1 Defizitanzeigen der demokratischen politischen Kultur in Ostdeutschland?

Schlug man in den letzten Jahren eine Tageszeitung auf, dann konnte man schon den Eindruck gewinnen, im Osten Deutschlands herrsche eine ganz andere Vorstellung von Demokratie als im Westen. Teilweise stellten sich Zeitungsredakteure oder Leser:innen sogar die Frage, ob Ostdeutschland mittlerweile den Weg in die Demokratie wieder verlasse, wie es in einigen anderen osteuropäischen Transformationsstaaten derzeit zu beobachten ist. Öffentliche Diskussionen über „Sachsen als Hochburg des Rechtsextremismus“ (Backes und Kailitz 2020), die besonders großen Erfolge der rechtspopulistischen AfD in Ostdeutschland (Pickel 2019) sowie der Eindruck wachsender Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit der deutschen Demokratie (z. B. Köpping 2018) bestärkten diesen Eindruck. Man könnte meinen, die in den 1990er Jahren debattierte „Mauer in den Köpfen“ der Bürger:innen in Deutschland hätte sich nun doch etabliert (Veen 1997; Pickel 2015; Pollack und Pickel 1998; Pickel et al. 1998). So wurden langlebige Differenzen in der politischen Kultur in Ost- und Westdeutschland ausgemacht. Offen blieb, wie tief sie gehen, ob sie zukünftig auflösbar sind und welche Relevanz sie für die deutsche Demokratie und ihre politische Kultur besitzen. Da die Differenzen und Problembeschreibungen weitgehend auf der Ebene der Einstellungen, Einschätzungen, Emotionen und Gefühle gegenüber Elementen des politischen Systems angesiedelt sind (weniger auf der Ebene der Funktionsfähigkeit politischer Institutionen), liegt es nahe, mit den Instrumenten der politischen Kulturforschung einen empirischen Blick auf die demokratische politische Kultur in Deutschland zu werfen (Pickel und Pickel 2006, 2020; Almond und Verba 1963; Easton 1975; Lipset 1981).

2 Einstellungen zur Demokratie in Ost- und Westdeutschland

Dabei ist es nicht so, dass die Ostdeutschen mit der Wiedervereinigung hadern oder die Demokratie per se ablehnen. Die Wiedervereinigung genießt in Ostdeutschland eine hohe Wertschätzung und 86 % der Ostdeutschen denken auch 2019 noch, dass sie richtig war (91 % in Westdeutschland; Körber-Stiftung 2019). In einer Demokratie zu leben, wird in Ostdeutschland als nicht weniger wichtig denn in Westdeutschland angesehen. Allerdings sind in Ostdeutschland konsistent einige Personen mehr zu finden, die demokratiekritisch sind, selbst wenn die Differenz der positiven Einstellungen gegenüber der Demokratie als bester Regierungsform zwischen West- und Ostdeutschland seit 1990 von 16 auf 10 %-Punkte geschrumpft ist. Diese demokratiekritischen Einstellungen passen sich auch zu den leicht höheren Zustimmungswerten zu Demokratiealternativen, wie einer dominanten Partei des Volkes oder der Befürwortung einer Diktatur (Decker und Brähler 2018, S. 122–125). Allerdings sprechen wir hier von sehr geringen Gruppengrößen. Anders sieht es aus, wenn man nach der Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie fragt. Ähnlich wie beim Vertrauen in stärker in der Tagespolitik verwurzelte politische Institutionen, konstituiert sich hier eine deutliche und langlebige Differenz zwischen West- und Ostdeutschland. Lag die Demokratiezufriedenheit der Ostdeutschen in den 1990er-Jahren noch über 20 %-Punkte unter der Demokratiezufriedenheit der Westdeutschen, so beträgt die Differenz jetzt „nur“ noch ca. 15 %-Punkte. Verschwunden ist sie aber trotz eines Generationenwandels nicht (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Demokratische politische Kultur in Ost- und Westdeutschland 1990–2019. Quelle: Allbus (1991–2018); WVS (2020) Wellen 5–7; GLES (2020); ESS (2018); Brähler und Decker (2018): „Im nationalen Interesse ist unter Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform“, „Wir brauchen einen starken Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit harter Hand regiert.“; Zustimmungsanteile in %

Ein Grund ist das Gefühl vieler Bürger:innen, von den Politiker:innen nicht wirklich vertreten zu werden. Dieses Gefühl ist in Ostdeutschland stärker verbreitet als in Westdeutschland. Ebenso kommen nur wenige ostdeutsche Bürger:innen auf die Idee, den Parteien zu vertrauen. Sicher, verschiedene Indikatoren der politischen Unterstützung haben seit 1990 in West- und Ostdeutschland einen Zuwachs erfahren und von einer grundsätzlichen Demokratieverdrossenheit oder einem Legitimitätsdefizit der deutschen Demokratie kann nicht gesprochen werden. Gleichzeitig existiert augenscheinlich eine konsolidierte Parteien- und Politiker:innenverdrossenheit, die gerade in Krisenzeiten Probleme mit sich bringt (Arzheimer 2002; Pickel 2002). Dies öffnet Fenster für Populist:innen, die Politiker:innen der bisherigen (Volks)Parteien als vom Volk entfernte Eliten markieren und sich selbst als die bessere Alternative ins Spiel bringen (Pickel und Pickel 2020).

3 Erklärungen: Situation, Sozialisation, Identität oder Anerkennungsdefizite?

Warum unterschieden sich die Einstellungen der Bürger:innen zur aktuellen deutschen Demokratie in den beiden deutschen Landesteilen 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch? Politiker:innen wie auch politische Kulturforscher:innen gingen 1990 noch davon aus, dass bestehende Unterschiede in den politischen Einstellungen über den Generationenwandel und durch die veränderte politische Sozialisation verschwinden würden (Sozialisationshypothese, Fuchs et al. 1997). Die Annahme war: Wer nicht mehr in Zeiten der DDR geboren wurde, der würde ein anderes soziales Umfeld und eine andere Erziehung erfahren – und dieses würde ihn stärker an die aktuelle Demokratie binden, weniger an die vergangene DDR. Dieser Annahme traten schon früh Kritiker:innen entgegen, die die (in Ostdeutschland nun oft ungünstigen) situativen Rahmenbedingungen als zentral für die politischen Einstellungen und somit die wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Bedingungen als maßgeblich für die Unterschiede in den politischen Einstellungen zwischen West- und Ostdeutschland hervorhoben (Situationshypothese; Pollack 1997, 2000; Walz und Brunner 1998). Da Ostdeutschland in der Transformationsphase schlechtere Wirtschaftsbedingungen aufwies (und teils noch heute aufweist), ist eine Angleichung der politischen Einstellungen unter diesen Rahmenbedingungen kaum zu erwarten. Nicht nur die ökonomischen Lasten der DDR, sondern auch die Folgen der massiven sozioökonomischen Transformation werfen die Ostdeutschen zurück – und führen zu einer (berechtigten) Unzufriedenheit (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Erklärungsmöglichkeiten für eine „Mauer in den Köpfen“. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Pickel (1998, S. 159, 174, 2012, S. 145, 2015, S. 143–145)

Dabei ist es aber gar nicht einmal so sehr die sozioökonomische Lage der Individuen für die ostdeutsche Unzufriedenheit verantwortlich, vielmehr ist es das Gefühl gegenüber anderen – speziell Westdeutschen – benachteiligt zu werden. Ostdeutsche fühlen sich von Westdeutschen ungerecht behandelt und, so der Fachterminus, relativ depriviert. Hat man nicht im Transformationsprozess „die Ostdeutschen“ übers Ohr gehauen und sieht man nicht auch heute noch die Benachteiligung „der Ostdeutschen“? Diese Erklärung liegt bereits nahe an der Identitätshypothese (Pollack und Pickel 1998). Bei den Ostdeutschen verfestigt sich im Zuge der Transformation und einer teils patriarchalen Belehrung durch „die Westdeutschen“ ein Gefühl mangelnder innerdeutscher Anerkennung und der Abwertung. Die „Besserwessis“ arbeiten darauf hin, dass das, worauf man in den Zeiten der DDR noch stolz war, heute völlig entwertet wird (Enders et al. 2016; Mau 2019). Egal ob man es nun „Lebensleistung“ nennt, bei nicht wenigen Ostdeutschen verdichtet sich über Jahrzehnte der Eindruck einer kollektiven Abwertung sowie Eigeneinschätzung als Bürger:innen zweiter Klasse in Deutschland. Dazu benötigt man nicht einmal eigene Negativerfahrungen, es reicht aus, negative Erfahrungen aus der Transformation bei Bekannten und Verwandten miterleben zu müssen. Dies mündet letztendlich in einer kollektiven Abgrenzung und der Entwicklung einer eigenen Ostidentität, welche die eigene Aufwertung durch Abgrenzung zum „Westen“ zu erzeugen versucht.

Nun sind dies theoretisch-konzeptionelle Modelle. Davon abgesehen, dass sie einen Vorteil gegenüber in diesem Gebiet sehr beliebten Ad-Hoc-Erklärungen besitzen, bedürfen sie der empirischen Überprüfung zur Entscheidung, welche Annahmen die Differenzen der politischen Unterstützung zwischen Ost- und Westdeutschland erklären können. Ein Zugang sind Regressionsmodelle zur Erklärung eines zentralen Indikators, der Demokratiezufriedenheit. In den Modellen zeigen verschiedene Faktoren eine statistische Wirkung: Die stärkste besitzt die Einschätzung der Wirtschaftslage der Bundesrepublik (nicht die individuelle persönliche Wirtschaftssituation). Schätzt man die Wirtschaftslage als gut ein, dann unterstützt man mit hoher Wahrscheinlichkeit die aktuelle Demokratie. Gegenteiliges ist der Fall, wenn das Gefühl besteht, nicht den gerechten Anteil am deutschen Lebensstandard zu erhalten – ein Indikator der relativen Deprivation. Fragen zur Identitätseinschätzung, eine Haltung, zu der wenige reliable empirische Daten vorliegen, haben ebenfalls einen, wenn auch begrenzten, Effekt. Die Befürwortung der Idee des Sozialismus als Indikator der Sozialisationshypothese, besitzt allerdings keine signifikante Wirkung auf die Demokratiezufriedenheit. Andere Faktoren sind ohne Effekt, sieht man einmal von autoritären Einstellungen und einer Ablehnung einer pluralistischen Gesellschaft ab.

Somit erklärt eine sozialistische Nostalgie in keiner Weise Unterschiede in der Demokratiezufriedenheit zwischen Ost- und Westdeutschland. Und dies, obwohl die Zustimmung zur Idee des Sozialismus in Ostdeutschland zwischen 1991 und 2018 (Allbus) fast unverändert ca. 70 % erreichte und damit konsistent 30 %-Punkte über den 40 % Zustimmung in Westdeutschland liegt (Abb. 3). Die Haltung zur Idee des Sozialismus ist heute (anders als z. B. 1991) ohne Relevanz für die Haltung zur gegenwärtigen Demokratie oder zum Vertrauen in politische Institutionen.

Abb. 3
figure 3

Einschätzung Idee des Sozialismus 1990–2019. Quelle: Eigene Berechnungen; Allbus 1991–2018; Einschätzung „Idee des Sozialismus ist gut, wurde nur schlecht ausgeführt“

Umgekehrt, und anders als von der Situationshypothese vermutet, sieht es mit der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage im Bundesgebiet und der persönlichen wirtschaftlichen Lage aus. Sie ist für die Demokratiezufriedenheit der stärkste Erklärungsfaktor. Allerdings unterschieden sich beide Einschätzungen zwischen West- und Ostdeutschland bereits seit einigen Jahren kaum mehr. Fast 70 % der Ostdeutschen sehen ihre wirtschaftliche Situation 2018 als gut an, was nur unwesentlich unter der Einschätzung in Westdeutschland liegt (Abb. 4). Im Gegenteil, die Ostdeutschen machten alle Krisen und die wirtschaftlichen Erfolge gemeinsam mit den Westdeutschen durch – und beurteilten diese ähnlich. Aufgrund dieser Konvergenz der Einschätzungen kann daraus kein Unterschied in der politischen Kultur zwischen Ost- und Westdeutschen resultieren.

Abb. 4
figure 4

Einschätzung der Wirtschaftslage im Bundegebiet 1990–2019. Quelle: Eigene Berechnungen; Allbus 1991–2018; Ausgewiesen Differenzindikator = Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage: sehr gut oder gut abgezogen Antworten schlecht, sehr schlecht

Wenn weder die Sozialisation noch die wirtschaftliche Situation der Auslöser ist, was führt dann zu den innerdeutschen Differenzen in der Demokratiezufriedenheit? Ein Grund ist die relative Deprivation. Während 2018 in Westdeutschland 35 % der Bürger:innen davon ausgehen, weniger oder sehr viel weniger als den gerechten Anteil am Lebensstandard zu erhalten, liegt diese Gruppe in Ostdeutschland über die letzten 25 Jahre bei 55–60 % (Pickel 2012, S. 149–150; Abb. 5). Viele Ostdeutsche sind also mit ihrer gegenwärtigen ökonomischen Situation zufrieden, haben aber das Gefühl als „Ostdeutsche“ gegenüber ihren westdeutschen Mitbürger:innen kollektiv benachteiligt zu werden. Dieses Gefühl besteht bereits seit längerer Zeit und ist bei vielen ostdeutschen Bürger:innen tief verankert.

Abb. 5
figure 5

Gerechter Anteil am Lebensstandard 1990–2019. Quelle: Eigene Berechnungen; Allbus 1991–2018; Gerechter Anteil = „Erhalte den gerechten Anteil am Lebensstandard“/abgebildet = mehr oder gerechter Anteil; Referenzkategorien sind „erhalte weniger“ oder „sehr viel weniger als den gerechten Anteil“

Hinzu besteht bei vielen Ostdeutschen der Eindruck einer Abwertung und Geringschätzung durch die Westdeutschen. 2018 sagen z. B. über 60 % der Sachsen, sie sehen sich als Ostdeutsche in Deutschland als Bürger:innen zweiter Klasse (Sächsische Zeitung 2018, S. 1–2). Ähnliche Werte finden sich in bundesweiten Umfragen (57 % im Einheitsbericht 2019; ca. 70 % bei Umfragen von Emnid 2000–2010). Hier öffnet sich eine Identitätsdifferenz, die sich aus einer Mischung aus Emotionen, Transformationserfahrungen und beobachtbaren Ungleichheiten zusammensetzt. Die Ostdeutschen sehen sich nicht persönlich als Verlierer:innen der Wiedervereinigung (gerade einmal 20 %; Sachsen-Monitor 2016–2018); sie sehen sich im Kollektiv als benachteiligte Identitätsgruppe.

4 Fazit: Keine Mauer in den Köpfen, aber Gefühl der Ungleichwertigkeit

Die Demokratie besitzt 30 Jahre nach dem Mauerfall eine breite Legitimität in West- wie auch in Ostdeutschland. So wie die Wiedervereinigung 30 Jahre nach ihrer Umsetzung nicht umstritten ist, so ist es auch die Regierungsform der Demokratie nicht. Anders sieht es bei der Beurteilung der gegenwärtigen Demokratie aus. Diese ist in Ostdeutschland seit 1989 immer ungünstiger als in Westdeutschland – und dies gilt auch heute noch. So wie sich weniger Ostdeutsche durch Politiker:innen angemessen vertreten sehen, sind sie gegenüber der Umsetzung des aktuellen demokratischen System kritischer. Vor allem aber bringen sich verfestigende Gefühle der eigenen Ungleichwertigkeit Ostdeutsche häufiger in Distanz zur aktuellen Demokratie. Diese Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sowie die höheren Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland resultieren nicht aus persönlicher sozioökonomischer Unzufriedenheit. Es sind die Gefühle einer innerdeutschen Benachteiligung des ostdeutschen Kollektivs und einer Nichtanerkennung der Lebensleistung der Ostdeutschen durch die Westdeutschen, das die Differenzen hervorruft. Negative Erfahrungen in der Transformation, Überlieferungen negativer Transformationsfolgen (z. B. in den Familien), Narrative der Benachteiligung und diese bestätigende Alltagsbeobachtungen mangelhafter ostdeutscher Beteiligung an politischen Entscheidungen stärken diese Gefühle nachhaltig (Enders et al. 2016; Hensel 2019; Mau 2019).

Diese Gefühle werden in jüngerer Zeit von Rechtspopulist:innen aufgegriffen und mit kollektiven Abwertungen gegenüber anderen sozialen Gruppen, wie Migrant:innen und Muslim:innen, zu einem „Narrativ des zurückgesetzten Ostdeutschen“ verknüpft und zur eigenen Wahl mobilisiert. Auf kollektive Identitätsdifferenzen zu setzen, ist erfolgreich und argumentativ für Populist*innen gut möglich, verbinden sie doch ein „Wir gegen die die da oben“ und „Wir gegen die anderen“ mit einer Abwertung etablierter politischer Eliten. Das schlechte Bild, das Ostdeutsche von den westdeutschen politischen Eliten haben, ist hier ein guter Anknüpfungspunkt („Wiedervereinigung 2.0“). Diese Entwicklungen zeigen die Virulenz von gewachsenen innerdeutschen Identitätsmauern und von Gefühlen und emotionalen Einschätzungen für die politische Kultur. So fehlt vor allem in Westdeutschland eine Auseinandersetzung mit dem gesamtdeutschen Transformationsprozess und oft die Vermittlung einer Anerkennung der Ostdeutschen. Klar ist nur, „die Politik“ wird etwas für den Zusammenhalt der beiden Landesteile tun müssen, will man nicht, dass sich in den nächsten zehn Jahren die Unterschiede in der politischen Kultur weiter verschärfen und zu zusätzlichen Polarisierungen in Deutschland führen. Von diesen hat man ja derzeit schon genug.