Sind Wertschöpfungsprozesse immer auch Kernprozesse?

Doing the right things and doing the things right“ – Immer wieder gerne nutze ich diese von Peter Drucker formulierte Beschreibung von Effektivität und Effizienz.  Sich erst die Gedanken über die richtigen Dinge zu machen, bevor man die Dinge dann richtig macht, ist eine einfache wie elementare Managementweisheit. Sie bringt den Kerngedanken der Strategielehre auf den Punkt: „Konzentriere dich auf das Wesentliche und setze es konsequent um.“ Bezogen auf „mein“ Thema Prozessmanagement heißt das, die Kernprozesse zu identifizieren und diese optimal zu gestalten und durchzuführen. Dann hat man als Unternehmen die wesentlichen Weichen für einen langfristigen Erfolg gestellt. Aber was sind „richtige„, „wesentliche“, „wichtige“ oder „attraktive“ Prozesse? Ist ein Kernprozess das gleiche wie ein Wertschöpfungsprozess oder ein A-Prozess?  Und mit welchen Techniken kann man Kernprozesse identifizieren? Diesen drei Fragenkomplexen gehe ich im Folgenden auf den Grund.

Ein erster Schritt auf dem Weg zur Definition von Kernprozessen ist das Unternehmensprozessmodell. Das die Identifikation von Führungs-, Leistungs- und Unterstützungsprozessen gar nicht so einfach ist, habe ich bereits in meinem früheren Blogbeitrag: „Unternehmensprozessmodelle fehlen an allen Ecken und Enden“ ausgeführt. Unterstellen wir mal, alle wesentlichen End-to-end-Prozesse sind auf oberster Aggregationsebene bekannt. Welche dieser Geschäftsprozesse bilden den Kern der Prozesslandkarte? Verbreitet ist die Meinung, dass alle Leistungsprozesse gleichzeitig Kernprozesse sind. Diese manchmal auch Ausführungs-, Primär- oder Wertschöpfungsprozesse genannte Prozessgruppe umfasst  alle End-to-end-Prozesse, die darauf abzielen, bedürfnisgerechte Produkte dem Kunden bereit zustellen. Sie stellen also quasi den eigentlichen Geschäftszweck des Unternehmens dar.  Dies ist beispielsweise bei einem Automobilbauer die Entwicklung, Produktion und der Vertrieb von PKWs; bei einer Bank die Vergabe von Krediten oder Ausgabe von Wertpapieren und bei einem Energieversorger die Erstellung und Verteilung von Strom, Wasser oder Gas. Wertschöpfungsprozesse sind demnach im Unterschied zu Management- und Supportprozessen branchenspezifisch. Denn geführt, geplant, gesteuert beziehungsweise technisch, personell oder organisatorisch unterstützt wird in allen Unternehmen mehr oder wenig ähnlich.

Die so auch in Wikipedia formulierte Dreiteilung von Geschäftsprozessen in  Managementprozesse, Kernprozesse und Unterstützende Prozesse  ist mir zu kurz gegriffen. Das Wort „Kern“ suggeriert mehr als „nur“ den Geschäftszweck eines Unternehmens zu erklären. Ich verwende den Begriff Kernprozess lieber im Rahmen der Prozesspriorisierung. Demnach sind Kernprozesse Unternehmensprozesse, die durch ihre erzeugte Leistung entscheidend zur Erhaltung/Verbesserung der Lebensfähigkeit eines Unternehmens beitragen. Mit dieser Definition wird die existenzielle Bedeutung der Schlüsselprozesse hervorgehoben. Wer in einem Kernprozess nicht dauerhaft gut ist, überlebt nicht im Markt. In diesem Zusammenhang sind die beiden Konzepte des Kritischen Erfolgsfaktors und der Kernkompetenzen besonders relevant. Ein kritischer Erfolgsfaktor ist ein Kundenbedürfnis, das von der Mehrheit der avisierten Kundengruppe als das Wichtigste oder eines der wichtigsten Kriterien für den Kaufentscheid dargestellt wird. Bei Kernkompetenzen handelt es sich um die eigentliche(n) Stärke(n) eines Unternehmens, durch die es sich von den Mitbewerbern abhebt. Sie bestehen in der Regel aus einem Bündel von Fähigkeiten und Technologien, das auf speziellem Wissen des Unternehmens basiert, für den Kunden einen eindeutig erkennbaren Wert erzeugt, von Mitbewerbern schwer imitierbar ist und schwer substituierbar ist. Ausführliche Erklärungen und Beispiele zu beiden Strategieansätzen finden sich in meinem „Praxishandbuch Prozessmanagement„.

Vor diesem Hintergrund wird mein Ansatz deutlich, das nicht jeder Wertschöpfungsprozess automatisch ein Kernprozess sein muss. Die Herstellung von PKWs, die Kreditvergabe oder die Stromlieferung ist an sich weder kaufentscheidend noch eine besondere Stärke einer Autofirma, Bank oder eines Stadtwerkes.  Wenn aber beispielsweise das Design als der kritische Erfolgsfaktor in der Automobilbranche gilt, wird klar, warum der Designprozess bei jeder Prozesspriorisierung weit vorne landet. In diesem Fall würde ich von einem Kernprozess reden.

Für eine getrennte Sicht und Benennung von Leistungs- und Kernprozessen spricht auch die „Make-or-buy-Frage“. Grundsätzlich sollten meiner Meinung nach Führungs- und Kernprozesse nicht ausgegliedert werden. Oder würden Sie als Autobauer das Design Ihrer PKWs in fremde Hände legen? Bei Unterstützungsprozessen wie beispielsweise IT-, HR- oder  Facility Management ist es jedoch ratsam zu prüfen, diese Prozesse gegebenenfalls an Shared Service Center oder ganz auf Fremdanbieter auszulagern. Was aber ist mit Ausführungsprozessen?  Hier ist es mittlerweile an der Tagesordnung, dass auch für Wertschöpfungsprozesse ein Business Process Outsourcing (BPO) in Frage kommt. So gliedern beispielsweise Versicherungen das gesamte Inputmanagement inklusive der einfachen Antragsbearbeitung aus. Automobilbauer haben längst ihre Fertigungstiefe unter 30% gesenkt und sind umgeben von Zulieferern, die ihre Komponenten Just-in-time bereitstellen. Wenn es keine einszueins-Beziehung von Primär- und Kernprozessen gibt, ist es leichter, ausgliederbare Leistungsprozesse und nicht zu verlagernden Kernprozesse differenziert zu betrachten.

Und schließlich spricht auch der Charakter von vielen Ausführungsprozessen gegen eine Gleichsetzung mit Kernprozessen. Leistungsprozesse sind typischerweise Routine- oder Regelprozesse, in denen die meisten Mitarbeiterkapazitäten gebunden werden (siehe zur Unterscheidung von Prozesstypen meinen Blog: „ACM, ECM, STP, MfG, ojemine … es kommt auf den Prozesstyp an„). Deshalb heißen Ausführungsprozesse in einigen Prozessmodellen auch Operative Prozesse. In Branchen, bei denen der Preis ein kritischer Erfolgsfaktor ist, ist selbstverständlich die effiziente Abwicklung der Routineprozesse überlebenswichtig. Da ist es angebracht, auch bei diesen Primärprozessen von Kernprozessen zu sprechen.  In anderen Fällen gibt es eine Reihe Wertschöpfungsprozesse, die nicht im oben definierten Sinne existentiell sind. In der Regel weiß der Kunde gar nicht, wo sein vom Stadtwerk bezogener Strom erzeugt wird. Auch die mittlerweile in Kreditfabriken abgewickelten Finanzierungen sind aus Kundensicht nicht entscheidend für die Bank ihres Vertrauens. Spätestens jetzt wird deutlich, dass solche End-to-end-Prozesse, auch wenn sie wertschöpfend sind, nicht automatisch Kernprozesse im oben dargestellten Sinne sind.

Es bleibt die Frage, mit welchen Werkzeugen Kernprozesse ermittelt werden. Hier möchte ich auf zwei Priorisierungstechniken eingehen.

  • ABC-Analyse
  • Portfolio-Analyse.

Die ABC-Analyse ist eine Priorisierungstechnik, um eine große Anzahl von Prozessdaten zu ordnen. Bei der quantitativen ABC-Analyse werden die wenigen Prozesse gesucht, die den größten Anteil (A-Prozesse) an einer relevanten Prozesskennzahl (z.B. Mitarbeiterkapazitäten, Prozesskosten, -zeiten oder -qualität) ausmachen. Die qualitative ABC-Analyse setzt die End-to-end-Prozesse ins Verhältnis zu einem Punktwert, der auf Basis einer Nutzwertanalyse ermittelt wird. Kriterien bei dem Scoringverfahren sind die oben erwähnten Kritischen Erfolgsfaktoren und Kernkompetenzen. Und hier schließt sich der Kreis. Geschäftsprozesse, die bei der qualitativen ABC-Analyse die höchsten Punktwerte bekommen sind A-Prozesse. Sie können demnach auch als Kernprozesse bezeichnet werden, weil sie eine hohe strategische und existenzielle Relevanz haben. A-Prozesse bei der quantitativen ABC-Analyse sind dagegen nicht automatisch Kernprozesse. Nur weil ein Unternehmensprozess beispielsweise im Verhältnis zu den anderen Geschäftsprozessen einen hohen Anteil der gesamten Prozesskosten verursacht, ist er noch lange kein überlebenswichtiger Kernprozess.

Prozessportfolio
Prozessportfolio

Die Prozessportfolio-Analyse ist eine mehrfaktorielle Priorisierungstechnik, bei der die  Priorisierungskriterien in zwei oder drei Klassen (Prozessattraktivität, Verbesserungspotenzial, Durchführbarkeit) zusammengefasst werden. Um Kernprozesse zu identifizieren, ist das Kriterium Prozessattraktivität entscheidend. Ein hoher Wert bei diesem Kriterienbündel bedeutet einen hohen Beitrag eines End-to-end-Prozesses zu strategisch relevanten Erfolgsfaktoren und Kernkompetenzen. Das Verbesserungpotenzial drückt aus, inwieweit Optimierungen bei den betrachteten Prozessen zu erwarten sind. Die Durchführbarkeit besagt unter anderem, welche Kapazitäten und Qualifikationen für mögliche Prozessverbesserungen bereit stehen. Die beiden letzteren Kriterienklassen geben wichtige Anhaltspunkte, welche Geschäftsprozesse hinsichtlich der Initiierung eines Prozessgestaltungsprojektes wie zu priorisieren sind. Sie sind aber nicht dafür gedacht, Kernprozesse zu ermitteln. Eine Excel-Vorlage zur Erstellung eines Prozessportfolios findet sich hier auf mein ibo.

Wem das alles zu schnell ging und wer gerne den Weg von der Strategie über das Unternehmensprozessmodell bis zum priorisierten Kernprozess trainieren will, dem sei das ibo-Seminar „Strategische Prozessorganisation“ empfohlen.

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