Ich treffe mich im "Kleinen Schloß" mit meiner alten Freundin Beate, gebürtige Potsdamerin, mit der Bitte, sie möge mir Potsdam erklären. Sie blättert mir die Stadt auf, von der Badestelle südlich vom Bahnhof Pirschheide, wo sie als Kind in den Templiner See gegangen ist, bis hin zu den schick entspannten Restaurants wie dem "Quendel" oder dem "Juliette", das schon Mick Jagger besuchte. Sie schwärmt von Sommer-Freiluft-Kultur in den Parks und vom Einkaufen im Holländischen Viertel, und darüber, wie sie als Kinder mit dem Schlitten vor dem Schloss Sanssouci die Treppen runtergefahren sind: "Die Parkwächter hatten eigentlich keine Chance." Nachdem wir uns eine Weile über den Stadtplan gebeugt haben, sagt sie einen Satz, an den ich in Potsdam in den nächsten Tagen ständig denken werde: "Aber eigentlich ist die Stadt dann am schönsten, wenn man einfach mit einer Decke und einer Flasche Wein unterm Arm rausgeht und sich irgendwo hinsetzt. Das ist mehr so die Potsdamer Art."

Beates Lieblingsort dafür ist die Wiese zwischen der Friedens­kirche am Rande des Lustgartens vom Park Sanssouci und dem Teich. Aber als ich mir ein Fahrrad gemietet habe und einmal in großer, wunderbarer Runde die Kontur der Stadt abfahre, wünschte ich an sehr vielen Orten, ich hätte die Decke und den Wein wirklich dabei. Am Belvedere auf dem Pfingstberg, wo Friedrich Wilhelm IV. seine Italiensehnsucht Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Märchenschloss auslebte, in dessen Torbogen die am schönsten gelegenen Fahrradständer der Stadt sind. An der dusseligen kleinen Ruine im Neuen Garten mit Blick auf den Biergarten, der "Meierei" am Jungfernsee. Unter den Birken neben dem Hans-Otto-Theater mit Blick auf den Tiefen See und Babelsberg. Auf der winzigen Landzunge, die im Uferpark in den Tiefen See ragt. Es ist nicht überall erlaubt, aber man möchte sich dennoch überall ausbreiten (was man mit dem Fahrrad nicht versuchen sollte. In den preußischen Schlossparks ist auf den meisten Wegen sogar das Schieben verboten, da hört die Heiterkeit auf).

Potsdam ist eine Draußenstadt. Das mag ungerecht den Museen und Theatern, den Kneipen und Schlössern gegenüber sein – aber die Stadt ist ganz klar darauf ausgerichtet, unter freiem Himmel genossen zu werden. Ihre Baumeister haben sie so angelegt, dass
sie sich einem immer neu öffnet, und überall sind die Blicke und Perspektiven überraschend. Meine Lieblingsstelle: Wenn man mit dem Rad am Schloss Cecilienhof vorbei Richtung Osten rollt, es geht ein wenig bergab, den Jungfernsee hat man links von sich,
den Heiligen See und die Innenstadt rechts, und plötzlich entsteht eine Blickachse, die man auf dem Stadtplan so nie vermutet hätte: In gerader Linie sieht man von der verwunschenen Sacrower Heilandskirche am anderen Ufer des Jungfernsees bis zum Marmorpalais im Neuen Garten auf der anderen Seite des Heiligen Sees, mehr als zwei Kilometer purer Blick. Und man selbst in der Mitte, auf der liebreizenden Schwanenbrücke.

Vielleicht muss man dieses Heitere und Sorglose noch erweitern um die heute seltener gewordene Qualität der Großzügigkeit. Sie spiegelt sich darin, wie Potsdam sich selbstbewusst, aber auch spielerisch die ganze Welt hereingeholt hat, und das seit weit mehr als 200 Jahren. Es fängt an mit den unernsten, weil romantisch überhöhten italienischen Baustilen, die Friedrich Wilhelm IV. so liebte, dass man sich hier und da wie eben beim Belvedere in einer idealisierten Disney-Toskana wähnen möchte, wenn Disney mehr Geschmack gehabt hätte.

Es geht weiter mit der Russischen Kolonie Alexandrowka mit ihren Holzhäusern und der bildhübschen russisch-orthodoxen Kirche auf dem Kapellenberg, die Friedrich Wilhelm III. in den 1820er Jahren als Freundschaftsdienst für die Soldaten des Zaren bauen ließ. Nicht zu vergessen das Holländische Viertel mit seinen fast zärtlich nachempfundenen Giebel- und Traufenhäusern und die kleine böhmische Siedlung für die im 18. Jahrhundert von dort eingewanderten Weber rund um die Friedrichskirche in Babelsberg.

Die Toleranz Friedrichs II. ist legendär, auch der Rechtschreibung gegenüber, als er postulierte: "Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der fiscal nuhr das auge darauf haben, das keine der andern abruch Tuhe, den hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden." Denn, so Friedrich: "Alle Religionen seindt gleich und guht." Sie haben zwar in Potsdam ein Bier nach Friedrich benannt ("Rex Pils", definitiv besser als "Berliner Kindl") und verkaufen auch sonst allerlei Schnickschnack mit seinem Antlitz, aber eigentlich müssten sie gerade diese "Rand-Verfügungen" von ihm auf T-Shirts drucken, oder einfach nur ein Wort: "Selich", als speziell Friedrich’sche Version davon, dass hier jeder dazu gehören darf, um nach seiner oder ihrer Vorstellung "selich" zu werden. "Selig", das klingt schon fast zu ernst und staatstragend. "Selich", das ist lässig und weich, da kann man sich reinfallen lassen, da muss sich keiner verstellen.

Natürlich hat auch Potsdam seine Probleme. Die Mieten steigen immer höher, und manche Ureinwohner spotten über die zuziehenden Wohlhabenden aus Medien und Wirtschaft, die Potsdam vor allem im Quartier Berliner Vorstadt als Speckgürtel der Hauptstadt behandeln. Aber auch hier, im Epizentrum des neuen hauptstädtischen Randreichtums, wo eine Villa mit Seeblick schon mal fünf Millionen kostet, hat Potsdam sich das Heiter-Gelassene bewahrt: Vor der Böcklinstraße 14, gegenüber teuren Eigentumsneubauten, steht der "Kunstautomat" von Christian Heinze am Gartenzaun des alten Künstlers, der seit 1966 hier sein Atelier hat. Man kann sich dort für zwei Euro von Kunst "verwirren, erhellen, aufregen" lassen. Ich ziehe einen wunderschön orange-grün glänzenden Ton-Anhänger aus dem Automaten, der eine charakteristische Südfrucht mit der Aufschrift "Alles Banane" trägt. Hinter der eingewachsenen Hecke arbeitet der Künstler, Jahrgang 1941, im Garten, und als er mit der Schubkarre vorbeikommt, ruft er freundlich: "Danke!"

Nein – wir haben zu danken. Stellvertretend, der ganzen Stadt. Für die große kleine Kunst, als Randerscheinung ein Höhepunkt zu sein.