fund, Washington, 2.-9. Okt.; Central America Report<br />

(Guatemala), 22. Okt.; Guillermo Fernandez A.; Barr. Int., Sept.; Porpora, CSM, 20. Okt.; Werner, »Children pay price in<br />

Nicaragua's New Order«, Third World Resurgence (Malaysia) Nr. 35, 1993. John Haslett Cuff, Globe & Mail (Toronto), 20.<br />

Nov.; O'Shaughnessy, Observer, 26. Sept. 1993. Zu vergleichbaren Praktiken in Lateinamerika und anderen westlich<br />

beeinflußten Regionen vgl. Turning the Tide, Kap. 3.8; Year 501, Kap. 7.7. Zum monetaristischen Modell von Somoza vgl.<br />

die Untersuchung von Nicaraguas führendem konservativen Ökonomen, Francisco Mayorga, The Nicaraguan Economic<br />

Experience, 1950--1984: Development and exhaustion of an agroindustrial model, Yale Univ., Diss., 1986; zur Diskussion<br />

vgl. Deterring Democracy, S. 232f.<br />

168 Rubinstein, »Terror is caused by the humiliations«, Ha'aretz, 2. April 1993. Philip Taubman, NYT, 24. Sept. 1984.<br />

Kongreßabgeordneter William Alexander, NYT, 5. Mai 1985; Cranston, US-Senat, Committee on Foreign Relations, 27.<br />

Feb. 1986. Carlos Arguello Gómez, Bevollmächtigter der Republik Nicaragua, und Edward Williamson, Rechtsberater des<br />

US-Außenministeriums, Kommuniques für den Internationalen Gerichsthof in Den Haag, 12. und 25. Sept. 1991, zit. n.<br />

Howard Meyer, Spezialist für internationales Recht in einem Brief an die New York Times nach einer vom Kongreß<br />

beschlossenen Einstellung der Hilfsleistungen (24. Aug. 1993, nicht abgedr.). Zum Votum des Senats Tim Johnson, Knight-<br />

Ridder Service, BG, 24. Sept. 1993; Die von den ultrarechten Senatoren Jesse Helms und Connie <strong>Mac</strong>k initiierte<br />

Einstellung erwähnte Nicaragua nicht direkt, aber alle wußten, was gemeint war.<br />

169 Vgl. insbes. Honey, op. cit. Zu Quellen und anderen Materialien über die ambivalente Haltung Washingtons zur<br />

Demokratie in Costa Rica vgl. Necessary Illusions, Anh. V.l. Zu Jose Figueres ebd., sowie Letters from Lexington, Kap. 6.<br />

Der Umgang der US-Medien mit Figueres, Mittelamerikas größtem Demokraten, <strong>bis</strong> in die Nachrufe hinein ist sehr<br />

bezeichnend für die wahre Haltung der USA gegenüber Lateinamerika und Washingtons Bemühungen, dort »die<br />

Demokratie zu fördern«.<br />

170 Vgl. dazu Year 501, Kap. 7; Haines, op, cit.<br />

171 Paul Kennedy, New York Review, 11. Feb. 1993, der Statistiken der Inter-American Development Bank von 1989 zitiert.<br />

172 Burke, »The Political Economy of NAFTA, the Global Crisis and Mexiko«, Ms., Univ. of Maine, 1993; »The Beginning of<br />

the End of the IMF Game Plan: the Case of Mexiko«, in Edgar Ortiz (Hg.), Public Administration Economics and Finance:<br />

Current Issues in the North-American and Caribbean Countries (Centro de Investigacion y Docencia Económicas, Mexiko,<br />

1989--90). Meacher, op. cit. South Centre, op. cit., S. 12.<br />

173 UNDP Human Development Report, 1992, S. 34f., zit. n. Ian Robinson, The NAFTA, Democracy, and Economic<br />

Development, Canadian Centre for Policy Alternatives, 1993, Anm. 64; North American Trade as if Democracy Mattered<br />

(CCPA and International Labor Rights Education and Research Fund, 1993), Anh. 2. Gesundheitsstatistik: Dr. Gregory<br />

Pappas, zit. n. Robert Pear, »Big Health Gap, Tied to Income, Is Found in U. S.«, NYT, 8. Juli 1993.<br />

174 Thomas Edsall, WP Weekly, 2. Aug.; Lester Thurow, Guardian Weekly, 22. Aug. 1993. Mishel und Bernstein, Challenge,<br />

Nov.-Dez. 1992. Dornbusch, Economist, 24. Okt. 1992. Robinson, op. cit. Rothstein, American Prospect, Sommer 1993.<br />

Zur OECD und anderen Untersuchungen zur Ungleichheit, Left Business Observer, 14. Sept. 1993. Zur UNICEF vgl. AP,<br />

BG, 23. Sept. 1993. Alfred Malabre, WSJ, 13. Sept.; Judy Rakowsky, »Tufts study finds 12 million children in US go<br />

hungry«, BG, 16. Juni 1993. Weitere Erörterungen in Deterring Democracy, Kap. 2; Year 501, Kap. 2, 4 und 11.<br />

175 Paulette Thomas, WSJ, 5. Okt. 1993. Robert Rosenthal, LAT, 31. März; AP, Chicago Tribune, 26. Jan.; David Holstrom,<br />

GSM, 27. Jan. 1994.<br />

176 Lawrence Mishel und Jared Bernstein, »The Joyless Recovery«, Dissent, Winter 1994; Tamar Lewin, NYT, 10. März;<br />

Fortune (Titelgeschichte), 24. Jan. 1994. Robert Hershey, NYT, 2. April; Jurek Martin, FT, 2. April 1994.<br />

103


177 Gilmour, Dancing with Dogma (Simon & Schuster, 1992). Godley, London Review of Books, 8. April; Steven Webb und<br />

Richard Thomas, New Statesman and Society, 30. Juli; David Brindle, Guardian Weekly, 11. Juli 1993. Angelia Johnson,<br />

Guardian, 6. Juli; David Nicholson-Lord, Independent, 12. Mai; Pirt, Leserbrief, Independent, 18. Mai 1993. Ungleichheit,<br />

gemessen nach dem Gini-Index, übertragen aus Datenbanken der Luxemburger Einkommensuntersuchung; Left Business<br />

Observer, 14. Sept. 1993.<br />

178 David Nicholson-Lord, Independent, 1. Feb.; Pressemitteilung, »Action for Children«, 31. Jan.; Jeremy Laurance,<br />

»Workhouse gruel „too costly for poor today"«, Times, 1. Feb.; John Palmer, »UK joins poor of Europe«, 30. Jan. 1994.<br />

David Gardner, FT, 16. Okt. 1992.<br />

179 Business Week, 21. Feb.; Dana Milbank, WSJ, 28. März 1994.<br />

180 Vgl. Manne, »Wrong Way, Go Back«, ABM, Nov. 1992; Burchill, »Scenes from Market Life: Neoliberalism in Australia«,<br />

Ms., Univ. of Tasmania, 1993 (dort das Zitat aus P. Kelly, End of Certainty, 1992). Einen informativen Überblick und<br />

vergleichende Analysen bieten Tom Fitzgerald, Between Life and Economics (1990 Boyer lectures of the Australien<br />

Broadcasting Company, ABC, 1990), sowie John Carroll und Robert Manne (Hg.), Shutdown: The Failure of Economic<br />

Rationalism (Melbourne: Text, 1992).<br />

181 Gordon Campbell, Listener (Neuseeland), 30. Jan. 1993. Hazeldine, »Taking New Zealand Seriously«, Antrittsvorl.,<br />

Fachber. Wirtschaftswissenschaften, Univ. Auckland, 10. Aug. 1993.<br />

182 Ryutaro Komiya, Yutaka Kosai u. a. in Komiya, op. cit.; vgl. auch Fitzgerald, op. cit. Johnson, National Interest, Herbst<br />

1989. Amsden zit. n. Evans, op. cit.<br />

183 Overseas Economic Cooperation Fund, »Implications of the World Bank's Focus on Structural Adjustment: A Japanese<br />

Government Critique«, Third World Economics (Malaysia), 31. März 1993.<br />

184 Patricia Corda, Excelsior (Mexiko), 4. Dez. 1992. Fernando Montes, S. J., von der chilenischen Delegation (Mensaje, Dez.<br />

1992); Weihnachtsbotschaft der bolivianischen Bischofskonferenz; beides in LADOC (Latin American Documentation),<br />

Lima, März/April 1993. Ian Linden, Kath. Institut für internationale Beziehungen, »Reflections on Santo Domingo«, The<br />

Month (Jan. 1993).<br />

185 Vgl. Turning the Tide, Kap. 4.2.2., wo Untersuchungen von Vicente Navarro zusammengefaßt sind. Ferner Thomas<br />

Ferguson und Joel Rogers, Right Turn (Hill & Wang, 1986). Desgl. Deterring Democracy; Kap. 2; Year 501, Kap. 11.<br />

British Social Attitudes Survey, Guardian, 18. Nov. 1992.<br />

186 Jean-Yves Potel, »La Hongrie n'est plus une ›île heureuse‹«, Le Monde diplomatique, Mai 1993. FT, 17. Juni und 16. Sept.<br />

1993.<br />

187 Konstanty Gebert, Kolumnist für Polens größte Tageszeitung, in den achtziger Jahren »Journalist im Untergrund«, WP<br />

Weekly, 10. Mai 1993. Amsden, »After the Fall«, American Prospect, Frühjahr 1993.<br />

188 Dean Murphy, LAT, 19. Sept.; Barry Newman, WSJ, 16. Sept.; Jane Perlez, NYT, 18. Sept. 1993.<br />

189 Jonathan Kaufman, BG; Barry Newman, WSJ; Jane Perlez, NYT; alle Beiträge vom 20. Sept. 1993.<br />

190 Abraham Brumberg, op-ed, NYT, 22. März; Andrew Hill, FT, 25. Feb.; AP, BG, 25. Feb.; Times Mirror, NYT<br />

Nachrichtendienst, 26. Jan.; Steven Erlanger, NYT, 20. Aug.; Economist, 13. März 1993.<br />

191 Marlise Simons, »In Europe's Brothels, Women from the East«, NYT, 9. Juni 1993. Zu Bolivien und anderen »Erfolgen des<br />

freien Markts« vgl. Year 501, Kap. 3 und 7. Rensselaer Lee und Scott <strong>Mac</strong>donald, »Drugs in the East«, Foreign Policy,<br />

Frühjahr 1993.<br />

192 »The „Thirdworldisation" of Russia under IMF rule«, Third World Quarterly, 16.-30. Juni 1993.<br />

193 »La grande détresse de la société russe«, Le Monde diplomatique, Sept. 1993.<br />

194 Kregel und Matzner, Challenge, Sept.-Okt. 1992. Zu Italien vgl. Gerschenkron, op. cit., zu Österreich Mjöset, op. cit.<br />

195 UNICEF, Public Policy and Social Conditions: Central and Eastern Europe in Transition, Florenz, Nov. 1993. Francis<br />

Williams, FT, 27. Jan. 1994. Vgl. ferner John Lloyd, FT, 14. Feb. 1994. Daly, »The Perils of Free Trade«, Scientific<br />

American, Nov. 1993. Die New York Times berichtete über die steigende Rate der Todesfälle in Rußland einige Wochen<br />

später als die Auslandspresse und fragte nach möglichen Gründen, ließ dabei aber seltsamerweise die von ihr so<br />

nachdrücklich befürworteten »Wirtschaftsreformen« aus; vgl. Michael Specter, NYT, 6. März 1994.<br />

196 Myers, Chicago Tribune, 28. Jan. 1994.<br />

197 Parker, »Clintonomics for the East«, Foreign Policy, Frühjahr 1994.<br />

198 Eatwell, »The Global Money Trap«, American Prospect, Winter 1993. Zum GATT vgl. Low, op. cit., S. 242. David Calleo,<br />

The Imperious Economy (Harvard, 1982). Zu Nixons Initiative und ihren Gründen vgl. auch Susan Strange, Casino<br />

Capitalism (Blackwell, 1986); Howard Wachtel, The Money Mandarins (M. E. Sharpe, 1990). Zu den Kapitalströmen vgl.<br />

Frederic Clairmont und John Cavanagh, Third World Resurgence, Nr. 42/43, 1994. Weitere Materialien und Quellen in<br />

Year 501, Kap. 3.<br />

199 Barry Riley, Philip Coggan, »IMF: World Economy and Finance«, FT, 24. Sept. 1993.<br />

200 Zum IWF vgl. Doug Henwood, Left Business Observer, Nr. 56, Dez. 1992. Douglas Seage und Constance Mitchell, WSJ, 6.<br />

Nov. 1992.<br />

201 Barkin, »Salinastroika and Other Novel Ideas«, 10. Aug. 1992; SourceMex, Univ. von Neumexiko, Lateinamerikanische<br />

Datenbank, ersch. in einer Neuausgabe von Barkin, Distorted Development (Westview, 1990). Andrew Fisher, FT, 20. Mai;<br />

Anthony Robinson, FT, 20. Okt. 1992.<br />

104


202 Amsden, »After the Fall«. Weitere Materialien in Year 501, Kap. 2.5. Amsden, »After the Fall«. Richard Stevenson, NYT,<br />

22. Juni 1993.<br />

203 Richard Stevenson, NYT, 11. Mai, 22. Juni; Craig Whitney, NYT, 8. Aug.; Roger Cohen, NYT, 9. Aug. 1993.<br />

204 Business Week, 15. Feb.; Economist, 27. Feb. 1993. Helene Cooper und Glenn Ruffenbach, WSJ, 30. Sept. 1993. Zu North<br />

Carolinas Erfolgen bei der Vernichtung der Arbeiterbewegung, der Senkung der Löhne und dem Abwerben von<br />

Industrieunternehmen z. B. aus Kanada vgl. Linda Diebel, Toronto Star, 6. Juni 1993; vgl. meinen Artikel in Lies of Our<br />

Times, Sept. 1993.<br />

205 Tim Golden, NYT, 19. Nov. 1993. El Financiero zit. n. Robinson, North American Trade, Anm. 183. Barkin, Distorted Development,<br />

sowie Artikel von Barkin, Richard Grinspun, Janet Tanski und James Cypher in Review of Radical Political<br />

Economics, Dez. 1993. Damian Fräser, FT, 5. Okt. 1993.<br />

206 William McGaughey, A US-Mexico Free-Trade Agreement (Thistlerose, 1992), S. 16. Iain Guest, Behind the Disappearances<br />

(Pennsylvania, 1990), S. 530, 535.<br />

207 McGaughey, op. cit., S. 25. Zur OECD vgl. Amsden, in Evans, op. cit. Aho, op. cit. FT, 23. März 1993. Arbeitskreis, 26.<br />

und 27. Sept. 1990, Protokolle, S. 3.<br />

208 Preliminary Report, Labor Advisory Committee on the North American Free Trade Agreement, dem Präsidenten und dem<br />

Kongreß am 16. Sept. 1992 überreicht.<br />

209 Year 501, S. 57f.; McGaughey, op. cit., S. 75f.<br />

210 U. S. Congress, Office of Technology Assessment, US-Mexico Trade: Pulling Together or Pulling Apart (U. S. Govt.<br />

Printing Office, Okt. 1992). Floyd Norris, NYT, Wirtschaftsteil, 30. Aug. 1992.<br />

211 Fein, Newsletter, Society for Historians of American Foreign Relations (SHAFR), März 1993. Darling, LAT-Chicago Sun-<br />

Times, 17. Okt. 1993. Kommunique der Bischöfe: elektronische Kommunikation; Devon Pena, Capitalism, Nature,<br />

Socialism, Dez. 1993; Dudley Althaus, »Nafta a victory for Salinas, but not all Mexicans happy«, Houston Chronicle, 18.<br />

Nov. 1993; Harry Browne, zus. mit Beth Sims und Tom Barry, For Richer, for Poorer (Resource Center Press, 1994).<br />

212 Excelsior, 21. u. 28. Okt.; 12. Nov. 1993. Latin America News Update, Dez. 1993; Jan. 1994.<br />

213 Oliphant, BG, 19. Sept. 1993. Die OTA-Studie weist auf die fast völlige Bedeutungslosigkeit ökonomischer Modelle für die<br />

Arbeitsplatzentwicklung hin (was in der Debatte vorrangiges Thema war), weil die Modelle von künstlichen<br />

Voraussetzungen ausgehen und die relevanten Faktoren gar nicht bestimmen können.<br />

214 Sylvia Nasar, NYT, 17. Sept. J993.<br />

215 Mark Bils, »Tariff Protection and Production in the Early U. S. Cotton Textile Industry«, Journal of Economic History 44,<br />

Dez. 1984. Vgl. Du Boff, op. cit., S. 56; Sellers, op. cit., S. 277.<br />

216 Gwen Ifill, NYT; John Aloysius Farrell, BG, 8. Nov. 1994. Richard Berke, »Rescuing a Lawmaker From Labor's Revenge«,<br />

NYT, 15. März 1994. Bob Davis und Jackie Calmes, WSJ, 17. Nov.; Lewis, 5. Nov. 1993. Editorial, NYT, 16. Nov. 1993.<br />

217 Michael Wines, NYT, 18.. Nov. 1993.<br />

218 Thomas Lueck, NYT, 18. Nov. 1993. Zu Zahlen über die Armut vgl. Lancet (Großbritannien), 4. Dez. 1993.<br />

219 AP, HG, 30. Jan. 1994.<br />

220 Pearlstein, WP Weekly, 8. Nov. 1993; Krugman, Foreign Affairs, Nov./Dez. 1993. Zur Kategorie »unskilled workers« vgl.<br />

Robinson, North American Trade, Anm. 224; desgl. den Bericht des LAG.<br />

221 Labor Notes, Jan. 1994; Anthony De Palma, NYT, 14. Dez. 1993; vgl. auch Year 501; Kap. 7. Damian Fraser, FT, 4. Jan.;<br />

Tim Golden, NYT, 4. Jan., 26. Feb.; Houston Chronicle Nachrichtendienst, 3. Jan.; Juanita Darling, LAT, 3. Jan. 1994.<br />

222 AP, Krauss, NYT, 20. Nov. 1993.<br />

223 Weekend FT, 25./26. April 1992; South Centre, op. cit., S. 13.<br />

224 Jaramillo, Third World Resurgence, Nr. 42/43, 1994. Pico, Envío, op. cit.<br />

225 Peter Cowhey und Jonathan Aronson, Foreign Affairs, America and the World, 1992/93. Senator Ernst Hollings, Foreign<br />

Policy, Winter 1993/94. Ian Robinson, op. cit., S. 63, Anm. Daly, op. cit.<br />

226 Jackson, FT, 21. Juli; Raghavan, »TNCs getting more rights with less obligations, says UN Report«, Third World Economics,<br />

1.-15. Aug. 1993.<br />

227 Clairmont und Cavanagh, op. cit.; Floyd Norris, NYT, 30. Aug. 1992; Reuters, BG, 11. April 1994.<br />

228 Daly und Goodland, »An Ecological-Economic Assessment of Deregulation of International Commerce Under GATT«, Entwurf,<br />

Umweltabteilung, Weltbank, 1992.<br />

229 Third World Economics (Penang), 1.-15. Okt. 1993. Parvathi Menon und Editorial, Frontline (Indien), 14. Jan. 1994.<br />

230 Joel Lexchi, »Pharmaceuticals, patents and politics: Canada and Bill C-22«, International Journal of Health Services, Bd.<br />

23.1, 1993; Dennis Bueckert, Terrance Wills, Montreal Gazette, 3. Dez. 1992; Linda Diebel, Toronto Star, 6. Dez. 1992.<br />

Vgl. auch Year 501, Kap. 4. Zum schädlichen Einfluß von Produktpatenten in früheren Jahren vgl. William Brock, The<br />

Norton History of Chemistry (Norton, 1992), S. 308.<br />

231 Mark Sommers, »Sanctions Are Becoming „Weapon of Choice"«, CSM, 3. August 1993. Der Artikel bezieht sich auf<br />

»Verbrecherregimes« [outlaw regimes], d. h. konkret, auf Regimes, die von den USA zu Verbrechern erklärt wurden. Henry<br />

Simons zit. n. Warren Gramm, »Chicago Economics: From Individualism True to Individualism False«, Journal of<br />

Economic Issues IX.4, Dez. 1975.<br />

105


232 Report on the Americas (NACLA), XXVI.4, Feb. 1993.<br />

233 Peter Phillips, Challenge, Jan.-Feb. 1992.<br />

234 Eine an Einsichten reiche Darstellung dieser Entwicklungen bietet Rajani Kanth, Political Economy and Laissez-Faire<br />

(Rowman and Littlefield, 1986). Kerner David Noble, Progress without People (Charles Kerr, 1993), sowie ders., Forces of<br />

Production (Knopf, 1983).<br />

235 Karl Polanyi, The Great Transformation (EA 1944; Beacon, 1957; dt. Die große Transformation, Suhrkamp, 1978), S. 78ff.<br />

236 Vgl. Third World Resurgence, Nr. 44, 1994.<br />

Editorische Nachbemerkung<br />

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung des 1994 erschienenen Buches<br />

World Orders Old and New. Komplett weggelassen wurde das dritte Kapitel, das sich ausschließlich<br />

mit dem Nahostkonflikt beschäftigt und in anderem Zusammenhang mit weiteren Materialien<br />

publiziert werden soll. Gelegentliche Kürzungen in den beiden anderen Kapiteln dienen vor allem der<br />

Vermeidung von Textredundanzen oder betreffen allzu zeitgebundene Zusammenhänge wie etwa<br />

Statistiken zur Wirtschaftsentwicklung in den ehemals sozialistischen Staaten nach 1989, deren Zahlen<br />

mittlerweile überholt sind. Ebenso wurde darauf geachtet, Überschneidungen mit Themen in bereits<br />

erschienen Bänden so weitgehend wie möglich zu vermeiden. Die Grundthesen des Buchs, die das<br />

konventionelle Bild von den Ursprüngen, Ursachen und Verlaufsformen des Kalten Kriegs kräftig<br />

revidieren, bleiben davon natürlich unberührt. Mit George Bush ist immer der Senior gemeint, dessen<br />

Amtszeit die Jahre 1988 <strong>bis</strong> 1992 umfaßte.<br />

Michael Haupt<br />

August 2004<br />

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