Agil unterwegs sein. Ein Gespräch über ausgetretene und neue Wege, Stand- und Fluchtpunkte und Freiheit als unsere Notwendigkeit

Wolf:
Liebe Veronika, wir haben uns  hier gemeinsam an den virtuellen Tisch gesetzt, um uns über Freiheit zu unterhalten. Was bedeutet für uns Freiheit? Wie ist sie privat und persönlich konnotiert? Wie beruflich und im Team?

Ich denke meistens in der Unterscheidung “Freiheit von” und “Freiheit zu”.

Eine große Energie bringt mir immer der Gedanke der “Freiheit von”: mich befreien von den Zwängen der all-verwalteten Welt. Ausbrechen. Losfahren. Aufsteigen. Von hohen Schwimmtürmen springen. Wellenreiten. Kein Ziel vor Augen, nur den Weg entdecken und bahnen.
Und dann gehts nicht lang, und ich merke, dass ich den gebahnten Weg vermisse. Dass nach der ersten Stunde des Losfahrens der Zauber verfliegt

Vero:
Lieber Wolf. Der Aufschlag zu diesem Dialog war ja meine Mitteilung, dass ich meine Wohnung auflöse und ins Wohnmobil ziehe. Ganz nomadisch und ambulant unterwegs. Wände abbauen und Grenzen ignorieren. (OK, arbeiten muss ich trotzdem noch). Wie die meisten hast auch du mit offenem Mund reagiert. Viele Reaktionen mündeten rasch in die Nachfrage, ob ich keine Angst habe, wie mutig das denn sei und ob ich wirklich die Sicherheit meiner vier Wände einfach aufs Spiel zu setzen bereit wäre.
Für mich ist Freiheit, dass ich nicht mehr als irgend nötig in fixen Wegen, Wänden, Orten, Routinen und Gegebenem stecke.

Damit mir eins möglich bleibt: Gelegenheiten wahrnehmen. Merken, wenn sich ganz spontan und neu und neugierig etwas auftut und mich zum überrascht werden einlädt.

Und für diesen Teil der inneren und äusseren Freiheit sind mir Sicherheit und Geborgenheit im Bekannten weniger wichtig als das Entdecken und Erforschen. Das gibt mir Freiheit in mir. Und die schätze ich hoch.

Wolf:
Oh, liebe Veronika, das mit der Freiheit in mir kann ich sehr gut nachvollziehen. Das Loslaufen, das mir so wichtig ist, bedeutet ja zuerst einmal: sich freizugeben. (Selbst wenn es so etwas Ritualisiertes wie “Urlaub” ist, muss ich mir den ja erstmal “nehmen”.) Aber die Freiheit “in mir” drängt ja nach aussen, sie kann nicht in sich bleiben. Sie muss in die Welt gehen – das ist der westliche Weg, denke ich.

Und da brauche ich so etwas wie einen festen Rahmen, der mir Boden unter den Füssen ist und Widerstand gibt.

Vero:
Für mich ist privat und beruflich die Tatsache, dass wir in einer veränderungsfrequenten und innovationsschnellen Zeit leben und vieles sich verändert ja ein Segen und nicht Belastung. Damit kenne ich mich aus. Neue Länder zum Leben, neue Technologien zum durchprobieren, Agilität, VUKA, Nicht-Planbares… her damit… !
Vielleicht liegt das daran, ich mich schon natürlicherweise in Zwischenräumen aufhalte (zum Beispiel zwischen meinen mehreren Kulturen und Sprachen, aber auch zwischen meinen unterschiedlichen Berufen und Disziplinen, in denen ich unterwegs war bzw. bin). Mir fällt es leicht, mich in Grenzregionen oder an uneindeutigen Positionen zu verorten und zu orientieren. Und so funktionieren ja auch Innovationen. Das agile “in Netzwerken anstatt in fixen Strukturen und Silos “ zu agieren entspricht mir schon aus meiner Biographie heraus sehr.

Ich arbeite besser mit spontanen situativen Eigenentwicklungen als mit etablierten Standards.

Denn ich habe immer wieder erlebt, dass es DEN einen Weg als best practice für mich nicht gibt. Noch nie gab. Was meine deutsche Umgebung verwerflich fand, war für das französische Umfeld normal und sogar wünschenswert – und ich meine da nicht nur das Essen :-).

Wolf:
Das ist bei mir deutlich anders. Innovation ist für mich nichts Begeisterndes an sich. Die Geschwindigkeit technischer Änderungen empfinde ich manchmal als Tsunami, also als etwas, das mich ergreift ohne dass ich eine Wahl hätte – also das Gegenteil von Freiheit. 
Es gibt neue Dinge, die ich rundum begeisternd finde, weil ich sofort spüre, dass sie meinen Handlungsspielraum erweitern. Ich kann aktiv handeln. Dazu gehören z.B. die virtuellen Konferenzformate, die jetzt normal werden und vielen Teams zu einen Schub verhelfen, den sie in Präsenzformaten nie hatten.

Aber es gibt andere Innovationen, bei denen ich nicht den Eindruck habe, dass ich sie wirklich aktiv gestalten kann, sondern dass sie mich gestalten.

Vero:
Vielleicht kann ich die Innovation nicht gestalten – aber was neu ist, lässt doch immer Raum zum Explorieren und mich meinen neuen Umgang damit gestalten. 
Ich bin ja seit frühester Kindheit und immer noch begeisterter Star Trek Fan. 

Dazu gehört die tiefe Überzeugung und Utopie, dass ein Effekt von technischer Innovation sein kann und insbesondere soll, dass uns die Technik von materiellen Zwängen befreit. Dass der Mensch dadurch Spielraum, Zeit und Möglichkeiten gewinnen kann.

Und sich der eigenen Verbesserung und dem Streben nach Humanität widmet. Errungenschaften wie Replikatoren –  Maschinen, die Materie auf molekularer Ebene verändern und damit nahezu beliebige Produkte herstellen, also eine Weiterentwicklung des 3D-Drucks – bedeuten freien Zugang zu Nahrung und Materiellem für alle. Für Initiierte: “Computer: Tea. Earl Grey. Hot”. 
Transporter zum Beamen bedeuten totale Mobilität für jede und jeden. Ohne Gegenleistung. Die  Technik steht zur Verfügung und ihre Nutzung kostet nichts, weil sie ja da ist. Und beliebig replizierbar. Ich beginne zu träumen…. 
Und die Tatsache, dass erste Geräte aus Star Trek während meiner Lebenszeit von Science Fiction-Requisiten aus Pappmaché zu tatsächlichen realen nutzbaren verbreiteten Alltagsgegenständen wurden, wie Smart Phone und Tablets und vieles mehr, ist Beleg für die hohe Innovationsrate, mit der unsere Generation leben lernen muss und darf. In dem Fall tatsächlich ein wahrgewordener Kindertraum – das MUSS einfach auch gut sein.

Wolf:
Ich habe überhaupt nichts einzuwenden gegen technische Innovationen, die von uns verwendet werden und uns in unserer Freiheit erweitern. Aber dazu muss die soziale Innovation kommen. Entweder technische Innovation unterstütze die soziale oder sie nützt gar nichts.
Wenn ein FDP-Politiker sagt, die Kinder sollten den Klimawandel den Experten überlassen und diese sollten technische Innovationen entwickeln, die den Klimawandel irgendwann bremsen, ohne dass wir unsere gesellschaftlichen Verhaltensweisen ändern müssen, dann fehlt mir der Glaube. Wenn Silicon-Valley-Vertreter wie Musk oder Thiel oder Bezos Billionenwerte in die Luft pulvern, z.B. um den Mars zu besiedeln, dann soll uns das welche Freiheit bringen?? 

Das Risiko besteht, dass bestimmte Innovationen uns über den Kopf wachsen wie der Zauberbesen dem Zauberlehrling und wir den Spruch, um ihn zu stoppen, vergessen haben.

Ein kleines aber aktuelles Beispiel: militärisch bewaffnete Drohnen. Ich weiß nicht, ob die in Star Trek vorkamen. Aber aktuell sind sie dabei, eine neue Rüstungsspirale in Gang zu setzen.   

Véro:
In der Star Trek Zeitrechnung stünden wir heute, im Jahr 2020, nur 6 Jahre vor dem 2026 beginnenden 3. Weltkrieg – der eine Spätfolge der Eugenischen Kriege wäre. 
Auch im Star Trek Universum ist – vor und auch in der Utopie – nicht einfach alles gut, es braucht Willen, Arbeit, Auseinandersetzung und Erfahrungen, immer wieder … In Star Trek passiert die im oberen Bild zitierte Utopie vom abnehmenden Wert der persönlichen Bereicherung hin zur Arbeit an der Humanität der Spezies Mensch erst ab 2064 als Folge der Entdeckung des Warp Drives als Antriebsmethode. Das erlaubt interstellare Raumfahrt und damit Austausch und Interaktion mit völlig anderen Lebensformen anderer Galaxien. Und plötzlich ist Humanität nur eine Spezies und Kultur unter vielen. Und muss sich ihrer selbst und was sie sein möchte, bewusst werden. Sonst kann sie sich als Spezies nicht beschreiben und dialogisch mitteilen. Sie muss ich ihrer selbst mit Stärken, Schwächen und Werten bewusst werden. Im 22. Jahrhundert wird ‘First Contact’ mit anderen Welten zum wichtigen Trampolin in der menschlichen Evolution. Ich bleibe gespannt, was in unserem realen Universum passieren wird. Und wann.

Unsere ganz reale Crux ist: Wir sind noch nicht dort. Wir sind wohl nie ganz angekommen. Wir müssen Erfahrungen sammeln, Innovationen entwickeln und umsetzen  – soziale, gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische. Und wir sind gerade derzeit und noch eine ganze Weile Scharniergeneration in einer Welt in einem gutenberg’schen Zeitenwandel: mit neuen Möglichkeiten, beschleunigten Geschwindigkeiten, komplexen Zusammenhängen und dynamischen Variablen. 

Wir sind als Spezies genau so unterwegs in der Entwicklung der Menschheit wie ich in Zukunft in meinem Wohnmobil unterwegs sein werde:
Ein Zuhause unterwegs, unterwegs aber immer zuhause

Nachtrag von Wolf

Als er zu Ende war, bewegte mich unser Dialog weiter stark. Viele Schmetterlinge flogen in meinem Kopf umher. Da setzte ich mich auf die sommerliche Terrasse eines Hotels am Lago Maggiore, imaginiert natürlich, wie es der virtuellen Zeit entspricht, aber mit bunten Blumenkübeln links und rechts und einem wunderbaren Blick auf den See. Und da dachte ich mir:
Was bedeutet mir das, was Véro als “unterwegs” benennt? Was heißt es, an einem Platz zu rasten, dann aber sich wieder davonzumachen, sich vom Ist-Zustand zu distanzieren, ihn – der doch gerade selbst noch Ziel gewesen war – als überholt zu denunzieren und ihn zugunsten der nächsten Etappe zu verraten, ihn abzustreifen wie eine zu eng gewordene, lästige Haut?
Für mich ist das eine Bewegung nicht in der physischen Welt, sondern in der sozialen. Freiheit bedeutet mir: mich aus meiner “Blase”, meinem “Silo”, in dem ich denke, zu befreien. Das geht natürlich nur schrittweise. Ich lese etwas in einem Buch oder auf einem Blog, oder ein Leser antwortet kritisch auf einen Blogbeitrag von mir oder in einem Workshop ereignet sich ein Dialog – und auf einmal merke ich: eine bis jetzt fest sitzende Überzeugung entpuppt sich als schief, als ein Vorurteil, als Resultat verzerrter Wahrnehmung.

Das hat sich in den letzten Jahren oft ereignet, ich kann die Beispiele kaum aufzählen. Mit dem FAV verbunden war der Wechsel meiner Überzeugung, was die Rolle der Verwaltung betrifft. Im Landratsamt, in dem ich früher tätig war, war ich ein aktiver Verfechter des Neuen Steuerungsmodells. Ich sourcte out, was das Zeug hielt, alles im Sinne des “schlanken Staates” (schlank ganz im Gegensinn zu lean). Jetzt bin ich der Überzeugung, dass Verwaltung eine viel stärkere Rolle in der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge spielen muss, um mit den globalen Herausforderungen aktiv umgehen zu können. – Bezüglich der E-Akte, einem Kernbereich meiner Aktivitäten, ändere ich bestimmte Meinungen dauernd – und genieße es.
Diese Möglichkeit, aus mir selbst, aus meinen ausgetretenen Pfaden, herauszutreten, mich von der Seite zu betrachten und festzustellen:

“Das, was du für objektiv hieltest, ist es gar nicht. Es ist nur ein Reflex deiner beschränkten Perspektive. Schau auch mal von einer anderen Seite, und du siehst viel mehr.” – diese Möglichkeit ist für mich Freiheit.

Das Gefühl ist ähnlich wir der Aufbruch in den Urlaub, an einem frühen Sommermorgen, in eine frisch geborene Welt hinein. Aber es hält länger. Die neuen Erkenntnisse, die ich gewinne, bleiben ja und erweitern meinen Erlebensradius dauerhaft.
Und es geht nicht ohne andere. Ich kann nicht einfach aus mir heraustreten, andere müssen mir heraushelfen. So ein Dialog wie mit Véro ist unverzichtbar. Das Forum insgesamt spielt dabei eine große Rolle. Individualität und Team bilden keinen Gegensatz, wie auch mancher Agilist wohl meinen mag, sondern das Team ist die Bedingung meiner Freiheit. Und ich wünsche mir, dass es so weiter geht. Solange eben.  

Nach-Nachtrag von Véro:

Neulich sagte ein von mir sehr geliebter Mensch zu mir: “Bis plötzlich!”.
Denn ich hatte mir gewünscht dass wir uns nicht treffen, weil oder wann wir es planen, sondern dann, wenn wir beide spontan Lust darauf haben. ‘Bis bald’ traf es nicht. 

In diesem Sinne: Unterwegs immer zuhause…
und “Bis plötzlich!” . —- Solange eben…

Autor: Veronika Lévesque

Veronika Lévesque ist - nach Tätigkeiten in diversen KMU's und prägenden 15 Jahren in der öffentlichen Verwaltung - beim Institut für Arbeitsforschung und Organistionberatung iafob in Zürich (CH) Organisationsentwicklerin. Und Projektmensch mit einer Vorliebe für Fragen, für die es noch keine fertige Antwort gibt. Sie ist begeisterte Grenzgängerin: Unterwegs in 4 Ländern, 3 Sprachen und am liebsten in den Zwischenräumen zwischen Disziplinen. Schwerpunkte: Nutzbarmachung von Übergängen und Transformationshebammerei, Organisations- und Entwicklungshandwerk (Manufaktur, nicht von der Stange), Agile Spielfelder in nicht-agilen Umwelten, Methodenentwicklung, Umgang mit Nicht-Planbarem, Bildungssysteme vs. nicht-formale Bildungswege und mit dem Motto 'Fehler machen schlauer.’

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