EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen durchschreitet eine blaue Pforte.
Wohin sich die symbolische Türe öffnet, durch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim EU-Gipfel in Granada schritt, war vorerst noch nicht klar.
AP/Fermin Rodriguez

Europa will sich öffnen und abschotten zugleich. Der Klub der 27 bereitet sich auf den Beitritt neuer Länder vor, um in konfliktbeladenen Zeiten endgültig zum wichtigen geostrategischen Block zu werden – und will doch gleichzeitig die Grenzen für Menschen schließen, die bei ebenjenen Auseinandersetzungen unter die Räder kommen. So diskutierten es die Staats- und Regierungschefs am Freitag beim EU-Gipfel in Granada.

Ein gemeinsames Schlussdokument wollten am Freitagabend Ungarn und Polen nach Widerstand beim Thema Migration nicht mittragen. Daher endete der informelle Gipfel mit zwei Erklärungen: Mit einer allgemeineren zur Zukunft der EU – und mit einer speziellen von Ratspräsident Charles Michel.

Die EU strebt demnach eine "geostrategische Investition in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand für die Bürger Europas" an. Die EU wolle in den kommenden Monaten "die langfristigen Ambitionen und die Art, diese zu erreichen", festlegen. Die Union könnte sich ab 2030 – so Michels Zeithorizont – in Richtung Balkan, Türkei, Moldau, eventuell Georgien und vor allem Ukraine ausdehnen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte aber erneut: Den Beitritt zur EU müsse man sich verdienen, es könne "keine Abkürzung" geben.

Streit um Migrationspolitik

Zu heftigen Diskussionen kam es hingegen bei der Frage, wer Flüchtlinge aufnimmt. Polen und Ungarn wollen von einer Pflicht, wie sie die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni fordert, nichts wissen – und schon gar nichts von Ausgleichszahlungen bei Nichterfüllung der Aufnahmequoten. Ungarns Premier Viktor Orbán wetterte gegen eine angebliche "Vergewaltigung": "Wir werden zu etwas gezwungen, das wir nicht wollen."

Ungarn und Polen fordern, dass Aspekte der Migrationspolitik nur einstimmig beschlossen werden können. Die restlichen Länder sehen das nicht so. Beide Seiten berufen sich auf unterschiedliche Rechtsgutachten. Aus diesem Grund verweigerten Polen und Ungarn auch die Schlusserklärung. Der Bereich Asyl-und Migrationspolitik werde weiter mit qualifizierter Mehrheit entschieden, betonte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Freitagabend; Europa werde in diesem Sinne weitermachen.

Unstrittig war hingegen das neue Asylsystem als solches, auf das sich die EU-Staaten bereits vor Granada geeinigt hatten. Es soll schwieriger werden, in die Union zu gelangen. Und wer dies dennoch schafft, muss – je nachdem, wie Brüssel die Sicherheit des Herkunftslandes einstuft – gar mit haftähnlichen Aufnahmebedingungen rechnen. Asylanträge sollen dann binnen zwölf Wochen geprüft werden. Wer durchfällt, soll umgehend abgeschoben werden.

Von der Leyen kündigte weitere umfassende Abkommen mit Transit- und Herkunftsländern an, um Migranten rechtzeitig aufzuhalten. Außerdem soll das Mittelmeer stärker überwacht werden.

Wackelige Solidarität

Gestritten wird in den kommenden Monaten wohl auch um die Solidarität mit der Ukraine. Bereits am Donnerstag hatte die größere Gruppe der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) dazu getagt. In diesem Rahmen versprachen Borrell und von der Leyen weitere Hilfe für Kiew. Die Rede war von 50 Milliarden Euro für zivile und 20 Milliarden Euro für militärische Hilfe. Einmal mehr schert Ungarn aus: Premier Orbán drohte auch hier mit ebenjenem Vetorecht, das Berlin und Paris im Dienste einer Erweiterung so gerne abschaffen würden.

Ungarn ist nicht das einzige Land, das in der Frage Solidarität mit der Ukraine eine abweichende Haltung einnimmt: Während Deutschland und Spanien in bilateralen Gesprächen am Donnerstag dem eigens angereisten ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj neue Luftabwehrsysteme für den kommenden Winter zusicherten, hat Polen bereits Ende September angekündigt, die Militärhilfe für Kiew herunterzufahren. Die Slowakei könnte bald folgen: Dort gewann mit Robert Fico jüngst ein eher Russland zugewandter Politiker die Wahlen.

Allen war immerhin klar, dass für die Zukunft eine Neugestaltung des EU-Haushaltes (Agrarförderung, Strukturhilfe) und vor allem interne Reformen nötig sein werden. "Wir müssen mit qualifizierten Mehrheiten Entscheidungen treffen können", verlangte der deutsche Kanzler Olaf Scholz. Er und der französische Präsident Emmanuel Macron wollen, mit Blick auf eine Union mit künftig mehr als 30 Mitgliedern, das Einstimmigkeitsprinzip vor allem bei der Außen- und Sicherheitspolitik aufheben. Insbesondere kleine EU-Mitglieder opponieren. (Reiner Wandler aus Granada, 6.10.2023)