Ausland02. Februar 2022

Der fabrizierte Mythos

Beim zynischen Versuch, den Ukraine-Krieg anzuheizen, zerfällt das westliche Lager

von Klaus Wagener

Je weiter sich die »Ukraine-Krise« entwickelt, umso weniger kann man sich des Eindrucks erwehren, daß das regierende Personal des Westens in einer Art Paralleluniversum agiert. So ist es ja nicht Rußland, das den Westen und die Ukraine bedroht, sondern es ist bekanntlich der Westen, der wortbrüchig mit seinen Militärstrukturen von Berlin bis an die russische Grenze vorgedrungen ist und hier nicht nur Manöver abhält, sondern auch atomare Angriffswaffen stationiert.

Damit ist, nebenbei gesagt, eine Lage entstanden, die gefährlicher ist als die in den 1980er Jahren während der »NATO-Nachrüstung«. Auch die jetzige »Ukraine-Krise« ist komplett westfabriziert. Die Anzahl der absurden Horrorstorys derartig groß, daß sie hier nicht alle diskutiert werden können. Washington versucht unter dem Dauerfeuer der Kampfmedien seine längst gescheiterte Kiewer Putschtruppe zu retten und dabei weiter nach Moskau vorzurücken.

Manchmal muß man an den Charakter dieses Propagandanarrativs erinnern, um Klarheit über die etwas verworrene Frontstellung in dieser Krise zu erhalten. Der diplomatische Aktionismus in der zurückliegenden Wochen hat noch einmal deutlich gemacht, daß von einer einheitlichen Front der »westlichen Demokratien« keine Rede sein kann. Zumindest Paris, Rom und auch Berlin sind bei allem propagandistischen Säbelgerassel an einer militärischen Auseinandersetzung kaum interessiert. Die Rückwirkungen auf die krisengeschwächten europäischen Ökonomien wären dramatisch.

Zu allem Überfluß hielt der USA-Präsident eine bemerkenswert katastrophale Pressekonferenz ab. Nun konnte Joseph Biden schon lange nicht mehr den Eindruck vermitteln, auf der Höhe der Ereignisse zu sein. Dieser Auftritt vor der Presse aber hat die Hoffnung, so sie denn bestanden hat, endgültig zerstört, daß man es im Weißen Haus mit einer fokussierten und berechenbaren Mannschaft zu tun hat. Biden, der von einem »geringen Übergriff« (minor incursion) der russischen Streitkräfte fabulierte, der nicht so schlimm sei, und sich in wilden Spekulationen über die Absichten Wladimir Putins erging, mußte wieder einmal von seinem Team zurückgepfiffen werden. Eine derartig schwache Führung läßt natürlich alle Konflikte ungebremst hochkochen.

Bestätigt hat sich zumindest, auch das zum wiederholten Male, daß das Pentagon nicht beabsichtigt, zusammen mit den ukrainischen Truppen gegen die Donbass-Republiken, die Krim und letztlich Rußland zu Felde zu ziehen. Da Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages genau das aber im »Verteidigungsfall« vorschreibt, ist eine eventuelle NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auf absehbare Zeit kaum denkbar. Ebenso wie der kopf- wie konsultationslose Abzug der USA aus Afghanistan nährt diese Haltung aber auch anderswo Zweifel an der Qualität des »USA-Schutzschirms«. Der Westen ist dabei, sich eine weitere gravierende Schlappe zu organisieren.

Wenn man gegen die russische Führung Hardball spielen will, sollte man dafür die Kraft und die Mittel zur Verfügung haben. Das ist nicht der Fall. Anders als 2014, als der Westen einen Putsch gegen die gewählte Regierung der Ukraine durchsetzen konnte, sind diese Zeiten – das haben Belarus und Kasachstan gezeigt – heute vorüber. Wenn Rußland, wie es das getan hat, die Existenz der Donbass-Republiken garantiert, dürfte es für das vom Westen ausgehaltene Selenski-Regime kaum eine Möglichkeit geben, seinen Kriegskurs erfolgreich durchzusetzen. Das bedeutet allerdings nicht, daß es faschistoide Abenteurer in Kiew nicht versuchen werden. Die Biden- und die Johnson-Führungen sind dabei, wie immer, mit Waffen und Spezialtruppen gern behilflich. Die Kampfmedien haben die Rollen längst verteilt. Ganz egal, was passiert: Die Russen sind die Aggressoren, die Selenski-Faschos die Verteidiger. Eine Unterstützung ohne eigenes Risiko.

Aber auch bei den Sanktionen sieht es problematisch aus. Die Blockade von »Nord Stream 2« trifft vor allem Deutschland, die Sperrung von SWIFT macht es für die EU-Länder schwierig, ihre Gaslieferungen zu bezahlen. Das hat selbst der konservative neue CDU-Chef Friedrich Merz gemerkt. Durch Sanktionen werden nur der Widerstandswille Rußlands und seine Kooperation mit China befördert. Diese Erkenntnis ist selbst zu deutschen Militärs vorgedrungen. Solange die EU unter der NATO-Flagge der USA segelt, spielt sie aber in diesem Konflikt nur eine untergeordnete Rolle und droht selbst unter die Räder zu geraten.

Das durfte auch die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Moskau zur Kenntnis nehmen. Daher stieß CIA-Chef William Burns bei seiner EU-Rundreise in Berlin, Paris und Rom nicht unbedingt auf große Gegenliebe, als er seine »Beweise« für die Gefährlichkeit Rußlands präsentierte, welche die EU für harte Rußlandsanktionen empfänglich machen und einen sollten. Rußland hat seit 2014 viel für seine Verteidigungsfähigkeit und Sanktionssicherheit getan. Es fühlt sich stark genug, um nun seinerseits Forderungen an die USA- und NATO-Führungen stellen zu können.

USA-Außenminister Antony Blinken hat Sergej Lawrow in Genf um Geduld gebeten. Washington Moskau zumindest eine schriftliche Antwort auf seine Vertragsentwürfe für den Stopp und die Rückabwicklung der NATO-Ostexpansion nach 1990 übermittelt, ohne allerdings den Forderungen nachzukommen. Das Weiße Haus hat die Verhängung von Sanktionen erst einmal verschoben. Blinken bittet aber, die Antwort vertraulich zu behandeln – ein klarer Hinweis auf die Schwierigkeit des Weißen Hauses, die weit auseinanderliegenden Positionen in der USA-Führung und erst recht unter den EU-Vasallen unter einen Hut zu bekommen.

Moskau weiß die Zeit auf seiner Seite. Hier spielt man Schach. Die große Verliererin aber steht bereits fest. Es ist die Ukraine, und zwar militärisch wie auch ökonomisch. Das zumindest scheint man in Kiew allmählich zu begreifen.