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Experte: "Eltern dürfen wütend sein": Wie gehen wir Eltern richtig mit unserer Wut um?

Experte: "Eltern dürfen wütend sein" Wie gehen wir Eltern richtig mit unserer Wut um?
Mutter wütend © iStockphoto.com

Niemand will es, doch fast alle Eltern flippen mal aus. Sind sie deshalb "schlechte" Eltern? Keinesfalls! Ein Experte erklärt im BUNTE.de-Interview, warum Wut so wichtig ist – und wie wir richtig mit ihr umgehen.

Milde lächeln – egal, was der Nachwuchs treibt? Das können wahrscheinlich nur Heilige. Im Alltag kämpfen wir Eltern immer wieder mit unseren Aggressionen. Denn es gibt Momente, da liegen die  Nerven einfach blank. Doch wie gehen wir mit unserer Wut richtig um? BUNTE.de-Autorin Katja Schneider sprach mit Mathias Voelchert, Buchautor („Liebevolle, elterliche Führung“), Coach, Gründer und Leiter der renommierten Organisation "familylab.de – die Familienwerkstatt in Deutschland".

Eltern kämpfen im Alltag jeden Tag mit Aggressionen.

BUNTE.de: Herr Völchert, sind wütende Eltern schlechte Eltern?
Mathias Voelchert:
  Nein, Aggression ist Teil unseres Seins, auch wenn sie in unserer Gesellschaft oftmals unerwünscht ist. Aber sie gehört genauso wie Freude, Angst, Zorn und Traurigkeit zu unserem Gefühlsleben dazu. Es ist unmöglich, sie zu unterdrücken. Eltern können nicht immer lieb und verständnisvoll sein. Denn Wut ist eine normale Reaktion auf eine Provokation. Jeder sollte allerdings lernen, seine Wut zu steuern. Wichtig ist es, sie wahrzunehmen, zu verstehen und sich zu überlegen, wie man mit dieser Emotion am besten umgeht.   

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BUNTE.de: Was macht uns denn so wütend?
Mathias Voelchert:
Eltern kämpfen im Alltag jeden Tag mit Aggressionen. Denn es gibt manchmal Momente, da sieht man einfach rot. Der Sohn ärgert seine Schwester, die Tochter trödelt, obwohl es die Mutter eilig hat, das Nesthäkchen wirft sich vor dem Süßigkeitenregal auf den Boden. Das sind alles Verhaltensmuster, die Aggressionen bei Eltern auslösen können. Aber oftmals sitzt die Wut schon viel tiefer. Eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Alltag, Ärger mit dem Chef, zu wenig Zeit für den Partner, ständiger Zeitdruck, der Spagat zwischen Job und Familie können reizbar machen. Wenn dann auch noch das Kind etwas zu laut, frech oder störrisch ist, bricht die Wut durch und man explodiert. Der berühmte "Tropfen zuviel" lässt das Fass überlaufen. Das Fatale daran: Das Kind bekommt die ganze Wucht dieser angestauten Wut ab, 
obwohl es nicht allein für die vielen Tropfen im Fass kann, die ohne sein Zutun dort hinein kamen. Aber die Eltern halten es in diesem Moment für schuldig.

Wut zu unterdrücken, würde irgendwann ein Gefühl der Machtlosigkeit und des Frustes hinterlassen.

BUNTE.de: Wie können wir das ändern?
Mathias Voelchert:
Indem wir lernen, Verantwortung für die vielen Tropfen im Fass zu übernehmen, statt die Schuld anderen zuzuweisen. Schließlich haben wir diese Tropfen selbst eingefüllt – zum Beispiel durch ständige Überanstrengung. Wo bleiben da meine Erholungszeiten?

BUNTE.de: Sollten wir also doch besser die Zähne zusammenbeißen und die Wut unterdrücken?
Mathias Voelchert:
Nein, sie zu unterdrücken, würde irgendwann ein Gefühl der Machtlosigkeit und des Frustes hinterlassen.
Zudem füllt sich durch unterdrückte Wut das erwähnte Fass! Eltern dürfen wütend sein und das auch äußern – aber ohne beleidigend, persönlich oder verletzend zu werden. Natürlich kann eine Mutter sagen: "Ich bin total sauer." Aber Sätze wie "Du bist ein Idiot!" sind beschämend und beschädigen die Seele des Kindes. Das führt dazu, dass Kinder mit ihrer Wut genauso umgehen und ihr Umfeld verletzend behandeln. In Kindergärten und Schulen beobachten wir oftmals, dass sich Kinder gegenseitig beschämen und sogar Lehrer Schüler persönlich angreifen und umgekehrt. Leider tun das Kinder wie Erwachsene, weil sie es nicht besser gelernt haben, mit ihren Gefühlen umzugehen. Deshalb sind Eltern gefordert, ihren Kindern zu zeigen, wie wir richtig mit unserer Wut umgehen.

BUNTE.de: Wie verhält man sich denn richtig, wenn die Wut aufsteigt?
Mathias Voelchert:
Wichtig
ist die Information, dass ich meine Gefühle besitze, nicht umgekehrt. Ich bin nicht Getriebener meiner Wut. Ich kann lernen, mich zu steuern – und das braucht manchmal ein Leben lang! Wenn ich die Wut aufsteigen spüre, ist es leichter, sie zu steuern, als wenn ich schon im Rausch der Gefühle bin. Dann gilt es abzukühlen, sich langsam zu entspannen.

BUNTE.de: Und wenn unsere Nerven mal blank liegen und die Wut einfach raus muss? Nicht immer sind Eltern so kontrolliert …
Mathias Voelchert:
Wenn Schimpfen nötig ist, dann sollten Eltern auf die Wortwahl und den Tonfall achten: Nicht "Du hast mich wütend gemacht",  sondern "Dein Verhalten macht mich sauer". Und wenn Eltern wirklich mal unangemessen reagieren und sich im Ton vergreifen, sollten sie sich unmittelbar nach dem Streit bei ihrem Kind entschuldigen.
Wir können jederzeit das Verhalten des anderen Menschen beschreiben und sagen, was uns daran nicht passt. Wir sollten allerdings streng darauf achten, dass wir ihn nicht beleidigen. Wenn das Kind beleidigt wird, geht es nicht mehr um die Sache an sich, sondern nur noch um die Beleidigung. Destruktiver Streit ist die Folge.

Kinder müssen von ihren Eltern lernen, wie man mit Streit umgehen kann, ohne sich zu zerfleischen.

BUNTE.de: Neulich rutschte mir selbst der Satz raus: "Am liebsten würde ich dir jetzt eine schmieren." – schlimm?
Mathias Voelchert: 
Nein, es ist ja wahr – und das Kind merkt, dass ich total an meine Grenzen gekommen bin. Das ist eine klare Ich-Botschaft, mit der man seine Wut deutlich macht, ohne den anderen persönlich zu beleidigen. Es zeigt, dass man seine Wut unter Kontrolle hat und in Bahnen steuern kann, die das Gegenüber nicht verletzen. Eine Ohrfeige ist keine Option, dagegen brauchen Kinder klare Aussagen, was wir wollen. Kinder müssen von ihren Eltern lernen, wie man mit Streit umgehen kann, ohne sich zu zerfleischen. Das geschieht im persönlichen Gespräch, wenn wir wieder runtergefahren sind mit unseren Emotionen. Etwa so: "Ich habe mich total aufgeregt, ich war ganz außer mir. Und ich habe gemerkt, dass das mehr mit mir als mit dir zu tun hat. Ich mag dies und das nicht, aber das ist auch kein Grund, so auszuflippen." Das festigt die Eltern-Kind-Beziehung.

BUNTE.de: Heute werden Bücher Bestseller, die Titel haben wie "Verdammte Scheiße, schlaf ein". Was machen wir falsch, das uns in solchen Stresssituationen so wütend werden lässt?
Mathias Voelchert:
Es gibt ein großes Missverständnis, auch beim Thema Einschlafen. Viele Eltern erwarten von ihren Kindern, dass sie funktionieren, wenn die Eltern keine Kraft mehr haben. Wenn ich also abends endlich meine eigene Zeit brauche, um abzuschalten und wieder aufzutanken, wäre es viel hilfreicher, das dem Kind freundlich und deutlich zu signalisieren. Zum Beispiel so: "Liebe Anna, ich bin jetzt eine Zeit bei dir, lese dir eine Geschichte vor und dann gehe ich ins Wohnzimmer und lese selbst ein Buch. Diese Zeit brauche ich für mich."

BUNTE.de: Und das funktioniert?
Mathias Voelchert:
Nicht immer, nein! Es kommt darauf an, was bisher in der Familie beim Einschlafen üblich war. Aber ich weiß, dass unsere Kinder gut damit umgehen können, wenn wir als Eltern auch gut für uns sorgen. Wenn ich meinem Kind mit gutem Gewissen sagen kann, es gibt Zeit für dich und für mich und jetzt bin ich dran, wird es eine Zeit dauern, bis dieser Zustand etabliert ist. Aber dann geht es leicht.

BUNTE.de: In ihrem Buch "Schoßgebete" sagt Charlotte Roche ziemlich wütend, dass sie es manchmal hasst, Mutter zu sein. Warum ernten gerade solche Aussagen so viel Applaus bei den Lesern?
Mathias Voelchert:
Ja, Eltern mögen manchmal das Verhalten ihrer Kinder überhaupt nicht. Gerade Mütter fühlen sich dann besonders schlecht, weil das Klischee von ihnen fordert, "Tu alles für dein Kind, dann bist du eine gute Mutter!" – und das ist Quatsch! Nur wenn es den Eltern gut geht, kann es den Kindern gut gehen. Aussagen wie von Charlotte Roche erhalten Applaus und sie fördern zugleich das schlechte Gewissen der Eltern. Was hilft? Sich zusammen setzten und dem Kind sagen, dass man sich mir jetzt mehr Zeit für sich nimmt – wenn man den Eindruck hat, das Kind erhält genügend Aufmerksamkeit durch die Eltern. Kinder brauchen wesentlich weniger Aufmerksamkeit, als viele überfürsorgliche Mütter denken.

Ich halte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland immer noch für die Vereinbarkeitslüge.

BUNTE.de: Das klingt so leicht …
Mathias Voelchert:
Wer schnell und ständig mit Aggressionen zu kämpfen hat, sollte alarmiert sein. Möglicherweise ist der Druck zu groß, was dazu führt, dass man schneller explodiert und unfreundlich reagiert. Deshalb ist es so wichtig, besser für sich selbst zu sorgen, sich jeden Tag Auszeiten zu gönnen und auch mehr Zeit für die Familie einzuplanen, ohne sich dabei gestresst zu fühlen. Dann geht man auch in Konfliktsituationen, besonnener, entspannter und gelassener vor.

BUNTE.de: Wie schafft man das, wenn man Job und Familie unter einen Hut bringen muss?
Mathias Voelchert:
Ich halte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland immer noch für die Vereinbarkeitslüge. Jetzt sind die Unternehmen gefragt. Die Schweden machen es uns vor: Die Firmenkultur dort ist wesentlich familienfreundlicher. Spätestens 16 oder 17 Uhr haben die Mitarbeiter Feierabend und haben noch Zeit für sich und die Familie. Dort wird eher derjenige schief angeguckt, der länger am Schreibtisch sitzt. Auch bei uns wäre das möglich. Was in acht Stunden erledigt werden kann, ist auch in sieben oder weniger möglich. Davon hätten alle etwas.

BUNTE.de: Und wie reagiert man, wenn Kinder ausfallend im Ton werden? Wenn der Sohn seinen Vater zum Beispiel als, pardon, "Arschloch" beschimpft?
Mathias Voelchert:
Kinder wissen sehr gut, wie sie ihre Eltern auf die Palme bringen können. Entscheidend ist, mit seinen Kindern in Kontakt zu bleiben. Natürlich sollte man sagen, dass man nicht als Arschloch bezeichnet werden will. Trotzdem: gefasst bleiben und nicht beleidigend werden. Wenn man freundlich in einen Konflikt geht, kommt es meistens auch freundlich zurück – und die Situation entspannt sich.
Ich kann mir überlegen, woher kommt diese Sprache, dieser Ausdruck? Spreche ich selbst manchmal so? Kommt es aus der Schule, von Freunden, ist es ein Notsignal? Ich sollte mich für meinen Sohn interessieren, was willst du mir damit sagen? Was passt dir an mir nicht? Kinder wollen keinen Krawall, sie wollen Kontakt.