Die Angst vor dem Rückfall

Es ist Sonntag der 15.1.23, wenn ich diese Zeilen verfasse. Eigentlich sollte ich gerade bei unserer Stadträtin auf der Couch sitzen und mit ein paar anderen PARTEI-Mitgliedern eine Veranstaltung planen, die ich selbst forciert habe. Doch ich sitze zuhause und schreibe mir das hier gerade von der Seele. Ich bin sehr dankbar für mein Umfeld, denn als ich erklärte wieso ich heute nicht kommen kann, habe ich direkt “du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, wenn es dir nicht gut geht, ruh dich aus” zurück bekommen. Bevor ich die Absage formuliert hatte, fühlte ich mich schlecht und dachte, ich würde die anderen im Stich lassen. Doch diese Sorge wurde mir von allen sofort genommen.

Doch was ist los mit mir? Ich bin ausgelaugt. In den letzten Wochen habe ich viel erfahren, was mich psychisch belastet und viel Kraft gefordert hat. Heute morgen bin ich aufgewacht und mein ganzer Körper wehrte sich aufzustehen, trotz Harndrang und großem Hunger. Ich zitterte, obwohl mir nicht kalt war und ich unter einer Decke lag. Weiter Schlafen ging auch nicht, weil die Gedanken im Kopf keine Ruhe geben wollten und dann kam die Angst.

Letzte Woche beichtete das dritte Gruppenmitglied aus der Klinik einen Rückfall. Es passierte in einer alltäglichen Situation und kam im ersten Moment aus dem Nichts. Nachdem wir aber in Ruhe darüber gesprochen hatten, kamen wir als Gruppe zu dem Ergebnis, dass es sich eigentlich über einen langen Zeitraum langsam gesteigert hatte. Diverse Faktoren spielten eine Rolle. Da ich weiß, dass er hier regelmäßig mitliest: ich denke an Dich und Du schaffst das!

Rückfälle gehören leider dazu. Laut Bundeszentrale für politische Bildung kommt es bei 40-60% der Patient*innen in den ersten zwei Jahren nach der Therapie zu Rückfällen. Aber genauso wurde mir aus erster Hand davon berichtet, sogar nach über zehn Jahren Trockenphase.
Zum Beginn der Therapie wurde die Sucht als Einbahnstraße beschrieben. Man könne nur anhalten, rückwärts geht es nicht mehr. Anfangs verstand ich das so, dass die Sucht selbst eben einfach fortgesetzt wird, doch wie ich mittlerweile weiß bezieht sich das nicht nur darauf. Selbst nach einem Jahrzehnt Abstinenz, berichten Leute davon, dass sie innerhalb von 36 Stunden wieder auf ihrem alten Konsumlevel waren. Sucht ist wie Fahrradfahren, der Körper verlernt es nicht und braucht nur ein bis zwei Versuche um wieder voll durchzustarten.

Das Thema lässt mich nicht los, denn ich habe ein klares Ziel: Nie wieder Alkohol!
Doch wie ich lernen musste, hat das nicht immer was mit Willen zu tun, sondern das Hirn kann in Situationen starker Belastung irgendwann in den Autopilot schalten. Dann gibt es eben zu den Zigaretten im Getränkemarkt noch eine Dose Whisky-Cola, nur zur Sicherheit falls alle Stricke reißen. Ist ja nur eine Dose.

Jetzt sitze ich also hier, trinke einen Kaffee und denke darüber nach, wie viel Belastung gut für mich ist. Wie viele Sorgen und Probleme von anderen Leuten kann ich verkraften? Wann muss ich mich raus nehmen? Wann ist der Punkt erreicht, dass ich mich krankmelden muss und wann sollte ich zur Stabilisierung zurück in eine Klinik gehen?

Letzte Nacht habe ich in meinen Träumen wieder Alkohol getrunken und das hat sich gut angefühlt. Will mein Unterbewusstsein damit sagen, dass der Druck, den ich gerade verspüre, mit Alkohol viel erträglicher wäre? Hätte ich Lust zu trinken, wenn ich heute doch zu dem Termin gegangen wäre? Ich werde es zum Glück nicht herausfinden, dennoch mache ich mir Sorgen darum, wann ich mal in einer Situation stecke, der ich mich nicht so leicht entziehen kann und kein sicheres Umfeld um mich herum habe.

Aus der Therapie weiß ich, dass es zu Rückfällen kommen darf und das nichts mit Versagen zu tun hat, aber sofort gegengesteuert werden muss, damit die Kontrolle nicht verloren geht. Sucht ist eben ein Arschloch und überfällt einen in den unwahrscheinlichsten Situationen. Trotz dieses Wissens habe ich Angst davor. Denn aus der Vergangenheit weiß ich genau, wie ich mich selbst belogen und betrogen habe, mit welchen Gründen ich Abstinenzphasen brechen konnte und wie ich das vor anderen verheimlichen konnte. Ich bin gut darin, Leute zu blenden, die sich ggf. Sorgen um mich machen oder sogar einen Verdacht haben könnten und noch besser darin, mich selbst zu verarschen. Ich habe also weniger Angst vor dem Rückfall, sondern mehr vor mir selbst, meinen Fähigkeiten und dass ich mich wieder in den Abwärtsstrudel des Rauschs begebe. Es wäre nämlich gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich die Betäubung und das Dämpfen der Welt nicht vermissen würde.

Allerdings habe ich viel zu viel Spaß an meinem nüchternen Leben. Mein Hirn funktioniert so gut wie nie, ich bin ruhiger, zuverlässiger und vor ein paar Tagen ist endlich die 140 kg Marke gefallen. Mir passen Hosen, die einfach zwei Nummern kleiner sind und es dürfen ruhig noch ein paar mehr werden. Mein Freundeskreis ist angetan von mir und ich kann Freundschaften besser pflegen. Die Liste mit Verbesserungen ließe sich noch ewig erweitern und ich will eben zu den anderen 40 – 60% gehören, die es schaffen trocken zu bleiben, trotzdem ist ganz hinten in meinem Kopf eine kleine dunkle Ecke, die ich nicht beleuchtet bekomme und die mich jederzeit rufen kann. In dieser dunklen Ecke sitzt nämlich ein kleiner Gin-Tonic, der getrunken werden möchte und mir all das wieder kaputt machen wird.

Heute werde ich ihn allerdings nicht trinken, denn ich war ja damit beschäftigt, diesen Text zu verfassen und wenn ich doch einmal eine Universallösung finde, mit dem ich einen Rückfall verhindern kann, werde ich einfach reich 😉

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