Migration und Flucht

Ein Blog des Lateinamerika-Intituts der Freien Universität Berlin

Legalisierung des Aufenthaltsstatusses venezolanischer Migrant:innen in Kolumbien während der Corona-Pandemie – Umschwung in der kolumbianischen Migrationspolitik oder Symbolpolitik?

Mitten in der Corona-Pandemie hat sich die kolumbianische Regierung Anfang diesen Jahres dazu entschieden, circa einer Million in Kolumbien lebenden venezolanischen Migrant:innen Aufenthaltsgenehmigungen für einen Zeitraum von zehn Jahren auszustellen. Kolumbien ist das Hauptzielland von Migrant:innen aus dem Nachbarland Venezuela: Derzeit leben circa zwei Drittel der insgesamt über fünf Millionen venezolanischen Migrant:innen dort. Filippo Grandi, Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, bezeichnete die Entscheidung Kolumbiens als „eine humanitäre Geste für die Region, sogar für die ganze Welt“ (Birke 2021). Dieser Beitrag widmet sich der Frage, ob es sich dabei wirklich um eine Kehrtwende im Umgang der kolumbianischen Regierung mit Migrant:innen handelt oder vielmehr um einen symbolischen Akt, der weniger von humanitären Idealen als von Eigeninteressen des Staatspräsidenten Iván Duque geprägt ist.

Situation venezolanischer Migrant:innen in Kolumbien während der Corona-Pandemie

Bereits vor Beginn der Corona-Pandemie war die gesundheitliche Versorgung in Kolumbien eher schlecht, unter anderem bedingt durch die Vielzahl (venezolanischer) an Migrant:innen im Land, deren Anzahl seit 2015 extrem zugenommen hat. Die Einwanderung von über zwei Millionen Menschen in einem Zeitraum weniger Jahre – darunter auch circa eine halbe Million Kolumbianer:innen, die aufgrund der angespannten politischen Lage aus Venezuela zurückgekehrt sind – brachten das Sozial- und Gesundheitssystem bereits vor der Pandemie an den Rand seiner Kapazitäten.  

Die nachfolgende Tabelle zeigt, dass es sich beim Großteil der venezolanischen Migrant:innen in Kolumbien um sogenannte „Pendel-Migrant:innen“ handelt, die regelmäßig die Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela überqueren. Dauerhaft in Kolumbien lebten 2019 knapp 1,3 Millionen Menschen aus Venezuela.

Zahl und Kategorien venezolanischer Migrant:innen in Kolumbien (Bundeszentrale für politische Bildung 2020)

Zu einer der ersten Maßnahmen, die die kolumbianische Regierung im Kampf gegen das Coronavirus ergriff, zählte die Schließung der Grenze zum Nachbarland Venezuela. Dies hatte zur Folge, dass zahlreiche Menschen in der Grenzregion nicht mehr ihren täglichen, grenzübergreifenden Tätigkeiten und Geschäften nachgehen konnten. Im Mai 2020 bezeichnete Kolumbiens Präsident Iván Duque die venezolanischen Migrant:innen öffentlich als „tickende Zeitbombe“ (Reith 2020) und äußerte die Befürchtung, dass Verschlechterungen der Situation im Nachbarland zu neuen Migrationsbewegungen nach Venezuela führen könnten.

Auch die Verhängung von Quarantänemaßnahmen zur Eindämmung des Virus schränkte vor allem die Bewegungsfreiheit und den Handlungsspielraum venezolanischer Migrant:innen ein, da viele von diesen in Kolumbien im informellen Sektor beschäftigt sind (beispielsweise als Straßenhändler:innen und Tagelöhner:innen). Da die meisten der venezolanischen Migrant:innen keine anderen Einnahmequellen haben und auf den täglichen Verdienst angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, führte die Anordnung der Quarantäne zu massiven Protesten in Bogotá.

Zu den erschwerten Arbeitsbedingungen infolge der Schutzmaßnahmen kommt hinzu, dass die Feindseligkeit gegenüber Migrant:innen aus Venezuela während der Pandemie zugenommen hat – im Alltag und im Internet: „Hasskommentare bezeichneten die Migranten als faul, kriminell und ein Gesundheitsrisiko für Kolumbien. Migranten, die weiterhin versuchen, als fliegende Händler oder Bettler auf der Straße ihren Lebensunterhalt zu verdienen, schlägt vielerorts Unverständnis, Skepsis und offene Ablehnung entgegen. Die Autofenster bleiben an den Ampeln aus Angst vor Ansteckung geschlossen. Stattdessen erfolgen Zurechtweisungen und Anzeigen, weil die Migranten sich nicht an die Quarantänevorschriften halten. Dass diese Personen häufig kein festes Dach über dem Kopf haben und sich nicht einmal einen Mundschutz leisten können, wird dabei übersehen (Reith 2020)“.

Auch der nachfolgende Audiobeitrag schildert die Situation venezolanischer Migrant:innen in Kolumbien:

Deutschlandfunk-Beitrag vom 13.02.2021 zu Kolumbiens Migrationspolitik während der Corona-Pandemie

Festzuhalten bezüglich der Situation der Venezolaner:innen in Kolumbien während der Pandemie ist also, dass diese als vulnerable Bevölkerungsgruppe besonders stark von Einschränkungen betroffen waren beziehungsweise sind und gleichzeitig von der kolumbianischen Mehrheitsgesellschaft für die Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht werden.

Das Temporäre Statut zum Schutz venezolanischer Migranten in Kolumbien

Nachdem die kolumbianische Regierung zur Pandemie-Bekämpfung wie viele andere Länder zunächst also auf Quarantäne-Maßnahmen und die Unterbindung von Mobilität durch die Schließung der Grenze zu Venezuela gesetzt hatte, fiel im Februar die Entscheidung, ein temporäres Aufenthaltsstatut für die venezolanischen Migrant:innen im Land zu erlassen. Durch das Estatuto Temporal de Protección para Migrantes Venezolanos (ETPV) wird venezolanischen Migrant:innen für zehn Jahre der Aufenthalt im Land gewährt. Gleichzeitig erhalten diese dadurch auch den Anspruch auf eine Covid-19-Impfung – nachdem Duque zunächst angekündigt hatte, diese von der Impfung auszuschließen.

Als Erstes soll die Registrierung und Identifizierung der Migrant:innen erfolgen. Das Statut schließt alle Venezolaner:innen ein, die auf legalem Weg nach Kolumbien eingereist sind, aber auch Personen, die sich illegal im Land aufhalten, solange sie nachweisen können, dass sie bereits vor dem 31. Januar 2021 eingereist sind. Zusätzlich gilt die neue Regelung auf für Menschen, die in den kommenden zwei Jahren auf legale Art und Weise nach Kolumbien kommen. Nach Ablauf von fünf Jahren können venezolanische Migrant:innen ein permanentes Aufenthaltsrecht erhalten und nach zehn die kolumbianische Staatsbürgerschaft.

Zuvor war bereits die Permiso Especial de Permanencia (PEP), bei der es sich um eine Aufenthaltsgenehmigung für Venezolaner:innen mit einer Dauer von zwei Jahren handelte, etabliert worden. Jedoch konnten viele der Migrant:innen die Voraussetzungen für die PEP nicht erfüllen – vor allem weil ihnen der Zugang zu den erforderlichen Dokumenten fehlte. Außerdem war die PEP an eine legale Einreise geknüpft. Unterm Strich trug diese Maßnahme also nur in den wenigsten Fällen zu einer Legalisierung des Aufenthaltsstatusses bei.  

Beweggründe der kolumbianischen Regierung für die Aufnahme venezolanischer Migrant:innen

Während in der Vergangenheit wie bereits erwähnt vor allem auf Übergangsregelungen gesetzt wurde, die venezolanischen Migrant:innen in Kolumbien keinerlei Bleibeperspektive boten, ist durch das neue Statut erstmals eine längerfristige Lösung geschaffen worden. An dieser Stelle stellt sich die Frage, warum die Regierung Kolumbiens sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt – inmitten einer globalen Pandemie – dazu entschloss, das Aufenthaltsstatut zu erlassen?

Einer der Faktoren, der die kolumbianische Regierung zur Legalisierung des Aufenthaltsstatusses der venezolanischen Migrant:innen im Land bewogen hat, ist sicherlich die lange, gemeinsame Migrationsgeschichte der beiden Länder. Während des Erdöl-Booms in den 70er- und 80er-Jahren waren zahlreiche Kolumbianer:innen nach Venezuela ausgewandert. Auch aufgrund des langjährigen Bürgerkrieges in Kolumbien entschieden sich viele Menschen dazu, in das Nachbarland migrieren. Da Kolumbianer:innen und Venezolaner:innen die Sprache und zu weiten Teilen auch Kultur und Religion gemeinsam haben, verlief die wechselseitige Migration in der Vergangenheit in der Regel unproblematisch. „Das Problem ist nicht die kulturelle, sondern die soziale Integration dieser Menschen“ (Birke 2021).

Es kann außerdem angenommen werden, dass diese Entscheidung zum Erlass des Status ebenfalls aufgrund von Druck durch die neue US-Regierung getroffen wurde: „Da Teile von Präsident Duques Regierungspartei Centro Democrático (Demokratisches Zentrum) bei den Latinos im wichtigen Swingstate Florida offensiv Wahlkampf für Expräsident Trump gemacht hatten, herrschte nach Bidens Wahlsieg zunächst eine demonstrative Funkstille seitens der US-Regierung. Politische Beobachter vermuten, dass die USA aufgrund des Migrationsdrucks aus Zentralamerika ein starkes Interesse daran haben, dass sich venezolanische Auswanderer nicht auch noch in Massen auf den Weg nach Norden machen und hinter den Kulissen entsprechenden Druck ausgeübt haben“ (Reith, León 2021).

Dass die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr eine Rolle gespielt hat, halten Expert:innen eher für unwahrscheinlich, da in Kolumbien nur Menschen wahlberechtigt sind, die die kolumbianische Staatsbürgerschaft besitzen. Da jedoch durch das neue Statut nach fünf Jahren die Möglichkeit besteht, ein permanentes Aufenthaltsrecht zu beantragen, könnten sie für kommende Regional- und Kommunalwahlen von Bedeutung sein. Politikwissenschaftler:innen gehen zudem davon aus, dass Präsident Duque, der aufs Ende seiner Amtszeit zusteuert, sich in erster Linie um sein politisches Erbe sorgt. Mit der Entscheidung zur Aufnahme venezolanischer Migrant:innen hat Duque Kolumbien nicht nur Anerkenunng in der internationalen Gemeinschaft verschafft, sondern sich auch für internationale Posten nach seiner Zeit als Staatspräsident von Kolumbien qualifiziert.

Das Estatuto Temporal de Protección para Migrantes Venezolanos erinnert an den Beschluss der brasilianischen Regierung, nach dem Erdbeben 2010 Menschen aus Haiti aufzunehmen. Die brasilianische Regierung wurde infolge dieser Entscheidung vor allem dafür kritisiert, dass sie sich einerseits zwar dazu verpflichtet hatte, Haitianer:innen aufzunehmen, indem die Aufnahme aus humanitären Gründen erfolgte und Haitianer:innen dort nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden (vgl. Kingston 2016, 484) – was jedoch nicht Brasiliens alleinige Entscheidung war, sondern an internationale Richtlinien für Fluchtgründe gekoppelt ist, von denen Naturkatastrophen ausgenommen sind (vgl. ebd., 487). Es ist davon auszugehen, dass in diesem Fall ebenfalls politische Eigeninteressen der brasilianischen Regierung eine entscheidenden Rolle gespielt haben.

Abschließend kann festgehalten werden, dass das neue Statut einen Meilenstein in der Migrationspolitik Kolumbiens darstellt und international ein wichtiges Zeichen sendet: „Das temporäre Aufenthaltsstatut zum Schutz venezolanischer Migranten ist angesichts von rund einer Million illegalen Zuwanderern einerseits ein pragmatisches Zugeständnis und andererseits eine mutige Zukunftsentscheidung. Während andere lateinamerikanische Länder ihre Grenzen zunehmend abschotten, setzt die kolumbianische Regierung inmitten der Pandemie ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Flüchtlingen und schafft die Voraussetzungen für einen nachhaltigen Integrationsprozess“ (Reith, León 2021).

Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Entscheidung zur Legalisierung des Aufenthaltes von venezolanischen Migrant:innen nicht ausschließlich aus humanitären Motiven erfolgte, sondern von politischen Eigeninteressen Duques beziehungsweise der kolumbianischen Regierung geprägt war. Weiterhin bleibt abzuwarten, ob nach der formalen Legalisierung auch die Integration der venezolanischen Migrant:innen in die kolumbianische Gesellschaft gelingt und ob das neue Statut wirklich zu einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser führen wird und die Venezolaner:innen nicht wie die haitianischen Migrant:innen in Brasilien sich selbst überlassen werden.

Informationsquellen:

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Der Beitrag wurde am Freitag, den 30. Juli 2021 um 14:46 Uhr von Anna Violeta Lüdtke veröffentlicht und wurde unter 2021, Allgemein, Migration nach und in den Amerikas abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

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