Als meine Familie nach Aschaffenburg zog, war ich acht Jahre alt und sehr dankbar. Bei der Suche nach einem Wohnort in nicht allzu großer Entfernung von Frankfurt hatten meine Eltern Namen wie Darmstadt und Schweinfurt in den Mund genommen, die mit meinem noch jungen ästhetischen Empfinden unvereinbar waren.

Ich konnte ja nicht ahnen, dass die Aschaffenburger ihre Heimat so klingen lassen, als hätten sie einen Bierdeckel zwischen den Zähnen: "Aschebersch". Auch sonst wusste ich nichts über die Stadt am Main, Bekannte fragten: "In welchem Bundesland liegt Aschaffenburg eigentlich?"

Womit wir schon bei der schwierigen Identitätsfrage wären. Die Stadt liegt nämlich in Unterfranken, also Bayern. Viele dagegen denken, Aschaffenburg sei hessisch, was keine ganz abwegige Idee ist. Frankfurt liegt kaum 40 Kilometer, die Grenze drei Bahnstationen entfernt, und wer einen Ureinwohner nach dem Weg fragt, bekommt die Antwort in trägem Hessisch.

Eine tiefe Hassliebe

Mit den Bayern verbindet die Aschaffenburger eine tiefe Hassliebe. Von den bayerischen Bräuchen und Eigenarten sind ihnen nur wenige geheuer. Statt Semmeln sagen sie Brötchen, sie rümpfen die Nase über die CSU und trinken dazu Apfelwein. Und wenn sie doch einmal zum Oktoberfest fahren, leihen sie sich eine abgewetzte Lederhose. Aber wenn die jüngeren Aschaffenburger ihre Heimat zum Studieren verlassen, entscheiden sie sich doch sicherheitshalber für Würzburg statt für Frankfurt, obwohl Würzburg weiter weg ist.

Alles in allem sind die knapp 70.000 Aschaffenburger aber sehr zufrieden mit ihrer Lage am Rand des voller Sagen und Märchen steckenden Spessarts. Und über ihr Renaissanceschloss aus rotem Sandstein, das sich der Mainzer Erzbischof Anfang des 17. Jahrhunderts auf einen Hügel über dem Main bauen ließ. Bis 1803 diente es den Erzbischöfen als zweite Residenz, so lange war Aschaffenburg Teil des Mainzer Kurfürstentums.

Vom Garten des Schlosses Johannisburg schauen die Besucher den Main entlang. © Horacio Villalobos/​Getty Images

Dann sind da noch die Stiftsbasilika und das gute Bier, Magnolienhaine und die schummrige Musikkneipe Colos-Saal, in der ungestört von Großstadthipstern Beinahe-Weltstars wie Tito & Tarantula oder Wishbone Ash auftreten. Außerdem gibt es das vom Satiriker Urban Priol betriebene Hofgartenkabarett und sogar eine Fachhochschule. Die kennt aber kaum jemand, weil man hier nur so Fächer wie Internationales Technisches Vertriebsmanagement studieren kann. Dafür wird der Campus im Sommer zum größten Open-Air-Kino der Stadt.

Auf zwei Zuschreibungen sind die Aschaffenburger besonders stolz. Die eine lautet, die Stadt sei das bayerische Nizza. Das soll einmal der sinnliche bayerische König Ludwig I. gesagt haben, der wegen des milden Klimas kam. Wenn man vom Flussufer auf die satten Mainauen und den darüberliegenden Altstadthügel schaut, entdeckt man auf der Anhöhe eine Villa im Stil der alten Römer. Es ist das Pompejanum, das sich Ludwig in sein Nizza gestellt hat, darunter Terrassen mit Weinreben.

Kneipen, Kneipen, Kneipen

Die zweite Lieblingsbehauptung lautet, Aschaffenburg habe die höchste Kneipendichte Bayerns: Auf 400 Einwohner falle ein Gastronomiebetrieb. Die Quelle dieser Erhebung liegt im Dunkeln, was die Einheimischen natürlich nicht daran hindert, sie ständig zu zitieren. Die beiden Viertel mit der höchsten Kneipendichte sind – auch hier soll auf einen entsprechenden Datensatz verzichtet werden – die Altstadt und die Gegend um den Roßmarkt. Von der Altstadt auf dem Hügel wurden 70 Prozent im Zweiten Weltkrieg zerstört, aber viele Fachwerkhäuser und Schankstuben wurden im Laufe der Jahre wieder aufgebaut. Wer dort über das Kopfsteinpflaster der Gassen schlendert und in die warm erleuchteten Fenster der Gaststätten schaut, fühlt sich wie in einer anderen Zeit.

Die Altstadt erlebte kürzlich einen Schockmoment, die Sache mit dem Schlappeseppel. Das kräftige Aschaffenburger Traditionsbier wurde jahrzehntelang in einer holzgetäfelten Kneipe mit gleichem Namen ausgeschenkt, wo es bis 1975 auch gebraut wurde. Dort saßen die Ureinwohner und tranken und schauten den zufriedenen Touristen zu, wie sie saßen und tranken – bis vor fünf Jahren auf einmal kein "Schlappe" mehr ausgeschenkt wurde. Zwischen dem Wirt und der Brauerei hatte es Ärger gegeben. Seitdem wird Faust-Bier aus Miltenberg verkauft, was sogar apfelweintrinkende Aschaffenburger dazu veranlasste, sich zu empören.

Vortrefflicher Geschmack

Abseits des Altstadttrubels hat Aschaffenburg schöne Parks zu bieten. Die Fasanerie zum Beispiel, einen Landschaftspark am östlichen Stadtrand, den man einem anderen Erzbischof zu verdanken hat. Auf dem See wird im Winter Schlittschuh gelaufen, im Sommer gibt es Radler im Biergarten. Im Westen lädt der englische Landschaftsgarten Schönbusch zu einem Besuch ein, und sei es nur, um einen Eisbecher im Bistro am Eingang zu essen. Der Nonkonformist unter den Grünflächen ist der Nilkheimer Park. Jedes Jahr im August quillt er drei Tage lang über, dann ist das Kommz-Festival zu Gast, mit Bands, Theater, Teezelt und Konsumkritik.

Vom Festivalgelände ist es nur ein Katzensprung zum Mainufer. Und man kann nur jedem raten, sich dort einen Sommerabend lang auf eine Decke zu legen und durch die hohen Eichenkronen in den Sternenhimmel zu schauen. Es wird nicht lange dauern, und man wünscht sich, Ludwig I. würde neben einem Platz nehmen, gar nicht lang, nur, um ihm zu seinem vortrefflichen Geschmack zu gratulieren.