Was die Essstörung mit meiner Familie gemacht hat

Essstörungen sind nicht ansteckend, wohl aber können sie einen Einfluss auf das Leben der Angehörigen haben. Obwohl es mir schwerfällt, das alles aufzuschreiben, möchte ich in diesem Beitrag mit euch teilen, was die Essstörung mit meiner Familie gemacht hat.

Mein „Outing“ geschah ettapenweise. Zuerst erfuhr mein Vater davon, dann meine Mutter und zum Schluss meine Schwester. Zwischen den drei Beichten lag fast immer ein Jahresabstand. Wie die Gespräche liefen, werde ich hier mal ungesagt lassen, aber wenn es euch interessiert könnt ihr hier die Beichte an meine Mutter und hier die Beichte an meinen Vater nachlesen.

Bevor ich in die Tiefe gehe, möchte ich vorher klarstellen, dass meine Familie nur einen Bruchteil meiner Essstörung mitbekommen hat. Obwohl sie bescheid wussten, hielt ich sie nach wie vor geheim, log, wenn ich sagte, dass ich hungrig oder satt war und bemühte mich darum, sie nicht an meinem Leid teilhaben zu lassen. Dennoch reichte der Bruchteil, den ich offenbarte aus, um uns alle ins „Verderben“ zu stürzen.

Hilflosigkeit

Alle drei bemühten sich darum, mich zu unterstützen. Da sie jedoch selbst überfordert waren, fehlten ihnen oftmals die richtige Worte. Meine Eltern sind sehr direkt, sie sagen, was sie denken. Ich weiß, dass sie sich hilflos fühlten und Sätze wie „Hast du wieder alles aufgegessen?“ nicht böse meinten. Ich jedoch war auch hilflos. Hilflos, mich meiner Sucht zu widersetzen und noch dazu beschämt, dass meine Eltern es mitbekamen. Meine Reaktionen waren daraufhin immer sehr zickig und vorwurfsvoll. Nicht selten arteten sie in einen großen Streit aus, bei dem wir uns alle schlecht fühlten und ich mir vornahm, meinen Eltern nichts mehr zu erzählen.

Paranoia

Meine Mutter leidet noch heute unter starker Paranoia, wenn ich zu lange im Bad verschwinde. Wenn ich bei ihr bin und aufs Klo verschwinde, klopft sie bald darauf ans Bad, um sich zu vergewissern, ob alles ok ist. Abends ist es besonders schlimm. Damals konnten meine Mutter und ich nachts nie gut schlafen, weil ich in der Nacht meist bulimisch aktiv wurde und meine Mutter dies verhindern wollte. Sie ging also alle halbe Stunde selbst auf die Toilette und sah nach mir. Die Nächte, in denen ich so viel gegessen hatte, mich aber wegen der Adleraugen meiner Mutter nicht übergeben konnte, waren die schlimmsten. ich plagte mich mit Bauchschmerzen und Wut auf meine Mutter. Wut, dass sie mich nicht einfach machen ließ und Wut, dass ich so dachte.

Essensmangel

Ein weiterer großer Streitpunkt war das Thema „Essen im Kühlschrank“. Da ich eine große Angst vor Fear Food hatte, war jede Konfrontation mit Essen, das ich mir verbat, ein Kollateralschaden. Wenn meine Schwester Schokolade kaufte und ich in meinen Rausch fiel und sie aß, kämpfte sie mit den Nerven, weil ich ihr nichts übriggelassen hatte. Wenn meine Mutter teuren Käse kaufte und ich ihn an einem Abend vertilgte und am Ende ins Klo spülte, war sie frustriert und wütend. Sie versteckte die Lebensmittel fortan überall im Haus, was mich noch wütender machte, weil ich mich wie ein Hund fühlte, dessen Familie die egoistischen, tierischen Triebe einfach zu viel werden.

Alles, was sie taten, ob nun an die Toilettentür klopfen, oder Essen zu verstecken, um mich nicht zu sehr zu triggern, war falsch. Egal, was sie taten, sie taten es nach meiner Auffassung falsch. Kurz bevor ich auszog, war die Beziehung zu meinen Eltern sogar so schlimm, dass ich ernsthaft in Erwägung zog, den Kontakt vollständig abzubrechen.

Die Reaktion meiner Schwester

Meine Schwester war die Letzte, die davon erfuhr. Als ich es ihr sagte, plagte sie sich mit vielen Selbstvorwürfen, weil es im Grunde so „offensichtlich“ war, und sie es nicht bemerkte. Als sie es jedoch wusste, wurde sie zur besten Unterstützung, die ich je hatte.

Was sollte sie tun?, so ihre Frage. Sollte sie die Süßigkeiten weiterhin verstecken? Sollte sie aufhören, überhaupt erst welche nach Hause zu bringen? Sollte sie dabei sein, wenn ich aß. Sollte sie mich bremsen, wenn ich dabei war, zu viel zu essen?

Wir sprachen und sprachen und einigten uns schließlich auf einen Plan. Sie würde vorerst keine triggernden Süßigkeiten mehr kaufen und meine Mutter dazu überreden, das Essen nicht mehr zu verstecken, weil ich mich dadurch noch elender fühlte. Wir einigten uns auf ein Code Wort, in dem wir uns durch einen Blick verständigen konnten, ob es mir gerade zu viel wurde oder nicht. Wurde es das, war meine Schwester da. Wir schauten dann einen Film und lenkten uns ab.

Ich bin unendlich dankbar, dass ich meine Schwester an meiner Seite hatte, denn sie half uns allen dabei, nicht vollkommen verrückt zu werden. Ohne sie waren wir drei tatsächlich kurz davor gewesen. Meine Mutter wusste einfach nicht mehr, was sie noch tun sollte. Mein Vater – der ohnehin sehr wenig von der Essstörungsthematik verstand – hielt mich für überempfindlich und „übertrieben“. Und ich war dabei in einen Sumpf aus Selbsthass und Scham zu versinken.

Essstörungs-Trauma

Die Essstörung hat mich zerstört, aber sie hat auch meine Eltern ein Stück weit zerstört. Noch heute fürchtet sich mein Vater davor, etwas falsches zu sagen, aus Angst, ich würde aus dem Nichts „explodieren“, und noch heute plagt sich meine Mutter mit verängstigter Paranoia, wenn ich Abends mal nicht ans Telefon gehe.

Es tut mir leid, dass ich meinen Eltern viel Kummer bereitet habe. Ich wollte das nie und weiß, dass sie mich sicher auch nie bewusst verletzen wollten. Im Nachhinein hätte ich sie vielleicht schon früher meine Essstörung einweihen sollen, aber die Vergangenheit lässt sich nicht ändern.

Dennoch versuche ich mich nicht schuldig zu fühlen, weil ich nichts für meine Essstörung konnte. Sie ist eine Krankheit, die einem die Seele aus dem Leib raubt, wenn man nicht gegen sie vorgeht. Selbstvorwürfe machen alles viel schlimmer, daher rate ich euch immer vor Augen zu halten, dass Essstörungen KRANKEHEITEN sind.

Wie sind eure Angehörigen damit umgegangen? Habt ihr es ihnen erzählt? Wenn ja, wie fiel ihre Reaktion aus?

6 Kommentare zu „Was die Essstörung mit meiner Familie gemacht hat

  1. Liebe Mia,

    darf ich Dich fragen, welchen Nutzen es für Dich und Deine Familienmitglieder hatte, dass Du Ihnen von der Essstörung erzählt hast?

    Ich denke HELFEN können Familienmitglieder bei einer Essstörung nicht. Sie sind zu nahe an der Person dran und zu sehr mit ihr „verwoben“.

    Ich habe meiner Familie nie von meiner Essstörung erzählt. Das lag zum einen daran, dass in unserer Familie ohnehin über Probleme nicht gesprochen wurde. andererseits hatte ich Angst meine Mitmenschen damit zu belasten. Ich hatte Angst die Situation würde für sie und für mich noch schlimmer werden.

    Wie Du Deine Erfahrungen beschreibst, hätte ich mit beidem wohl recht behalten. Nun hätte ich gern gewusst, ob es ein Gegengewicht in Deiner Geschichte gibt. Hat es sich trotz des scheinbar vergrößerten Leides gelohnt sich zu outen?

    Vielen Dank und viele Grüße

    Die Katze, die immer für dich alleine geht

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    1. Liebe Katze, danke für deinen Kommentar und deine Frage. Mir hat es insoweit geholfen, dass ich mich nicht mehr vor anderen verstecken musste. Es war sehr wichtig für meine Gesundheit, nicht mehr dieses ständige Versteckspiel zu spielen und mit einer Maske zu leben. Meine Familie hat mich nicht gerettet, aber auf ihre Weise zu unterstützen versucht. Es hat sich definitiv gelohnt, es ihnen zu erzählen, weil wir alle aus dieser Geschichte gewachsen sind. 🙂

      Liebe Grüße!

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